RENATA SALECL
DIE TYRANNEI
DER FREIHEIT
Warum es eine Zumutung ist,
sich anhaltend entscheiden zu müssen
Aus dem Englischen von Yvonne Badal
Karl Blessing Verlag
RENATA SALECL
DIE TYRANNEI
DER FREIHEIT
Warum es eine Zumutung ist,
sich anhaltend entscheiden zu müssen
Aus dem Englischen von Yvonne Badal
Karl Blessing Verlag
Titel der Originalausgabe: The Tyranny of Choice
Originalverlag: Profile Books Ltd, London
1. Auflage
Copyright © 2010 der Originalausgabe by Renata Salecl
Copyright © 2014 by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie
nach einer Originalvorlage von Dan Mogford/Henry Yen
Umschlagfoto: Jon Shireman
Satz: Leingärtner, Nabburg
ePub-ISBN: 978-3-641-13380-1
www.blessing-verlag.de
Inhalt
Einführung
1 Warum eine Auswahl beklommen macht
2 Die Wahl mit fremdem Blick
3 Liebe: Die Qual der Wahl
4 Kinder: Haben oder nicht haben?
5 Die erzwungene Wahl
Fazit: Die Scham und der soziale Wandel
Anmerkungen
Bibliografie mit ergänzenden Literaturhinweisen
Dank
Einführung
Beim Stöbern in der Selbsthilfeabteilung eines New Yorker Buchladens stieß ich auf den Titel All About Me: ein Buch ohne Inhalt, abgesehen von ein bis zwei Fragen pro Seite über die Vorlieben und Abneigungen des Lesers, seine Erinnerungen und seine Zukunftspläne.
Diese Leere ist ein geradezu perfektes Sinnbild für die Folgen der vorherrschenden Ideologie in der industrialisierten Welt: Das Individuum ist sein eigener Gebieter und frei, jedes Detail seines Lebens selbst zu bestimmen. In der heutigen Konsumgesellschaft sind wir nicht nur zur Wahl unter Produkten aufgefordert, wir sollen unser ganzes Leben als eine Aneinanderreihung von möglichen und getroffenen Wahlen betrachten.
So sah ich mich beispielsweise während einer einzigen Zugfahrt laufend an meine Freiheit gemahnt, aus meinem Leben zu machen, was ich will. Die Werbung für eine Universität ermunterte mich: »Werde, was du willst.« Eine Brauerei drängte mich: »Sei du selbst.« Ein Reiseveranstalter hielt mich dazu an: »Lebe – buche jetzt.« Auf dem Cover von Cosmopolitan stand: »Werde du selbst – nur in deiner besseren Version.« Der Bildschirm des Bankomaten der Chase Manhattan Bank informierte mich: »Your choice. Your Chase.« Selbst in postkommunistischen Ländern erzählt uns die Werbung inzwischen ohne Unterlass, dass wir selbst entscheiden könnten, welches Leben wir führen wollen. In Slowenien fragt eine Dessousfirma auf riesigen Plakatwänden: »Welche Frau willst du heute sein?« Das Logo eines bulgarischen Mobilfunkbetreibers lautet: »Es ist deine Stimme«, sein kroatisches Pendant wiederholt das Mantra: »Sei du selbst!«
Du selbst zu werden scheint allerdings keine einfache Sache zu sein. Ein kurzer Blick auf die amerikanischen Bestsellerlisten lässt erkennen, wie viel Zeit und Geld Menschen investieren, um herauszufinden, wie sie »sie selbst« werden können: Change Your Thought: Change Yourself; You: The Owner’s Manual; Now Discover Your Strengths; Reposition Yourself. Jeder dieser Titel bietet eine andere Strategie zur Neudefinition deines Lebens an. Astrologieseiten im Internet preisen kostenlose Einblicke in dein »wahres Ich«, die Werbung im Fernsehen ermuntert zu deiner Verschönerung von Kopf bis Fuß, und für jeden Aspekt des privaten und öffentlichen Lebens stehen Coaches zur Verfügung, die dir helfen, deinen idealen Lebensstil zu verwirklichen.
Doch keiner dieser Ratschläge garantiert uns Zufriedenheit. In Wirklichkeit bestärken sie unsere Ängste und Beklemmungen.
Jennifer Niesslein, Chefredakteurin einer Zeitschrift, beschloss eines Tages, ihre Probleme durch die strikte Befolgung der Ratschläge aus einer Vielzahl von Selbsthilfebüchern zu lösen, die ihr allesamt einen Weg zu Glück und einem erfüllten Leben versprachen. In ihrem eigenen Buch Practically Perfect in Every Way schilderte sie dann zwei Jahre der Hörigkeit: Sie hatte Ratschläge befolgt, wie sie abnehmen, die Wohnung entrümpeln, eine bessere Mutter und Partnerin werden und ein Leben in heiterer Gelassenheit führen könne. Nach Ablauf dieser Zeit litt sie unter ernsthaften Panikattacken.1 Sie war unzufriedener, nicht glücklicher geworden. Obwohl diese Perfektionierungsversuche ihrer selbst und ihres Lebens all ihre Zeit in Anspruch genommen hatten, konnte sie sich am Erreichten nicht erfreuen – nicht an der makellos reinen Küche, nicht an den drei selbst gekochten Mahlzeiten pro Tag und nicht an ihren neu erworbenen Kommunikationsfähigkeiten. Sogar das Gewicht, das sie unter großen körperlichen Anstrengungen verloren hatte, legte sie binnen weniger Monate wieder zu. Da beschloss sie, Bilanz zu ziehen und herauszufinden, warum die meisten Frauen lieber solchen Ratschlägen folgen als den Versuch unternehmen, etwas zu ihren eigenen Bedingungen zu verändern: »Wir fühlen uns für so vieles in unserem Leben verantwortlich. Der Job, die Kinder, die Verantwortung für die Ehe. Wenn man sich da an jemanden wenden kann, der einem sagt, was man tun soll, ist das schon tröstlich.«2
Wie kommt es, dass dieser stetige Zuwachs an Wahlmöglichkeiten – die ja angeblich dazu beitragen, dass wir unser Leben unseren Bedürfnissen anpassen und vervollkommnen können – die Bürger unserer entwickelten Welt nicht zufriedener, sondern nur noch ängstlicher macht, und dass er zu nur noch mehr Schuld- und Unzulänglichkeitsgefühlen führt? Und wie kommt es, dass Menschen sich von ihren Beklemmungen zu befreien versuchen, indem sie bereitwillig x-beliebigen Ratschlägen von Werbeleuten oder Astrologen folgen, Beauty-Tipps von der Kosmetikindustrie annehmen, sich den Wirtschaftsvoraussagen von Finanzberatern beugen und ihre Beziehungsprobleme dem Rat der Verfasser von Selbsthilfebüchern überlassen? Bedenkt man, dass sich immer mehr Menschen solchen so genannten Experten fügen, scheinen wir uns in Wirklichkeit wohl eher von unserer Qual der Wahl befreien zu wollen.
Wer sein Leben mithilfe solcher vermeintlichen Autoritäten zu verbessern sucht, der sieht sich oft in einem Teufelskreis gefangen. Unter Nutzerinnen der FlyLady.net-Website (FLY steht für Finally Loving Yourself) haben Psychoanalytiker zum Beispiel ein bezeichnendes Zwangsverhalten beobachtet: Die Betreiber fordern von ihnen, Tagebuch über die täglich gestellten Aufgaben zu führen, durch die sie ihren Lebensraum, ihre Gefühle, ihre Beziehungen und ihren Körper entrümpeln sollen. Sie befolgen diese Anordnungen, klagen gegenüber Psychoanalytikern aber, dass sie ständig an den Aufgaben scheitern und ihre To-do-Listen immer länger würden. Manche verhalten sich, als sei ihr ganzes Leben nur noch eine Liste von Leistungen, die sie erbringen müssten – dieses oder jenes erledigen, soundso viele Pfunde Gewicht verlieren oder bis zu einem bestimmten Alter geheiratet, ein Kind bekommen und das perfekte Heim erschaffen zu haben. Dabei scheint ihnen das Klagen über die eigenen Unzulänglichkeiten, wie selbstverursacht auch immer, seltsamerweise jedoch Vergnügen zu bereiten.
Dieser selbstquälerische Hang geht Hand in Hand mit der Jagd nach immer weiteren Möglichkeiten, sich Genuss zu verschaffen. Die postindustrielle kapitalistische Ideologie neigt dazu, das Individuum – insbesondere Frauen – zu behandeln, als gehe es ihm primär um grenzenlose Wunschbefriedigung. Diesem Porträt zufolge sind wir stets darum bemüht, die Möglichkeiten unseres Genusses zu erweitern, um uns unsere stetig wachsenden Sehnsüchte noch erfüllen zu können. Paradoxerweise gelingt es jedoch gerade in einer schrankenlosen Gesellschaft vielen nicht, Erfüllung zu finden. Deshalb geraten ja auch so viele auf den Abweg der Selbstzerstörung. Ungehemmter Konsum führt tendenziell zur Selbstkonsumierung – man denke nur an solche geläufigen Folgen wie Bulimie, Magersucht oder Drogenabhängigkeit.
Als 2008 die gegenwärtige Wirtschaftskrise einsetzte, schien es zuerst, als sei die Qual der Wahl durch die der Zurückhaltung ersetzt worden: Glück durch Gram, individuelle Freiheit durch die Sehnsucht nach einer Autorität, die sich der Dinge annimmt und sie wieder ins Lot bringt. Standartenträger wie die Financial Times berichteten über die plötzlich so düstere Wirtschaftslage unter Schlagzeilen wie »A Borrowed Tomorrow« oder »Payback Time« oder »Wall Street Drowns Its Sorrows«. Eine Gesellschaftsanalyse rief zu einem Realitätscheck und einem glatten Bruch mit den alten Lebensgewohnheiten auf. Mit einem Mal schien alles von einer gewissen Irrationalität überlagert. Selbst in der Kunstkritik nahm der Diskurs einen neuen, fatalistischen Ton an. Die Frage, wie man »das Ende der ›Zivilisation‹« überleben könne, wurde mit Rückgriffen auf eine taoistische »Harmonie und Balance« beantwortet, derweil man aufgefordert wurde, der »Stimme der Zukunft« zu lauschen und das »Lied von der Einfachheit« zu singen.3 Doch kaum zeichnete sich ein Hoffnungsschimmer ab, dass diese Krise vielleicht doch keine ökonomische Kernschmelze nach sich ziehen würde, tauchte wieder das mächtige ideologische Instrument der Konsumgesellschaft auf: die Idee der Wahl. Diesmal war sie zwar in Debatten über die Frage verpackt, ob Wohlstand wirklich glücklicher mache und Geltungskonsum wirklich die beste Freizeitbeschäftigung sei, doch selbst Vorschläge zur Simplifizierung des Lebens gingen mit der Aufforderung einher, eine Wahl zu treffen – nur dass der Konsument dabei die Wahl treffen sollte, keine Wahl mehr zu treffen. Und das bedurfte in vielen Fällen offenbar eines Ratgebers. Sich einfach von Dingen zu trennen oder Überflüssiges zu spenden war keine Option. Man wollte nachlesen, wie so etwas geht.
Das Bild vom Wohlstand hatte sich natürlich nicht über Nacht gewandelt. Es war ja nicht so, dass die Menschen eines schönen Morgens aufwachten und ihr Leben mit anderen Augen sahen. Die Saat der bevorstehenden Wirtschaftskrise war viel früher ausgebracht worden. Und schon zu Zeiten des Überflusses hatte die Ideologie der Wahl Depressionen ausgelöst. Das bezeugen nicht zuletzt die Ängste und Unsicherheiten, die im letzten Jahrzehnt des postindustriellen Kapitalismus um sich gegriffen hatten. So gesehen erscheint diese Krise fast schon wie die Erfüllung der Sehnsucht nach wenigstens einer gewissen Begrenzung dieses Übermaßes an Wahlmöglichkeiten und somit auch nach der Entlastung von dem permanenten Druck, den diese ausüben, wenngleich das in den fetten Jahren kaum zum Ausdruck gebracht wurde. Man könnte sogar sagen, dass der Ausbruch dieser Krise in manchen Kreisen eine regelrechte Erleichterung auslöste – dort, wo man sich längst nach einer gewissen Deckelung all der Extravaganzen und zahllosen Chancen gesehnt hatte, die Geld im Überfluss mit sich bringt, ohne jedoch wirklich eine Konsequenz daraus zu ziehen. Die New York Times fing diese neue puritanische Stimmung unter den Wohlhabenden in der Überschrift »We’re Going to Party Like It’s 1929« ein. In dem Artikel skizzierte sie dann, wie man anlässlich der bevorstehenden Feiertage am Jahresende eine bescheidenere, trotz der geschrumpften Budgets aber noch angemessene Dinnerparty geben könne. Eine Society Lady wurde mit den Worten zitiert: »Die Sache mit der Rezession ist, dass sie vom Druck befreit. […] Sie gestattet dir, den ganzen unnötigen Ballast abzuwerfen und dich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Freunde, Familie, Zweisamkeit.«4 Allerdings bedurften die Gastgeberinnen der Society dazu offenbar ebenfalls eines Rats und heuerten deshalb eigens Berater an, die ihnen beibrachten, wie sie ihre Gäste auch in Zeiten der Krise angemessen unterhalten konnten. Ihr Wunsch, sich von den Wonneschauern des Konsums zu verabschieden, war spürbar ambivalent: Vielleicht haben sie sich ja nach einer Begrenzung ihrer Wahlmöglichkeiten gesehnt, aber doch nicht nach allzu vielen, und wenn, dann sollte doch bitte jemand anders an ihrer statt damit klarkommen.
In diesem Buch geht es nicht einfach nur um die Frage, warum Menschen beginnen, unnütze Dinge einzukaufen, wenn sie mit ihrem Leben unzufrieden sind, sondern auch um den Versuch einer Erklärung, warum sie die Idee der Wahlfreiheit begrüßen und was sie gewinnen oder verlieren, wenn sie das tun. Die Bürger mögen sich vielleicht wegen terroristischer Bedrohungen oder neuer Viren oder Umweltkatastrophen sorgen, aber die intensivsten Gedanken machen sie sich üblicherweise um ihr privates Wohlergehen – um ihre Jobs, ihre Beziehungen, ihre Finanzen, ihr gesellschaftliches Ansehen, die Bedeutung ihres Lebens oder um ihr Vermächtnis.5 Jeder dieser Gedanken ist mit einer Wahl verknüpft. Und da wir nach Vollkommenheit nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch in der Zukunft streben, wird es immer schwieriger, Entscheidungen zu treffen. Wahlmöglichkeiten bringen ein enormes Verantwortungsgefühl mit sich, und das ist untrennbar mit Versagensängsten, Schuldgefühlen und der beklommenen Vorstellung verbunden, dass man es bedauern werde, falls man die falsche Wahl trifft. Und all das zusammen trägt zu dem tyrannischen Aspekt der freien Wahl bei.
Der Soziologe Richard Sennett schreibt:
In einer seiner ältesten Bedeutungen innerhalb des politischen Denkens erscheint das Wort »Tyrannei« synonym mit Souveränität. Wenn eine Großstadtgesellschaft alles auf ein allgemeines, souveränes Prinzip oder auf einen souveränen Herrscher bezieht, wird diese Gesellschaft von diesem Prinzip oder diesem Herrscher tyrannisiert. [… Die Verführung] kann ebenso wohl von einer Institution, die zur alleinigen Quelle von Autorität wird, oder von einer Grundüberzeugung herrühren, die zum einzigen Maßstab der Realität erhoben wird.6
Zu einem genau solchen tyrannischen Prinzip entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten die Idee der Wahl, wie sie in der Rational Choice Theory oder Theorie der rationalen Wahl zum Ausdruck kommt.
Die Theorie der rationalen Wahl setzt voraus, dass Menschen denken, bevor sie handeln, und immer versuchen, ihren eigenen Nutzen aus einer gegebenen Situation zu ziehen und dabei ihre Kosten zu minimieren. Das heißt, sie wählen angeblich – je nach herrschenden Umständen und vorausgesetzt, es liegen ihnen genügend Informationen vor – immer die Option, die in ihrem besten eigenen Interesse liegt. Kritiker dieser Theorie entgegnen, dass Menschen selbst dann nicht immer im besten eigenen Interesse handeln, wenn sie wissen, welches das ist – wieso sonst gebe es so viele Fälle, in denen Menschen sich wohltätig oder altruistisch und eben nicht auf der Basis des nackten Eigennutzes verhielten? Auch die Psychoanalyse erklärt, dass Menschen oft Verhaltensweisen an den Tag legten, die etwas für sie Unangenehmes maximieren und damit minimieren, was ihnen von Nutzen wäre – dass sie manchmal sogar eine besondere Befriedigung daraus zögen, gegen ihr eigenes Wohl zu handeln. Aber davon einmal ganz abgesehen, werden ihre Entscheidungen selbst dann, wenn sie über alle nötigen Informationen für eine bestmögliche Wahl verfügen, ohnedies immer auch stark von solchen äußeren Faktoren wie der Meinung anderer oder von inneren Faktoren wie ihrem eigenen unbewussten Begehren gesteuert.
Das Problem in unserer heutigen Gesellschaft, die nicht nur die freie Wahl verherrlicht, sondern demnach auch die Idee vertritt, dass diese grundsätzlich im Einklang mit dem individuellen Interesse stehe, ist jedoch nicht nur die Bandbreite der vorhandenen Wahlmöglichkeiten, sondern auch die Art und Weise, wie diese sich darstellen. Lebensentscheidungen werden auf dieselbe Weise getroffen wie Konsumentscheidungen: Wir begeben uns in gleicher Weise auf die Suche nach dem »richtigen« Leben wie nach der richtigen Tapete oder Haarspülung. Unsere Beratungskultur stellt die Suche nach einem Partner nicht viel anders dar als die Suche nach einem Auto: Zuerst müssen wir alle Vor- und Nachteile abwägen, dann einen Vorvertrag abschließen, im Laufe der Zeit Beschädigtes wieder instand setzen, irgendwann das alte Modell gegen ein neues eintauschen, und schließlich, wenn wir der ganzen Scherereien und Verpflichtungen überdrüssig sind, entscheiden wir uns für ein zeitgebundenes Leasing.
Einst war eine Wahl primär die Angelegenheit der Ober- und Mittelschichten. Heute geraten sogar die Bewohner der noch armen Länder in tiefste Bedrängnis durch die der Wahl-Ideologie immanenten Widersprüche. Denn in Wahrheit leiden sie, die ja inzwischen angeblich ebenfalls frei entscheiden können, was sie aus ihrem Leben machen wollen, nun ebenfalls unter zahllosen Zwängen. Man erzählt nun auch ihnen, dass ein jeder ein Kunstwerk aus dem eigenen Leben machen und jedes einzelne Element davon nach eigenem Gutdünken gestalten könne; und man ermuntert auch sie, so zu handeln, als lebten sie in einer idealen Welt und könnten einmal getroffene Entscheidungen jederzeit wieder rückgängig machen. In Wirklichkeit hindern ökonomische Zwänge Menschen aller Länder an jeder echten Entscheidungsfreiheit, mit der Folge, dass eine falsche Wahl katastrophale Folgen nach sich ziehen kann. Sogar in den Vereinigten Staaten mangelt es mittellosen Menschen an der Befähigung, ihren Nutzen aus den gebotenen Wahlmöglichkeiten zu ziehen. Dort kann man bekanntlich unter einer riesigen Bandbreite an medizinischen Behandlungen und Techniken wählen, sofern man krankenversichert ist und sie sich deshalb leisten kann. Nicht versicherte Mittellose können sich jedoch nicht einmal für die grundlegendsten Behandlungen entscheiden. Und selbst Menschen, für die Geld kein Thema ist, kann eine solche Wahl zur Qual werden: Einerseits erzählt ihnen die neueste Forschung, dass ihre Gene längst bestimmt hätten, welche Krankheiten sie bekommen und wie lange sie leben werden; andererseits macht man sie für ihren Gesundheitszustand selbst verantwortlich, je nachdem, welche Lebensweise sie führen.
Das Ziel dieses Buches ist es, herauszufinden, inwieweit die Prämisse, dass wir selbst wählen könnten, wer wir sein wollen – oder der Imperativ, »du selbst« zu werden –, inzwischen gegen uns arbeitet, uns nur noch beklommener und habsüchtiger macht und keineswegs mehr Freiheit schenkt. Der französische Philosoph Louis Althusser erklärte, dass die Verbindung, die der postindustrielle Kapitalismus mit der Ideologie der Wahl einging, kein Zufall sei, weil sie ihn befähige, seine Vorherrschaft zu perpetuieren. Althusser zufolge ist unser eigentliches Problem, dass wir die Strukturen unseres Lebens per se nicht wahrnehmen. Die Gesellschaft funktioniert als etwas Offensichtliches, etwas Gegebenes, fast schon Natürliches. Um die verborgenen Imperative verstehen zu können, die Chiffren des Seins, die verdeckten Voraussetzungen, welche Philosophen als »Ideologien« bezeichnen, müssen wir den Schleier des Offensichtlichen und Gegebenen lüften. Erst dann nehmen wir die spezifische, höchst durchstrukturierte Logik wahr, der wir tagtäglich gedankenlos gehorchen. Natürlich ist es durchaus möglich, dass jemand »die Gesellschaft« oder »den Status quo« ablehnt. Doch damit eine bestimmte Ideologie überleben kann, ist es paradoxerweise gar nicht erforderlich, dass wir sie aktiv befürworten oder übernehmen. Entscheidend ist einzig, dass wir keinen Zweifel an ihr zum Ausdruck bringen. Alles, dessen es bedarf, damit Menschen sich der Mehrheitsmeinung anschließen, ist die Überzeugung, dass das, was die meisten anderen glauben, wahr sei. Ideologien blühen und gedeihen auf dem Boden des »Glaubens an den Glauben anderer«. Vielleicht am deutlichsten trat das in den einstigen kommunistischen Regimen zutage: Die meisten Menschen trauten der herrschenden Ideologie nicht wirklich und urteilten nach dem Motto: »Ich glaube nicht an die Partei, aber es gibt zahlreiche Leute, die mächtiger sind als ich, oder auch solche wie mich (nicht nur Apparatschiks), die an sie glauben, also werde ich auf Linie bleiben.« (Rückblickend betrachtet, scheint es nicht einmal unter den Apparatschiks viele wirklich Gläubige gegeben zu haben; oft hegten sie tiefstes Misstrauen gegen Genossen, die sich auf die Werke der sozialistischen Gründerväter Marx und Engels beriefen.) Was die kommunistische Gesellschaft letztendlich zusammenhielt, war der Glaube an diese fiktiven anderen, die angeblich gläubig waren und insofern den Glauben als solchen bestärkten.
Diese Logik lässt sich auch auf die Ideologie der Wahl übertragen. Vielleicht glauben wir nicht einmal, dass unsere Wahlmöglichkeiten grenzenlos seien oder dass wir wirklich voll und ganz selbst die Richtung unseres Lebens bestimmen und aus uns machen könnten, was wir wollen. Aber wir glauben, dass jemand anders an diese Idee glaubt, und bringen deshalb keine Zweifel an ihr zum Ausdruck. Alles, was nötig ist, damit die Ideologie der Wahlfreiheit in der postindustriellen Gesellschaft derart machtvoll wirksam bleiben kann, ist, dass die Bürger ihren Unglauben für sich behalten.
Wenn wir Schuldgefühle angesichts der Person haben, als die wir uns empfinden, und uns deshalb permanent zu »bessern« versuchen, geht uns die Perspektive verloren, die für die Einleitung eines jeden sozialen Wandels nötig ist: Wir arbeiten so hart an unserer Selbstperfektionierung und haben dabei solche Versagensängste, dass wir die Energie und Fähigkeit verlieren, uns in irgendeiner Form an einer gesellschaftlichen Veränderung zu beteiligen.
Wenn wir uns von diesen Ängsten befreien wollen, dann müssen wir erst einmal begreifen, wie sie uns überhaupt in den Griff bekamen und wie sie funktionieren. Und wenn wir hoffen, die Funktionsweisen der Gesellschaft verändern zu können, dann müssen wir erst einmal zur Kenntnis nehmen, dass es Alternativen zu der Tyrannei der Wahl gibt, die eine so zentrale ideologische Rolle im Spätkapitalismus spielt. Anstatt die rationale Wahl zu verherrlichen, müssen wir erkennen, dass Entscheidungen oft unbewusst getroffen werden, und verstehen, auf welche Weise sie von der Gesellschaft beeinflusst werden.
In Zeiten einer Wirtschaftskrise stellen sich aber noch andere Fragen. Wie lernen wir, anstatt mit endlos freien mit deutlich eingeschränkten Wahlmöglichkeiten zu leben? Wie können wir von der Vorstellung, dass alles möglich sei, zu der Erkenntnis gelangen, dass vieles nicht mehr möglich ist? Wie können wir den Glauben an das Versprechen begraben und uns der Realität stellen? All diese Fragen konfrontieren uns mit der schwierigen Logik des Verlusts. Unsere entwickelte Welt erschuf in den letzten Jahrzehnten die Illusion von einer ewigen Gegenwart – die Vergangenheit spielt keine Rolle, und es steht uns frei, wie wir die Zukunft gestalten wollen. Aber darin enthalten ist die Realität des Verlusts. Entscheidungen sind noch schwerer zu treffen, wenn man als der Gebieter des eigenen Schicksals wahrgenommen wird, als der Meister des eigenen und des Wohlergehens all derer, die uns nahestehen, zum Beispiel das unserer Kinder. Das Gefühl, einmal getroffene Entscheidungen bereuen zu müssen, oder die Angst, einen Fehler zu begehen, kann einen schlicht überwältigen. Um solche Verlustgefühle, solches Bedauern und diese alles durchdringenden Ängste zu vermeiden, versuchen wir Risiken zu minimieren oder wenigstens berechenbar zu machen. Eine Gesellschaft, die die freie Wahl über alles stellt, verlässt sich darauf, dass die Bürger Risiken vermeiden oder wenigstens nur kalkuliert eingehen.
Eine Krise lässt sich als der Moment definieren, in dem man die Kontrolle verliert – der Moment, in dem die uns vertraute Welt zusammenbricht und wir mit dem Unbekannten konfrontiert sind. Doch wie immer die Folgen dieser Krise für die Gesellschaft als solche aussehen, können sie für das Individuum doch der Moment sein, in dem es neu bewertet, worauf es wirklich ankommt. Wenn eine Wirtschaftskrise die Menschen zum Sparen zwingt, sind sie auch gezwungen, ihre Wünsche zu überdenken. Sparen heißt Wünsche opfern – oder zumindest zurückstellen.
Noch bis vor Kurzem hat die Gesellschaft der freien Wahl uns zur sofortigen Wunschbefriedigung animiert und uns beigebracht, nie ein Bedürfnis hintanzustellen. Doch sogar während dieses Prozesses hatten Menschen schon zu dem Mittel gegriffen, sich selbst neue Grenzen zu setzen, um ihre Wünsche am Leben zu erhalten: Sie haben sich eigene Verbote auferlegt, um den gesellschaftlichen Druck auf Wunschbefriedigung im Zaum zu halten. Deshalb widerspreche ich auch all den Theorien, die davon ausgehen, dass unsere Gesellschaft keine Grenzen kenne. Es gibt einen Unterschied zwischen einer Gesellschaft, der Grenzen fremd sind, und einer Ideologie, die diese Gesellschaft als eine grenzenlose darstellt. Während die Medien unsere gegenwärtige Ideologie in grenzenlos realisierbare Wünsche verwandeln, ringt das Individuum mit selbst gesetzten Verboten.
Fjodor Dostojewski schrieb, wenn es keinen Gott gebe, dann sei alles erlaubt. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan reversierte das zu: Wenn Gott nicht existiert, ist nichts mehr erlaubt. Soll heißen, dass der Verlust des Glaubens an eine Autorität, die uns Handlungen verbieten kann, nicht der Freiheit Tür und Tor öffnet, sondern für die Erschaffung neuer Grenzen sorgt. Hinsichtlich der Ideologie der Wahl sind wir mit ähnlichen Reversionen konfrontiert: Die unbegrenzten Wahlmöglichkeiten, die uns angeblich zur Gestaltung des eigenen Lebens zur Verfügung stehen, haben sich in neue Verbote verwandelt, nur dass uns diese Grenzen heutzutage von keiner äußeren Autorität wie zum Beispiel den Eltern oder Lehrern gesetzt werden. Heute erlegen wir uns diese Verbote selbst auf, derweil eine riesige Beratungs- und Selbsthilfeindustrie es uns ermöglicht, unter anderen Autoritäten freiwillig diejenigen zu wählen, an die wir das Recht delegieren wollen, unsere Wahlmöglichkeiten zu begrenzen.
Dieses Buch wird aufzeigen, in welche Sackgassen die Ideologie der Wahl führen kann, wenn sie dem Individuum die Last aufbürdet, der absolute Gebieter des eigenen Wohlergehens zu sein und ausschließlich selbst die Richtung zu bestimmen, die das eigene Leben nimmt. Und es wird aufzeigen, wie wenig diese Ideologie zu einem denkbaren Wandel der gesellschaftlichen Organisationsstruktur beiträgt. Es gibt Momente, in denen eine rationale Wahl möglich für das Individuum ist, und es gibt Momente, in denen wir irrationale und manchmal regelrecht abträgliche Entscheidungen treffen. Die freie Wahl ist ein machtvoller Mechanismus in den Händen von Bürgern. Immerhin ist sie nicht nur die Basis für jedes politische Engagement, sondern auch für den politischen Prozess als solchen. Wird sie jedoch als das ultimative Instrument zur Gestaltung des individuellen Lebens verherrlicht, dann bleibt kaum noch Raum für Sozialkritik. Wir mögen uns zwar geradezu zwanghaft an unsere individuellen Wahlmöglichkeiten klammern, verlieren dabei aber häufig aus den Augen, dass sie praktisch nichts Individuelles an sich haben, sondern in Wirklichkeit von der Gesellschaft beeinflusst werden, in der wir leben.