Ich kenne diesen Blick. Ich kenne ihn nur zu gut, sehe ihn ja oft genug. Er bedeutet: Wie kannst du mir das antun? Wann wirst du endlich erwachsen? Schämst du dich denn gar nicht?
So, wie normalerweise Mütter ihre Töchter ansehen.
Bei uns ist das umgekehrt. Ich ernte diese vorwurfsvollen Blicke immer von meiner Tochter Lilly.
Natürlich habe ich sie die Treppe raufrennen hören. Wie sie ins Bad stürmt, aber außer einer Wanne voll mit Wasser und zusammengefallenem Schaum nichts mehr vorfindet. Der schöne Siegfried und ich hatten uns längst wieder in mein Schlafzimmer zurückgezogen. Sie klopft nur höflichkeitshalber und stürmt sofort herein. Sie hat Glück, wir sind gerade nicht leidenschaftlich verstrickt. Wir befassen uns mit Kunst.
Ich, Eva Mann, liege im Evakostüm auf meinem Bett. Siegfried steht im Siegfriedkostüm an der Staffelei und malt an einem Bild, das mich darstellen soll. Okay, die Haarfarbe hat er ganz gut getroffen, vielleicht ein bisschen zu blond. Und die Mähne viel zu lang. Wenn ich so aussähe wie auf seinem Bild, dann könnte ich mir die Haare um die Hüfte schlingen. Geht leider nicht, sie sind nur schulterlang. Ich fühle mich auch etwas gestaucht auf seinem Bild. Kürzer als in Wirklichkeit und dicker. Er hat im ersten Schwung den Oberkörper etwas größer skizziert, vor allem meine Oberweite. Schließlich mussten meine Beine dran glauben. Siegfried hat sie quasi geknickt. Das soll lässig aussehen, wirkt aber eher so, als könnte ich damit nie wieder gehen.
Wenigstens sehe ich sehr jung aus. Gut, das höre ich öfter, dass ich wirke wie Mitte 30. Aber auf dem Bild, das ist wohl eher eine Abiturientin, mit märchenhaft langem Haar und verbogenen Beinen. Eine Meerjungfrau vielleicht?
Siegfried betrachtet mich und malt. Ich betrachte ihn und erfreue mich an diesem Anblick. Ich rauche. Er raucht. Manchmal brauchen wir das.
»Schämst du dich denn gar nicht?«
Auch diese Frage kenne ich. Von meiner Mutter. Jetzt höre ich sie von meiner Tochter. Was habe ich nur falsch gemacht bei der Erziehung?
Lilly kommt auf mich zu, nimmt mir die Zigarette aus der Hand, zerdrückt sie im Aschenbecher und wischt sich die Hände angeekelt an einem Papiertaschentuch ab, das sie aus ihrer Jogginghose zieht. Siegfried und seinen schönen Körper würdigt sie keines Blickes.
»Unten warten Kinder mit Zahnschmerzen und du vergnügst dich mit Hasch und Bettgeschichten.«
»Habe ich dich nicht aufgeklärt? Das hier nennt man nicht Sex, sondern Modellstehen. Oder vielmehr Modell liegen.«
»Außerdem bin ich kein Sexobjekt, sondern eine Beziehung«, mischt sich Siegfried völlig unnötigerweise in die Mutter-Tochter-Diskussion ein. Dazu sage ich nichts. Für mich ist Siegfried ein entspannendes Geschenk der Natur. Aber davon gibt es mehrere. Und bislang gab es keinen Grund, warum ich auf die anderen verzichten sollte, nur weil dieser eine nun wirklich besonders gut aussieht und ganz sympathisch ist.
»Du nimmst Drogen und behandelst danach kleine Kinder!«
Dieser vorwurfsvolle Unterton. Ich kann ihn kaum ertragen.
»Das war eine ganz normale Zigarette - und es ist eine Ausnahme! Du weißt, dass ich eigentlich nicht mehr rauche. Und Siegfried braucht das Kiffen für seine künstlerische Arbeit.«
Warum rechtfertige ich mich eigentlich? Was geht es meine strenge Tochter an, was ich tue und lasse? Ist sie nicht volljährig? Könnte sie nicht längst ausziehen?
Stopp. Das ist ein böser Gedanke. Denn eigentlich lieben wir uns, auch wenn man's oft nicht merkt. Lilly kann so nett sein. Lachen, witzig und geistreich reden, manch mal sogar zeigen, dass sie mich mag. Ab und zu ist sie sogar eine wundervolle Tochter. Wenn sie nicht versucht, mich zu erziehen.
Siegfried hält Lilly seine Tüte hin. Offenbar vermutet er, dass sie uns um unser Privatvergnügen beneidet. Ich will ihn noch warnen, weil ich schon befürchte, dass sein Joint diesen Angriff nicht übersteht. Tut er auch nicht. Wandert in den Aschenbecher zu meiner Zigarette.
»Hehe!« Siegfried ist richtig sauer. Zu recht.
»Deine Patienten!« Das ist Lilly. Sie redet mit mir.
»Deine Tochter spinnt!« Das ist Siegfried. Redet auch mit mir.
»Sie haben Schmerzen und du ...«
»Ist die eigentlich adoptiert?«
»Wirf ihn raus, das ist ja nicht mal ein Homo sapiens.«
»Lieber Urmensch als Maschine.«
»Mama, du kannst nicht zulassen, dass der Kerl mich beleidigt.«
»Sag deiner Tochter mal...«
Ich halte mich dezent raus, auch wenn sie beide mit mir sprechen. Ich ziehe mich an.
Ein Blick auf die Uhr: Lilly hat wieder völlig umsonst Panik gemacht. Offiziell ist erst seit zehn Minuten Sprechstunde. Dass nicht nur die kleinen Patienten mit Termin samt Müttern da sind, sondern noch ein paar unangemeldete, das ist nicht meine Schuld. Aber mein Verdienst. Sehen wir es doch mal so: Alle Kinder lieben mich. Die Mütter nicht. Manche Väter schon. Aber das ist wiederum den Müttern nicht recht. Doch sie können nicht anders, als zu mir kommen. Denn bei anderen Zahnärzten machen die Kinder den Mund nicht auf.
Ja, alle Kinder lieben mich. Alle? Bis auf eine. Meine eigene Tochter liebt mich nicht. Zumindest nicht immer. Sie hätte gern eine andere Mutter gehabt. Eine, die so streng, genau, mahnend, kontrollierend ist wie die anderen. Die die Pausenbrote beschriftet, die schimpft, wenn sie diese wieder mit nach Hause bringt. Die ihr den Hintern versohlt, weil sie hingefallen und die neue Hose zerrissen ist. Die sie pünktlich ins Bett schickt und bestraft, wenn sie heimlich wieder aufsteht. Diese Mutter war ich nie. Meine Tochter liebte mich nicht mal als Kinderzahnärztin. Mit Lilly bin ich bis nach Stuttgart gefahren. Von mir ließ sie sich nie behandeln und vor den Freiburger Kollegen war mir das peinlich, dass meine Tochter mich schon mit zwei Jahren als Ärztin ablehnte, weil sie mir das nicht zutraute. Weil ich ja aus ihrer Sicht alles andere auch nicht auf die Reihe bekam.
Das Wortgefecht zwischen Siegfried und Lilly hat inzwischen die Zimmerlautstärke überschritten.
Ich lasse die beiden allein, sollen sie selbst sehen, wie sie klarkommen. Noch schnell durch die schulterlange Mähne fahren, Hände waschen. Schminken verschiebe ich auf später. T-Shirt mit lustigem Aufdruck, bunte Hose, die Kinder mögen das. Und die Mütter sind mir egal.
Ich höre sie im Erdgeschoss mahnen und tadeln und zurechtweisen. Sie reden darüber, was ihre Kinder schon alles können.
»Seit gestern schreibt er seinen Namen. Und das mit zweieinhalb.«
»Da hat meiner schon die ersten Sätze notiert.«
»Unserer hat gestern eine Arie des Don Giovanni mit gesungen, als ich die CD anhörte - mit drei.«
»Ach, Ihr Sohn ist Bariton?«
»Ihre Tochter ist ja ganz entzückend, wie sie da Ihre Handtasche ausleert und diese hübschen Kleinigkeiten zutage fördert...«
»Laura, lass das!«
Warum darf ich nicht die Mütter aussperren, wenn ich die Kinder behandle?
Bei mir warten die Kleinen gern. Denn in meinem Wartezimmer dürfen die Kinder wieder Kinder sein.
Ich höre sie schreien und klopfen. Sie haben Spaß. Sie spielen Zahnarzt. Sie wissen ganz genau, wie es geht. Am liebsten würden sie bei sich selbst den Bohrer ansetzen, nachdem sie zuvor erfahren haben, wie viel Spaß es machen kann, in einem halbhohlen Baumstamm herum zuwerkeln.
Ich weiß, wie viel Arbeit Marlene hat. Jeden Tag zieht sie den kleinen Nachwuchs-Zahnärzten die Kittel an, gibt ihnen, sofern sie neu sind, eine kleine Einweisung in die Kunst der Zahnmedizin. Meist muss sie auch zwei oder drei Kinder verpflastern, weil sie zu intensiv mit den Werkzeugen in dem morschen Baumstumpf herumgebohrt haben. Natürlich sind die Werkzeuge stumpf, wenig gefährlich. Trotzdem passiert manchmal was. Den Kindern ist das egal. Viel Spaß und gelegentlich aua, das ist besser als weder-noch.
Ich höre sie an dem angeblich kariösen Baum herum bohren, meißeln, hämmern, ich weiß, dass manche ihn auch ausgiebig mit dem großen Spiegel betrachten. Einige runzeln nur die Stirn, schütteln gedankenvoll den Kopf und sagen: »Der ist ja ganz faul!«
Andere sehen den Baum mahnend an: »Du musst öfter Zähne putzen!«
Aber die meisten greifen gleich zum Werkzeug.
»Guten Morgen«, rufe ich strahlend in die Runde.
Drei Kinder hängen an meinem T-Shirt, was es noch mehr ausleiert. Aber Kittel kommt nicht infrage.
Mahnende Blicke der Mütter. Eine sieht sehr auffällig auf die Uhr. Die andere macht sofort klar, dass sie die Erste war, und außerdem muss ihr Kind um neun Uhr in der Begabtenförderung sein. Die dritte meint, ihre Tochter habe die größten Schmerzen und müsse dringend vorgezogen werden. Die Tochter strahlt mich an, als wisse sie gar nicht, was Zahnweh ist.
»Alle drei kommen mit«, entscheide ich und höre Marlene hinter mir seufzen. Sie kennt das.
Marlene sucht die Puppen heraus. Für kleine Stammkunden habe ich Gipsköpfe modelliert, die ihnen ähnlich sehen. Die Kleider näht mir Marlene, nähen kann ich nämlich nicht. Die Patienten, die zum ersten Mal kommen, werden mit irgendeiner Handspielpuppe aus der Sammlung konfrontiert. Die meisten akzeptieren das widerspruchslos. Marlene hat die Figuren für die ersten drei Patienten schon bereitgelegt.
»So, wer will zuerst?«
Ben klettert den Stuhl hoch. Ich nehme die Puppe in die Hand.
»Dr. Ben sieht sich das mal an. Mund auf!«
Hätte ich gar nicht sagen müssen. Denn der Ben auf dem Stuhl reißt den Mund gaaaaaanz weit auf. Er wird von sich selbst behandelt. Das ist meine Erfindung. Das Kind wird von jemandem behandelt, dem es ganz und gar vertraut. Oder zumindest vertrauen sollte. Schließlich muss man mit sich selbst ein ganzes Leben lang auskommen.
Dr. Ben, Dr. Anna und Dr. Antonia gucken abwechselnd in kleine Münder, stellen Diagnosen, sind besorgt, dann wieder erleichtert, beruhigen, trösten und greifen in einem Fall sogar zu einem kleinen Bohrer. Ich könnte ohne Probleme mit der Puppe in der Hand bohren, so sehr habe ich mich daran gewöhnt. Aber die Mütter sind ja dabei, jederzeit bereit, die Kinder oder auch mich zurechtzuweisen, wenn ihnen die Behandlung ein wenig aus den Fugen zu geraten scheint.
Natürlich sehe ich, dass meine Tochter ins Behandlungs zimmer lugt. Sie ist ganz still. Die Aufregung hat sich gelegt. Ein kurzer Blick, sie sieht müde aus. Am liebsten würde ich jetzt den Bohrer aus der Hand legen, auf sie zugehen und sie in den Arm nehmen. Ihr sagen, wie lieb ich sie habe, dass sie das Leben leichter nehmen soll, dazu ist es doch da, dass man Freude daran hat. Aber ich fürchte, sie würde mir nicht glauben.
Warum ist sie geworden, wie sie ist, überlege ich wie der einmal in meiner kurzen Kaffeepause. Sie nimmt das Leben ernst, gönnt sich wenig, gibt der Pflicht den Vorzug.
Vielleicht ist es wirklich schlimm, eine Frau wie mich zur Mutter zu haben. Aber sie weiß nicht alles über mich. Vor allem nicht, warum ich das Leben in vollen Zügen genießen will, mit allem, was dazu gehört - und wie dann doch von Zeit zu Zeit nachts die quälenden Gedanken wieder kommen.
Raus ins Wartezimmer. Wieder zwei Kinder, die an meinem T-Shirt hängen. Die mich anstrahlen mit ihren kariösen Zähnen. So hat meine Tochter mich selten angelächelt. Ich kenne sie fast nur mit diesem fragenden Blick: Warum bist du nicht wie andere Mütter?
Dabei habe ich eines mit all diesen anderen, übermotivierten, tüchtigen, nervigen Müttern gemeinsam: Ich wollte alles richtig machen. Nur eben anders.
Als ich mit den beiden Kids um die Ecke biege, stoße ich fast mit Lilly zusammen.
Das war knapp - fast hätten wir zwei Streithähne uns auch noch die Birne eingerannt.
»Ich muss zur Uni, Mama. Kommst du klar?«, frage ich, obwohl ich genau weiß, dass es nicht so ist.
»Ich bin schon klargekommen, bevor du auf der Welt warst.«
Logisch!
»Ich seh das eben alles etwas lockerer als du.«
Sicher!
»Und das klappt auch!«
Und wie! Denke ich, sage aber nur: »Wär schön, wenn du mal ein bisschen solider werden könntest.«
Was für ein Morgen. Ich bin froh, dass ich wieder raus komme an die frische Luft, in die Straßenbahn steigen und langsam Richtung Innenstadt zuckeln kann. Ich liebe diese Momente. Nur für mich verantwortlich. Mein Adrenalinspiegel senkt sich, und mir fällt ein, worüber ich mir an diesem Tag eigentlich Gedanken machen wollte: Was will Professor Hueck von mir?
Ich meine, ich weiß, was er wollen würde, wenn er dürfte, aber darum geht es hier nicht. Er ist ein hervorragender Psychologe, dekoriert mit allerlei akademischen Auszeichnungen, aber er ist auch ein selbstverliebter Dozent mit peinlichen Ausschweifungen. Meine Freundin Marie hat sich auf ihn eingelassen, wild geknutscht und wer weiß, was noch alles - und doch nichts davon gehabt. Bei mir hat er's auch probiert. Ich habe natürlich signalisiert, dass das mit mir nicht läuft. Professor Hueck ist eine charismatische Silberschläfe, aber eine von der Sorte: Ich bin so umwerfend, ich werd gleich verrückt und das kann ich nicht ab. Dann doch lieber ein Simon, der nicht weiß, wie schön er sein könnte, wenn er wüsste, wie schön er ist.
Wie auch immer: Hueck ist mein Betreuer, da muss ich durch.
Am Bertoldsbrunnen steige ich aus der Bahn. Es ist halb elf - den Weg bis zum Institut schaffe ich locker zu Fuß. Es geht über die Gleise, dann rein in den Stühlinger.
Im Gegensatz zu meiner Mutter bin ich meist zu früh dran, fange ich an zu sinnieren, verbiete mir aber die Schleife im Kopf: Hier ist Eva-freie-Zone: Denk an was anderes - zum Beispiel: Ich spüre die Maiwärme, die endlich wieder aus dem Asphalt kriecht, ich rieche die Erdbeerschnittchen, die in die Glasvitrinen geschoben werden, heute hat der Konditor an der Ecke zum ersten Mal seine Fenster geöffnet. Denken mit allen Sinnen. Das hilft gegen das Gedankenkarussell. Mir bringt es heute wenig: Immer wieder schiebt sich meine Mutter in meinen Temporallappen.
Das Institut für Psychologie rückt näher. Es wirkt ausgestorben. Selbst auf dem Platz der Begegnungen, dem Meeting-Point, passiert nichts, was den Namen rechtfertigen würde. Ich bin anscheinend tatsächlich so einsam, wie ich mich in diesem Moment fühle. Keine Ahnung, was hier los ist: kein Großbrand, kein Bombenalarm, keine Prüfungswochen, kein Dauerregen, kein Hochwasser. Vielleicht ist es einfach nur die Trägheit des Frühlings, die alle lähmt.
Als ich um Punkt elf den sechsten Stock des Hauptgebäudes erreiche, überfällt mich meine Höhenangst. Ich atme tief durch. Nur nicht aus den Fenstern gucken! Immer schön am inneren Rand des Flures laufen.
Kurz darauf betrete ich ein wenig taumelnd das Hueck-All: Ein riesiger Designer-Schreibtisch, darauf seine Kommandozentrale mit Schwarzbeer-Handy, Apfel-Rechner und ergonomischer Bananentastatur, dahinter er. Termin mit Früchtchen.
»Lilian Mann! Wie schön.«
Er sieht fantastisch aus: Dunkler Rolli, so hauteng am Hals, dass sein Kehlkopf verheißungsvoll am Kaschmir reibt. Seine Hände groß und kräftig wie von Michelangelo. Und die braunen Augen singen ein Schlupflied. Für einen kurzen Moment bin ich hin und weg. Aber nach unserer Begrüßung verheddert sich seine Schönheit wie immer in seinem Narzissmus.
»Lilian, Sie wissen ja, wie sehr mein Departement hier im Haus geschätzt wird. Sehr häufig werde ich gebeten, meine herausragenden Studenten und vor allem -innen in die Welt zu schicken, um unser Wissen und unser Know-how zu verbreiten.«
»Aha.« Sinnstiftenderes fällt mir dazu nicht ein. Ich befürchte, ich sage es mit dämlich offenem Mund, denn er schaut mir lüstern auf die Lippen.
»Jetzt ahnen Sie sicher, was ich mit Ihnen machen will.«
Schluck: »Nein.«
»Ich werde Sie dick einpacken und nach Göteborg schicken. Auslandssemester. Mindestens eins - eher zwei. Erasmus-Stipendium. Voll angerechnet auf die Studien dauer. Sie kommen zurück, schreiben ihre Bachelorarbeit bei mir und machen dann ihren Master. Ein Hoch auf Bologna!«
Du liebe Güte, wie genial, großartig, gigantisch! Meine Gedanken überschlagen sich. Ich werde rot und blass im Wechsel und dann beides gleichzeitig: Schweden! Immer schon wollte ich da hin.
»Sie freuen sich?«
Und wie! Aber ich gönne ihm den Gönner nicht, des halb frage ich nur: »Wann geht's denn los?«
»Anfang Oktober.«
»Schon? Schön«, sage ich gebremst, diesmal nicht, weil ich Hueck eins auswischen will, sondern weil gerade ein kleiner hässlicher Film in meinem Kopf eingespult wird. Und der geht so: Lilly in Göteborg, sie sitzt lachend mit anderen Studenten in der Mensa, die langen fuchsfarbenen Haare glänzen, sie wird bewundert, verstanden, geliebt, plötzlich klingelt ihr Handy, Schnitt. Am anderen Ende kreischt Marlene in den Hörer: »Deine Mama ist verschwunden.«
»Mit Siegfried?«
»Sie sind beide weg, nachdem die Polizei gestern da war. Sie haben von dem Dope Wind bekommen.«
Das sind Fantasien, ich weiß. Das wahre Leben ist belang- und harmlos. Aber leider nicht immer.
»Je früher, desto besser, oder?«, unterbricht Hueck meine Fantasien.
»Ich hab noch so viel zu erledigen.«
»Das Semester beenden und weg, Lilly!«
»Und mein Job bei der Eheberatung?«
»Wenn Sie zurückkommen, werden sich die gleichen Paare immer noch in den Haaren liegen - keine Sorge.«
»Aber die Beziehungen zu meinen Liebsten werden sich verändern.«
»Steht denn was auf der Kippe?« Hueck knackst mit seinen Fingergelenken.
Ich will eigentlich nicht mit ihm darüber reden, aber so kann ich das nicht stehen lassen, also entwischt mir: »Nicht die zu meinem Partner. Die zu meiner Mutter.«
»Was ist mit ihr?«
»Sie braucht mich.«
»Ist das nicht diese unkonventionelle Zahnärztin?«
»Richtig!«
»Die frische, attraktive, positive, die viel jünger aussieht, als sie ist?«
»Jaaaa!«
»Die ist doch lebenstüchtig. Gut, vielleicht braucht sie mal einen Mann, der ihr das Wasser reichen kann, aber doch keine Dauerbetreuung von der Tochter!«, gockelt er vor sich hin.
Warum kann ich meine Klappe nicht halten. Hueck ist der Letzte, mit dem ich über Eva reden mag.
»Ich kann gern nach ihr schauen, wenn Sie weg sind«, schiebt er nach. Jetzt reicht's - ich muss diesem Macho hier Einhalt gebieten. Eines hab ich dann doch von Mama geerbt: Wenn etwas zu weit geht, muss ich den Mund auf machen. Hueck wird das hier nicht gern hören: »Ich denke nicht, dass Sie ihr Typ sind.«
Er reagiert cooler, als ich dachte: »Wieso?« Dabei grinst er vor sich hin.
»Sie steht eher auf unreife Männer.«
Hueck fühlt sich erwartungsgemäß geschmeichelt: »Damit kann ich tatsächlich nicht dienen, obwohl ich mich ja verstellen könnte. Aber was reden wir hier - ich will Ihrer Mutter doch gar keine Avancen machen. Ich wollte einfach nur nach ihr sehen. Was hat sie denn für ein Problem? Kann sie nicht mit Geld umgehen, lässt sie den Herd an, isst sie Dosenfutter«, lacht er.
Das alles und noch viel mehr, denke ich. Aber stattdessen lächle ich tapfer zurück.
»Du liebe Güte, nein. Sie braucht mich bloß in der Praxis. Ich beruhige die Kinder. Sie wissen schon.« Ich zapple mit den Zeigefingern albern vor seiner Nase herum. »So lässt sich jedes Kind behandeln.« Dann erzähle ich ihm von den selbstgenähten Handpuppen und dem pädagogischen Baumstumpf.
Professor Dr. Hueck ist tief beeindruckt: »Lilly! Sie sind ja ein Tausendsassa. Das wäre ein fantastisches Thema für Ihre Bachelorarbeit!«
Ich Idiot.
»Aber ganz davon abgesehen, mein kleines Prinzesschen ist jetzt vier. Ich denke, wir schauen mit unseren Zähnchen mal bei Ihnen vorbei, bevor Sie nach Göteborg düsen.«
»Wir sind sehr ausgebucht bis Ende August. Und dann muss ich ja langsam gen Norden wegen Wohnung und Einleben und so. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob Mama das allein hinbekommt mit den Kleinen«, schlingere ich vor ihm rum.
»Versuchen Sie, sie einfach gut anzulernen. Sie haben ja noch drei Monate. Und ich werde mich direkt um einen Termin bemühen. Vielleicht sagt ja jemand ab.«
Meine Hände sind subtropisch. Ich will mich schnell verabschieden, aber er gibt mir noch einen väterlichen Rat:
»Jetzt aber freuen! Verstanden?«
Bevor ich mich freuen kann, muss ich erst mal nachdenken, deshalb gehe ich vom Stühlinger in die Wiehre zu Fuß. Noch ist es sonnig, hat aber dabei angefangen zu nieseln. Vom Schauinsland rollt ein Gewitter heran - ein großer Regenbogen spannt sich über das Münster. Ähnlich indifferent wie das Wetter sind meine Gefühle.
Ich könnte vor Glück schreien, vor Angst wimmern und vor Peinlichkeit in den Boden versinken. Das Stipendium in Göteborg ist der Hammer, alle werden sich mit mir freuen: Simon wird begeistert sein. Der Liebe! So selbstlos wie immer, weil er weiß, wie sehr ich mir das immer wünschte. Und auch Marlene, meine Kommilitoninnen und Franziska, die Chefin der Beratungsstelle werden mich feiern.
Aber was wird aus Mama? Bei der Vorstellung, was alles passieren könnte, sträuben sich meine Nackenhaare. Loslassen lernen. Das wird nicht leicht.
Jetzt gehe ich erst mal zu Marlene, um sie zu überzeugen, dass es für Prinzessinnen keine Zahnarzttermine mehr bis Ende 2023 gibt.
Marlene und Eva sind anscheinend beim Italiener um die Ecke. Mittagstisch. Ich bin mal wieder allein. In unserer gemütlichen Wohnküche im ersten Stock koche ich mir Vollkorn-Spätzle, während es draußen schüttet. Einsam essen macht keinen Spaß - die Hälfte meines Lunches schiebe ich in den Kühlschrank für morgen. Dann wandle ich durch unsere Wohnung wie ein Gutenachtgespenst. Den Ausdruck hat sich Eva ausgedacht, wenn ich als Kind nicht schlafen konnte. Ich hab mich damals vor vielem gefürchtet. Alles umsonst: Es kam kein Einbrecher, kein Erdbeben, kein UFO. Eigentlich weiß ich schon sehr lange, dass nie die Dinge passieren, vor denen man Angst hat, sondern immer die anderen, die man sich gerade nicht vorstellt. Und trotzdem ...
Beim Wandeln bin ich in Evas Schlafzimmer gelangt. Das Bett ist noch genauso aufgewühlt wie unsere Diskussion von heute früh. Und die unfertige Eva. Räkelnd steht auf der Staffelei. Ihr entspanntes Gesicht voller Sinnlichkeit. Ihr Körper hingegossen auf dem Bettlaken. Alles ein bisschen verzerrt, aber Mamas junge Seele ist irgendwie gut getroffen. Was steht da eigentlich hinter dem Bild? Noch mehr Leinwände. Wahrscheinlich mit noch mehr Evas. Meine Güte, Siegfried ist wirklich schwer in Mama verliebt, vielleicht sollte man ihm sagen, dass Mama hingegen die ganze Welt liebt.
Holla. Das sind gar keine Eva-Porträts: Eine weiße Katze. Ein blaues Pferd. Und ein unfertiger gelber Stier. Das sind Franz Marcs - allesamt. Nachgemalt von Siegfried, dem Hünen. Siegfried, dem Fälscher.
»Lilly!« Mama wirkt überrascht, aber nicht sauer. Sie steht direkt hinter mir. »Sind sie nicht großartig?«
»Das sind Bilder von Marc!«
»Na, na, sie sind schon sehr gut, aber sie sind trotzdem von Siegfried.«
»Ja, eben! Mama, das sind Fälschungen.«
»Die Welt will betrogen werden, Lilly«, sagt Eva leicht hin, zieht sich tänzelnd Jacke und Schal aus und wirft beides aufs ungemachte Bett.
»Das ist alles andere als ein Kavaliersdelikt. Und auch Haschen ist keines. Es gibt Menschen, die handeln sich dadurch schlimmste Psychosen ein. Ein Leben lang bipolar. Du hast überhaupt keine Ahnung, wie das ist.«
Mama winkt mit der Hand, ihre Mundwinkel wandern nach oben.
»Hallooo!«
Aber ich kann mich jetzt nicht bremsen: »Für all das machst du dich mitschuldig. Wenn sie dich erwischen, bist du dran. Und das ist auch richtig so. Dann verlierst du Job und Wohnung. Nur wegen diesem Trottel.«
Wie gerufen kommt dieser hereingeschlurft. Mama sagt nur: »Es geht um dich!«, und lacht.
Mir reicht's. Familienpsychologin Dr. Lilian Mann in spe verlässt mit einem lauten »Scheiße!« den Raum.
Die Sprechstunde ist vorüber. Marlene und ich räumen auf. Kann sein, dass andere Zahnärzte das ihre Sprechstundenhilfen allein machen lassen, aber für mich ist Marlene eine gute Freundin. Ich bin mir außerdem sicher, dass sie diese Arbeit auch nicht lieber macht als ich. Also helfe ich ihr. Ganz selten läuft Musik, meistens sind wir beide still. Ein Tag voller kreischender Kinder und mahnender Eltern, das strapaziert das Gehör mehr als genug.
Marlene kümmert sich um die Behandlungsräume und meine Geräte, weil ich die nach so einem Tag nicht mehr sehen kann. Ich trage die Puppen zurück an ihren Platz. Danach begutachte ich im Wartezimmer, wie weit meine kleinen Patienten bei ihrer Arbeit am Baumstamm gekommen sind. Wäre dieser morsche, alte Stamm wirklich ein Zahn, könnte ich ihn kaum retten. Ich denke, er wird noch ein oder zwei Wochen halten, dann ist er so hohl, dass man mehrere Mütter darin versenken könnte. Ich werde im Sägewerk wieder darum bitten, mir ein besonders schönes Exemplar zu reservieren. Ein bisschen mürbe und morsch sollte er sein, damit auch was rausgeht, wenn die Kinder kratzen und bohren. Sie sollen schließlich nicht frustriert aufgeben. Erfolgserlebnisse sind wichtig.
Ich fege zusammen, was der Baum an diesem Tag an Substanz verloren hat und was im Wartezimmer und weit darüber hinaus verteilt liegt. Ich stopfe die Arbeitskittel der Kinder in die Waschmaschine, ziehe mir mein eigenes T-Shirt über den Kopf, packe es dazu, Waschmittel rein, anschalten.
Als ich mich umdrehe, steht Marlene schon hinter mir. Sie hat ein frisches T-Shirt in der Hand.
»Du kannst hier nicht nackt rumlaufen.«
»Kann ich wohl.«
»Du wirst dich verkühlen.«
»Das ist eine Ausrede. Du hast nur Angst, dass die Passanten stehen bleiben und gaffen.«
Wir lächeln uns an. Diese kleine Unterhaltung haben wir fast jeden Abend. Ich möchte nicht darauf verzichten. In Marlenes Art, mir das T-Shirt zu geben, liegt etwas Mütterliches, Warmherziges. Das mag ich. Da ist jemand, der sich um mich sorgt, ohne den strengen Unterton, den Lilly manchmal draufhat.
Betont beiläufig komme ich auf meine Tochter zu sprechen.
»Lilly wirkte so aufgeregt, als sie heute Morgen in mein Schlafzimmer gestürmt ist. Hast du ihr was über Siegfried und mich erzählt?«
Marlene weicht meinem Blick aus, ich kann ihr das schlechte Gewissen ansehen.
»Noch einen Cognac?«
Marlene zögert nur kurz, dann nickt sie.
Wir gehen in die Wohnküche nach oben, die kleine, funktionale Küche, die zur Praxis gehört, ist für solche Gelegenheiten nicht sehr geeignet.
Ich schenke ein, Marlene kramt nach Schokolade. Wir setzen uns, stoßen an, das Klingen der Gläser ist in der Luft.
Marlene mustert mich aufmerksamer als sonst. Ich vermute mal, ich sehe ziemlich kaputt aus. Vergangene Nacht habe ich kaum geschlafen - Siegfried war ja da - und heute waren gefühlte 300 Patienten in der Praxis, mit jeweils 300 Müttern oder Vätern, nicht zu vergessen. Und dann noch Lilly!
Ich bemühe mich, optimistisch und fröhlich zu wirken. Das wird schließlich von mir erwartet. Ich bin ein Wirbelwind, eine Genießerin, eine unzuverlässige Frau, ein bisschen egoistisch, ein bisschen kreativ, witzig, geistreich, klug - und anstrengend.
»Du bist müde«, sagt Marlene.
»Mist, ich wollte es gerade vor dir verbergen.«
»Nicht nötig, ich könnte auch auf der Stelle einschlafen.«
Mit einem Ächzen legen wir beide synchron die Füße hoch.
»Ich stecke diese Nächte nicht mehr so leicht weg«, sage ich.
»Ich wünschte, ich hätte deine Nächte.«
»Was ist los mit deinem Hugo?«
»Was soll schon sein? Er arbeitet den ganzen Tag, ich arbeite den ganzen Tag - was kann da noch laufen?«
»Wie gut, dass Siegfried kaum arbeitet - von seiner gelegentlichen Malerei mal abgesehen.«
Wieder ein Lächeln. Marlene hat mir mal gesagt, sie glaubt, dass ich Männer nicht so ganz ernst nehme. Stimmt. Warum auch?
»Heute zum Beispiel«, seufzt Marlene. »Da muss Hugo nachts irgendeinen untreuen Ehemann beschatten. Er kommt sicherlich nicht vor dem Morgengrauen heim - ich bin allein, und wenn er kommt, ist er am Ende und ich muss bald wieder aufstehen und gehen.«
»Wie heißt der Typ?«
»Hugo, das weißt du doch.«
»Quatsch. Den er beschattet.«
»Keine Ahnung, und außerdem darf ich es dir nicht sagen.«
»Was denn nun: Weißt du's nicht oder darfst du es mir nicht sagen?«
»Beides.«
Ich verdrehe die Augen. Natürlich weiß Marlene, wie der Kerl heißt. »Sag's mir. Du willst mich doch vor bösen Männern beschützen. Und ich habe heute noch ein Date ...«
»Er beschattet nicht deinen Siegfried«, rückt Marlene heraus.
»Mein Date heißt nicht Siegfried.«
Marlene reißt die Augen auf. Dabei müsste sie mich eigentlich kennen. Aber immer, wenn ein Mann öfter als drei Mal bei mir über Nacht war, denkt sie, ich würde jetzt endlich solide. In dieser Hinsicht ist sie meiner Tochter ähnlich. Was aber Lilly fehlt: Marlene beneidet mich um meine Auswahl.
»Wow - was steht an?«
»Ein alter Bekannter, auf der Durchreise. Leider nur heute da.«
»Er kommt hier vorbei?«
»Quatsch, er hat ein schickes Hotelzimmer.«
»Aber hier wäre es kuscheliger.«
»Ich müsste die Betten neu überziehen - und das will ich nicht.«
Marlene mustert mich tatsächlich mit einem Hauch von Neid. Ich starte einen Versuchsballon: »Er ist mit zwei Kollegen unterwegs, also wenn du heute Abend noch nichts vorhast...«
»Eva!«, kreischt meine Sprechstundenhilfe. »So eine bin ich nicht.«
»War doch nur ein Witz.«
Marlene lacht nicht. Wir trinken unsere Gläser leer.
»Ich leg mich mal ein bisschen hin. Dann duschen und verjüngen.« Ein Blick zur Uhr. Zwei Stunden Zeit, das wird knapp.
»Ich kümmere mich noch um den Papierkram«, meint Marlene und steht seufzend auf. »Ich habe ja nichts vor.«
Unter der Dusche gehe ich manchmal die Namen der Männer durch, die in meinem Leben eine gewisse Rolle gespielt haben. Sie kommen, sie gehen. One-Night-Stands habe ich aus meinem Gedächtnis gelöscht. Aber es gibt diese Typen, die setzen sich in meiner Erinnerung fest. Heiner zum Beispiel, Lillys Vater. Damals war er erst ein Mann für zwischendurch, anschließend waren wir einige Monate fest zusammen. Als ich schwanger wurde, wollte er heiraten. Falsche Ansage. Das Nein hat ihn erst aus der Bahn geworfen und danach in ein neues Leben katapultiert. In ein ordentliches. Mit Frau und Kindern, mit Praxis und Eigenheim in München. Ich höre nur wenig von ihm. Lilly sicherlich öfter. Denn Heiner macht sich gern Sorgen. Das hat meine Tochter von ihm. Mir war er zu schwach. Zu sehr auf Sicherheit und Ordnung bedacht. Wenn überhaupt, dann wollte ich einen Mann, mit dem ich etwas wagen kann. Und damit meine ich nicht den gemeinsamen Bausparvertrag. Und so ging Heiner, und es kamen andere.
einen ersten Versuch Marcs, sich dem Thema zu nähern