HEXENMEDIZIN
Claudia Müller-Ebeling
Christian Rätsch · Wolf-Dieter Storl
HEXENMEDIZIN
Die Wiederentdeckung
einer verbotenen Heilkunst – schamanische
Traditionen in Europa
AT Verlag
9. Auflage, 2013
© 1998
AT Verlag, Aarau, Schweiz
Alle Fotos: © Claudia Müller-Ebeling
und Christian Rätsch, Hamburg
Lektorat: Franziska Meister und Monika Schmidhofer
Lithos: AZ Grafische Betriebe, Aarau
ISBN 978-3-03800-141-6
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
Hexenmedizin: Eine gute Medizin?
Wolf-Dieter Storl
Das wilde Land und seine Kinder
Kraft der Wildnis
Die Haselnuß
Göttliche Besucher der kleinen Kulturinsel
Die Birke
Mittsommertraum
Johanniskräuter
Das Augustfeuerfest
Die Schafgarbe
Tagnachtgleichen
Die Herbstzeitlose
Totenzeit – Samain, Halloween
Die Erle
Initiationsriten
Das alte Weib in der Hecke
Der Rauchfang
Die zornige Venus
Die neue Wissenschaft
Die Hagezusse als Schamanin
Was die Teufelsanbetung betrifft
Der Holunder
Der Bock, der göttliche Spender
Weltenbaum
Der Flug zum heiligen Berg
Flugsalbe
Sexual- und Fruchtbarkeitszauber
Wetterzauber
Das Hartheu
Hebammen: Fruchtbarkeit und Geburt
Der Weg ins Dasein
Der Kinderbrunnen Lolarka Kund
Zeit der Zeugung
Schwangerschaft
Geburt
Leichte Geburten
Die Hebe-Ahnin und das Männerkindsbett
Bettstroh und Beschreikräuter
Nach der Geburt
Die Totenmutter
Blumen für die Verstorbenen
Das Totenfest
Die Toten und die Vegetation
Die Toten als Spender der Fruchtbarkeit
Christian Rätsch
Hexenmedizin – das Vermächtnis der Hekate
Göttergärten und Hexenkräuter
Die Gärten der Großen Göttin
Das heilige Kraut der Isis
Der Garten der Hekate
Bilsenkraut, das eigentliche Pharmakon der Hexen
Akonit als Heilmittel
Die Schamanengöttin und ihr Schamane: Orpheus
Päonie, die heilige Pflanze des Götterarztes
Beschwören und Räuchern
Die Künste thessalischer Hexen
Von den Schlangen der Hekate zum Äskulapstab
Schlangen als Heilmittel
Die Mandragora der Hekate
Die Mandragora der Aphrodite
Der Garten der Medea
Die Zaubersalbe der Medea
Die Pflanzen des Sühneopfers
Der Verjüngungstrank
Die Ochsenzunge als Heilmittel
Der Garten der Kirke
Moly, die Zauberpflanze der Kirke
Die Mutter des Hexeneis
Die Hexenkräuter des Linnæus
Der Garten der Artemis
Göttliche Hebammenkräuter
»Die Grüne Fee«: Wermut und Absinth
Christophskraut und Sonnenwende
Die Mutter der Hexen
Flug- und Buhlsalben als Heilmittel
Was war Ambrosia?
Die Pappelsalbe als Heilmittel
Heilsamer Hexenbaum: die Eibe
Moderne Hexensalben
Pharmakon Wein
Wein als Heilmittel
Die Ingredienzien der »Hexengebräue«
Claudia Müller-Ebeling
Hexenbilder – die Dämonisierung der heilkräftigen Natur
Das Bild der Hexe
Maria – die keusche Kulturheroin
Die Symbolpflanzen Marias
Die Hexe, das sinnliche Naturweib
Die Symbolpflanzen der Hexe
Die Dämonisierung von Natur und Sinnlichkeit
Unheimliche Begleiter der Hexe
Giftmischerin und Heilkundige
Verteufelung von Heil- und Giftpflanzen
Heilpflanzen der Hexen
Die Heilung von Mikro- und Makrokosmos
Rübezahl – Kräuterwissender und Wettergott
Wahrsagerin und Schicksalsgöttin
Von der Göttin zur Hexe
Frau Venus
Diana
Göttin Natur
Die Hexe als Versuchung des heiligen Antonius
Saturn – der Hexenmeister
Die Hexenmaler
Hans Baldung Grien
Frans Francken d. J.
Christian Rätsch
Hexenmedizin – verbotene Medizin: Von der Inquisition zum Betäubungs mittelgesetz
Coca und Kokain
Schlafmohn und Opium
Meskalin und Psilocybin: Die verbotenen Seelen der Götter
Ayahuasca, oder: die Konquista ist noch nicht zu Ende
Das Geschäft mit den »Betäubungsmitteln«
Aktueller Nachtrag: Hanfsamenverbot!
Anhang
Pflanzen, die mit Hexen und Teufeln assoziiert werden
Fremdländische Pflanzen, die mit Hexen und Teufeln assoziiert werden
Bibliographie
Stichwortverzeichnis
Hexenmedizin ist Medizin der Erde. Es ist die älteste Medizin der Menschheit, die Heilkunde der wenigen noch existierenden Naturvölker. Es ist das Urwissen, die wahre Religio, die Urerinnerung, das Erbe unserer steinzeitlichen Vorfahren, weitergetragen in ständig sich wandelnder Form durch das neolithische Bauerntum hindurch, durch die Bronzezeit, die Eisenzeit bis in das wundergläubige christliche Mittelalter. Die Inquisition versuchte, das alte Wissen zu zerstören. Aber weder Folter noch Scheiterhaufen noch der Kahlschlag der sogenannten rationalen Aufklärung, auch nicht die reduktionistische Zwangsjacke einer seelenlosen positivistischen Wissenschaft vermag dieser Naturmedizin dauerhaften Schaden zuzufügen. Denn sie lebt nicht allein von morschen, staubigen Überlieferungen, sie wird gespeist aus der klaren Quelle der Hellsichtigkeit, aus der unmittelbaren Inspiration der Devas, aus den Eingebungen der Geister der Pflanzen, Tiere, der Steine, Sterne und Elemente.
Bei der Hexenmedizin geht es um Wissen, um die Heilkräfte unserer inneren und äußeren Natur. Hexenmedizin ist mehr als nur ein faktisches Wissen um die Heilpflanzen, Giftgewächse, psychedelischen oder gynäkologischen Mittel. Es geht um die verschüttete Fähigkeit, mit den Tier- und Pflanzengeistern zu reden und mit ihnen Freundschaft zu schließen. Es geht um die Ekstasefähigkeit, die diese Kommunion mit den Geschöpfen ermöglicht.
Diese Naturmedizin kennt zwar die Power-Pflanzen, die Rausch- und Ekstasebringer, die den Menschen ergreifen, die Grenzen seines alltäglichen Daseins sprengen und ihn in »jenseitige« Welten katapultieren. Sie kennt vor allem aber auch die milden Gewächse, die kosmische Harmonien einfangen und sie dem Menschen vermitteln, so daß er heil sein kann. Nur wenn die Ausstrahlungen des Menschen glücklich und gesund sind, kann die Natur glücklich und gesund sein. Deswegen hält Mutter Gaia kraftvolle Kräuter und Wurzeln bereit.
Hexenmedizin transzendiert die Schulmedizin, die, im Korsett der experimentellen Naturwissenschaft eingeschnürt, nur das materiell Erfassbare, das Äußerliche, mißt und dokumentiert und blind tastend, nach dem Prinzip des trial-and-error, vorgeht. Hexenmedizin sieht das »innere Wesen« der Krankheiten, die »Würmlein klein ohne Haut und Bein«, die Haß- und Neidwürmer, die uns »wurmen« und uns die Lebenskraft wegsaugen. Sie sieht die »Zaubergeschosse«, die verletzenden Gedanken, die sich tief in das leiblich-seelische Gefüge einbohren. Zur Heilung der Schäden, die diese ganz realen ätherisch-astralen Entitäten und okkulten Negativ-Energien hervorrufen, ruft der Hexenmediziner, der Schamane, die Schamanin, ihre Verbündeten. Das sind die Pflanzen, Steine, Tiere, das Wasser, das Feuer, die Erde. Auch diese haben eine tiefe Dimension, in ihnen verkörpern sich Geistwesen, Engel und Devas. Mit ihnen kann man reden. Sie können antworten.
Hexenmedizin weiß um die Lebendigkeit des Seins, um die Seelen und Geister aller Geschöpfe. Sie ist magisch, und deswegen verunsichert sie diejenigen, deren Seele tot ist und erstarrt, deren geistiges Auge geblendet ist. Sie macht ihnen Angst, da sie ein Spiegel ihres Unvermögens ist. Für die bigotten Inquisitoren rührte die Wirkkraft dieser Medizin von dem Teufel her. Die Hüterin uralter Weisheit wurde zur Buhlerin des Bösen gemacht. Für die armen Schulmeisterlein des selbstbenannten Aufklärungszeitalters war die Hexenmedizin lästiger Aberglaube, falsches Denken, das aus dem Landvolk herausgedroschen werden mußte. Für die Herren der heutigen Ideologie ist sie schlicht indiskutabel, etwas für Schizophrene, für Geisteskranke, bestenfalls für hoffnungslose Romantiker. Und dennoch wird sie es sein, die uns aus unserer gegenwärtigen ökologischen und seelischen Krise herausführen kann, denn ihre Wurzeln reichen tief und zapfen die heilenden Gewässer des Urwissens an.
»Wenn das Starke dem Schwachen Gewalt antut, heißt das: es stellt sich gegen die Natur. Was sich gegen die Natur stellt, wird sehr bald zu Ende gehen.«
LAO-TSE, Tao-Te-King 55
Aber auch das muß gesagt werden: Es gibt sie, die böse Hexe! Auf der ganzen Welt, von Südamerika bis Ostasien, von Afrika bis Ozeanien, kennt man den asozialen Zauberer, die boshafte Zauberin, die, von Mißgunst und Neid getrieben, ihr okkultes Wissen einsetzt, um anderen Schaden zuzufügen. Vor allem in unstabilen Gesellschaften, wo Armut, Gewalttätigkeit und Konkurrenzdruck vorherrschen, werden ihre Machenschaften gefürchtet. Ein zentrales Anliegen der afrikanischen Medizin ist es, derartige Schadenzauberer ausfindig und unschädlich zu machen. Ethnologen haben genügend Beispiele von Hexerei und Voodoo-Mord aus exotischen Ländern zusammengetragen (LESSA/VOGT 1965:298). Aber auch in der westlichen Welt gibt es das Phänomen. Mitte der siebziger Jahre strömten Hippies, alternative Kommunarden, illegale Einwanderer, gescheiterte Existenzen und Hunderttausende Südkalifornier auf der Flucht vor Gewalt und Umweltkatastrophen (Dürre, Smog) in die noch unberührten Wälder des Bundesstaats Oregon. Das resultierende unstabile soziale Klima wurde der Nährboden für Zauberei und krankhaften Okkultismus. In diesen Jahren – ich lebte damals in Oregon – häuften sich die bizarren Vorfälle: Immer wieder fanden Farmer Pferde und Kühe tot auf den Weiden; ihnen waren Geschlechtsorgane und Euter herausgeschnitten worden. Nicht weit von meinem Wohnort wurde ein Anhalter aufgegriffen, seine Taschen voll abgeschnittener Menschenohren. Die Tankstelle, an der ich gewohnheitsmäßig tankte, war eines Tages unbedient, der Grund: Ein Biker hatte die Tankstellenwärterin erschlagen und ihr das Blut aus der Schlagader gesaugt, ehe er weiterfuhr. Man sprach von Hexerei und Satanismus. Mit der »Hexenmedizin«, von der hier die Rede ist, haben solche Pathologien nichts zu tun! Auch mit dem rabiaten, männerfeindlichen Feminismus, der in Oregon zur damaligen Zeit seltsame Blüten trieb, hat Hexenmedizin nichts zu tun. Die archaische Medizin ist ganzheitlich, männlich und weiblich, Sonne und Mond.
Und schließlich gibt es auch noch die böse Märchenhexe, die kleine Kinder frißt, wie wir es aus Hänsel und Gretel kennen. Aber bei ihr handelt es sich niemals um einen lebenden Menschen, sondern um einen negativen seelischen Archetypus, der die Reifung der individuellen Seele blockiert und hemmt. Diese »Hexe« versinnbildlicht die Angst, die das Licht der Wahrheit fürchtet. Sie haust im Dunkeln, unbefruchtet vom Licht. Da sie von der Ganzheit des Selbst abgespalten ist, kann sie nicht leuchten; sie ist notgedrungen häßlich. Wie die alte Winterhexe aus Stroh, die das Landvolk im Frühling verbrennt, damit die schöne Göttin des Sommers Einzug halten kann, muß auch diese Hexe durch das läuternde, verwandelnde Feuer des Geistes gehen. Erst dann kann sich die Königstochter (Anima) mit dem Königssohn (Animus) vermählen. Die Hochzeit versinnbildlicht das Finden zum Selbst, das Heil- und Ganzwerden. Die kirchlichen Fanatiker, die Inquisitoren, waren selbst von dem Archetypus der häßlichen, lebensfeindlichen Hexe besessen. Sie projizierten ihre seelische Krankheit, ihre Besessenheit, auf arme, alte, schuldlose Frauen, die sie folterten und auf dem Scheiterhaufen verbrannten. Was ein innerer seelischer Prozeß der Ganzwerdung sein sollte, wurde so zu einer äußeren, schwarzmagischen Handlung.
Um Hexenmedizin ihrem Wesen nach zu verstehen, müssen wir tief in den Brunnen der Erinnerung schauen. Sie hat ihre Wurzeln in der Naturerfahrung unserer steinzeitlichen Vorfahren. In diese Gründe wollen wir nun eintauchen.
Nachdem die Gletscher geschmolzen waren, wurden die eiszeitlichen Tundren, auf denen die riesigen Herden von Büffeln, Rentieren, Wollnashörnern und Mammuts grasten, allmählich von Bäumen besiedelt. Die Herden starben aus oder wanderten zum Teil nach Sibirien ab. Mit ihnen zogen die letzten nomadischen Großwildjäger. Es war, was unsere geographischen Breiten betrifft, das Ende der Alten Steinzeit.
Der Wald zog die kleinen Jägergruppen, die zurückblieben, in seinen Bann. Sie stellten nun dem scheuen Wild nach, das sich in kleinen Rudeln tief im Wald versteckte -den Rehen, Hirschen, Wildschweinen – und auch den mürrischen Einzelgängern, dem Bär, dem Dachs und dem Elch im Sumpf. Diese Art zu jagen war mühsamer, kostete mehr Zeit und brachte weniger ein. Und im gleichen Maß, in dem die Jagdbeute geringer wurde, nahm die Bedeutung des pflanzlichen Sammelguts zu. Da innerhalb der natürlichen Arbeitsteilung der Naturvölker das Sammeln von Wurzeln, Obst, Rinden, Larven und Vogeleiern vor allem dem weiblichen Geschlecht zufiel, gewann das Tun der Frauen an Gewicht. Während das erbeutete Wild nach strengen Regeln gemeinschaftlich geteilt wurde, behielten die Frauen ihre tägliche Ausbeute für ihre Familien. So ist es noch heute bei den Jägern und Sammlern: Die Männer machen Politik; sie sichern Freundschaften und bewahren sich Verbündete für den Notfall, indem sie Fleisch verteilen und – wenn die Beute groß ist – Feste veranstalten. Die Frauen dagegen kümmern sich um die alltäglichen Aspekte des Überlebens.
An Orten, wo das Sammeln erträglich war, ließ man sich für längere Zeit nieder. Seeufer waren als Lagerplätze beliebt, denn dort fand man neben den stärkehaltigen Wurzeln des Rohrkolbens, des Sumpfziests, der Seebinse, des Pfeilkrauts oder der Wassernuß noch Entenflott (Wasserlinse, Lemna) für die Suppe, saftige Schilfschößlinge, die nahrhaften Samen der Schwade oder des flutenden Süßgrases (Glyceria), dazu diverse Muscheln, Mollusken und kleinere Amphibien.
Neben dem Herstellen von kleinen Pfeilen, mit denen man Vögel und Kleingetier erlegen konnte, dem Bauen von Reusen, dem Knüpfen von Netzen und dem Fertigen von Harpunen und Angelhaken verbrachten die Männer wahrscheinlich die meiste Zeit – ähnlich den heutigen Wildbeutern – mit Faulenzen und mit der Kommunikation mit den vielen Geistern, die Wald, Fels und Wasser beleben. Urgeschichtler nennen die Zeit, in der unsere Vorfahren so lebten, das Mesolithikum oder die Mittlere Steinzeit.
Diese Menschen zogen in weiten Kreisen mit den Jahreszeiten zu verschiedenen ergiebigen Jagd- und Sammelgründen. Sie bezogen dabei immer wieder die gleichen Lagerplätze. Dort wuchsen häufig viele ihrer Lieblingspflanzen. Verschüttete Samenkörner und die weggeworfenen Schalen von Knollen fanden dort, wo die Konkurrenzvegetation niedergetrampelt und der Boden mit Asche, Kot, Urin und Abfällen gedüngt war, eine geeignete Nische. Der Schritt zur Domestikation war daher ein kleiner. Im Nahen Osten begannen damals einige Wildbeuter, absichtlich den Boden aufzuritzen und die Grassamen, die sie vorher gesammelt hatten, in kleine Gehege auszusäen. Auch junge Tiere wurden angepflockt oder eingezäunt und so allmählich gezähmt. So wurden Wildbeutergruppen seßhaft. Sie bauten sich feste Häuser mit Stallungen für die gefangenen Tiere.
Jäger und Sammler besitzen wenig. Ihr Besitz ist immateriell. Es sind Visionen, Märchen, Lieder, Zaubersprüche, Jagdmagie und Heilkenntnisse. Sie leben von der Hand in den Mund, im Hier und Jetzt: Wer will schon ständig schwere Lasten mit sich herumschleppen? Nun aber machte es Sinn, große Krüge und Behälter aus Lehm zu töpfern. Getreide und andere Vorräte konnten darin aufbewahrt und Bier gebraut werden. Bier – versetzt mit bewußtseinsverändernden Kräutern – wurde nun zum Sakralgetränk, mit dem die Schicksalsmächte, die Sonne, die Erd- und Vegetationsgottheiten gefeiert wurden. (RÄTSCH 1996: 50) Urgeschichtler bezeichnen diesen Kulturwandel, der die ersten seßhaften Dörfer entstehen ließ, als »neolithische Revolution«.
Jungsteinzeitliche (neolithische) Dorfsiedlungen verbreiteten sich von Kleinasien aus immer weiter die Donau und deren Nebenflüsse hinauf. Gegen Ende des 5. Jahrtausends hatten die als »Bandkeramiker« bekannten Pioniere die Flußtäler Mitteleuropas besiedelt, bauten Emmer und Gerste, Einkorn, Erbsen, Pferdebohnen und Flachs an und errichteten inmitten der gebrandrodeten Fläche zwanzig bis dreissig Meter lange Gemeinschaftshäuser mit reckteckigem Grundriß für ihre matrilinearen Großfamilien. Wenn dann nach einem oder zwei Jahrzehnten die Bodennährstoffe ausgelaugt waren und die Felder und Weiden ihre Fruchtbarkeit verloren hatten, zogen diese ersten Bauern weiter. Erneut schwendeten sie den nächsten Flecken des immensen Urwalds, fällten die Baumriesen mit Feuer und geschliffenen Steinäxten, besäten erneut den aufgerissenen Boden und gaben den Rindern, Ziegen und Schafen neue Weideflächen.
Die neolithischen Siedlungen waren winzige Inseln im grünen Blättermeer. Noch Jahrtausende später, im frühen Mittelalter, war die Baumdecke in Europa so dicht, daß ein Eichhörnchen von Dänemark bis Südspanien von Baum zu Baum hätte springen können, ohne den Boden auch nur einmal berühren zu müssen.
An den Rändern dieser Kulturinseln, an der Übergangszone zwischen dem bewirtschafteten Land und dem Urwald entstand ein Randbiotop. Dorniges Gestrüpp – Brombeeren, Wildrosen, Schlehen, Stachelbeeren, Weißdorn, Kreuzdorn, Berberitze, Sanddorn – und schnellwachsende Heckengehölze – Eberesche, Faulbaum, Hasel, Holunder – fanden dort eine geeignete ökologische Nische. Diese natürliche Hecke gewann für die jungsteinzeitlichen Bauern praktische Bedeutung: Für das streunende Weidevieh war es ein effektiver Zaun. Um so mehr die Wiederkäuer daran knabberten, um so dichter wurde die Dornenbarriere, bis sie ein natürliches Gehege bildete. Zudem konnten Pfosten, Stecken und Ruten herausgeschnitten werden, Flechtwerk für die Wände, die dann mit Lehm verdichtet wurden, und weiteres Material für Korbwerk. In der Hecke fand man nahrhafte Vogeleier, saftige Beeren und schmackhafte Nüsse. Auch die wirksamsten aller Heilkräuter wuchsen in diesem Randbiotop.
Vor allem aber gab die dichte, dornige Hecke Schutz. Sie hinderte das Eindringen reißender Wölfe und Bären sowie gefräßiger, auf die wachsende Feldfrucht erpichter Rehe. Wahrscheinlich entmutigte es auch die »wilden Menschen« – die in Fellen gekleideten letzten Wildbeuter –, die noch in den Wäldern umherstreiften und denen man es zutraute, die Kinder zu stehlen. (Noch im Mittelalter wurden solche »wilde Leute« von den Rittern gejagt und zur Strecke gebracht.)
Bis heute symbolisieren die dornigen Heckengewächse, vor allem der Weißdorn und die Wildrose, den geschützten, ungestörten Schlaf. Das Märchen spricht von der Dornröschenhecke, und manche Bäuerin steckt dem Säugling noch immer einen Schlafkunz (Rosenapfel, Schlafrose) unter das Bettchen, damit es ruhig und tief schläft. Bei den Schlafkunzen handelt es sich um die moosartigen rundlichen Auswüchse an den Zweigen der Hundsrose, die durch den Stich der Rosengallwespe verursacht werden.
Für die jungsteinzeitlichen Siedler war die Hecke aber nicht nur eine physische Grenze zwischen dem kultivierten Land und der Wildnis, sondern ebenso eine metaphysische Grenze. Hinter dem Gehege hausten nicht nur wilde Menschen und Raubtiere, sondern hier fing auch das Reich der Gespenster, Trolle, Kobolde und Waldunholde an, hier begegnete man den verführerisch schönen, aber verschlagenen Elfen. Hier trieben noch die alten Gottheiten der paläolithischen Vergangenheit ihr Wesen.
Die archaischen Jäger und Sammler waren eins mit dem Wald, sie lebten im Einklang mit den Waldgeistern. Den neolithischen Hackbauern dagegen war die Baumwildnis nicht mehr ganz geheuer, sie war eher unheimlich.1
Die paläolithische Göttin der Höhle, die Hüterin der Tiere und Totenseelen, wurde im Neolithikum immer mehr zur fruchtbaren Erdmutter. Wie schon den altsteinzeitlichen Jägern erschien die Göttin den Hackbauern in der Vision und schickte ihnen Träume. Sie wußten auch, daß die Göttin hören konnte, fühlen und leiden. Die Fruchtbarkeit der Scholle hing von ihrer Gunst ab. Die Landwirtschaft entwickelte sich in der ständigen Zwiesprache mit ihr. Pflügen und Ackern galten als Liebesakt, der sie schwängerte, waren Kultus. (Das Wort Kultivieren bedeutet im ursprünglichen Sinn nichts anderes als Gottesdienst, Verehrung, Hingabe, Pflege.)
Aber trotz Kult und Ritual kommt Unbehagen auf. Ein ungutes Gewissen bemächtigt sich der ersten Bauern. Sie haben sich am Wald vergangen, haben ihn gebrandschatzt und die Erdscholle aufgerissen. Die Erdgöttin wird zur Klagemutter. Sie klagt über die zahllosen Kinder, die sie gebar und die der Sichel, der Axt und dem Spaten zum Opfer fallen. Die Ursprungsmythen der Pflanzer und Ackerbauern setzen immer den gewaltsamen Tod, den Mord, das Opfer eines göttlichen Wesens zu Anbeginn der landwirtschaftlichen Lebensweise voraus. Das allgegenwärtige Gefühl der Dankbarkeit und Geborgenheit, welches einfache Jäger und Sammler dem Wald gegenüber zum Ausdruck bringen, wich Schuldgefühlen, die mit zunehmend aufwendigeren Opfern, zuletzt mit grausamen, kultisch institutionalisierten Menschenopfern, Kopfjägerei und Kannibalismus gesühnt werden mußten.2 Folglich brachte die neolithische Revolution – so der große Religionsforscher Mircea Eliade – auch eine Umwertung der Werte, eine »religiöse Revolution« (ELIADE 1993: 45). Auch die christliche Vorstellung vom Opfertod des unschuldigen Gottessohnes, von der Mater dolorosa, die ihn beweint und ihn im Schoß birgt, hat ihre Wurzeln – den Mythos der seßhaften neolithischen Bauern. Weniger der Schamane, der mit den Wald- und Tiergeistern reden kann, als vielmehr der Priester, der den Ritualkalender beherrscht und nach dem Stand der Gestirne die Zeiten des Säens und Erntens, die Darbringung und Art der Opfer bestimmt, führte nun die Gemeinschaft.
Die einheitliche Welt der Primitiven teilte sich also allmählich in zwei Bereiche: in die des befriedeten Kulturlandes einerseits und in die der Wildnis da draußen hinter der Hecke andererseits, zwischen den zahmen Nutztieren und den gefährlichen wilden Tieren, zwischen freundlichen Haus- und Hofgeistern und jenen Waldgeistern, vor denen man sich in acht nehmen muß. Und so dämmerte das Zeitalter, an das sich die Menschen als das »goldene« erinnern: Im Schweiße seines Angesichts lernte der Mensch sein Brot zu essen.3
Die Hecke, die die Rodung umgab, war durchaus keine undurchdringliche Mauer. Man war sich bewußt, daß die kleine, dem Urwald abgetrotzte Menscheninsel in sich selbst schwach und kraftlos war. Nur dank des unermeßlichen, ungezähmten Kräftepotentials der Wildnis war es überhaupt möglich zu leben und zu überleben. Aus dem Wald kam das Feuerholz, das da im Herd, dem Herzen des Gehöfts, brannte und mit dessen Hilfe das Fleisch gebraten, der Brei gekocht und die Kälte von Leib und Seele gehalten wurde. Rehe, Hirsche, Wildschweine und anderes Wild, das die Nahrung ergänzte, kam aus der Waldwildnis ebenso wie die Heilkräuter und Pilze, welche die alten Frauen sammelten. Und wenn nach einigen Jahren die Bodenfruchtbarkeit nachließ, mußte man sich erneut dem Urwald zuwenden, mußte erneut ein neues Stück schwenden und urbar machen. Die verbrauchte Erde aber nahm die Wildnis wieder zu sich, überwucherte sie mit frischem Grün und regenerierte ihre Fruchtbarkeit.
Von jenseits der Hecke kam die Kraft. Von dort kam die Fruchtbarkeit. Auch das menschliche Geschlecht erneuerte sein Leben von einer Generation zur anderen, durch die Energieströme, welche die Verstorbenen ihnen von jenseits des Zauns her vermittelten. Von dort kamen Ahnen, um Wiedergeburt im Kreis der Sippe zu finden. Noch lange galt der Haselnußstrauch, ein typisches Heckengehölz, als Vermittler wilder, fruchtbarkeitsbringender Kräfte aus jenseitigen Dimensionen.
»Zum Hügel ging ich ins tiefe Holz
Zauberruten zu finden; Zauberruten fand ich ...«
(Wotans Gesang im Skirnisförlied)
Die Haselnuß (Corylus avellana)
Schon immer erwartete man von der Haselnuß Schutz vor den chaotischen Kräften und Energien des Jenseits – vor Blitzschlag, Feuer, Schlangen, wilden Tieren, Krankheiten und Zauber. Noch in diesem Jahrhundert pflanzten die Anthroposophen einen »Schutzwall« aus Haselsträuchern gegen das »Widergeistige« rund um das Goetheanum. Anderseits verbindet das kleine Heckengehölz geradezu mit den jenseitigen Dimensionen. Schläft man darunter, hat man zukunftsträchtige Träume, heißt es bei René Strassmann (STRASSMANN 1994: 174). Und der Alchemist Dr. Max Amann rät: »Unter Haselsträuchern kann man sich leicht mit freundlichen Naturgeistern in Verbindung setzen.«
Wahrscheinlich schon in der Steinzeit haben Zauberer mittels der Haselrute die mächtigen Energien der jenseitigen Welt angezapft und sie der diesseitigen Welt vermittelt. Es ist nur folgerichtig, daß der schlangenumwundene Zauberstab (Caduceus) des Hermes – er ist der grenzüberschreitende Schamanengott der Antike – ein Haselstab ist. Dieser Stab wurde zum Symbol des Handels, des Heilens, der Diplomatie und des Flusses plutonischer Energien, die sich in Edelerzen (Geld) offenbaren. Als Hermes die Menschen mit der Haselrute berührte, konnten sie zum ersten Mal sprechen.
Haselruten gelten bei Radiästheten noch immer als beste Energiestrom-Leiter. Mit ihnen vermag der Sensitive Wasseradern und auch edle Metalle (Silber und Gold) aufzuspüren. Die alten Etrusker kannten Wünschelrutengänger (aquileges), denen es gelang, mit Haselruten verborgene Quellen aufzudecken. Davon wußten auch die chinesischen Feng-Shui-Meister vor über fünftausend Jahren, die diese Ruten dazu benutzten, um die im Erdinneren strömenden Drachenlinien aufzuspüren. Sogar heute geht das noch, und zwar schneller und billiger als mit technischen Geräten.
Die Fähigkeit, das Wetter zu beeinflussen, ist überall eine der anerkannten schamanistischen Fähigkeiten. Die alteuropäischen Schamanen benutzten Haselstäbe, um Regen zu machen. Noch im Mittelalter scheint es solche Regenmacher gegeben zu haben. In Hexenprozeßakten aus dem 17. Jahrhundert lesen wir: »Ein Teufel überreicht einer Hexe einen Haselstab und heißt sie damit in den Bach zu schlagen, worauf ein Platzregen erfolgt.« Oder: »Ein Hexenbub peitschte mit einer Haselgerte das Wasser, bis ein Wölkchen davon aufstieg. Nicht lange darauf ging ein Gewitter nieder.« (BÄCHTOLD-STÄUBLI III 1987: 1538)
Garstiges Wetter läßt sich mit der Haselkraft auch wieder beruhigen. Wenn es zu arg blitzt und hagelt, werfen Allgäuer Bäuerinnen einige Haselkätzchen aus dem am Mariahimmelfahrtstag (15. August) geweihten Kräuterbüschel ins Herdfeuer. Hatte nicht auch Maria, als sie ihre Base Elisabeth in den Bergen besuchen wollte, Schutz vor einem Gewitter unter einer Haselstaude gefunden? Bis in dieses Jahrhundert wußte man, daß der Haselstrauch mit Fruchtbarkeit zu tun hat. »In die Haseln gehen« bedeutet nichts anderes als zu koitieren. »Anneli, mit der rote Brust, chomm, mer wend i d’ Haselnuß«, heißt es in einem Schweizer Volkslied. »Leichten« Mädchen steckte man einen Haselzweig als Maien. In der Symbolsprache des Mittelalters galt die Hasel als »Baum der Verführung«. In einem mährischen Lied warnt eine Jungfrau den gefährlichen Baum:
»Hüt dich, hüt dich, Frau Haselin, und tu dich wohl umschaun, Ich hab daheim zween Brüder stolz, die wollen dich umhau’n!«
Unverdrossen antwortet Frau Hasel:
»Und hau’n sie mich im Winter um, im Sommer grün ich wieder,
Verliert ein Mädchen seinen Kranz, den find sie nimmer wieder!«
Kein Wunder, daß die Nonne Hildegard von Bingen nicht sonderlich gut auf die Hasel zu sprechen war: »Der Haselbaum ist ein Sinnbild der Wollust, zu Heilzwecken taugt er kaum – es sei denn als Mittel gegen männliche Impotenz.« Bei Kinderlosigkeit wurde damals ein Haselzweig über das Bett der Eheleute gehängt. Und als Zeichen, daß sie in bester Hoffnung war, trug die Schwangere Haselzweige mit Nüssen.
»Wenn’s Haselnüsse gibt, gibt’s auch viele uneheliche Kinder.« »Wenn d’ Haselnüss g’rotid (geraten), do g’rotid d’ Huere.« Solche Sprüche gibt es in ganz Europa. Volkskundler führen sie darauf zurück, daß die jungen Leute, wenn sie im Wald Nüsse sammeln, dem Argwohn der Sittenwächter entgleiten. Wahrscheinlicher ist jedoch eine andere Erklärung: Naturverbundene Menschen stimmen sich unwillkürlich auf die Fruchtbarkeitsrhythmen des Waldes ein und haben daran teil.
Unsere Vorfahren glaubten, die Ahnengeister selber seien es, die die unverbrauchten Kräfte der Wildnis und des Jenseits, den Lebenden vermitteln. Sie sind es, die die Kinder schicken und die Felder mit frischem, grünem Leben segnen. Bei den nordeuropäischen Heiden gehörte es mit zu den mittwinterlichen Ritualen, daß in Pelz vermummte Burschen in die Dörfer einfielen und Mensch und Vieh mit Haselruten droschen. Sie verkörperten die Ahnengeister. Auch der Wintergott der Kelten, der grüne Mann, der zur Wintersonnenwende die Häuser, Herde und Herzen der Menschen besuchte, trug Haselruten, deren Schlag fruchtbar, zeugungsfähig und milchreich macht.
Der Haselstrauch (Corylus avellana L.) gilt seit alters her als magischer Baum und wichtiges Mittel der Hexenmedizin. Schon die antiken Autoren schrieben der »Pontischen Nuß« magische Kräfte und seltsame Wirkungen zu. Bei Dioskurides heißt es, daß »die gebrannten, mit Öl fein geriebenen Schalen die Pupillen der blauäugigen Kinder schwarz färben, wenn der Vorderkopf damit eingerieben wird« (I, 179).
(Holzschnitt aus HIERONYMUS BOCK, Kreutterbucb, 1577)
Wer den Haselwurm – ein Wesen halb Mensch, halb Schlange – finde und von seinem Fleisch esse, erlange, so glaubte man, wunderbare Kräfte.
Aber auch die Lebenden können den Jenseitigen notwendige Kräftigung zukommen lassen. Haselnüsse wurden seit dem Neolithikum als Totenspeise den Gestorbenen in die Hand oder zwischen die Zähne gedrückt. Die keltischen Toten wurden – wie etwa der »Fürst von Hochdorf« (Hallstatt-Zeit) – auf Haselzweige gebettet. Am altkeltischen Totenfest im November zogen die Kinder, als Totengeister und Gespenster verkleidet, bettelnd von Haus zu Haus. Man schenkte ihnen – es sind die Samen des Lebens, die den Winter überdauern – Haselnüsse und Äpfel. Die Germanen, insbesondere die Alemannen, steckten Haselnußstecken auf die Gräber.
Nicht nur die Fruchtbarkeit ist ein Geschenk der anderen Welt, sondern auch jene Weisheit, die den gewöhnlichen Menschenverstand weit übersteigt. Die Haselnuß macht diese Weisheit den Lebenden zugänglich, läßt sie die härtesten »Nüsse« (Rätsel) knacken. Keltische Richter trugen Haselstäbe. Auch die antiken Herolde, die wie Hermes die Grenzen überschreiten, trugen solche Stäbe, damit ihre Worte klug und gut gewählt sein mögen. Die Germanen umsteckten den Thing, den Platz, wo Rat gehalten wurde und wo Zweikämpfe stattfanden, mit Haselstäben. Auf diese Weise konnte der Donnerer Thor, dessen Hammer das Recht verkörpert, anwesend sein. Diesem Gott der Fruchtbarkeit, des fruchtbaren Regens, dem Hüter der Erdschätze und Gebieter der Schlangen, war der Haselstrauch geweiht. Ihm gehörten auch die verborgenen Schätze, die sich mit der Wünschelrute aufspüren lassen. Vermutlich war der Stiel des Thorhammers aus Haselholz. Aber auch der Schamanengott Odin/Wotan, Herr der Barden und Zauberer, wollte nicht auf die Haselrute verzichten. Der ihm geweihte Zauberstab wurde am Wotanstag (Mittwoch) aus der Hasel geschnitten und mit geröteten Runen verziert. Von der Hasel heißt es, sie sei den Schlangen feind. Der heilige Patrick, Patron der Iren, vertrieb angeblich mit einem Haselstab alle Schlangen von der Grünen Insel. Im Schwarzwald gab man Kindern, die weit zu gehen hatten, Haselzweige, damit sie vor Schlangen sicher waren. Und zieht man mit einem Haselstab einen Kreis um eine Schlange, so kann sie nicht hinaus.
Dennoch glaubte man, daß der Haselwurm – eine weiße Schlange mit goldener Krone – unter einer sehr alten Haselstaude haust, und zwar einer, die von einer Mistel befallen ist. Augenzeugen beschreiben diese Schlangenkönigin als halb Mensch, halb Schlange. Sie hätte einen Kopf wie ein Säugling oder eine Katze und weine wie ein Kind. Paradeiswurm wird sie im Mittelalter genannt, weil man glaubte, es handle sich um dieselbe Schlange, die einst die ersten Menschen im Paradies verführte. Demjenigen jedoch, der diese Schlange findet und von ihrem Fleisch ißt, kommen wunderbare Kräfte zu: Er wird Macht über die Geister haben, wird sich unsichtbar machen können und wird die verborgenen Heilkräfte aller Kräuter kennen. Paracelsus soll einen solchen Wurm verspeist haben, »deshalb haben die Kräuter, wenn er auf das Feld hinausgegangen, gesprochen und ihm kundgetan, gegen welches Übel und Krankheit sie heilsam wären«. Natürlich ist es nicht leicht, den Wurm zu fangen. Vor Sonnenaufgang an einem Neumondtag soll man hingehen. Dazu muß man selbstverständlich die richtigen Sprüche kennen: zum einen, um die Haselstaude anzusprechen, zum anderen, um den Wurm zu beschwören. Damit es ruhig bleibt, muß man das Zaubertier mit getrocknetem Beifuß bestreuen.
Bei diesem mysteriösen Wurm handelt es sich um die in der Tiefenmeditation erscheinende Imagination des archaischen Hirnstamms samt limbischem System (gekrönter Schlangenkopf). In diesem ältesten Teil des Nervensystems sind die Instinkte verankert. Sexualität, Fruchtbarkeit, auch Ahnungen und Stimmungen haben hier ihre physiologische Basis. Die Hasel kann diesem Zentrum feine Impulse vermitteln.
Vom Jenseits, aus dem tiefen Wald, kamen auch die Götter, ihren Tribut zu fordern, um zu segnen und zu inspirieren. Noch lange bis in unsere Zeit hinein kam der mit Tannen- und Stechpalmenzweigen geschmückte Lebensgeist durch den tief verschneiten Winterwald geschritten, segnete zur Sonnenwende die Tiere im Wald und im Stall, ehe er dann die Menschen mit der Vision des neu entstehenden Lebenslichts beglückte. Dieser lichtbringende Geist lebt weiter im Christkind, das zur Mitternacht kommt, wie auch im Weihnachtsmann. Von weit her kommt dieser, vom Nordpol oder aus dem finsteren saturnischen Tannenwald. Oft fliegt er, wie der Schamane, mit einem Rentierschlitten, reitet einen Hirsch oder geht gar zu Fuß. Eine lustige Bande Heinzelmännchen begleitet ihn. In tiefster Nacht schlüpft er durch den Rauchfang, um die Schlafenden mit der lebensspendenden Haselrute zu berühren und ihnen gutes Schicksal in die aufgestellten Schuhe zu streuen.
Auch zu anderen Zeiten, die der Reigen der Sonne, der Wandel des Mondes und das Weben kosmischer Konstellationen bestimmten, kamen die Jenseitigen, die Transsinnlichen, durch die Hecke, um eine Weile bei den Menschen zu wohnen. Beim Vollmond im Februar war es die weiße, jungfräuliche Lichtgöttin, die mit ihrem Bären und einer Schar übermütiger Elementarwesen die Erdhöhle verließ. Sie weckte die Bienen und die unter der Schneedecke noch schlafenden Samen; sie rüttelte an den Baumstämmen, so daß der Saft erneut floß. Auf ihren Einzug bereiteten sich die steinzeitlichen Menschen mit der reinigenden Schwitzhütte vor. Vergorener, mit Honig gesüßter Birkensaft sorgte für viel Lustbarkeit. Von den erwachenden Lebensgeistern ergriffen, von den tanzenden, johlenden Elementarwesen begeistert, fingen auch sie an wild zu tanzen und drollige Faxen zu schneiden. Auch den krankheitsbringenden Geistern – meist verkrüppelte, knorzige Gestalten mit verzerrten Gesichtern – huldigte man und schickte sie mit einigen kleinen Opfergaben wieder zurück in den Wald. Die alemannische Fastnacht mit ihren Wildmännle- und Hexentänzen ist ein Nachklang dieses alten Naturfestes. In den Umzügen mit scheußlichen und schönen Perchten werden die vielen transsinnlichen Wesenheiten, die die Menschensiedlungen zu dieser Jahreszeit besuchen, sichtbar dargestellt. Der 1. Februar, heute Lichtmesstag, wurde von den Inselkelten als Imbolc-Fest zu Ehren der Birkengöttin gefeiert. Als einer der »Kreuz-Viertel-Tage« gilt er noch immer als Hexenfeiertag.
»Freut euch, ihr Birken,
Freut euch, ihr grünen!
Zu euch gehen die Mädchen, euch bringen sie Kuchen, Backwerk und Omletten.«
(Altrussisches Lied)
Die Birke (Betula)
Der Geist des Birkenbaumes erschien den archaischen Menschen als eine in Licht gehüllte Jungfrau, voller Zauber- und Heilkraft. *Bhereg, »umhüllender Glanz«, nannten die Urindogermanen die gütige, menschenfreundliche Göttin. So heißt der Baum – in verschiedenen Abwandlungen – in den germanischen, slavischen, baltischen, keltischen und romanischen Sprachen noch immer. Überall wird er mit Reinheit, Licht und dem Neuanfang in Beziehung gesetzt.
Die Kelten sahen Brigit, die Muse der Weisheitssucher, Heiler und inspirierten Sänger, in der Birke. Sie ist die weiße, jungfräuliche Lichtgebärerin, die im Februar die Tage wieder länger werden läßt. In dieser Vorfrühlingszeit zapften die Naturvölker die Birken an, um die kostbare Flüssigkeit zu gewinnen. Der Saft treibt Harn und Galle, entschlackt und reinigt das Blut, stärkt Niere und Harnorgane.
Der lichte Baum rief bei slavischen und sibirischen Völkern schlanke, weißgefiederte Schwanenjungfrauen in den Sinn. Manchmal vermählten sich diese mit Schamanen und verliehen ihnen die Flügel, die sie in ätherische Dimensionen tragen würden. Die Germanen dachten beim Anblick des hellleuchtenden Baumes an Freya in ihrem herrlich funkelnden Halsschmuck (Brisingamens). Auch mit Bertha, »der Leuchtenden«, assoziierten sie den Baum.
Auch im fernen Himalaya weihte man die Birke (Sanskrit Bhurga) der strahlenden, weißen Göttin, deren Reittier der weiße Schwan oder die Gans ist. Sarasvati – so wird sie dort genannt – inspiriert die Menschen mit Weisheit und Gelehrsamkeit, mit Schreib- und Redekunst. Sie bringt alles zum Fließen, auch den Fluß der heilerischen und dichterischen Inspiration. Auch sie erscheint den Menschen im Februar, wenn ganze Scharen sauber herausgeputzter Schulkinder und Gelehrte ihr Bildnis durch die Straßen tragen. Die ersten Bücher, auf denen die vedischen Seher ihre Visionen niederschrieben, bestanden aus Birkenrinde. Auch in Europa galt die Birke als Baum des Lernens. Schon in der Antike wurde den Kindern mit Birkenruten die Lust zum Lernen beigebracht.
Die Birke steht wie die weiße, jungfräuliche Göttin selbst für Anfang und Neubeginn. Sie ist jung und frisch, gleich einem unbeschriebenen Blatt, auf dem sich Zukünftiges manifestieren kann. Birkengrün symbolisiert die Verheißung eines neuen Frühlings. Zum Anfang des landwirtschaftlichen Jahres steckt(e) der nordeuropäische Bauer Birkenzweige auf seine Äcker und Gebäude. Beim ersten Weidegang treibt er das Vieh mit Birkenruten oder läßt es über Birkenzweige laufen. Mit dem Birkenmaien »pfeffert«, »schmackostert« oder »fitzelt« er alles, was gedeihen soll. Auch die jungen Frauen werden nicht verschont und so mit viel Gelächter aus den Betten getrieben. Die Birke steht auch für den Anfang der Liebe. Schon in vorchristlichen Zeiten steckten verliebte Burschen zur Maienzeit frische, grüne Birkenzweige vors Haus der Angebeteten. Die jungen Leute tanzten freudige Reigen um den Maibaum – eine geschmückte Birke. Und wenn Freya die Liebe mit der Geburt eines Kindleins segnete, dann begrub man den Mutterkuchen (Plazenta) als Dankesopfer an die Göttin unter einer Birke. Auch die Wiege, das erste Bettchen des neuen Erdenbürgers, sollte aus Birkenholz geschnitzt werden.
Selbstverständlich machten die Druiden die Birke (Beth) zum ersten Buchstaben ihres Baumalphabets (Beth-Louis-Nion) und zum ersten Monat des Baumkalenders. Robert Ranke-Graves glaubt zu wissen, daß sich dieser Monat vom 24.12. bis zum 20.1. erstreckte (RANKE-GRAVES 1988). Da aber der keltische Kalender ein beweglicher Mondkalender war, der von Neumond zu Neumond ging, ist eine derart exakte Zeitangabe eher zweifelhaft. Wahrscheinlich fiel der Birkenmonat mit dem Erscheinen der Lichtjungfrau im Februar zusammen.
Die Germanen kannten eine Birken-Rune (), ein magisches Zeichen, das die weiblichen Wachstumskräfte des Frühlings vermittelte. Das wenigstens glaubt mein Freund Arc Redwood, ein englischer Gärtner, der diese Rune in Holz ritzt und rötet und wie ein Idol in seinem Garten aufstellt. Dadurch, behauptet er, wächst alles viel besser.
Nicht nur im kulturellen Sinn, sondern auch in der Natur, steht die Birke im Zeichen des Neubeginns. Der kältetrotzende Baum war der erste, der nach dem Abschmelzen der Eiszeitgletscher die freiwerdenden Böden besiedelte. Mit seiner Hilfe konnten die Steinzeitmenschen überleben. Ausgrabungen zeigen, daß paläolithische Jäger und Sammler ihre Pfeilspitzen und Harpunen mit Birkenteer am Schaft befestigten, Schuhe und Behälter aus Birkenrinde und Kleidung aus Rindenbast herstellten. Auch der jungsteinzeitliche »Ötzi«, den man tiefgefroren in einer Gletscherspalte im Ötztal fand, trug Birkenrindenbehälter bei sich. Wie unsere steinzeitlichen Vorfahren benutzen die Indianer und Sibirier noch heute Birkenrindenbehälter. Ahornsirup hält sich das ganze Jahr in solchen Behältern. In Notzeiten essen sie die Innenrinde, und im Frühling zapfen sie den zuckerhaltigen Saft an, den sie gelegentlich zu einem alkoholischen Getränk vergären lassen. Für die Ojibwa-Indianer ist die Birke noch immer der wichtigste Baum: Sie bedecken ihre Wigwams (Wohnhütten) und machen alles von Kanus bis Löffel, Teller und Worfeln für den Wildreis aus der Birkenrinde, sogar wasserdichte Eimer und Kochtöpfe. Gekocht wird in den genähten und verharzten Birkenrindentöpfen mit glühend heißen Steinen, die hineingetan werden.
Die Birke steht für Reinheit. Heiligtümer und sakrale Orte wurden mit Birkenbesen kultisch gefegt, um böse Geister hinauszubefördern. Später wurde aus dem archaischen Kultbesen der Hexenbesen, auf dem die Hexen zum Blocksberg fliegen. In England geht man gelegentlich noch immer mit dem Birkenbesen gegen unsichtbare fliegende Astralwesen (»Hexen«) oder die von ihnen herbeigehexten Läuse und Flöhe vor. Auch das alte Jahr wird mit einem Birkenbesen herausgekehrt. Im alten Rom trugen die Liktoren bei der Amtseinführung eines Magistraten ein rot geschnürtes Birkenreisigbündel voran. Das als Fascis bezeichnete Bündel, mit einem Beil in der Mitte, galt als Zeichen der säubernden Gesetzesmacht. Der Saubermann Mussolini vereinnahmte diese Symbolik für seine faschistische Bewegung.
In der Nähe des Einödhofs, auf dem ich lebe, steht eine »Besenkapelle«. Wie andere solche Kapellen im alemannischen Raum ist sie dem Pest-Patron Rochus geweiht. Leidet ein Einheimischer an »Aißen« (Hautkrankheiten), dann nimmt es ein Familienangehöriger auf sich, zu dieser Kapelle zu pilgern, um Heilung zu erbeten. Als Opfer muß er einen Besen aus Birkenreisig mitbringen. Vor einigen Jahren noch lagen Dutzende solcher Besen in der Kapelle.
Birkenruten gehörten – wie noch heute in der Sauna und im russischen Dampfbad – zum Inventar der steinzeitlichen Schwitzhütte. Das Peitschen des überhitzten Körpers wird als heilend und reinigend empfunden. Die Indianer vom Oberen See legen während des Schwitzhüttenzeremonials Birkenrinde – sie enthält ätherische Öle – zur Reinigung der Lungen und Haut auf die glühenden Steine.
Die archaischen Völker assoziierten die Birke mit Licht und Feuer. Aus zusammengerollter, getrockneter Birkenrinde stellten sie hell brennende Fackeln her. Aber nicht nur das. Der Zunderschwamm (Fomes fomentarius), der vor allem auf Birken wächst, eignet sich wie kaum etwas anderes zum Feuerzünden. Dabei wird ein Holzstock – meist ein Eschenstab – so schnell gequirlt, daß der Schwamm, der als Unterlage dient, zu glimmen beginnt und Feuer fängt. Im bildhaften Denken der Naturvölker ist das ein Sexualakt, wobei der Birkenschwamm den weiblichen, feuergebärenden Schoß darstellt – ein weiterer Bezug zur lichtgebärenden Göttin!
In der Neuen wie in der Alten Welt setzten Heiler den Kranken kleine glimmende Stückchen des Zunderschwamms als Brennkegel (Moxa, Punk, touch’wood) auf schmerzende Stellen. Solche angekohlte Schwammstücke wurden etwa bei Ausgrabungen der Maglemoos-Leute gefunden, die vor zehntausend Jahren in Nordeuropa lebten. Die heilige Hildegard von Bingen greift auf diese steinzeitliche Heilmethode zurück: Bei Rücken-, Glieder- und Eingeweideschmerzen verschreibt sie Brennkegel aus Birkenrinde. Aus der so entstandenen Brandwunde würde das Gift oder der Krankheitsgeist hinausgehen können.
Ein weiterer Schwamm ist mit der Birke symbiotisch assoziiert: Der rote, psychedelisch wirkende Fliegenpilz (Amanita muscaria). Mit seiner Hilfe kletterten die Schamanen der nördlichen Halbkugel den Weltenbaum »hinauf« bis zu den Wurzeln, um die Götter und Geister zu besuchen. Auch in diesem Zusammenhang ist der Bezug zum Licht gegeben: Der Fliegenpilz wird in Sibirien oft als Blitzpilz bezeichnet. Er wird nur nachts eingenommen, und er erzeugt im Inneren des Auges entoptische Lichtphänomene, die dem Aufleuchten von Blitzen ähneln. Nun verstehen wir auch, warum die Nordgermanen die Birke nicht nur der Freya, sondern auch dem Gewittergott Thor weihten. Manabozo, der Kulturheld der Ojibwa, fand in einer hohlen Birke Schutz vor den Geschossen der Donnervögel; seither räuchern die Indianer mit Birke, um diese Blitzträger zu beruhigen oder zu vertreiben. Die Allgäuer Bäuerinnen verbrennen übrigens auch Birkenzweige – die vom Fronleichnamsumzug übrigblieben –, wenn es allzusehr gewittert. In protestantischen Gegenden werden zu Pfingsten -dem Tag als der Heilige Geist in der Gestalt von Feuerzungen auf die Gläubigen herabkam – Gebäude und Fahrzeuge mit frischem Birkenlaub geschmückt.
Die Birke ist der Schamanenbaum schlechthin. Es ist eine geweihte, geschmückte Birke, die der eurasiatische Schamane hinaufsteigt, wenn er die Geisterwelt besucht. Seine Maske ist aus Birkenrinde geschnitten, seine Familiare sind aus Birkenholz geschnitzt. Der Rahmen der mit Rentierhaut überspannten Trommel ist aus dem Holz einer Birke – vorzüglich einer, die vom Blitz getroffen wurde. Die Sibirier erzählen, daß die Wiege des Urschamanen unter einer Birke stand und daß ihm Birkensaft in den Mund getropft sei.
Auch die Toten werden von Birken geborgen und beschützt. Die Ojibwa wickeln ihre Toten in Birkenrinde ein. Die Jakuten umhüllen damit den Kopf erlegter Bären. Die Kelten setzten den Toten – etwa dem Fürsten von Hochdorf oder dem Krieger von Hirschlangen – einen konischen Birkenhut auf. Eine alte schottische Ballade erzählt von den verstorbenen Söhnen, die ihrer Mutter mit Birkenhüten auf dem Kopf erscheinen. Die Hüte sind ein Zeichen, daß sie nicht als Gespenster herumspuken wollen, sondern wieder in den Himmel zurückkehren werden.