Bestimmt fragst du jetzt, was sich in dem Haus abgespielt hat, wo die Susanne Stadler wohnte.
Pass auf, was ich dir erzähle! Die Susanne war gerade auf dem Weg nach Hause, als sie bemerkte, dass ihr jemand folgte. Nun, die Susanne war als Journalistin selber im Observieren bewandert, hat keine Panik bekommen und einfach versucht, den Spieß umzudrehen. Irgendwie fand sie es sogar lustig. In ihrer Wohnung angekommen kochte sie in aller Ruhe erst einmal einen Pott Kaffee. Dann ging sie nach draußen zu dem Bäcker an der Ecke und kaufte Croissants. Auf dem Rückweg drehte sie sich mit einem Mal ganz spontan um.
»Buh!«, hat sie die beiden Kriminaler erschreckt.
Kindisch, sage ich dir! Im Anschluss gingen dann ein paar Worte hin und her. Und zum Schluss, auch wenn du das jetzt gar nicht glauben kannst, haben die Dirmeier und der Baldauf die Einladung der Susanne auf einen Kaffee mit frischen Croissants angenommen und sind ihr in ihre Wohnung gefolgt. Warum auch nicht! Observieren geht auch bei Kaffee, einem Gebäck und einer Unterhaltung. So zumindest erklärten die beiden von der Kripo später ihr Verhalten.
Mitten in dem Kaffeeplausch stand dann auf einmal der Simon in der Wohnung, gefolgt von der Sandra. Der Simon hatte sich die Wohnung selbst geöffnet. Als ehemaliger Stecher von der Susanne hatte er immer noch einen eigenen Schlüssel. Die Susanne wusste nichts davon, weil er seinen zurückgegeben hatte, wie’s aus war zwischen den beiden. Aber natürlich nicht, ohne sich vorher einen Ersatzschlüssel machen zu lassen.
Und dann kam’s: Sowohl der Simon, als auch die Sandra erkannten die beiden Kriminaler. Sie waren ihnen im Präsidium schon über den Weg gelaufen. Die erste Reaktion war Flucht. Alles Weitere kennst du.
Einmal festgenommen dauerte es nicht allzu lange, bis jeder der beiden seine Haut auf Kosten des anderen retten wollte und auszupacken begann. Anfangs sehr Widersprüchliches. Aber mit der Zeit wurde das Bild immer klarer. Irgendwann brach dann die Sandra, du wirst es dir schon gedacht haben, unter der Beweislast zusammen. Sie hatte zumindest niemanden getötet. Ganz im Gegensatz zum Simon, dem nach langen und nervenaufreibenden Ermittlungen bewiesen werden konnte, zumindest den Dr. Höchterl mit der Armbrust ins Jenseits befördert zu haben. Dass er den Michael Segerer wahrscheinlich auch auf dem Gewissen hatte, das kam bis heute nicht ans Tageslicht, weil dem seine Leiche nie gefunden worden ist. Offiziell ist er immer noch an einem unbekannten Ort in Urlaub!
Natürlich half der Simon Bauer nur zu gern, die Beweiskette zu schließen, die den Michael Segerer zum Biergartenmörder machte.
Viel zur Lösung des Falls hat auch die umfangreiche Aussage der Susanne beigetragen. Aber auch sie wusste nichts bezüglich der ›grauen Eminenz‹. Und da muss ich schon erneut fragen, ob es die dann auch wirklich gegeben hat?
Vielleicht hätte der Roland mehr zu einer Wahrheitsfindung beitragen können. Aber den nahm zumindest vorläufig wieder einmal das LKA in seine Dienste. Der Skandal mit den falschen Abrechnungen weitete sich mehr und mehr zu einem überregionalen Problem aus. Die Regensburger Fälle waren kaum mehr als die besagte Spitze des Eisberges.
Für Außenstehende hat es allerdings so ausgesehen, als ob der Roland sein Geld nur als Fahrschulbetreiber verdienen und seine Freizeit ganz der Gruppe ›Scherbentanz‹ als Schlagzeuger widmen würde.
Dem Köstlbacher war’s recht so. Die ganze Klugscheißerei mit dem LKA kam ja nur mit dem Roland ins Rollen. Und ohne den mischte sich bald auch das LKA nicht mehr in die Angelegenheiten der Regensburger Kripo!
»Pass doch auf! An was denkst du denn schon wieder?«, schimpfte die Anna, weil der Edmund aus ihrer Sicht wieder einmal so vor sich hin träumend am Steuer saß und mitten auf der durchgezogenen Linie entlang fuhr, als bräuchte er die Markierung als Orientierungshilfe.
»Erholsam ist das nicht, neben dir als Beifahrer zu sitzen, wenn du so unkonzentriert bist. Woran denkst du bloß?«
›Keine Ahnung!‹, dachte der Köstlbacher und sagte laut:
»Mir ist da so ein Gedanke gekommen! Du weißt schon. Der Mord vor drei Tagen im Biergarten!«
»Dein Mord im Biergarten! Den wird bald ein anderer Kollege lösen müssen, wenn du weiterhin so kriminell mitten auf der Straße bleibst!«, antwortete die Anna.
»Ich hab’ alles im Griff!«, beteuerte der Köstlbacher, steuerte den Wagen wieder auf die rechte Fahrbahn zurück und ärgerte sich insgeheim, weil ihn seine Anna regelmäßig reglementierte, wenn er die Fahrerposition einnahm.
Weil eines musst du wissen, der Köstlbacher nicht immer der Fahrer, wenn er mit seiner Anna unterwegs ist. Meistens ist es sogar so, dass er sich gerne von der Anna herumkutschieren lässt, weil er da seinen Gedanken nachhängen kann und nicht auf den Verkehr zu achten braucht. Im Dienst übernimmt das Fahren auch überwiegend der Liebknecht, damit der Köstlbacher unterwegs überlegen und telefonieren kann.
»Wenn du den im Biergarten gesehen hättest, dann würdest du verstehen, warum ich mir Gedanken mache!«, sagte der Köstlbacher noch zur Anna, weil er irgendwie das dringende Bedürfnis hatte, sein Fehlverhalten im Straßenverkehr zu entschuldigen.
»So schlimm?«, fragte die Anna, weil sie selten was vom Edmund über seine Arbeit zu hören bekam und froh war, wenn er ihr ab und zu auch mal das eine oder andere Detail erzählte.
»Zuerst haben die dort ja nur gemeint, dass da ein Besoffener oder so. Schließlich kommt so etwas in einem Biergarten durchaus öfter vor. Da sitzen sie und bestellen sich eine Maß nach der anderen. Und wenn sie dann aufstehen, weil sie aufs Klo müssen, versagen die Beine ihren Dienst. Einmal am Boden, sind sie so schnell weg, das glaubst du nicht. Bierleichen eben, wenn du verstehst, was ich meine!«, begann der Edmund zu berichten.
»Du wirst mir doch nicht erzählen, dass du wegen einer Bierleiche gerufen worden bist!«, warf die Anna erneut unruhig geworden ein, weil ihr Edmund beim Erzählen immer wieder zu ihr hinübergeschaut hat, wo er sich doch auf die Straße konzentrieren sollte.
»Natürlich nicht! Wie die Bedienung dem ein Glas Wasser über den seinen Kopf geschüttet hat und der trotzdem keinen Muckser gemacht hat, da hat sie erst einmal genauer hingeschaut und dabei erschrocken festgestellt, dass der Typ die Augen offen gehabt und einen glasigen Blick drauf hatte«, antwortete der Köstlbacher.
»Hat er sich beim Hinfallen das Genick gebrochen?«, vermutete die Anna fragend.
»Nein! Dann wären ja wir nicht gerufen worden! Er ist erschossen worden!«, antwortete ihr Mann.
»Erschossen? Mitten im Biergarten? Das müsste doch jemandem aufgefallen sein!«, meinte die Anna.
»Denkst du! Bei dem Lärm! Und wenn einer mit einem Kleinkaliber mit Schalldämpfer! Da hörst du höchstens ›flopp‹, mehr nicht.«
»Ein Kleinkalibergewehr? Na ja, bei dem Biergarten von der Kreuzschänke, da kann ich mir das sogar vorstellen. So von oben nach unten! Aber gesehen werden kann so einer trotzdem leicht, wenn der anlegt und zielt!«, sinnierte die Anna und stellte sich dabei die Kreuzschänke vor, oben am Ende der Kreuzgasse, schräg gegenüber vom Ramwoldsplatz.
»Kann! Muss aber nicht! Unseren Schützen hat jedenfalls niemand gesehen. Falls es überhaupt ein Schütze war. Könnte ja genauso gut eine Schützin gewesen sein!«, sagte der Köstlbacher und fuhr schon wieder verdächtig nahe in der Mitte der Straße.
»Edmund!«, mahnte die Anna und war jetzt fast versucht, ihrem Mann ins Steuer zu greifen.
»Ja, ja! Pass’ ja schon auf!«, lamentierte der Köstlbacher und tat so, als würde er voll konzentriert bei der Sache sein. Was er im Prinzip auch war, aber eben nicht bei der richtigen Sache, wenn man bedenkt, dass der Kommissar momentan mental mehr dienstlich und so.
»Hat ihn oder sie aber niemand! Gesehen, meine ich! Vom Schusswinkel her sieht es auch eher so aus, als ob einer von einem Fenster vom Wohnblock auf der anderen Straßenseite der Kreuzgasse geschossen hat. Und wenn einer aus einem Fenster raus schießt, dann kann der etwas zurück im Dunkeln stehen. Den sieht niemand!«, fuhr der Köstlbacher fort.
Eigentlich ist der Köstlbacher sonst, wenn es um dienstliche Angelegenheiten geht, der Anna gegenüber eher wenig gesprächig. Aber jetzt wollte er seine Frau davon ablenken, dass sie ihn ständig reglementiert, was seinen Fahrstil betrifft. Und nichts auf der Welt lenkte die Anna mehr ab, als so mörderische dings, wie sie der Edmund erzählen konnte. Sie war dann so richtig stolz auf ihren Kriminaler-Ehemann.
»Und ihr habt dann gleich alle infrage kommenden Wohnungen durchsucht?«, fragte die Anna, fasziniert von ihrer spontanen Vorstellung, wie da eine Hundertschaft ganz in schwarz, mit Helmen, Schusswesten und Sturmgewehren ausgerüstet, das Gebäude stürmte.
»Nein! Das mit dem Schusswinkel haben mir die von der Spurensicherung erst in dem Bericht mitgeteilt, den ich gestern auf meinen Schreibtisch bekommen habe. Urlaubszeit! Die Spurensicherung arbeitet mehr oder weniger auf Sparflamme. Natürlich dürfte so ein Fehler trotzdem nicht passieren. Die hätten das gleich vor Ort feststellen und mich informieren müssen!«, antwortete der Köstlbacher.
»Und der Tote, war’s jemand Bekannter?«, fragte die Anna, inzwischen ganz kribbelig geworden.
»In gewissen Kreisen war er sogar sehr bekannt. Aber dass du ihn kennst, glaube ich eher nicht. Der Karl vielleicht!«, sagte der Köstlbacher.
»Wieso unser Karl?«, fragte die Anna erstaunt.
»Der Karl ist genau in dem Alter, wo man die Musik hört, die der Tote gespielt hat. Das heißt, gespielt hat er sie selber eigentlich nicht. Aber eine Regensburger Band hat der gemanagt. Die Gruppe ›Scherbentanz‹. Sagt dir die was?«, fragte der Köstlbacher.
»›Scherbentanz‹?«, fragte die Anna. »Stimmt, der Karl hat eine CD von denen in seinem Zimmer liegen. Kann mich aber nicht entsinnen, die schon mal bewusst gehört zu haben.«
»Ist ja auch keine Musik für dich!«, sagte der Köstlbacher lächelnd und fügte in Gedanken hinzu: ›Ist allgemein keine Musik für Frauen deines Alters!‹
»Kannst recht haben! Was sich der Karl anhört, da ist nicht viel dabei, was mir gefällt!«, sagte die Anna. »Hat der Mord was mit der Musik zu tun?«, wollte sie noch wissen.
»Keine Ahnung! Wir sind erst am Anfang der Ermittlungen!«, sagte der Köstlbacher und beendete damit seine Mitteilsamkeit, weil sein Handy sich meldete und er über die Freisprechanlage den Anrufer sofort entgegennahm.
Genauer gesagt war der Anrufer eine Anruferin. Du wirst es dir schon denken, wer dran war. Natürlich die Edith Klein. Wäre ein Mann dran gewesen, so hätte es sich zu 90% um den Kollegen Wolfgang Kraus von der Vermittlung gehandelt. Aber der war noch in Urlaub und würde erst ab Montag wieder im Dienst sein.
»Hallo Chef! Entschuldigen Sie, dass ich Sie an Ihrem Feierabend störe!«, tönte es aus den Radiolautsprechern des Autos, die mit der Freisprechanlage gekoppelt waren.
»Hallo Klein! Was gibt’s?«, fragte der Köstlbacher etwas brummig, weil er doch mit der Anna gerade unterwegs nach Neutraubling war, um im dortigen Globus einen größeren Einkauf zu tätigen.
»Nichts besonderes Chef! Die Frau Dr. Sieber hat nur eine Nachricht für Sie hinterlassen. Und weil ich doch morgen wegen der Taufe meiner Nichte erst am Nachmittag zur Arbeit komme, wollte ich Ihnen noch mitteilen, was die Frau Dr. Sieber will!«, sagte die Klein, die dir bestimmt schon hinlänglich bekannte Sekretärin vom Köstlbacher.
»Und? Was will unsere Abteilungsleiterin, was so wichtig ist, dass Sie mich jetzt, außerhalb meiner Dienstzeit, noch anrufen?«, grantelte der Köstlbacher.
»Sie hat etwas über diesen Toten im Biergarten, diesen Konrad Pielmeier, in Erfahrung gebracht, was sie Ihnen unbedingt persönlich mitteilen möchte!«, sagte die Klein.
»Und warum macht sie das nicht am Telefon?«, fragte der Köstlbacher.
»Keine Ahnung! Sie möchte, dass Sie morgen gleich nach Dienstbeginn zu ihr hoch kommen!«, sagte die Klein.
»Alles klar!«, antwortete der Köstlbacher. »Und viel Spaß bei der Taufe morgen!«
»Was war das jetzt?«, fragte die Anna ihren Edmund.
»Was schon! Scheint Ärger zu geben!«, sagte der Köstlbacher, jetzt sehr kurz angebunden, weil er seiner Anna schon genug gesagt hatte und über zukünftige Ermittlungen nicht reden wollte. Die Anna ist ja ein lieber Mensch, aber eine Tratschtante, wie du eine suchen musst. Und da schien es in aller Regel eher geboten, nicht zu viel zu erzählen.
Und weil die Anna ihren Edmund kannte und genau merkte, wann es keinen Sinn mehr machte, weiter in ihn zu dringen, löcherte sie den Edmund auch nicht länger. Da sie inzwischen auf dem Parkplatz beim Globus angekommen waren, gab es jetzt ja auch Wichtigeres zu tun, als über Edmunds Arbeit zu sprechen.
Was der Edmund und die Anna beim Globus eingekauft haben, das wird dich ja wohl kaum interessieren. Aber dass der Köstlbacher den Einkauf trotz dienstfrei abgebrochen hat und auf einmal, ohne seine Anna, wie von der Tarantel gestochen aus dem Globus heraus gehastet kam und in den Wagen vom Kommissar Liebknecht sprang, der mit Blaulicht direkt vor dem Eingang auf der Seite zum Clever Fit auf ihn wartete, das hast du bestimmt nicht erwartet.
»So schlimm?«, fragte der Köstlbacher den Liebknecht und schnallt sich dabei an!
»Auf alle Fälle sehr eilig!«, antwortete der Liebknecht, gab Gas und schaltete das Martinshorn ein.
Wenn du die Leute hättest sehen können, die das Wegfahren der beiden Kriminaler beobachteten, dann möchte ich wetten, dass dich die Szene zu einem Schmunzeln gereizt hätte. Erst einmal schauten sie alle erschreckt. Weil sei einmal ehrlich, wann fährt beim Globus schon ein Polizeiauto mit Blaulicht und Martinshorn? Wenn da tatsächlich mal die Polizei vorfährt, dann nur, weil Bedarf für eine Leberkässemmel besteht oder weil sie einen Einsatz wegen so einem mickrigen Ladendieb haben. Aber so war’s eben diesmal nicht. Wenn da nicht Blaulicht und Sirene, dann hätte ja kein Schwein bemerkt, dass überhaupt Polizei und so. Weil Polizei normalerweise optisch erkennbares Polizeiauto. Aber der Liebknecht hatte den schwarzen Audi. Und so gesehen hätte er auch einer von denen aus der Chefetage vom benachbarten Krones sein können. Allerdings haben die nie ein Blaulicht. Und schon dreimal kein Martinshorn! Und weil dann der Liebknecht auch noch Vollgas, da sprangen alle zur Seite. War ja nur eine Sache von Sekunden, bis die Kriminaler draußen auf der Straße waren und in Richtung Autobahn davon düsten. Die Zurückgebliebenen erholten sich schnell von dem dings und hatten jetzt endlich wieder einmal ein Gesprächsthema, das mit dem leidigen Wetter nichts zu tun hatte. In Trauben standen sie zusammen und erfanden die tollsten Geschichten. Weil wissen tat ja keiner was, aber vermuten praktisch jeder. Die abenteuerlichsten Sachen waren da zu hören. Wenn ich mitten unter den Kunden ein Aufnahmegerät hätte aufstellen können, dann hätte ich Stoff für mehr als 20 Krimis aufzeichnen können, das kannst du mir glauben.
Die Anna Köstlbacher kannte in Neutraubling keiner. Sie ließ sich von dem ganzen Trubel auch nicht nervös machen und kaufte in aller Ruhe fertig ein. Der Edmund hatte ihr den Autoschlüssel gegeben. Sie fuhr zwar gar nicht gerne alleine ohne ihren Mann, aber was sein musste, musste diesmal eben sein.
»Wer hat euch benachrichtigt?«, fragte der Köstlbacher seinen Kollegen Liebknecht.
»War ein anonymer Anruf!«, antwortete der Liebknecht und beschleunigte noch einen Tick mehr.
»Den ihr nicht zurückverfolgen konntet!«, mutmaßte der Köstlbacher.
»Wieso auch Chef? War ein ganz normaler Anruf im Präsidium. Bis da wer reagieren konnte, war die Leitung schon wieder tot!«, sagte der Liebknecht. »Das Einzige, was wir haben, ist seine Stimme, weil der Anruf, wie alle anderen üblicherweise auch, mitgeschnitten worden ist!«
»Kann sich vielleicht noch als wichtig erweisen!«, sinnierte der Köstlbacher.
»Wir sollten uns auf alle Fälle beeilen, wenn wir das Opfer noch lebend sehen wollen!«, beendete diese Befragung der Liebknecht und gab jetzt richtig Gas, weil sie die Autobahn erreicht hatten.
»Werden wir in der Uniklinik erwartet?«, fragte der Köstlbacher.
»Sie wissen Bescheid, dass wir kommen. Aber ob wir mit dem Opfer reden können, das kann ich dir nicht sagen. Du kennst die Ärzte ja! So wie’s den Mann erwischt hat, da befürchte ich sowieso, dass wir aus dem nichts mehr raus bekommen werden!«
»Kann man jetzt nicht einmal mehr in Ruhe eine Maß Bier in einem Biergarten trinken? Was für ein Irrer ist denn das?«, empörte sich der Köstlbacher.
»Kleinkaliber?«, fragte er noch.
»So wie’s aussieht, ja! Nur getroffen hat der Schütze diesmal etwas weniger perfekt. Knapp am Herzen vorbei! Meinte zumindest der Notarzt. Der Blutmenge nach zu urteilen, die aus der Schusswunde ausgetreten ist, wurde aber eine Schlagader zumindest angerissen. Er hat vorne gesessen, an der Mauer zur Donau hin. Der Schütze kann eigentlich nur vom gegenüber liegenden Ufer aus geschossen haben. Schusstechnisch eine absolute Meisterleistung!«, bemerkte der Liebknecht.
»Mitten im Biergartenbetrieb?«, fragte der Köstlbacher.
»Wie beim letzen Mal droben in der Kreuzschänke. Da war auch hektischer Biergartenbetrieb. Scheint für den der letzte Kick zu sein, einen mitten in der Menge abzuknallen!«, antwortete der Liebknecht.
»Hm! Glaube eher, dass da viel mehr dahintersteckt! Menschenmengen gibt’s auch außerhalb von Biergärten«, meinte der Köstlbacher.
Weiter vertiefen konnten die beiden ihr Gespräch nicht mehr, weil sie inzwischen an der Notaufnahme der Uniklinik angekommen waren, den Wagen mitten im Halteverbot stehen ließen und in die Klinik hetzten.
Aber eines darfst du dabei nicht vergessen, ›hetzen‹ nur Hilfsausdruck Zutreffend nur auf den Liebknecht. Der Köstlbacher mit seiner Körperfülle, bei dem klappte das mit dem ›Hetzen‹ nicht wirklich. Und drum verschwand der Liebknecht auch schon im Eingang, während sein Chef erst auf halbem Weg dahin. Drinnen steuerte er auf die Notaufnahme zu und wollte denen seinen Kripoausweis unter die Nase halten.
In dem Augenblick trat etwas schwer atmend der Köstlbacher an seine Seite. Als würde das seine Kurzatmigkeit lindern, hielt er sich mit beiden Händen seinen rundgeformten Bauch.
»Ist denn hier niemand?«, schrie der Liebknecht fast und klopfte dabei an die Glasscheibe der Notaufnahme.
»Die sind alle unterwegs wegen einem Angeschossenen!«, sagte da ein Patient, der gerade ins Freie gehen wollte, offensichtlich um eine zu rauchen, weil das in der Klinik ja streng verboten.
»Zifix!«, rutschte es da dem Köstlbacher raus, weil ohne zu wissen, wo der Verletzte zu finden war, die Chancen immer geringer wurden, noch mit ihm sprechen zu können, bevor der den Löffel abgab.
»Nicht aufregen! Das macht’s nur noch schlimmer!«, sagte in dem Moment ein Arzt im weißen Kittel, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien, und drückte den Köstlbacher sanft von hinten auf einen Rollstuhl. »Mit einem Asthmaanfall ist nicht zu spaßen!«, fügte er noch mit wichtiger Miene hinzu.
Versuch’ dir diese Situation einmal vorzustellen. Dann wird dir schnell klar werden, dass der Köstlbacher erst einmal gar nichts herausbrachte und dass der Liebknecht, dem schnell klar wurde, was los war, plötzlich ein Grinsen aufsetzte, das von einem bis zum anderen Ohr reichte.
Aber der Liebknecht zeigte sich nicht lange erheitert. Schließlich Diensteinsatz und so!
»Hey, was soll das?«, lamentierte er. »Das ist mein Chef, Kriminalhauptkommissar Köstlbacher von der Kripo Regensburg! Und der hat keinen Asthmaanfall!«
»Ich kann für mich selber reden!«, donnerte auf einmal der Köstlbacher los, der aus seiner Starre aufgewacht war, aufsprang und den Rollstuhl dabei mit einem Schwung nach hinten weg schob, dass der an die Wand knallte.
»Hier wurde vor wenigen Minuten ein Schwerverletzter eingeliefert. Wir müssen mit ihm sprechen!«, herrschte der Köstlbacher den verdutzten Arzt an.
»Die Schussverletzung?«, fragte der Arzt eher vorsichtig als laut.
»Wenn Sie so wollen! Ja, die Schussverletzung!«, erwiderte der Köstlbacher und konnte sich bei dem ernsten Gesicht des Mediziners fast denken, was kommen würde.
»Mit der können Sie nicht mehr sprechen!«, meinte der Arzt. »Der Patient war schon tot, als er angeliefert wurde! Wir haben versucht, ihn zu reanimieren. Negativ!«
»Zifix!«, entfuhr es da dem Köstlbacher erneut, weil er diese letzte Gelegenheit, mit dem Opfer zu sprechen, den Bach hinunter schwimmen sah.
»Und?«
»Was ›und‹?«, fragte der Arzt.
»Todesursache?«, fragte der Köstlbacher sicherheitshalber, auch wenn sie offensichtlich war.
»Natürlich die Schussverletzung! Eine Aorta war getroffen. Zwar nur angeritzt, aber für eine Verblutung hat’s wohl gereicht. Leider!«, meinte der Arzt. »Ich habe mir den Toten selber genau angesehen. Bin zwar kein Gerichtsmediziner, aber es kann gut sein, dass der ohnehin bald gestorben wäre.«
»Wie, ›ohnehin bald gestorben wäre‹?«, äffte der Köstlbacher nach und sah dabei zuerst den Arzt, dann den Liebknecht kopfschüttelnd an.
»Lassen Sie ihn in die Gerichtsmedizin bringen! Ich möchte den Fachkollegen dort nicht vorgreifen, aber es sieht mir ganz danach aus, dass der Tote einen Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte. Nicht mehr operabel, wenn Sie verstehen, was ich meine!«, sagte der Arzt.
Dem Köstlbacher fiel dazu keine Antwort ein, weil es so gar nicht zu passen schien, dass da einer erschossen wird, wenn er ohnehin sterben würde. Wo sollte da ein Zusammenhang zu erkennen sein? Etwas ausdruckslos schaute er den Mediziner an. Zum ersten Mal bewusst.
›So ein junger Spund!‹, dachte er, weil der Arzt nach seinem Dafürhalten die 30 noch kaum überschritten hatte.
»Gab es vor ein paar Tagen nicht schon mal so einen Toten? Auch in einem Biergarten? Droben, bei der Kreuzschänke?«, fragte der Arzt.
»Warum fragen Sie?«, wollte der Köstlbacher wissen und hob erstaunt seinen Kopf.
»Meinen Sie…?«, fragte der Liebknecht dazwischen, der bisher so gut wie nichts gesagt hatte.
»Ich rate Ihnen, die beiden vergleichend obduzieren zu lassen!«, riet der selbstbewusste Mediziner.
»Sie meinen…?«, fragte jetzt der Köstlbacher im gleichen Tonfall, wie sein Kollege Liebknecht.
»Meinen heißt nicht wissen! Ich kann nur vermuten. Und wenn ich recht gehe in der Annahme, dann sind Vermutungen ohne Beweise uninteressant! Aber ich entsinne mich, in der Zeitung gelesen zu haben, dass das Opfer im Biergarten ›Kreuzschänke‹ gerade eine erfolglose Chemo hinter sich gehabt hatte«, antwortete der Arzt.
›Klugscheißer!‹, dachte der Köstlbacher und brummte nur etwas Unverständliches vor sich hin. ›War bestimmt ein Zufall!‹
»Ich werde den Transport nach Erlangen in die Gerichtsmedizin veranlassen!«, sagte er überraschend trotz seiner Zweifel laut vernehmbar.
»Kann ich dennoch auf ein Wort mit Ihrem Chef reden?«, fragte der Köstlbacher, einer inneren Eingebung folgend, dass er auch noch die Meinung des Chefarztes hören sollte.
»Ich bin der Chef! Darf ich mich vorstellen: Chefarzt Prof. Dr. Listl«, antwortete der Arzt und hielt dem Köstlbacher seine Hand hin, die der erst zögerlich, dann aber doch fest ergriff.
»So jung?«, fragte der Köstlbacher erstaunt und bemerkte mit einem Seitenblick zum Liebknecht, dass der mindestens ebenso von den Socken war.
»Die Optik täuscht! Habe gute Gene! In einem Jahr werde ich 40!«, antwortete der Dr. Listl mit einem entwaffnenden Lächeln auf den Lippen.
»Wenn das so ist«, lächelte der Köstlbacher zurück. »Dann hat mich Mutter Natur aber ganz schön nachteilig behandelt!«
Du kannst dir denken, dass der Dr. Listl darauf nichts gesagt hat. Weil wo er recht hat, der Köstlbacher, da hat er recht!
»Noch Fragen?«, fragte der Chefarzt der Unfallchirurgie.
»Momentan keine! Kann aber gut sein, dass sich nochmal Fragen ergeben. Vor allem, wenn Ergebnisse der Gerichtsmedizin vorliegen!«, antwortete der Köstlbacher, streckte dem Dr. Listl seine Hand hin und verabschiedete sich. Der Liebknecht verabschiedete sich auch per Handschlag, ganz entgegen seiner Gewohnheit, eher im Hintergrund zu bleiben und weniger gute Manieren zu zeigen. Außer vielleicht, es handelt sich um eine attraktive Frau. Da kann der Liebknecht ein wahrer Charmeur sein.
Die beiden, der Kommissar Köstlbacher und sein Kollege Liebknecht, saßen kaum im Auto, als der Hauptkommissar los donnerte:
»Zifix! Zifix! Hätte der nicht eine halbe Stunde länger durchhalten können!«
»Reg dich ab! Über den Schützen hätte uns der auch nichts sagen können. Oder meinst du, der hat den beobachtet, wie der von der anderen Donauseite herüber geschossen hat?«, bemerkte dazu der Liebknecht und ließ den Wagen, diesmal ohne Blaulicht und Martinshorn, vergleichsweise gemütlich anrollen.
»Die Donau ist da schätzungsweise so an die 80 m breit. Erscheint dir die Story vom Schützen auf der anderen Seite nicht etwas gewagt?«, meinte der Köstlbacher.
»Mit einem Zielfernrohr geht das schon. Zumindest für einen der damit umgehen kann!«, vermutete der Liebknecht.
»Hm!«, brummte dazu der Köstlbacher nur und sagte: »Womit wir zumindest die infrage kommende Tätergruppe eingrenzen könnten.«
»Was uns aber auch nicht wirklich weiter hilft. Schützenvereine gibt’s wie Sand am Meer. Und außerdem, wer sagt, dass es jemand aus Regensburg gewesen sein muss? Es gibt auch unter den Soldaten, beim Grenzschutz, bei der Polizei und wer weiß Gott wo sonst noch gute Schützen. Soweit mein Kommentar zum ›Eingrenzen der Tätergruppe‹!«, kommentierte der Liebknecht.
»Irgendwo müssen wir schließlich anfangen!«, grummelte der Köstlbacher.
»Du hast vergessen, was der Dr. Listl gemutmaßt hat. Ich sage nur: ›Bauchspeicheldrüsenkrebs‹!«, erinnerte der Liebknecht.
»Auf so eine Idee kann auch nur einer kommen, der eindeutig zu viele Krimis liest, selbst Mediziner ist und Agatha Christie Ambitionen hat!«, antwortete der Köstlbacher.
»Und falls doch? Die Leute wissen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleib, und lassen sich in einem besonders schönen Moment ausknipsen«, sinnierte der Liebknecht.
»Blödsinn! Fängst du jetzt auch noch zu spinnen an?«, brummte der Köstlbacher nur.
Persönlich kann ich dem Köstlbacher in dieser Sache auch nur recht geben. Umso mehr wundert es mich, wie er sich plötzlich eines anderen zu besinnen schien, zu seinem Handy griff und sagte:
»Gut, dass der Konrad Pielmeier von der Gerichtsmedizin noch nicht freigegeben ist. Ich rufe da gleich mal an und veranlasse eine entsprechende Untersuchung! Wenn der wirklich eine Chemo hinter sich hatte…« Der Köstlbacher wollte sich da nicht in etwas verrennen, aber es nicht in Erwägung ziehen, das wollte er auch nicht.
Michael Segerer verließ vor einigen Wochen bedrückt das Sprechzimmer seines Hausarztes in der Unteren Bachgasse. Die Diagnose war niederschmetternd. Er wird sie eventuell gelegentlich von fachärztlicher Seite überprüfen lassen. Aber viel Hoffnung, der Dr. Höchterl könnte sich geirrt haben, bestand nicht. Eigentlich gar keine Hoffnung, so eindeutig wie sich die Untersuchungsergebnisse präsentierten.
Weil eines musst du wissen, auch, wenn’s nur ein stinknormaler Hausarzt macht, so eine Untersuchung, wenn das Ergebnis so eindeutig, dann quasi keine Chance. Und das ist praktisch ein Todesurteil, ja was glaubst du. Theoretisch und praktisch! Jetzt kommt’s drauf an, was du für ein Typ bist. Ob du einer bist, der zum Abschluss nochmal die Sau raus lässt, einer, der in Selbstmitleid versinkt, einer, der aggressiv und mit einer großen Show die Bühne verlassen will oder einer, der dem Unvermeidlichen den Kampf ansagt. Vielleicht bist du aber auch einer von denen, die die Mehrheit bilden, einer von denen, die gottergeben auf ihr Ende warten.
Ich glaube, dass der Michael Segerer momentan noch gar nicht wirklich erkannte, welcher Typ Mensch er selbst sein würde, weil er erst einmal nur das Gefühl hatte, dass ihm einer ein Brett vor sein Hirn geschlagen hat und er jetzt nicht mehr richtig denken konnte.
Beim Durchqueren der Anmeldung, auf dem Rückweg nach draußen, da hatte der Segerer einen Flyer liegen sehen und ihn irgendwie automatisch eingesteckt. Auf den starrte er jetzt. Was da für Gedanken durch seinen Kopf gingen und in welcher Reihenfolge, das lässt sich nur schwer nachvollziehen.
Auch kein Kommissar Köstlbacher würde sich so etwas vorstellen können, obwohl der schon öfter schwer krank gewesen ist und eigentlich wissen müsste, was sich in so einem Hirn abspielen kann, wenn ein kranker Körper dran hängt.
Und überleg einmal, dass so einer durchdrehen kann, dem gesagt wird, dass er nur noch kurz zu leben hat, das würde ja irgendwie jeder noch verstehen können. Ich meine, in anderen europäischen Ländern gibt’s ja so etwas wie aktive Sterbehilfe. Ganz anders in Deutschland! Obwohl wir EU und so. Was hier unter Strafe steht und mitunter durchaus ein Fall für den Köstlbacher werden würde, das kannst du in einem anderen Land ganz legal für eine fixe Summe haben. Und kein Hahn kräht danach! So schaut’s aus!
Na ja, um aktive Sterbehilfe ging’s auf dem Flyer aber gar nicht, wie du jetzt vielleicht falsch vermuten wirst, weil ich dieses Thema angeschnitten und so. Zumindest steht darüber in dem Flyer nichts drin. Aber, da wirst du mir recht geben, wenn aktive Sterbehilfe in Deutschland unter Strafe steht, dann kann ja wohl in einem Flyer, der im Vorzimmer von einem niedergelassenen Arzt aufliegt, auch keine Werbung dafür gemacht werden. Egal, der Segerer fand den Flyer jedenfalls wahnsinnig interessant und zögerte auch nicht, bei der angegebenen Telefonnummer gleich einmal anzurufen.
Nicht dass du jetzt denkst, der Segerer gleich sein Handy raus so direkt vor der Arztpraxis. So ein Telefonat, da brauchst du Ruhe und ein Umfeld, das dich nicht stört. Drum fuhr der Segerer auch erst einmal nach Hause.
Wenn ich dir jetzt sage, wo das ist, sein Zuhause, dann denkst du dir bestimmt: ›Alles klar! Jetzt kann ich das Buch weglegen, weil ich schon alles weiß!‹ Aber pass auf, du kannst dich genauso gut irren! Es ist so, wie es im Leben immer wieder ist. Vieles scheint oft ganz anders, als es in Wirklichkeit ist. Und das kann auch auf die Tatsache zutreffen, dass der Segerer in dem Haus wohnt, oben am Ramwoldsplatz, von dem aus möglicherweise der Schuss abgefeuert worden ist. Der, der dem einen im Biergarten gegenüber sein Lebenslicht ausgeblasen hat.
Die Wohnung war etwas duster, weil kaum Licht oder gar Sonne in die zwei Räume drang, die ein Fenster hinunter auf die Straße hatten. Die hohen Bäume des gegenüberliegenden Biergartens schluckten jede Helligkeit wie ein gieriges, lichtfressendes Monster. Und weil momentan der Himmel auch noch wolkenverhangen war, wäre schon fast elektrisches Licht nötig gewesen, um sich beispielsweise einer Zeitung oder einem Buch widmen zu können. Dem Segerer war aber nicht nach Licht. Lieber setzte er sich ans Fenster, schenkte sich eine Flasche Kneitinger ein und sah den Flyer an, der noch immer in seiner Wohnung rum lag.
›Lass dir helfen!‹
Darunter ein Bild von einem Schwerkranken in einem Bett, dem gerade jemand eine Spritze setzt.
›Todesspritze!‹, dachte der Segerer und begann zu lesen.
›Nehmen Sie Kontakt zu uns auf! Wir werden Ihnen helfen, Ihre letzten Tage und Stunden in Würde zu erleben!‹
Dieser Satz, der sich so ziemlich am Ende des einseitigen Flyers befand, der ließ den Segerer nicht mehr los.
»In Würde!«, äfft er laut nach und warf den Flyer dabei spontan angewidert von sich. »Wo bitte soll da ›Würde‹ sein, wenn ich einen Katheder im Schwanz stecken habe, in eine Windel scheiße und so viele Schmerzmittel gespritzt bekomme, dass selbst ein hartgesottener Junkie davon nur noch im Dauerdelirium rumhängen dürfte?«
Trotzdem, und das ist das Sonderbare, trotzdem rief der Segerer wenig später die auf dem Flyer angegebene Telefonnummer an und machte einen Termin bei denen.
Weil eines musst du wissen, jetzt war es endgültig raus. Der Segerer keiner von denen, die Kopf in den Sand und so. Der hatte noch was vor. Auch wenn’s im Moment absolut noch nicht ganz klar war, was das sein sollte.
Dem ungeduldigen Segerer wäre es natürlich am liebsten gewesen, wenn er gleich heute noch bei den Leuten, die diesen Flyer gemacht hatten, vorbeikommen könnte. Aber der dämliche Anrufbeantworter hat ihn leider nur auf übernächste Woche vertröstet, weil der Laden wegen Urlaubs bis dahin geschlossen sein würde.
Aber so wollte es das Schicksal. Viel kann sich in fast zwei Wochen ereignen. Du kannst zu Erkenntnissen kommen, die dein Leben verändern. Und genau genommen sind dazu nicht einmal zwei Wochen nötig. Ein paar Gespräche! Ein paar Erkenntnisse! Dann reicht oft schon ein Augenblick, der alles verändern kann.
Wochen später stand in Gedanken versunken der Michael Segerer grübelnd am geöffneten Fenster in seiner Wohnung und blickte hinunter auf den Biergarten von der Kreuzschänke. Wie oft vorher hatte er schon hier gestanden? Wie oft schon selbst da unten gesessen? Genau genommen hatte er sich vor Jahren sogar wegen diesem herrlichen benachbarten Biergarten für genau diese Wohnung entschieden. Keine große Wohnung! Hätte für einen alleinstehenden Mann, der bisher meist nur sehr peripher an eine Zukunft als Ehemann oder gar Familienvater gedacht hatte, auch wenig Sinn gemacht, eine großzügig geschnittene Wohnung zu mieten, die nur Arbeit mit sich bringen würde und zudem sündhaft teuer wäre. Und groß genug, ab und zu ein paar Freunde einzuladen, war die Wohnung allemal. Ein Tisch und ein paar Klappstühle reichten bisher jedenfalls immer aus, wenn er nach einem Abend, an dem er um die Häuser gezogen war, noch Leute zu sich auf einen Absacker einlud.
In dem Augenblick, wo der Segerer sich das so dachte, durchzuckte ihn ein Gedanke.
Vielleicht kennst du so ein Gefühl sogar. Du denkst an was völlig Belangloses und auf einmal schießt es dir durch den Kopf. Wie ein Blitz! Und vorbei ist’s mit der inneren Ruhe und Gelassenheit. Du erschrickst, wenn dir klar wird, dass alles ausweglos ist. Aber du jubelst, wenn dir ein Ausweg aus einer verfahrenen Situation einfällt.
›Das ist die Lösung! Mein Zweitschlüssel ist mir gestohlen worden!‹, sinnierte der Segerer mit einem spontanen Lächeln im Gesicht und lümmelte mit einem Mal nicht mehr gelassen am Fenster hinunter zum Biergarten. Aufgerichtet und steif wie eine Zaunlatte stand er nun da und überlegte fieberhaft weiter.
Sein Blick war nach wie vor aus dem Fenster gerichtet. Aber seine Augen verloren die noch vor Minuten vorhandene funkelnde Lebendigkeit.
Du kennst so seltsam ausdruckslose Augen schon. In Bayern nennen sie so einen Blick ›a Goasgschau‹! Wenn deine Augen so einen Ausdruck bekommen, dann sehen sie mehr nach innen und kaum mehr nach außen.
So war’s jetzt auch beim Segerer. Er versuchte sich an den Abend am vergangenen Wochenende zu erinnern, wo er zuerst von einem angesagten Lokal zum anderen gewechselt hat, quasi clubbing. Zunächst alleine, dann zu zweit und am Ende zu sechst. Zwei Hasen und vier Männer, er selber mitgerechnet. Nach dem letzten Bier im Kneitinger vorne am Arnulfsplatz wollten dann alle noch die paar Meter die Kreuzgasse hinter mit zu ihm kommen. Den üblichen Absacker schnorren. War ja auch schon fast zur Gewohnheit geworden.
Die Männer in der Runde waren alles Freunde vom Segerer gewesen. Zumindest gute Bekannte. Von den Hasen hat er keine wirklich gekannt. Zwei Blondinen! Sexy Erscheinungen! Aber weil der Segerer an dem Abend mit Mädels weniger was am Hut, drum hat er sie auch nicht wirklich beachtet oder gar mit ihnen geflirtet, wie zumindest zwei seiner Freunde, in deren Begleitung die Hasen dann auch gegangen sind. Etwas länger geblieben ist nur der dritte Freund vom Segerer. Aber auch nicht mehr recht lang, weil der Alkohol längst für die nötige Bettschwere gesorgt hatte.
›Eine oder einer von denen könnte es gewesen sein‹, dachte der Segerer, ließ alle im Geiste Revue passieren und überlegte, wem er den Diebstahl am meisten zutrauen sollte.
›Warum klaut jemand einen Zweitschlüssel für eine Wohnung?‹ Dieser Frage würde die Polizei nachgehen. Und er würde die Lösung dafür anbieten.
Aber interessant, die Polizei, allen voran der Polizeihauptkommissar Köstlbacher, ist dieser Frage nie nachgegangen. Warum auch! Wie der Köstlbacher angerückt ist und routinemäßig überprüfen wollte, wie der Blick vom Segerer seinem Fenster aus zum Biergarten hinunter ist, wo sie einen erschossen haben, da hat der Hausmeister aufgesperrt, weil der Mieter Segerer angeblich verreist war. Das war zwei Tage nach dem Mord.
Der Köstlbacher hat gemeint, dass der Schusswinkel durchaus stimmen könnte. Weil der Hausmeister aber gesagt hat, dass er den Segerer schon länger nicht mehr gesehen hätte, weil der irgendwo in Österreich beim Bergsteigen wäre oder so, da konzentrierte der Köstlbacher seine Ermittlungen auf andere Wohnungen, in denen zur Tatzeit jemand zu Hause war und von denen aus sich ein ähnlich guter Schusswinkel rekonstruieren ließ. Aber ein guter Schusswinkel ist eben noch lange kein Grund, jemanden zu verdächtigen. Und schon dreimal keiner, um jemanden fest zu nehmen.
Und die Idee mit der Schlüsselgeschichte, obwohl die aus der Sicht vom Segerer genial ausgedacht war, interessierte, wie schon gesagt, letztendlich niemanden wirklich. Und sie kam auch nie zur Sprache.
Dass der Hausmeister sich zeitlich geirrt haben könnte oder womöglich sogar die Unwahrheit gesagt hat, was den Urlaubsbeginn vom Segerer betraf, damit hat keiner gerechnet.
Die Gedanken, die sich der Michael Segerer erst kürzlich gemacht hat, wie er so runter auf den Biergarten von der Kreuzschänke geschaut hat, nachdem ihm das mit dem Schlüssel gekommen war, die hatten auf alle Fälle nicht nur mit dem kühlen Bier was zu tun, das es dort zu haben gab.
Da waren dann auf einmal dem Segerer seine Augen nicht mehr introvertiert, weil unten in der Kreuzgasse vom Judenstein kommend ein Polizeiwagen vorfuhr und vor der Kreuzschänke anhielt. Nicht der schwarze vom Köstlbacher. Der war in der Werkstatt. Wär’s der gewesen, hätte der Segerer vielleicht gar keine Polizei vermutet.
Was der Segerer etwas seltsam fand, die Beamten, die ausstiegen, waren in Zivil.
›Sieht verdammt nach Kripo aus!‹, dachte der Segerer und trat intuitiv einen Schritt vom Fenster zurück, vermutlich weil er nicht gesehen werden wollte. Dass die Kripo überhaupt zur Kreuzschänke kam, wunderte ihn allerdings nicht. Immerhin hatte es hier vorgestern einen Mord gegeben.
jugendlich