Vollständige eBook Ausgabe 2013

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(eBook) ISBN:

978-3-95452-021-3

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Volkmar Steininger geboren 1970 im niederbayerischen Triftern, ist gelernter Redakteur für Funk und Fernsehen. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist er unter anderem als Autor für die Sendung »Verstehen Sie Spaß« und als Produzent für verschiedene Fernsehanstalten tätig.

Mit dem historischen Roman »Die Bayerische Elsässerin« gab er 2010 sein Debut als Romanautor.

Weitere bisher veröffentliche Bücher sind »Mordshexe« (2011) und »Sharkon-Kampf um Mars« (2012).

»Mordshexe – Flucht nach Bodenmais« ist der zweite Krimi der Reihe »Mordshexe«.

1. Kapitel

Die feuchte Erde auf den Feldern glänzte. Die grauen, teils aufgebrochenen Straßen waren überzogen von weißen Fäden: Spuren des im Winter eingesetzten Streusalzes. Der Februar hatte in diesem Jahr tiefe Minustemperaturen gebracht. Es hatte beinah ausgesehen, als wollte er die Regentschaft des Winters nicht aus den Händen geben und dies mit extremer Kälte untermauern. Doch nun arbeiteten die Sonnenstrahlen des neuen Monats daran, dem Frühling freie Bahn zu verschaffen. Der harte, gefrorene Boden war von der Sonne mittlerweile aufgeweicht. Nur noch vereinzelt verbargen sich Eisreste in den schattigen Ecken, als würden sie hoffen, in ihrem Versteck nicht entdeckt zu werden. Doch die kalte Jahreszeit musste weichen.

Dieser Morgen schien der erste richtig warme Tag des Jahres zu werden, an dem man von Frühling träumen durfte. Deshalb zog es Angelina Weber, eine bekannte Kräuterhexe aus dem Rottal, und ihre junge Freundin Yvonne schon früh am Morgen hinaus. Als die Sonne noch am Aufgehen war, begannen die beiden ihren Spaziergang. In Gummistiefeln stapften sie in den Wald bei Triftern hinein, um gemeinsam zur Kaser Steinstube zu wandern. Selbst der Winter hielt die Kräuterhexe nicht davon ab, gelegentlich ihren mystischen Kraftort in Voglarn aufzusuchen. Die achtzehnjährige Yvonne war die feste Freundin von Angelinas Sohn Sebastian. Der war kein Frühaufsteher wie seine Mutter und hatte es vorgezogen, lieber zuhause im Bett zu bleiben.

Angelina schritt zügig voraus zu den Steinansammlungen und Yvonne ihr hinterher. Wenn der Weg für beide breit genug war, schloss die Jüngere auf. Unter den Schritten der beiden Frauen knirschte und knackte es. Tote Zweige und Äste lagen verstreut auf dem Boden, ganz so wie die Natur es gerichtet hatte. Der Winter mit seinen starken Stürmen hatte seine Spuren hinterlassen und das tote Geäst, das die Bäume im Herbst von sich gestoßen hatten, wild durcheinandergewirbelt. Mit den ersten warmen Frühlingsstrahlen drängten nun die neuen Triebe voller Ungeduld heraus und boten zusammen mit dem unverwüstlichen grünen Moos ein schönes Bild neu auflebender Natur.

Angelina atmete tief die frische Waldluft ein, lehnte den Kopf nach hinten, streckte die Arme weit aus und forderte ihre Begleiterin auf, es ihr gleich zu tun.

Yvonne folgte Angelinas Beispiel, blieb dabei aber mit ihrem Anorak an einem dürren Ast hängen und riss sich die ganze Seite der Jacke auf.

»Stets die Augen offenhalten. Gefahren lauern überall!«, kommentierte Angelina das Missgeschick ihrer Freundin mit einem Augenzwinkern.

»Ach, nee!« Yvonne rollte genervt mit den Augen, wie sie es oft tat, wenn sie sich aufregte.

»Das näh’ ich dir wieder zusammen«, tröstete Angelina, aber Yvonnes Miene blieb finster. Der Anorak war ihre Lieblingsjacke.

Angelina beschloss, ihre Freundin abzulenken. »Ich soll wieder zur Schule gehen«, scherzte sie.

»Wie das denn?«, staunte Yvonne sogleich und Angelina musste grinsen.

Es waren zwei Dinge, die sie an diesem Morgen beschäftigten und über die sie nachdenken musste. Das eine war die Einladung zu einem Klassentreffen am nächsten Samstag nach Pfarrkirchen ins dortige Gymnasium und das andere, viel bedeutendere, war der Heiratsantrag von Max den Tag zuvor. Der Antrag des Försters Max Steiner war für Angelina völlig überraschend gekommen. Darum hatte sie erst einmal um Bedenkzeit gebeten.

Lieber erzählte Angelina Yvonne nun von dem Klassentreffen, an dem sie nicht vorhatte teilzunehmen.

»Hältst du eine Lesung aus einem deiner Kräuterbücher? Oder bist du unter die Lehrer gegangen?«, begehrte Yvonne zu wissen. Und nachdem sie als Abiturientin gerade sehr im Lernstress war, scherzte sie noch: »Letzteres würd’ dich unsympathisch machen. Da wär’ ich glatt enttäuscht von dir, Angelina.«

»Nein, keine Sorge«, Angelina lächelte. »Ich würd’ mich eher wieder wie ein Schüler fühlen, wenn ich am Wochenende die Schulbank drücken würde, um all die Gesichter von früher wieder zu sehen …«

»Ach, ein Klassentreffen also!«

»Konditionalsatz, Yvonne! Ich sagte ›wenn‹! Irgendwie hab’ ich nämlich gar keine Lust darauf.«

»Du und keine Lust, das gibt’s nicht!«, plapperte Yvonne unbeirrt weiter. »Das ist doch cool, da musst du hin! Wenn ich mir vorstelle, wie meine Klassenkameraden in dreißig Jahren aussehen …«, einen kleinen Moment schwieg sie nachdenklich, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, irgendwie kann ich mir das gar nicht vorstellen!«

Angelina rümpfte die Nase. Wenn Yvonne von dreißig Jahren sprach, war das alles andere als ein Kompliment für sie. Sie war schließlich erst vierzig.

»Jetzt aber, Yvonne! Sehe ich schon so alt aus?«

Da schüttelte Yvonne vehement den Kopf. Angelina war ihr Vorbild. Keinesfalls hatte sie sie kränken wollen.

»Nein, natürlich nicht! Ich meinte nur, was die dann alle erlebt haben, so in dreißig …«

Das Mädchen hatte seinen Fauxpas immer noch nicht bemerkt.

»Zwanzig Jahre, liebe Yvonne«, unterbrach Angelina sie, »ich bin erst vierzig.«

»Egal …«, winkte Yvonne ab und plapperte weiter drauf los. »Da erfährt man dann aus wem ein Loser wurde und wer es richtig gemacht hat, wer das Leben am Schopf gepackt und es zu etwas gebracht hat – so wie du halt!«, schmeichelte sie am Ende, um ihren Ausrutscher wieder gut zu machen.

Angelina freute sich zwar über das Kompliment, aber der Gedanke, auf das Klassentreffen gehen zu sollen, nervte sie immer noch.

»Und dann geht es darum, wer die meisten Kinder hat, wer geschieden ist und wer den reichsten und liebevollsten Ehemann abgekriegt hat. Damit kann und will ich nicht konkurrieren!«

»Aber nein«, warf Yvonne ein, »so darfst du das nicht sehen, Angelina! Das wird bestimmt ein Spaß!«

Angelina schüttelte nur den Kopf. Die kleine Yvonne, die noch nicht einmal ihr Abitur geschafft hatte und die noch den ganzen Ernst des Lebens vor sich hatte, wollte ihr erzählen, wie ein Klassentreffen aussieht! Aber das Mädchen war nicht zu bremsen.

»Mensch, du hast es ja doch auch zu etwas gebracht. Hast einen Prachtsohn, einen Förster…«

Damit traf Yvonne genau das Thema, das Angelina vermeiden wollte. Sie mochte Yvonne und hielt viel von ihr, aber was den Heiratsantrag von Max anbelangte, wollte Angelina von ihr keine Ratschläge. Dafür fehlte Yvonne einfach die Erfahrung.

Die aber schwärmte noch weiter: »Du hast einen Förster, der dich liebt, bist eine erfolgreiche Autorin und sogar Kräuterhexe.«

Dann versuchte die aufgedrehte Yvonne mit ihrer hellen Sopranstimme einen tiefen Tonfall anzuschlagen und dröhnte: »Ja, und im letzten Jahr hast du sogar einen Mord aufgeklärt. Du bist also eine Mordshexe.«

»Einen Mord?«, fragte Angelina mit einem Augenzwinkern.

»Mehrere …«, ergänzte Yvonne eifrig. »Du standst ja schließlich auch als ›Mordshexe‹ betitelt in der Zeitung, im Wochenblatt und in der PNP.«

Angelinas Blick fiel auf Yvonnes Anorak. Er war nun von oben bis unten zerrissen. Sie musste beim Gehen nochmals hängengeblieben sein. »Bei einem Anorak verhält es sich anders als bei einer Tasse«, dachte Angelina. »Weist eine Tasse einen Sprung auf, hält sie für ein ganzes Leben, heißt es immer. Hat ein Anorak erst mal ein Loch, ist das der Anfang vom Ende. Man kann sich beinah sicher sein, dass man nochmal daran hängenbleibt und er dann ganz kaputt ist. Was für Anoraks und andere Kleidungsstücke gilt, ist auch im Leben und in ganzen Lebensläufen so«, grübelte Angelina für sich weiter und spann darüber den Bogen zu dem Klassentreffen. Dort ist es dann ähnlich: fragt eine Schulfreundin nach, wie es einem nach der Schule so ergangen ist, dann hakt sie bei jeder Schwachstelle nach und macht solange weiter, bis sie den ganzen Lebenslauf der Kameradin zerlegt und lächerlich gemacht hat. Dabei ist es einerlei, ob die Schulkameradin mal eine gute Freundin war oder eher das Gegenteil. Nach so vielen Jahren sind alle gleich und gieren nur darauf, die anderen vorzuführen, dessen war sich Angelina gewiss.

Yvonne verstand das nicht und konnte auch nicht wissen, ob Angelina vielleicht sogar noch einen anderen Grund hatte, nicht auf das Klassentreffen zu wollen.

»Scheiße!«, fluchte sie leise, als sie merkte, dass ihr Anorak jetzt ganz hinüber war. Sie sah aus wie ein aufgebrochenes Wild.

»Vergiss den Anorak!«, murmelte Angelina noch ganz in Gedanken. »Ich gehöre einfach nicht dorthin.«

»Wohin?«, fragte Yvonne, die gerade nur Augen für ihre Jacke hatte und Angelinas Gedanken nicht folgen konnte. Vergeblich versuchte sie, den gerissenen Stoff wie ein unlösbares Puzzle zusammenzuschieben.

»Schau lieber, wo du hintrittst, sonst fällst du mir noch hin!«, mahnte Angelina.

Yvonne, die beinah tatsächlich gestolpert wäre, hörte endlich auf, an ihrem Anorak herumzuzerren und besann sich wieder auf ihr Gespräch mit Angelina.

»Wohin gehörst du nicht?«, wiederholte sie ihre Frage.

»Auf das Klassentreffen«, gab Angelina zurück. »Ich bin eine unabhängige Frau und nur wenige würden das verstehen!«

Inzwischen waren die beiden Freundinnen am Gesteinskonglomerat angekommen und standen vor der Steinstube.

Yvonne war im Gegensatz zu Angelina schon lange nicht mehr an diesem Ort gewesen.

Für die Hexe hatte er eine große Bedeutung, er war ihr Kraftort. Yvonne blickte gebannt abwechselnd auf Angelina, die zufrieden lächelte, und auf die Steinstube. Die Sonne schien gerade nicht auf Angelinas ganz besonderen Platz in der Mitte der Steinansammlung, doch das kümmerte sie nicht.

Angelina legte freundschaftlich ihre Hand auf Yvonnes Schulter, sah ihr in die Augen und strich ihr mit ihrem Finger kurz über die Wange. Die Hexe war bereit, ihr Geheimnis mit Yvonne zu teilen.

»Schau zu!«, forderte sie das Mädchen auf.

Vor ihnen lag das lange Quarzkonglomerat, überzogen von hartnäckigem Moos, das den Steinen einen weicheren Charakter verlieh. Gespannt beobachtete Yvonne, wie Angelina sich von ihr entfernte, über all die großen Steine hinwegstieg bis zu dem Platz in der Mitte. Der Stein dort war nicht der Größte, doch die Hexe verspürte auf ihm die größte Energie.

Angekommen auf ihrer Energiequelle, schlug Angelinas Herz sogleich höher.

Mit einmal kam Wind auf. Die Bäume um die Gesteinsansammlung herum begannen sich geradezu rhythmisch zu bewegen. Der Wind wurde heftiger. Yvonne staunte. Der Wetterbericht hatte keinen Sturm angekündigt. Mit ihrem Handy checkte sie kurz die aktuelle Vorhersage, aber das Internet zeigte immer noch schönes Wetter ohne Bewölkung. Yvonne schauderte. Der Wind wurde immer stärker, wehte ihr sogar die Kapuze vom Kopf, peitschte Angelinas rote Haare wie in einer Wagner-Oper und entwickelte sich zu einem richtigen Sturm. Angelina konnte sich gerade noch auf ihrem Stein halten. Im nächsten Moment bot sich Yvonne ein bizarres Schauspiel. Wie aus dem Nichts heraus stürzte plötzlich ein schwarzer Vogel hervor und landete mit einem unheimlichen Schrei direkt auf Angelinas Kopf.

»Angelina, ein Totenvogel!«, entfuhr es Yvonne voller Entsetzen. Angelina aber stand in völliger Konzentration auf dem Stein, und plötzlich endete mit einem Schlag das Windspektakel. Der Vogel aber verschwand nicht. Angelina hatte die Augen fest geschlossen. Sie wirkte wie in Trance.

Der Totenvogel war ein Kauz. Yvonne kannte den Aberglauben, der besagt, dass jemand im Haus stirbt, wenn sich ein solcher Vogel auf das Dach setzt und schreit. Nun saß der Kauz ausgerechnet auf dem Kopf der Hexe und schrie tatsächlich lauthals auf.

Augenblicklich hatte Angelina eine sehr kurze, aber umso deutlichere Vision.

Einen kurzen Moment hatte sie ganz klar das Bild einer Menschenansammlung vor Augen. Die Leute um sie herum schrien. Es waren ehemalige Schulkollegen von ihr. Direkt vor Angelina auf dem Boden war eine Blutlache. Sie befand sich in einer Aula. Es war die Aula ihres ehemaligen Gymnasiums, die sich nur leicht verändert hatte. Um sie herum kreischten und weinten die Menschen. Angelina versuchte, sich durch den großen Raum mit den vielen Leuten, die ihr alle vertraut schienen, zu drängen, um zu sehen, was genau geschehen war. Es wurde immer enger um sie herum, sie wurde förmlich eingeschlossen, sodass sie keine Gesichter mehr erkennen konnte. Es war ein unangenehmes und erdrückendes Gefühl. Drei oder vier Personen glaubte sie wiederzuerkennen. Der Schauplatz war eindeutig ihr Klassentreffen, das wurde Angelina immer klarer. Aber es gelang ihr in ihrer Vision nicht, zum zentralen Ort des Geschehens durchzudringen, egal wie sehr sie sich anstrengte. Viel zu schnell verdunkelte sich das Bild wieder und ihre Vision war zu Ende.

Es war die intensivste Vision gewesen, die Angelina bisher erlebt hatte. Auch Yvonne, die Angelina dabei nicht aus den Augen gelassen hatte, würde dieses Ereignis lebenslang in Erinnerung bleiben.

Geschwächt sackte Angelina auf dem Stein zusammen. Die schrecklichen Bilder hallten in ihr nach und eine seltsame Beklemmung hatte sich in ihrer Brust ausgebreitet. Sie fühlte Tod und Schmerz, als ob sie selbst das Leben ausgehaucht hätte.

Stein für Stein kletterte Yvonne auf sie zu. Sie tat sich zunächst schwer, den richtigen Weg durch die Steine zu finden, dann aber fanden ihre Füße immer schneller sicheren Halt und schon hatte sie ihre mütterliche Freundin erreicht.

Angelina stand regelrecht unter Schock. Sie erhob sich wieder und riss die Augen weit auf. Als Yvonne vor ihr stand, senkte sie ihren Blick, schien aber immer noch geistesabwesend.

Was hatte sie da nur gesehen? Sie hatte die Kälte des Todes gefühlt und verzweifelte Menschen schreien und weinen gehört. Was war der Grund? Würde es auf dem Klassentreffen ein Unglück geben oder gar einen Mord? Wer war es, der sterben müsste?

Angelina konnte nicht einmal ausschließen, dass es nicht etwa sie selbst war, die an diesem Ort den Tod finden würde. Vielleicht war es ihre Seele gewesen, die nach ihrem Tod alles von außen betrachtete, wie es in zahlreichen Nahtoderlebnissen geschildert wird. Sie hatte sich mit diesem Thema schon des Öfteren befasst und war sehr beeindruckt von den Büchern der bekannten Autorin und Sterbeforscherin Dr. Elisabeth Kübler-Ross.

War Angelina etwa dem Tod geweiht? Hatte nicht der Totenvogel auf ihr gesessen? Der unheimliche Kauz hatte erst von ihr abgelassen, als Yvonne fast bei Angelina angekommen war.

Yvonne stützte nun ihre Freundin. »Wie geht es dir?«, fragte sie besorgt. »Hast du den Totenvogel gesehen?«

Angelina kam langsam wieder zu sich und machte gute Miene zum bösen Spiel. Was sie da erlebt hatte, musste sie erst selbst verarbeiten. Es machte keinen Sinn, jetzt auch noch ihre Freundin damit zu belasten. Angelina hatte schon einmal eine Freundin verloren. Susanne war ihre Seelenverwandte gewesen und war ungewollt Opfer eines Verbrechens geworden. Der Mörder hatte sie mit Angelina verwechselt und Susanne hatte an ihrer Stelle sterben müssen.

Die Vision würde eintreten, daran hatte Angelina keinen Zweifel. An Totenvögel aber glaubte sie nicht, die waren für die Hexe nichts als Aberglaube. Ihrer Meinung nach missbraucht Gott keine Tiere dazu, den Tod anzukündigen. Aus ihrer Erfahrung kannte sie dafür andere Zeichen und unerklärliche Phänomene, wie surreale, schattenähnliche Gebilde, die Verwandten oder nahen Bekannten eines zum Tod bestimmten Menschen erscheinen. Einige Leute, die sie gekannt hatte, hatten auf dem Totenbett von weißen Leuten um sich herum gesprochen. Oder wenn es, wie man im Rottal sagt »reigierte«. Da fielen in dem Moment, in dem eine nahe Person das Leben aushauchte, Bilder grundlos von der Wand, blieben Uhren stehen oder es krachte laut in einer Zimmerecke.

»Das war bestimmt kein Totenvogel!«, zwinkerte sie Yvonne zu und staunte dann aber nicht schlecht. Ohne Umschweife warf Yvonne ihr an den Kopf: »Gell, du hattest eine Todesvision und hast an das Klassentreffen gedacht!«

Für Angelina war längst klar, dass Yvonne einmal in ihre Fußstapfen treten sollte. Sie war sich sicher, sie würde eine gute Kräuterhexe werden. Angelina hatte Yvonnes Talent erkannt. Die junge Frau war sensibel und hatte vielleicht sogar das Dritte Auge – auch wenn sie noch an Totenvögel glaubte. Aber jeder Diamant muss zuerst geschliffen werden, bevor er das Licht brechen kann.

Dennoch erhielt Yvonne an diesem Tag nur eine knappe Antwort. »Ja. Ich war auf meinem Klassentreffen«, sagte Angelina ausweichend.

Yvonne musste sich damit zunächst zufrieden geben.

Was Angelina jetzt brauchte, war eine Tasse heißer Tee. Ein Grüntee würde sie wieder beleben und kräftigen.

So verließen die beiden Frauen die Kaser Steinstube und Yvonne fuhr Angelina mit dem Auto zurück nach Hause.

2. Kapitel

Seit im letzten Jahr ihr Holzhaus in die Luft geflogen war, war Angelina im Försterhaus daheim. Sie lebte gerne mit dem Förster Max Steiner zusammen.

Beide hatten viele Gemeinsamkeiten, wie ihre Liebe zum Wald. Sie mochten die gleichen Bücher oder Filme, wobei Angelina die Buchversion vorzog, während Max lieber die Verfilmung dazu ansah. Angelina hatte ihn dazu gebracht, mehr mit dem Rad zu fahren als mit dem Jeep. Das tat ihm gut und er hatte dadurch ein bisschen abgenommen. Ansonsten machte Angelina nicht wie viele Frauen den Versuch, ihren Freund zu verbiegen, damit er ihrem Männeridealbild entsprechen sollte. Sie mochte Max, aber jetzt stand sein Heiratsantrag im Raum.

Max liebte seine Hexe und verehrte sie. Aber er machte einen Fehler. Mit seiner Liebe raubte er seiner Angebeteten die Luft zum Atmen. Angelina brauchte aber Luft zum Atmen.

Und Max war auch sehr eifersüchtig, wie Angelina mehrmals feststellen musste.

So fühlte sie sich immer mehr von ihm eingeengt und fragte sich, wie es erst wäre, wenn sie auch noch Mann und Frau wären? So steckte Max’ Heiratsantrag wie ein Kloß in ihrem Hals und belastete sie mehr, als dass sie sich darüber freuen konnte. Sie brauchte etwas Abstand zu Max und seinen ehrenwerten Absichten.

Nach der Aufregung im Wald – und auch wegen Max – brauchte Angelina einen schmackhaften Grüntee, erfrischend und zugleich gesund. Sie nahm meist den zweiten Aufguss, der für einen besseren Geschmack sorgt, hatte es aber auch schon mit einem dritten oder vierten Aufguss probiert. Zahnprobleme wie Parodontose oder Karies kannte sie dank dem Grünen Tee nicht. Sie kannte auch seine Wirkung, das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken, und wusste, dass er Tumore schrumpfen konnte, wie bei Tanja Schubert, die ihn begleitend zu ihrer Krebstherapie trank und ihre Heilung dem Tee zuschrieb, den Angelina ihr persönlich zubereitete.

An diesem Sonntag kochte Angelina den Tee für sich selbst, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Normalerweise waren die Sonntage für sie immer Tage, an denen sie Zeit und Muße hatte, sich zu besinnen. Sie wusste, dass Grüntee die Verdauung fördert, die Nieren schützt und die Leber entgiftet, solange man nicht mehr als zehn Tassen pro Tag trinkt.

»Aber wer würde schon zehn Tassen am Tag davon in sich hineinschütten! – Und wer würde schon heiraten wollen!«, dachte sie laut, während sie am Herd stehend den Tee ziehen ließ. Yvonne, die am Tisch saß, hörte es.

»Heiraten?«, fragte sie neugierig nach.

Angelina fühlte sich ertappt. Die ganze Zeit hatte sie darüber Stillschweigen bewahrt, aber vielleicht war es doch gut, mit jemandem darüber zu reden.

»Max hat mir einen Antrag gemacht«, klärte sie Yvonne also auf.

»Und?«, fragte Yvonne aufgeregt.

Angelina schwieg, aber ihre Freundin wurde richtig zappelig.

»Toll, ihr werdet heiraten!«, jubelte sie gerade, als Max in seiner Försterkleidung zur Tür hereinkam.

»Freu dich nicht zu früh, Yvonne! Sie hat sich noch Zeit ausgeboten. Warum, versteh’ ich nicht, aber sie wird ihre Gründe haben.« In seiner Stimme schwang Zynismus mit.

Angelina hatte ihren Entschluss gefasst. Sie würde nächsten Samstag auf das Klassentreffen gehen.