Halte Dich dicht an
mich und eile!
Der Untergang der Baron Gautsch
Herausgegeben von Ingrid Pfeiffer
Mit einem Nachwort von Karl Vocelka
Orthografie und Zeichensetzung folgen der Originalhandschrift Hermann Pfeiffers. Offensichtliche Flüchtigkeitsfehler wurden stillschweigend korrigiert.
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1. Auflage 2014
© 2014 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at
Abbildung auf der Titelseite, Fotografien und Dokumente auf den Seiten 89–91 und 93–102 sowie die Originalhandschrift: Archiv Ingrid Pfeiffer Fotos und Dokumente auf den Seiten 6, 103–104 und 108: Archiv Dieter Winkler
Fotos auf den Seiten 92 und 105: Alexandra Schepelmann
Denkschrift über den Untergang des Lloydschiffes „Baron Gautsch“ (1917) auf den Seiten 106–107: Österreichische Nationalbibliothek
ISBN 978-3-99200-114-9
ISBN E-Book: 978-3-99200-115-6
Für Andreas und Wolfi Pfeiffer
Vorwort von Ingrid Pfeiffer
Halte Dich dicht an mich und eile!
Fotografien, Dokumente
und Auszug aus der Originalhandschrift
Eine private Urkatastrophe
Nachwort von Karl Vocelka
„… namentlich für Dich …“ (S. 26)
Es war nicht die Absicht Hermann Pfeiffers, die Sommerstimmung auf einer Insel in der Adria festzuhalten, als er im September 1914 ein Schulheft aufschlug, um zu berichten. Die vertraute Welt war bereits dabei, zur Welt von gestern zu werden. Für seine kleine Familie war sie am 13. August 1914 zerstört worden.
Hermann, seine Frau Grete und ihr dreijähriger Sohn Erny waren Passagiere des Lloyd-Dampfers „Baron Gautsch“, der in den ersten Kriegstagen letzte Badeurlauber nach Triest und von dort nach Hause bringen sollte. Doch von einer Mine getroffen, sank das große Schiff innerhalb weniger Minuten. Hermann Pfeiffer konnte sich und den Sohn retten, Grete war unter den Todesopfern.
Da mit Ausbruch des Krieges seine Einberufung unmittelbar bevorstand, verfasste der Gerettete kurz nach dem Unglück einen Bericht der Ereignisse. Er vergegenwärtigte darin – sich selbst so sehr wie seinem Kind – auch all das Schöne, das am 13. August gewaltsam beendet worden war. Der Sommer leuchtet noch einmal auf. Jedes Wort ist mit Liebe unterlegt. Innigste Verbundenheit wird beschworen: Wie wir gelebt haben, war es recht. So sollte es sein.
Auf den Inseln Lussingrande und Lussinpiccolo hatten sie gemeinsam sommerliches Glück erlebt, froh umeinander wie um die schöne Natur. Wie die anderen adriatischen Inseln gehörten auch diese zu Österreich. Die Familie Pfeiffer war zwar weit weg von zu Hause, doch nicht im Ausland. Trotzdem bedeutete, dort viele Sommerwochen verbringen zu können – im Unterschied zu heute –, vor allem Luxus. Die Familie war wohlhabend. Grete Pfeiffer, Tochter aus einer Industriellenfamilie, hatte 1909 den angesehenen Pathologen und Universitätsprofessor Hermann Pfeiffer geheiratet. 1911 kam ihr Kind zur Welt, Ernst, von allen Erny genannt. Sein Kindermädchen, Friederike Schaller, Fritzi, begleitete die Familie. Aus heutiger Perspektive formt sich aus diesen biografischen Versatzstücken ein Bild des Wohllebens, der Kultiviertheit, einer eigenen Welt in der Welt. Die Pfeiffers werden es vielleicht anders wahrgenommen haben. Doch da die Weltgeschichte ihre Idylle zerrissen hat, geht auch verloren, was ihnen wahrscheinlich selbstverständlich war. Trotzdem wirken Hermann Pfeiffers Aufzeichnungen nicht überheblich. Im Gegenteil, die Grundhaltung ist wache Aufmerksamkeit dem Leben und seiner Frau gegenüber sowie den vielen kleinen Freuden des Alltags.
„So kam uns allen unerwartet in toller Ferialstimmung das Erlebnis des 25. Juli heran. Wir ahnten da unten nicht, dass die Ermordung des Thronfolgers in Sarajewo endlich unser altes, zerrissenes Österreich aus seinen inneren Kämpfen mit einem Schlage reißen sollte.“ (S. 21)
Alles scheinbar Festgefügte hat dieser politische Bruch durchzogen. Die Familie nahm sich noch ein Stück vom Sommer, doch nicht mehr ungetrübt. Als Arzt war Hermann Pfeiffer bereit, sich mit seinem Können in den Dienst des Landes zu stellen, um eine politische Entwicklung zu befördern, die er für richtig hielt.
Entschiedenheit und Wahrhaftigkeit sind Wesenszüge, die neben seinen medizinischen Verdiensten im Nachruf gerühmt wurden. Die Fähigkeit zur Begeisterung muss ihn ausgezeichnet haben. Und er hat sie gepflegt. Jede Zeile spricht davon. So kann nur einer schreiben, der genau schaut und intensiv erlebt. Ein lauter Mensch kann Hermann Pfeiffer nicht gewesen sein. Es ist viel konzentrierte Stille um ihn. Auch das hat man ihm nach seinem frühen Tod 1929 lobend nachgerufen und wohl zu Recht in Verbindung mit seinem dichterischen Bemühen gebracht. „Jedes Wort entstand aus intensivster Notwendigkeit heraus“, heißt es in diesem Nachruf. Dass ihn seine Freunde „Nebel“ nannten, verwundert dann nicht mehr. „Lieber Nebel“, redete ihn mancher sogar in seinem Beileidschreiben an.
Fünfzehn Jahre blieben ihm noch mit seinem Kind, das er am 13. August 1914 gerettet hatte und dessen Schreianfälle nach der Katastrophe dem Vater wie dem Arzt Sorgen bereiteten.
Erny kann an die Welt von gestern keine konkreten Erinnerungen gehabt haben. Dennoch war es diese Welt, die ihn mehr geprägt hat als alles Folgende. Wahrscheinlich war er in diesem Verlust an Orientierung nicht allein. Wahrscheinlich ist sein Lebensweg typisch für Söhne aus gutem Haus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Erzogen und geformt für ein anderes Leben, bot ihm die neue Zeit keinen Boden und keine Verwurzelung. Wo und auf welche Weise waren seine Begabungen unterzubringen? Das muss Interpretation bleiben. Vielleicht stellt sich diese Frage nur mir, der Tochter und Enkelin, die hofft, sich den wachen Blick des Großvaters bewahren zu können. Was ein so frühes Trauma, die gefühlte Todesangst, einer Seele antun kann, werde ich aber weder erfassen noch beschreiben können. Doch ich weiß, dass der begabte Vater sich nicht fügen, nicht einfügen konnte. Begabt, sowohl mit dem Humor der Mutter wie mit der Düsternis des Vaters, mit Klugheit und Herzlichkeit, mit der liebevollen Innigkeit seiner Eltern, hat er doch keinen Platz in dieser Welt gefunden. Jurist, ohne auch nur einen Tag als solcher zu arbeiten, und Fotograf aus Leidenschaft, doch ohne allen Geschäftssinn. Auch Ernst Pfeiffer starb früh: in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts.
Sein Erbe, vielleicht das einzige handfeste Erbe, das er seiner Tochter zurückließ, waren jene beiden Hefte seines Vaters und der kleine Kinderschuh, der damals, 1914, zu seiner Rettung beigetragen hatte. Das ist viel. Und es ist umgeben von einer Atmosphäre, die alles bestimmt, bis weit hinter die konkrete Erinnerung zurück.
Wann ich die beiden Hefte meines Großvaters zum ersten Mal betrachten durfte, weiß ich nicht mehr. An die erste Lektüre erinnere ich mich jedoch genau. Ich muss etwa zwölf Jahre alt gewesen sein und wollte sie nicht mehr nur anschauen wie die in Metall gegossene Sandale.
Bis dahin müssen die Hefte für mich eher Gegenstand als Text gewesen sein, denn die schöne und vor allem leserliche Lateinschrift meines Großvaters erstaunte mich. Ich war auf mühevolles Entziffern eingestellt gewesen und freute mich daher dankbar an dieser Handschrift. Sie war mir bald vertraut und wurde Teil der Geschichte, die sie mir mitteilte.
Ich kann nur vermuten, dass ich eigentlich auf der Suche nach meinem Vater war, als ich mich das erste Mal in die Zeilen meines Großvaters vertiefte. Denn der 1914 unter so dramatischen Umständen gerettete Erny lebte bereits seit einigen Jahren nicht mehr. Gefunden habe ich beide, oder besser: Ich habe uns gefunden, eine seltsame, geheimnisvolle Gemeinschaft, die sich aus schmerzlichem Abschied und Verlust formte. Je älter ich wurde, umso näher kam ich auch dem persönlich nie gekannten Großvater.
Manche seiner sprachlichen Fügungen, die gar nicht in die Zeit meiner Kindheit und Jugend passten, waren mir bald so vertraut und selbstverständlich wie Wendungen in Märchen. Sie halten uns bis heute zusammen. Sie entstammen eben nicht der Fiktion, sondern dem Leben, das für mich selbst erkennbar auch mein Leben war. Viele Jahre später empfand ich die direkte, persönliche Verbindung mit einem ganzen Jahrhundert, die kein noch so guter Geschichtsunterricht hätte herstellen können.
Als ich im Frühsommer 2013 endlich nach Pula (damals Pola) fuhr, war die Abschrift jener beiden Hefte in meinem Reisegepäck. Es war Scheu gewesen, die mich bisher davon abgehalten hatte, dorthin zu reisen. Pula war mir über die Jahre zu einem ersehnten Ort geworden, den ich dennoch mied, weil dort Rettung und Vernichtung zu nah beieinander zu liegen schienen. Nun fuhr ich also doch, nahm die Hefte mit und verband eher unsentimental den Reisealltag mit einer Art Spurensuche. Dennoch war ich von der allgemeinen und von unserer Familiengeschichte begleitet. Ich war nicht irgendwo.
Nie hatte ich an eine Veröffentlichung gedacht. Ich habe nach Pula fahren müssen, damit sich schließlich der Wunsch festigen konnte, diese Geschichte nicht länger zu verschließen.
„Morgen mehr!“, schrieb mein Großvater ans Ende des zweiten Hefts. Ich weiß nicht, was ihn gehindert hat, diesen Vorsatz auszuführen. Der Krieg? Die Ahnung, seinem Kind das Wesentliche mitgeteilt zu haben? Die Notwendigkeit, selbst etwas Abstand zu nehmen, um leben zu können?
„Morgen mehr!“ Ich habe diese zwei Wörter nie mit Enttäuschung gelesen, eher als ein Versprechen, das über diese beiden Hefte hinausreicht und auf andere Weise eingelöst wird.
16. 9. 1914
Mein lieber Bub!
Da ich nicht weiß, ob es mir einmal möglich sein wird, mit Dir, als einem Erwachsenen, über alles zu sprechen, was mir am Herzen liegt, da ferner täglich meine Einberufung bevorsteht, die uns für lange Zeit, vielleicht für immer auseinanderreissen kann, so möchte ich heute und in den folgenden Tagen Dir von dem Lebensschicksal Deiner Eltern erzählen, um Dich wissen zu lassen, wie sehr sie sich geliebt und wie grausam unsere Ehe zerrissen wurde.
Ich beginne mit dem schrecklichen Ende, dem 13. August 1914, weil das zu wissen für Dich besonders wichtig ist. Das andere werde ich, soweit mir Zeit bleibt, nachholen.