Vollständige eBook Ausgabe 2013
©2013 SPIELBERG VERLAG, Regensburg
Umschlaggestaltung: Viktor Rauch, www.viktorrauch.de
Umschlagfoto: Thomas Seuthe, www.seuthefotografie.de
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung
können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
(eBook) ISBN: 978-3-95452-023-7
www.spielberg-verlag.de
eBook-Herstellung: GEPPCO MEDIA, Regensburg
Vorwort des Autors
Da dieses Buch auf eine etwas unübliche Art und Weise zustande gekommen ist, möchte ich vorab ein paar erklärende Worte anbringen.
Einer spontanen Idee zufolge sollten diesmal nicht nur die örtlichen Gegebenheiten der Handlung jedem etwas sagen, der Regensburg kennt. Ich wollte den erfundenen Protagonisten einige real lebende Personen zur Seite stellen, wie ich es mit der »Gisela von der Wurstkuchl« schon einmal getan hatte, um dem Geschehen damit etwas mehr Leben einzuhauchen.
Ein Casting, das zum Teil über Facebook ablief, half, diesen Plan umzusetzen. Aus einer Vielzahl von Bewerbern wählte ich einen überschaubaren Kreis an geeigneten Akteuren aus.
Eine Geschichte um Personen herum zu konstruieren, die ihre Identitäten und Persönlichkeiten beibehalten wollten und sollten, stellte sich nicht unproblematisch dar, zumal zusätzlich die eine oder andere Person ihre Zusammenarbeit mit mir spontan wieder aufkündigte. Verständlich! Nicht jeder, der in einer Mordgeschichte mitspielt, kann eine saubere Weste behalten!
Zum Glück blieb mir die Hauptprotagonistin Melanie M. Roespel treu. Ohne ihre Zuverlässigkeit hätte das Projekt »Tod einer Tanzschülerin« mit Sicherheit nicht zu einem zufriedenstellenden Abschluss gebracht werden können.
Paul Fenzl
Ich widme diesen Krimi einer ganzen Reihe von Personen, die mich auf die eine oder andere Art und Weise beim Schreiben ›begleitet‹ haben:
allen voran meiner lieben Frau Virginia, die mir immer den nötigen Freiraum zum Schreiben freischaufelte.
Melanie Maria Roespel aus Hagen, die sich als real lebende Person zur Verfügung stellte, um die herum ich diese Krimistory entwickelte.
den Schwestern Janissa und Carina Schumann aus Haßfurt, die ebenfalls der Wirklichkeit entstammen und die Story bereichern.
meinem lieben Freund Dr. Gerd Kelly, der mir seine medizinischen Kenntnisse bezüglich der Wirkung von Giften zur Verfügung stellte.
meiner lieben Freundin Gabriele Schletter, die nie aufhörte, an die Erfolgsgeschichte meiner Krimis zu glauben.
den hilfreichen Korrektoren Lara Langmann-Keller und Virgil Fenzl (Sohn), die mir viel Arbeit abnahmen und durch ihre Kritik so manches inhaltliche Schlagloch beseitigen halfen.
Norbert Backhausen und seiner Frau Petra, die mir spontan genehmigten, ihre Tanzschule in meine Story einzubeziehen.
meinen lieben Tanzfreunden Barbara und Dieter Maurer, die eine kleine Szene im Buch bestreiten.
allen Mitstreitern beim ›making off‹ zum Buch-Cover in der Tanzschule Backhausen mit dem Fotografen Viktor Rauch, insbesondere Katharina Pscholka, Nicole Rückriem und DJ Jackson, auch wenn das Cover dann letztendlich auf meinen Wunsch hin die Hauptprotagonistin selbst im Fotostudio Thomas Seuthe Fotografie zusammen mit ihrem Cousin Markus Maurer erstellte.
In der Jakobsstraße
Kap. 1
Und schon wieder ist was passiert in Regensburg! Dass es ausgerechnet an Allerheiligen gewesen ist, als der Köstlbacher gerade im Begriff war, mit seiner Anna das Haus zu verlassen, war dabei bestimmt das geringere Übel. Weil seit der Geschichte damals auf dem Friedhof, ist der Köstlbacher nicht mehr am Grab von Annas Eltern gewesen und an dem seiner eigenen Blutsverwandtschaft in Straubing schon dreimal nicht. Aber jetzt hätte er notgedrungen wieder hin müssen. Was Straubing betrifft, da hatte der Köstlbacher ja eine gute Ausrede. Schließlich ist der Gräberumgang dort zur selben Zeit wie in Regensburg. Womit Straubing automatisch abgehakt werden konnte. Nicht hingegen Regensburg. Da würde ihn seine Anna auch noch mitschleppen, wenn er kurz zuvor noch mit 40°C Fieber im Bett gelegen hätte.
Gefühlt hat sich der Köstlbacher ja tatsächlich sogar so, als würde er noch viel höheres Fieber haben, zumindest bis der Anruf aus der Bajuwarenstraße gekommen ist. Der Anna ist es dann fast so vorgekommen, dass er gelächelt hat, ihr Edmund, als er ihr gesagt hat, sie müsse auf ihn am Friedhof heuer leider verzichten. Dabei hat der Köstlbacher alles versucht, die zufriedene Regung zu unterdrücken. Weil wenn du so einen Anruf bekommst, dass du gebraucht wirst, weil wieder einmal einer ermordet worden ist, dann ist da ja eigentlich kein Grund, eine glückliche Miene aufzusetzen.
»Jetzt sag’ bloß, du freust dich womöglich noch, weil du nicht auf den Friedhof musst!«, hat die Anna gesagt.
»Aber nein!«, hat der Köstlbacher gelogen. »Ich find’s nur gut, weil es endlich wieder was Anständiges zu tun gibt. Oder meinst du, der Bürokram jeden Tag macht mir Spaß? Da hätte ich ja gleich bei der Stadtverwaltung Karriere machen können!«, fügte er noch hinzu.
»Und der Ausflug morgen mit der Clara und dem Karl nach München? Die beiden haben sich so auf das Deutsche Museum gefreut!«, fragte die Anna.
»Darüber reden wir heute Abend! Jetzt muss ich erst mal los! Der Liebknecht wartet bestimmt schon unten! Grüße deine Eltern von mir!«, antwortete der Köstlbacher und drängte sich an seiner Frau vorbei aus dem Haus im Prinzenweg.
Auch wenn’s der Anna nicht gepasst hat, aber Dienst ist eben Dienst!
»Hallo Chef!«, begrüßte ihn der Kommissar Liebknecht vom Fahrersitz des schwarzen Dienst-Audis aus.
»Hallo Norbert! Du weißt, wo’s hingeht?«
»Jedenfalls nicht zum Friedhof!«, zwinkerte der Liebknecht seinem Kollegen zu, der ihm erst vor ein paar Tagen sein Leid geklagt hatte, was den Gräberumgang betrifft, und startete den Wagen.
»Und?«, fragte der Köstlbacher.
»Zum Jakobstor! Eine halb nackte Tote! Mehr weiß ich auch nicht«, sagte der Liebknecht. »Anordnung von der Sieber höchst persönlich, dass wir beide hin sollen! Die Sieber scheint nie einen freien Tag zu machen!«
»Wenn man bedenkt, was für ein Chaos ihr der Dr. Huber hinterlassen hat, wundert mich das nicht!«, meinte der Köstlbacher.
Es dauerte nur wenige Minuten bis hoch zum Jakobstor, wo sich schon eine Traube an Gaffern gebildet hatte, die neugierig auf das waren, was es dort zu sehen gab. Ein Einsatzkommando der Verkehrspolizei hatte den Platz vor dem Jakobstor, wo unlängst noch ein Polizeirevier war, zum Glück schon vorbildlich abgeschirmt und abgesperrt.
Kommissarin Lederer von der Mordkommission, die sich schon vor Ort befand, begrüßte den Kriminalhauptkommissar mit Handschlag:
»Gut, dass dich der Norbert noch erreicht hat. Wir hatten schon Angst, dich von den Allerheiligenfeiern am Friedhof wegholen zu müssen. Die Dr. Sieber hat mich schon mal vorgeschickt. ›Kann nie schaden, wenn eine Frau dabei ist!‹, hat sie gemeint.«
»So schlimm?«, fragte der Köstlbacher.
»Schlimmer! Ich frage mich, wie pervers man eigentlich sein muss, um so etwas zu machen?«, antwortete die Lederer und machte dabei eine Handbewegung zu der Leiche hin. »Eigentlich wollte ich eine Decke über sie breiten, aber wegen der Spurensicherung habe ich dann doch darauf verzichtet. Zum Glück waren die Kollegen vom Verkehr fix genug, haben schnell einen Sichtschutz aufgebaut und alles abgeriegelt!«
Die weibliche Leiche lag nicht auf dem Boden. Sie kniete, kniete mit leicht gespreizten Beinen auf dem Bürgersteig. Die Hände hatte sie vor ihren Knien aufgestützt, die Handgelenke waren mit breitem, gelbem Klebeband, so einem, wie du es in jedem Baumarkt kaufen kannst, an den Kniegelenken fixiert. Ein weiteres Klebeband stabilisierte diese Stellung, indem es in Höhe beider Ellenbogen um den ganzen Körper führte. Ein Umfallen der Leiche verhinderte zusätzlich eine seitliche Befestigung des rechten Arms an der Stange eines Schildes, das nur Anwohnern das Parken vor dem ehemaligen Polizeirevier gestattete. Der Kopf der Toten hing nach vorne, ihre buschigen, langen, blonden Haare verhinderten, einen Blick auf ihr Gesicht werfen zu können. Bekleidet war die Tote mit einem eng anliegenden, lila T-Shirt und einem schwarzen Minirock. Offensichtlich waren das die einzigen Kleidungsstücke. Der fehlende Slip gab dem Anblick eine obszöne Note, die allem Anschein nach in voller Absicht vom Täter inszeniert worden war. Auch Schuhe fehlten. An den deutlich zu sehenden Fußsohlen fiel jedoch sofort auf, dass die Frau zu Lebzeiten nicht barfuß gegangen sein konnte. Dazu waren sie viel zu sauber, um nicht zu sagen makellos rein. Die Größe der Person konnte der Köstlbacher nur annähernd schätzen, die übrige körperliche Erscheinung ließ sich dagegen trotz der unnatürlichen Stellung recht gut erkennen. Dass es sich um eine weiße, mittelgroße, schlanke, der sichtbaren Haut nach zu urteilen noch junge Frau handelte, da glaubte sich der Kommissar Köstlbacher ziemlich sicher zu sein.
»Zeugen?«, fragte der Köstlbacher nur knapp, weil ihm der Anblick einen Würgereiz verursachte.
»Niemand hat etwas gesehen. Die Frau schien auf einmal da gewesen zu sein«, antwortete die Lederer.
»Tot vom Himmel fallen und sich dann noch selbst hier anbinden, so kann’s ja wohl nicht gewesen sein!«, grantelte der Köstlbacher, dem die Antwort der Lederer gar nicht gefiel. »Hier laufen um diese Tageszeit doch weiß Gott genug Leute vorüber! Wer hat die Leiche überhaupt gemeldet?«
»Niemand! Zumindest kein Passant oder so. Unsere eigenen Leute, wenn man’s genau nimmt. Eine Streife war mit Blaulicht von der Innenstadt raus zum Stadtpark unterwegs, wo einer alten Frau die Handtasche mit Ausweis und Geld entrissen worden ist. Sie haben dann aber trotz ihres Einsatzes hier gehalten, weil sich aus einer unübersehbaren Menschenansammlung vor dem Jakobstor eine Frau löste und wild gestikulierend auf die Straße gesprungen ist, um das Einsatzfahrzeug zu stoppen.«
»Und von diesen Gaffern hat niemand was beobachtet?«, fragte der Köstlbacher nach.
»Nichts, was einen Hinweis darauf geben könnte, wie die Leiche hierhergekommen hätte sein können. Die ›Gaffer‹, wie du sie bezeichnest, sind eine Gruppe Japaner, die mit ihrer Stadtführerin gerade drüben die Schottenkirche verlassen haben. Soviel ich mitbekommen habe, stellten die sich spontan vor die Leiche, um sie vor ungebetenen Blicken zu schützen. Zumindest behauptet das Frau Ute Grimm, die Stadtführerin der Gruppe. Die, die das Einsatzfahrzeug gestoppt hat!«
In diesem Augenblick trat ein älterer Polizist, einer von denen, die schon einige Minuten vor dem Köstlbacher hier eingetroffen waren, um die Umgebung zur Leiche hin abzusichern, auf den Kriminaler von der Mordkommission zu.
»Hallo Edmund! Ich hätte da jemanden für dich, den du dir anhören solltest!«, sagte der Hauptwachtmeister Gramschatz.
Nicht dass du jetzt denkst, der Köstlbacher mit allen per ›du‹ und so. Innerhalb der Mordkommission, da hat sich das ›du‹ freilich schon länger durchgesetzt. Außer mit der Dr. Sieber. Die Dr. Renate Sieber Abteilungsleiterin. Quasi nicht im ›du‹ Bereich. Aber der restliche Haufen, alle die, von denen die eigentliche Arbeit erledigt wird, die alle per ›du‹, quasi jeder mit jedem. Der Gramschatz allerdings beim Verkehr und nur selten Zusammenarbeit mit denen vom Mord. Aber der Gramschatz teilte immer ein, wenn es ums regelmäßige Pflichtschießen am Schießstand in Neudorf ging. Und weil der Köstlbacher das Schießen hasst, hat ihn der Gramschatz schon ab und zu mal wohlwollend ›übersehen‹.
»Hm!«, brummte der Köstlbacher nur, weil er sich von der Toten gar nicht lösen wollte und das Gefühl nicht los wurde, dass in dem Ganzen hier eine Botschaft versteckt sein musste, die ihm bisher noch entgangen war. Da aber genau in diesem Augenblick die Spurensicherung in ihren weißen Overalls ankam, denen seine Gegenwart eher lästig war, verließ er den Schauplatz und folgte dem Hauptwachtmeister Ludwig Gramschatz hinter die Absperrung hinüber auf die Seite zur Schottenkirche.
Weil eines musst du wissen, die von der Spurensicherung, die haben nicht nur hygienisch gereinigte, weiße Schutzkleidung an, damit sie bei ihrer Arbeit nicht am Ende ihre eigenen Spuren auswerten müssen. Die von der Spurensicherung, die haben mit dieser weißen Aufmachung auch sonst so einiges mit Ärzten in einer Klinik gemeinsam, außer dieser offensichtlichen Optik. Ich möchte sie nicht gerade in Gänze mit den ›Göttern in Weiß‹ gleichsetzen, aber was ihre Arroganz betrifft, da Unterschied nur noch im Detail. Gibt natürlich solche und solche. Wie in anderen Berufen eben auch. Aber solche, denen der Köstlbacher schon während der Arbeit vor Ort vernünftige Aussagen abringen kann, solche waren zumindest in Regensburg sehr dünn gesät. Und in der Truppe, die diesmal angetanzt gekommen ist, das hat der Köstlbacher gleich gesehen, da war keiner darunter, mit dem er bisher schon gute Erfahrungen gemacht hat. Darum war es dem Hauptkommissar auch ganz recht, die Schamhaarzähler zunächst einmal ihre Arbeit machen zu lassen und erst anschließend mit seinen Fragen aufzuwarten, auch wenn er auf die Antworten jetzt noch so gespannt war.
Direkt neben dem verglasten Schottenportal hatte der Gramschatz seinen Polizeibus stehen, der mit allem ausgestattet war, was bei einem Verkehrseinsatz so nötig war. Und weil bei einem Verkehrsunfall auch hin und wieder ein Toter, darum quasi so ein Bus ein sehr universell verwendbares Einsatzfahrzeug. Ob Leiche ermordet, hinterm Steuer zu Tode gekommen oder überfahren, das kein wirklicher Unterschied. Mehr als tot geht nämlich nicht. Seltsamerweise ziehen Tote die Lebenden an wie die Schmeißfliegen. Und da brauchst du schon die entsprechende Ausrüstung, um großräumig absperren zu können.
Weil eines darfst du nicht vergessen, es scheint ein zutiefst innerstes Bedürfnis eines jeden Menschen zu sein, zu Lebzeiten wenigstens einmal einen Blick auf einen Toten erhaschen zu können. Das Leben kennt man ja. Aber den Tod? Jeder möchte ihn irgendwann einmal zumindest gesehen haben, bevor sich der bei ihm selber vorstellt.
»Darf ich bekannt machen? Herr Parzefall«, sagte der Gramschatz und deutete mit einer entsprechenden Geste zu einem kleinen, schlanken Mann Mitte 30, der sichtlich nervös mit einem Stativ und einer Kamera in der Hand auf den Hauptkommissar wartete.
»Kommissar Köstlbacher!«, stellte sich der Polizeihauptkommissar in gewohnter Weise mit einem Nicken vor. Der Köstlbacher kürzte seinen Titel meist auf ›Kommissar‹ ein, wenn er jemanden begrüßte. Die Leute tun sich in der anschließenden Befragung immer leichter, wenn sie nicht so einen ellenlangen Titel in den Mund nehmen müssen und zeigen sich dann meist auch viel redseliger. ›Kommissar‹, so etwas kennt jeder! Umdenken vom Fernsehen zur Realität nicht nötig. Und die Fernsehwirklichkeit gilt für viele Leute als Maßstab. Das glaubst du gar nicht!
»Parzefall!«, sagte der Mann einsilbig und deutete seinerseits ein Nicken an.
»Sie haben mir was zu sagen?«, fragte der Köstlbacher und schaute dabei missmutig auf die Kamera und das Stativ. So ein Pressefuzzi, der ging ihm jetzt gerade noch ab.
Dem Parzefall entging dieser Blick nicht und er konnte sich auch sofort ausmalen, was der Köstlbacher dachte.
»Ich bin nicht von der Presse!«, sagte er und hob abwehrend die eine freie Hand.
»Sondern?«, fragte der Köstlbacher, eine Idee milder gestimmt.
»Ich bin Lehrer am Goethe Gymnasium. Geschichte und Latein. Ein Unterrichtsprojekt!«, und dabei klopfte er zur Verdeutlichung auf sein Fotoequipment.
Eine Antwort hat er ihm darauf nicht gegeben, der Köstlbacher. Und wenn du’s genau wissen willst, er hat den Lehrer sogar bedauert. Bevor der Köstlbacher Kriminaler geworden ist, da hat er kurzfristig sogar selbst schon einmal den Gedanken gehabt, irgendetwas mit Lehramt zu studieren. Aber den Gedanken hat er schon nach dem ersten Tag eines vorausgehenden Pflichtpraktikums an einer Grundschule wieder verworfen. Das Kasperltheater, das die dort veranstalteten, nur um wenigstens ein Minimum an Aufmerksamkeit der fernsehverwöhnten Kids zu mobilisieren, damit wollte er nicht ein Leben lang sein Geld verdienen müssen.
Weil der Köstlbacher nichts gesagt hat, wie der kleine Mann so dagestanden und sich als Lehrer geoutet hat, fing der Parzefall einfach von sich aus zu erzählen an:
»Sie müssen wissen, Herr Kommissar, ich bin heute schon den ganzen Vormittag zwischen Bismarkplatz und Jakobstor unterwegs. Meine Klasse soll sich in einem Projekt zum Geschichtsunterricht ganz speziell mit der Jakobsstraße befassen. Da fotografiere ich alle möglichen Details, inklusive Hinterhöfe. Die Jakobskirche selbst als wichtigstes Bauwerk natürlich von innen und außen.«
»Bitte kommen Sie zum Punkt! Sie sehen doch, dass ich hier zu tun habe!«, unterbrach den Parzefall der Köstlbacher, weil so ein Lehrer einfach nicht mehr zu bremsen ist, wenn der zu quasseln beginnt und am Ende vor lauter Begeisterung für sein Projekt ganz vergisst, was er eigentlich hätte sagen wollen.
Und tatsächlich ist das Feuer aus den Augen vom Parzefall auch gleich verschwunden, wie ihn der Kriminaler zur Kürze angemahnt hat.
»Der Punkt?«, antwortete der Parzefall mit fragender Stimme, sichtlich bemüht, seine Gedanken nun erst einmal zu sortieren. »Also der Punkt ist, dass ich mit dieser Japanergruppe dort gemeinsam aus der Jakobskirche herausgekommen bin und die Frau dort drüben gesehen habe.«
»Aha!«, sagte der Köstlbacher. »War’s das dann?«
»Natürlich nicht! Mir fiel nur spontan etwas auf. Nicht nur die Frau! Die natürlich ganz besonders! Aber ich war mir auch sicher, dass eine halbe Stunde zuvor, vielleicht auch schon länger zuvor, genau da, wo sich jetzt diese Frau befindet, ein Kleintransporter gestanden hat. Also direkt dort hat er nicht gestanden. Eher etwas rechts davon. Da, wo die Frau jetzt kniet, da war so ein grauer Sichtschutz aufgebaut. So ein Teil, das oft bei Kanalarbeiten zu sehen ist, damit keiner reinfällt. Vermute ich zumindest. Bin ja kein Kanalarbeiter. Aber ich erinnere mich genau daran, weil mir dadurch der Blick auf das ehemalige Polizeirevier verstellt war und ich keine guten Fotos machen konnte.«
»Und der Sichtschutz war später weg?«, fragte der Köstlbacher, jetzt natürlich spontan doch sehr interessiert.
»Der Sichtschutz und der Kleintransporter!«, antwortete der Pädagoge.
»Können Sie den Kleintransporter näher beschreiben? Hersteller? Farbe? Zulassungsnummer? Und war da irgendjemand bei dem Transporter?«, fragte der Köstlbacher.
Eine Antwort konnte auf diese Vielzahl von Fragen in dem Augenblick der Parzefall aber keine geben, weil von der Spurensicherung her ein alles durchdringender Schrei zu hören war.
Zuerst hat der Köstlbacher gemeint, dass einer aus dem sensationslüsternen Publikum hinter der Absperrung geschrien hätte. Weil das kannst du mir glauben, die Gaffer gehören zwar zu der absolut sensationslüsternen Sorte von Menschen, aber wenn die was zu sehen kriegen, was ihnen den Atem raubt, dann sind gerade die die ersten, die mit einen Schreikrampf reagieren. Und es hätte ja sein können, dass ein Gaffer einen Blick auf die Frau erhaschen konnte, als die Spurensicherung den direkten Sichtschutz um sie teilweise lockern musste, um ungehinderter arbeiten zu können. Aber so war’s nicht. Was ganz anderes ist passiert! Pass auf!
Der Parzefall musste auf alle Fälle jetzt erst einmal warten. Sollte sich einstweilen der Gramschatz um ihn kümmern. Der Köstlbacher hat instinktiv nach seiner Dienstwaffe gegriffen. Das lernst du in der Ausbildung. Du musst es immer und immer wieder trainieren, weil bei realen Polizeieinsätzen kommt der Griff zur Dienstwaffe so selten vor, dass du im Ernstfall bestimmt Bedienungsfehler und so. Und das wäre dann nicht die erste Schussverletzung, die sich ein Polizist im Eifer des Gefechts selber zuzieht. Vorzugsweise in den Oberschenkel. Aber auch die Eier hat’s bei einem schon mal erwischt.
Training an der Waffe hin oder her. In dem Fall jetzt hätte sich der Köstlbacher ohnehin nicht irgendwohin schießen können, weil er seine Dienstwaffe nämlich gar nicht dabei hatte. Noch während er merkte, dass unter seiner Achsel weder Halfter noch Waffe zu finden waren, hechelte er leichtsinnig über die Straße, rüber zur Leiche, aus deren Richtung der Schrei gekommen war.
Das hat dem Köstlbacher schon während seiner Ausbildung vor 20 Jahren sein Vorgesetzter immer und immer wieder gesagt, dass es keinen Sinn macht, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Lieber einmal zu spät dran sein. Einen Mörder kann man immer noch fangen, aber einen toten Polizisten, den kann keiner mehr lebendig machen. Daran ändert auch ein ganzseitiger Artikel in Farbe auf der Titelseite der Tagespresse nichts!
Und an den hat der Köstlbacher, ob du’s nun glaubst oder nicht, auch wirklich gedacht, an seinen Ausbilder von damals. Nur wäre das Denken im Falle eines Falles eben nicht ausreichend genug gewesen.
Im dem Augenblick, als der Köstlbacher sich quasi schon als Held der Regensburger Kripo im Sarg auf dem Friedhof gesehen hat, da hat auf einmal der Kommissar Liebknecht gerufen:
»Einen Krankenwagen! Schnell! Einen Krankenwagen!«
»Was ist passiert?«, schrie der Köstlbacher, während der Gramschatz, der das Geschehen von der anderen Straßenseite aus gebannt mit verfolgt hat, zum Polizeifunk griff und einen Krankenwagen nebst Notarzt anforderte.
Noch bevor jemand dazu kam, dem Köstlbacher eine Antwort zu geben, da hat er es selbst gesehen, da drüben vor dem ehemaligen Polizeirevier in der Jakobsstraße, und wäre da nicht immer noch die verschnürte Frau gewesen, die Szene, die sich da abspielte, hätte dich vielleicht sogar zum Lachen reizen können. Zum Schmunzeln allemal!
Ein junger Beamter von der Spurensicherung lag neben der halb nackten Leiche regungslos am Boden. Beziehungsweise, er hatte regungslos am Boden gelegen. Wie der Köstlbacher nämlich noch einen Schritt nähergekommen ist, kam gerade wieder Leben in den jungen Mann. Er hob erst seinen Kopf, drehte ihn zur Leiche hin, stützte sich dann mit beiden Händen am Kopfsteinpflaster ab, stand umständlich auf und klopfte sich, noch nicht wirklich Herr seiner Sinne, wie es schien, den Straßenschmutz von seinem weißen Overall.
Der Köstlbacher, der die Szene nicht von Anfang an mitbekommen hatte, schaute ihn nur mit erstaunten und zugleich fragenden Augen an.
»Was ist passiert?«, fragte er schließlich erneut, diesmal konkret den Kollegen, dessen Schockzustand unübersehbar war.
»Sie lebt!«, stammelte der nur mühsam, weil es ihm offensichtlich die Sprache im wahrsten Sinn des Wortes verschlagen hatte.
»Jetzt nicht mehr!«, ergänzte der Kriminaler Dr. Frank, der einzige Mediziner im Spurensicherungsteam und zugleich Chef der ›weißen Truppe‹. »Ihr Gesicht und dann der Schrei! Das kann selbst einen hartgesottenen Typen umhauen, Kollege Bäumel! Nichts wofür Sie sich schämen müssen!«, fügte der Dr. Frank noch hinzu und klopfte dem Bäumel freundschaftlich auf die Schulter.
Vielleicht wollte der Beamte Bäumel der Spurensicherung sich ja bei seinem Chef für dessen Verständnis bedanken. Danach hat es zumindest ausgesehen, weil auf einmal wieder Bewegung in den jungen Polizisten kam. Aber anstelle einer Antwort sprang der plötzlich zwei/drei Schritte nach vorne und kotzte in den Rinnstein.
»Zifix! Kann mir endlich wer sagen, was hier los ist?«, schimpfte der Köstlbacher und machte einen Schritt zur Seite, um nichts von dem Erbrochenen abzubekommen.
Ein Blick zur immer noch zum Teil verschnürten Frau hin reichte jedoch, um sich die Frage zumindest zum Teil selbst beantworten zu können.
Jemand von der Spurensicherung hatte sich, nachdem das Opfer von allen Seiten digitalisiert war, daran machen wollen, das Klebeband zu entfernen, um die Leiche zum einen transportfähig zu machen und um zum anderen den Blick auf ihr Gesicht freizubekommen, den die langen, herabhängenden, blonden, strubbeligen Haare bislang immer noch versperrten. Und genau in dem Moment ist es passiert: Der Kopf des Opfers hob sich. Ein grässlicher Schrei war dann wohl das Letzte, bevor endgültig jedes Leben aus der Frau wich.
Zum in Ohnmacht fallen hätte dieses Szenario vermutlich für viele Menschen schon gereicht. Du würdest womöglich sogar schon in Ohnmacht fallen, wenn du dich am offenen Sarg von einem Verstorbenen verabschieden wolltest und der urplötzlich die Augen aufmacht. Aber das gar nichts gegen das hier! Da wuselten nun schon eine geraume Zeit alle möglichen Personen rum, alle in der Meinung, die Frau wäre mausetot. Wegen der gekrümmten, zusammengebundenen Haltung war ihre Brust und der Bauch nicht zu sehen gewesen, wo eine minimale Bewegung auf eine noch vorhandene Atmung hätte schließen lassen können.
Der Schrei allein hätte schon gereicht. Ob für den jungen Polizisten von der Spurensicherung, das weiß ich nicht. Die Japaner hätte es bestimmt reihenweise umgehauen. So fernab der Heimat ist jeder ein bisschen schreckhafter, als in der gewohnten Umgebung.
Aber du wirst es dir schon denken, der Schrei war es nicht allein, der dem noch nicht so routinierten Beamten das Blut in den Adern hatte gefrieren lassen und die Sauerstoffversorgung des Gehirns in nur Millisekunden zum Erliegen gebracht hat. Quasi Schockzustand!
Es war das Gesicht der Frau! Kurz, kaum mehr als einen Wimpernschlag war es zu sehen gewesen. Und der junge Spurensicherer hatte das Pech, genau während dieses Wimpernschlags seine Augenlider geöffnet zu haben. Jemand musste Säure über ihr Gesicht geschüttet haben. Wenn du schon einmal in so einem Zombiefilm gewesen bist, dann hast du eine ungefähre Vorstellung davon, was von dem vielleicht einmal hübschen Gesicht noch übrig war. Wenn ich sage ›vielleicht‹, dann deswegen, weil ein Großteil des Fleisches so weggeätzt war, dass man aufgrund dessen, was vom Gesicht noch zu sehen war, nicht einmal mehr auf das Alter hätte rückschließen können, auf das Aussehen schon dreimal nicht!
Und dann noch der Gestank! Bestialisch!
»Hab’ mich schon gewundert, was mit den Fingerkuppen los ist. Alle zehn verätzt! Jetzt ist’s klar! Ein Versuch des Mörders, uns die Identifizierung seines Opfers zu erschweren!«, sagte der Dr. Frank.
›Coole Sau!‹, hat in dem Moment der Köstlbacher gedacht. Weil dass einer so eine Leiche sieht und trotzdem weiterhin nur logisch schlussfolgert, das schon außergewöhnlich. ›Abartig!‹, hat der Köstlbacher auch noch gedacht. Wobei es nicht ganz klar war, ob er jetzt damit den Dr. Frank oder die Leiche gemeint hat oder vielleicht sogar beide.
»Ist übrigens das erste Mal in meiner 30jährigen Berufslaufbahn bei der Spurensicherung, dass es besser gewesen wäre, die vermeintlich tote Frau doch etwas näher in Augenschein zu nehmen, anstatt vorschnell eine Leiche draus zu machen. Ihr Leben hätte vermutlich niemand mehr retten können, aber unter dem Einsatz geeigneter Medikamente wäre vielleicht noch etwas aus ihr herauszubekommen gewesen!«, mutmaßte der Mediziner.
›Gut, dass meine neue Chefin die Dr. Sieber ist!‹, dachte der Köstlbacher. ›Der Dr. Ernst Huber hätte die Gelegenheit wieder einmal beim Schopf gepackt, um mich und meine Leute in die Pfanne hauen zu können.‹ Und laut hat er gesagt: »Jede Sekunde, die irgendwelche Medikamente dieses Leben verlängert hätten, wären Sekunden des Martyriums für die Frau geworden!«
»Schon klar! Schon klar! Man muss natürlich auch diese Seite sehen!«, sagte dazu der Dr. Frank. »Aber dennoch! Fürs Protokoll: Wer hat die Frau als Leiche gemeldet?«
»Die Stadtführerin dieser Japanergruppe dort. Eine gewisse Frau Grimm!«, antwortete der Köstlbacher widerwillig, weil er diese Wichtigtuerei vom Dr. Frank hasste. ›Die Frau hat auf jeden Polizisten, der hier aufgekreuzt ist, mausetot gewirkt. Deshalb hatte ja sie auch niemand angerührt. Ist ja jedes Mal der Teufel los, wenn irgendwer was anrührt, bevor die Spurensicherung eintrifft. Und gerade so einer von denen reißt jetzt das Maul auf!‹, dachte er, weil’s besser ist, so etwas einem Kollegen mit einem Dr.-Titel nicht laut ins Gesicht zu sagen.
»Eine Stadtführerin? Verstehe! Die dürfte von der Situation vermutlich überfordert gewesen sein!«, kommentierte der Dr. Frank die Antwort vom Köstlbacher mit einem etwas verächtlichen Tonfall.
Später hat der Köstlbacher dann erfahren, dass dem Dr. Frank seine Exfrau vor der Scheidung, als sie schon versucht hat, sich wieder auf eigene Beine zu stellen, auch als Stadtführerin gearbeitet hat. Bei der Gelegenheit hat sie dann diesen anderen Mann kennengelernt, wegen dem sie den Dr. Frank verlassen hat. Wenn du so etwas erzählt bekommst, dann nicht mehr so unverständlich, wenn so ein Gehörnter alle Stadtführerinnen quasi über einen Kamm und so.
»Können Sie mir schon Näheres über die Tote sagen?«, fragte der Köstlbacher den Dr. Frank, um von dem Missgeschick abzulenken, wegen dem er noch genug Ärger bekommen würde, und das er deswegen momentan weit zurückgestellt wissen wollte.
»Sie hat keinerlei Papiere bei sich. Nicht einmal ein Handtäschchen. Die Identität festzustellen wird von unserer Seite her nicht einfach werden. Übers Gebiss oder ihre DNA vielleicht. Aber leicht wird auch das nicht. Wenn sich keine Vergleichsmöglichkeiten anbieten, sind diese Details ja oft auch nicht viel wert. Da können Sie nur hoffen, irgendwer meldet die Frau als vermisst!«, sagte der Mediziner von der Spurensicherung.
»Gesicht?«, fragte der Köstlbacher.
»Natürlich werden die in der Gerichtsmedizinischen versuchen, es wieder in einen Zustand zu versetzen, der es überhaupt als Gesicht erkennen lässt. Aber ob Sie damit dann fahndungstechnisch was anfangen können, das wage ich zu bezweifeln.«
»Haben Sie sonst gar nichts?«, fragte der Köstlbacher, dem sich der Magen zusammenzog bei der Vorstellung, keinerlei Ansatzpunkte für eine Identifizierung der Frau zu erhalten.
»Ein paar Fasern, die vermutlich nicht von ihrer Kleidung stammen. Angetrocknetes Sekret an ihrer Scheide, das auf den ersten Blick auf eine Vergewaltigung schließen lässt. Viel ist es nicht! Zumal an so einer exponierten Stelle selbst eine penible Überprüfung der Umgebung der Leiche kaum was bringen dürfte, nicht einmal ein paar Zentimeter von ihr entfernt. Da latschen ja täglich Hunderte von Leute entlang. Entsprechend lässt praktisch nichts auch nur einen annähernden Rückschluss auf einen Täter zu, was nicht direkt am Körper der Frau gefunden werden kann.«
»Hm!«, brummte der Köstlbacher, der mit dieser Auskunft natürlich nicht glücklich werden konnte. »Also Gerichtsmedizin?«
»Unbedingt! Je schneller, desto besser! An was genau die Frau gestorben ist, kann nur eine Obduktion beantworten. Die Säure hat sie zwar übel zugerichtet, aber es ist fraglich, ob sie auch zu ihrem Tode geführt hat«, meinte der Dr. Frank. »Wir sind hier jedenfalls fertig!«, fügte er noch hinzu.
»Danke! Bis zum nächsten Mal!«, verabschiedete sich der Köstlbacher, eine Idee freundlicher, als er eigentlich gewillt war. Aber er wollte es sich mit dieser Truppe nicht verderben. Die Zeiten waren wohl endgültig vorbei, als noch sein Freund, der Dr. Kroner, der Chef dieser Abteilung war. Und wenn der Neue jetzt Dr. Frank heißt, dann hilft das ganze nostalgische Getue auch nichts.
Aber eines darfst du nicht vergessen, einen Vorteil hatte es ja trotzdem, dass der Dr. Kroner inzwischen pensioniert und so. Weil der Dr. Kroner immer zwischen Regensburg und Erlangen hin- und hergependelt ist. Der Dr. Frank hingegen nur ausnahmsweise in Erlangen. Quasi Vollzeit in Regensburg! Wegen neuer Kompetenzverteilung und so.
»Hoffentlich nicht zu bald!«, lächelte der Dr. Frank und schüttelte dem Köstlbacher zum Abschied sogar noch die Hand, was der reflexartig, aber sichtlich überrascht erwiderte und ›Scheint doch nicht so übel zu sein, der Herr Doktor!‹, dabei dachte.
»Nach Erlangen?«, fragte den Köstlbacher in dem Augenblick der Liebknecht, der den beiden Männern, die mit ihrem Blechsarg warteten, Anweisung geben wollte.
»Ja, ja! Erlangen!«, sagte der Köstlbacher. »Ruf aber in der Gerichtsmedizin dort vorher an! Die haben’s nicht so gern, wenn sie vorher nicht informiert werden.«
»Und, Chef, der Parzefall wartet immer noch auf dich!«
»Hab’ den Schulmeister nicht vergessen! Kümmerst du dich hier um alles Weitere?«, fragte der Köstlbacher.
»Kannst dich auf mich verlassen!«, antwortete der Liebknecht. »Außerdem ist die Lederer auch noch da!«
Ein Blick zur anderen Straßenseite zeigte dem Köstlbacher, dass der Parzefall immer noch brav dort stand. Wenn er da drüben auch kaum was von all dem mitbekommen hat, was sich hier in den letzten Minuten abgespielt hat, so hatte er inzwischen doch sehr an Farbe verloren und wirkte fast so mitgenommen, wie der Polizist kurz zuvor, nachdem er wieder zu sich gekommen war.
»Entschuldigen Sie die Unterbrechung!«, sagte der Köstlbacher zum Parzefall und nickte dem Gramschatz ein ›Danke!‹ zu, weil der dafür gesorgt hatte, dass der Parzefall sich nicht in Luft auflöste. »Also, wie war das nochmal? Was haben Sie gesehen?«
»Diesen Transporter...«, setzte der Parzefall an. Aber der Köstlbacher hat ihn gleich wieder unterbrochen.
»Ja, ja, diesen Transporter! Und den Sichtschutz! Beides war also weg, als Sie aus der Kirche hier rausgekommen sind?«
»Weg, ja, weg! Statt dessen war da diese Frau!«
»Was die Frau Grimm auch bemerkte und sofort die vorbeifahrende Polizei angehalten hat!«, ergänzte der Köstlbacher. »Soweit ist uns das alles bekannt. Aber was war vorher? Mit dem Transporter?«
»Wie genau er ausgesehen hat, daran kann ich mich nicht erinnern!«, sagte der Lehrer.
»Und ungefähr?«, fragte der Köstlbacher und bemühte sich sehr, einen bevorstehenden cholerischen Ausbruch zumindest stimmlich zu unterdrücken.
»Na ja, so ein Kleintransporter eben. Weiß, oder beige, auf alle Fälle hell!«
»Und einen Fahrer dazu haben Sie natürlich auch nicht gesehen?«, stellte der Köstlbacher mehr fest, als er fragte.
»Doch! Doch, da war einer. Kann natürlich auch sein, dass es nicht der Fahrer war. Aber da kam einer hinter dem grauen Sichtschutz über dem Kanaldeckel hervor und verschwand dann seitlich im Transporter.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«, fragte der Köstlbacher und war sich dabei sicher, keine vernünftige Antwort zu bekommen.
»Ehrlich gesagt nein! Aber vielleicht ist er auf dem Foto!«, antwortete der Zeuge.
»Foto? Haben Sie fotografiert? Das hatten Sie nicht erwähnt!«
Wenn der Köstlbacher vor ein paar Sekunden noch am liebsten gegähnt hätte, weil er dem Parzefall jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen musste, dann jetzt plötzlich hell wach.
»Kann ich das Foto sehen?«, fragte der Kriminaler. Die Spannung, die ihn jetzt auf einmal ergriffen hatte, konnte man sehen und spüren.
»Leider nein! Der Akku ist leer. Auch der Ersatzakku. Habe über eine Stunde in der St. Jakobskirche Bilder geschossen und gefilmt. Und dann noch das Schottentor. Na ja, das war’s dann!«
»Norbert!«, schrie da der Köstlbacher rüber zu seinem Kollegen Liebknecht. »Fahr’ mit dem Herrn Parzefall hier sofort ins Präsidium. Wir brauchen die Bilder, die er gemacht hat. Und Ausdrucke davon in mein Büro. Von allem, was er von dieser Seite«, und dabei deutete er zum ehemaligen Polizeirevier hinüber, »gemacht hat!«
Der Liebknecht nickte nur und schob den Parzefall vor sich her zum Dienstwagen.
»Ich habe einen Termin!«, protestierte der Parzefall nach ein paar Metern, als ihm langsam klar wurde, dass man die nächste Zeit nicht auf ihn verzichten würde.
»Klar haben Sie einen Termin!«, erwiderte der Kommissar Liebknecht nur. »Im Präsidium in der Bajuwarenstraße!«
Dem Leichenwagen ist die ersten 500 Meter ein Fahrzeug der Polizei mit Blaulicht und Martinshorn vorausgefahren. Es hatten sich inzwischen so viele Schaulustige eingefunden, dass anders ein Durchkommen nur schwierig gewesen wäre.
Der Köstlbacher blieb am längsten am Einsatzort. Auch, als er gar nicht mehr gebraucht wurde und der ganze Tumult sich wieder aufgelöst hatte. Weil jetzt der Köstlbacher ungestört. Jetzt Profiler! Ob einer mit dem siebten Sinn, das ungewiss. Auf alle Fälle volle Konzentration auf das, was hier geschehen sein musste, auch wenn’s keiner gesehen hat. Die Schwingungen davon mussten noch zu spüren sein. Da war sich der Köstlbacher ganz sicher. Und vielleicht würde es ihm ja eines Tages wie seinen großen amerikanischen Vorbildern gelingen, diese Schwingungen in ein Kopfkino umzuwandeln. Wer weiß?
Alte Münz
Kap. 2
Zu sehen waren die beiden Männer an einem dieser wunderbaren, lauen Sommerabende drunten am Fischmarkt vor der Alten Münz. Besser gesagt, sie waren nicht zu übersehen. Nicht dass die beiden so typische Bayern gewesen wären, Männer mit einem Körpergewicht, das hierzulande nicht als korpulent bezeichnet wird, weil es erst das aus einem Mann macht, was man unter einem gestandenen Mannsbild versteht.
Die beiden haben am Rande vom Fischmarkt vor dieser urigen, in vielerlei Hinsicht einzigartigen, altbayerischen Wirtshausstube ›Alte Münz‹, an einem der dort aufgestellten runden Tischchen gesessen und waren in ein Gespräch vertieft, das den eifrigen Gesten zufolge, die jedes Wort verschieden zu gewichten schienen, mit dem üblichen Small Talk, der sonst so oft bei einem Glas Bier geführt wird, nichts zu tun hatte.
Und wie dann der eine von den beiden, der fast zerbrechlich wirkende Blondschopf, plötzlich aufgestanden ist, ein paar Schritte in Richtung Bushäuschen gegangen ist, wo er etwas Platz für sein Vorhaben fand, und sich in Tanzhaltung hingestellt hat, quasi mit einer fiktiven Partnerin vor sich, da richteten sich spontan so einige Augenpaare auf ihn, erstaunte Augenpaare. Eher gelangweilt schaute hingegen sein Begleiter drein, ein fast ebenso schmächtiger Typ mit halblangen, schwarzen Haaren, die seinem hellen Gesicht eine weibische Note verliehen.
»Ich weiß, was du meinst!«, rief er fast eine Idee zu laut zu seinem Begleiter hin. So laut deshalb, weil gerade ein Stadtbus an der Haltestelle ankam und er das Motorengeräusch übertrumpfen wollte.
»Anscheinend nicht!«, kam es in der selben Lautstärke zurück. Und gleichzeitig begann der Blonde unter den nicht wenig überraschten Blicken so mancher Wirtshausgäste und vieler Passanten eine Tanzfolge vorzuführen, die für den Kenner zweifelsfrei als Schrittkombination eines Chá-Chá-Chá zu identifizieren war. Mit einer Verneigung verabschiedete sich der Tänzer von seiner virtuellen Tanzpartnerin und nahm wieder am Tisch vor der Alten Münz Platz. Die ganze Szene dauerte kaum zwei Minuten. Um irgendjemand nachhaltig damit zu beeindrucken, war sie vermutlich viel zu kurz. Sekunden später deutete nichts mehr darauf hin, dass sich noch irgendwer mit dem soeben Gesehenen befasste. Und sei es nur in Gedanken.
Auf den ersten Blick traf diese Einschätzung auch auf den Nachbartisch zu. Aber eben nur auf den ersten Blick.
»Musste das jetzt sein?«, fragte der Dunkelhaarige den Blonden mit einem vorwurfsvollen Klang in der Stimme.
Der Blonde zuckte nur mit den Schultern und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier.