Köstlbachers
erster Fall
Paul Fenzl
1. Auflage 2011
© 2012 SPIELBERG VERLAG, Regensburg
Umschlaggestaltung: Spielberg Verlag
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(eBook) ISBN: 978-3-95452-001-5
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eBook-Herstellung: GEPPCO MEDIA, Regensburg
Paul Fenzl wurde 1950 in Tännesberg im Oberpfälzer Wald geboren. Er wuchs ab 1954 auf dem Lande in der Nähe Regensburgs auf. Seine Gymnasialzeit verbrachte er am Albrecht Altdorfer Gymnasium in Regensburg.
Auch während seines Studiums blieb er seiner Heimatstadt treu. Mit »Köstlbachers erster Fall« rückt Paul Fenzl sein geliebtes Regensburg in kriminalistisch spannender, zugleich humorvoller, mitunter aber auch zynischer Art und Weise ins Zentrum des Geschehens und legt damit den Grundstein zu einer »Kommissar Köstlbacher Serie«.
Gewidmet meiner lieben Frau Virginia.
Mein Dank gilt Frau Gisela Werner (Gisela von der Wurstkuchel), die mir erlaubte, sie als einzige real existierende Person ins Geschehen mit einzubauen. Alle weiteren Personen sind ebenso wie die gesamte Handlung ein Produkt meiner Fantasie.
Besonders erwähnen möchte ich Frau Gabriele Schletter, meine Erstleserin, auf deren positives Urteil hin ich erst entschied, weitere Regensburg Krimis zu schreiben.
Vernehmung
Kapitel 1
Vorstellen hat sich das ja damals bestimmt keiner können, dass in einem 4**** Hotel wie dem ›Ratisbona‹ in Regensburg so etwas passieren könnte, schon gar nicht der Albert.
In den Toiletten des ›Ratisbona‹, da ist dem Albert der Marmor zum ersten Mal bewusst aufgefallen, mit dem dort jeder cm² gefliest ist. Nicht dass du jetzt glaubst, im ›Ratisbona‹ ist es was besonderes, dass sie dort quasi Marmortoiletten haben. Wenn du in so einem 4**** Nobelhotel absteigst, dann darfst du den Marmor in den Toiletten als Standard erwarten, nicht nur in der Lobby und auf allen Gängen. Nur auf den Gängen achtest du nicht drauf, weil da gehst du einfach durch, wenn du auf dein Zimmer willst. Wände und Fußboden uninteressant. Wichtig Beleuchtung, damit du findest, wonach du suchst. Hast ja schließlich ein Zimmer gebucht und keine Gänge. Meine Edeltraud hätte da vielleicht eher einen Blick dafür, weil die immer schon Marmorblick. Aber der Albert ist ja auch nicht die Edeltraud. Es ist nicht einmal sicher, ob der Albert die Edeltraud überhaupt kennt.
So hat es der Albert auch nicht in der Lobby oder auf den Gängen zum ersten Mal gesehen, sondern erst, als er auf einer Toilette gesessen hat und gewartet hat, dass sich ein Erfolg seiner Sitzung einstellt. Zuerst hat es ja nur wie ein Chinese ausgesehen, der ihn aus der Marmorfliese an der Wand gegenüber dem Klopapierabroller angeschaut hat, aber wie er dann noch eine Weile so hingestiert hat und dann auch noch benachbarte Fliesen in sein Blickfeld geraten sind, da wurden es immer mehr Gesichter. Chinesen oder Nichtchinesen, das konnte der Albert nicht so hundertprozentig sicher sagen. Für ihn waren es einfach ›Steingeister‹. An sie dachte er, als er später dämlicherweise zu Protokoll gab, dass er nicht alleine auf der Toilette gewesen war. Je länger die Sitzung dauerte, je mehr ›Steingeister‹ gab der Marmor frei. Und die Sitzung dauerte sehr lange, weil der Albert vor lauter Suchen nach weiteren ›Steingeistern‹ gar nicht mehr konzentriert bei der eigentlichen Sache war und zuletzt sogar die Toiletten unverrichteter Dinge wieder verlassen musste. Das mit der erfolglosen Sitzung, das gab er später natürlich nicht zu Protokoll, weil das mit den ›Steingeistern‹ nicht wirklich etwas zu tun gehabt hatte und er schließlich auch nicht danach gefragt wurde. Da hatte er nämlich Erfahrungen, mit dem zu Protokoll geben. Keine persönlichen, aber Fernsehen, Kino, Bücher! Man ist ja informiert! Wenn du da mehr sagst, als unbedingt sein muss, dann drehen sie dir später aus jedem Wort einen Strick. Und wenn du sicherheitshalber einen Anwalt hinzuziehen möchtest, dann ist das schon fast so viel wie ein Geständnis, weil kein Anwalt nötig, wenn unschuldig!
Der Polizeihauptkommissar Köstlbacher, der die Vernehmung leitete, der schaute jedes Mal mit einem ›Alles klar!‹ Seitenblick zu seinem Kollegen, dem Kommissar Liebknecht am anderen Tischende hin, wenn der Albert beteuerte, dass er nichts gehört und schon gar nichts gesehen haben wollte. Aber gesagt hat er nichts, der Liebknecht. Die Schreibkraft, eine attraktive, Sekretärin in einem eng anliegenden blauen Kostüm, die Edith Klein, schrieb jedes Wort schnell wie ein Porsche mit. Auf einen Mitschnitt der Vernehmung auf Datenträger war verzichtet worden, weil das Mikro einen Wackler hatte und das Ersatzgerät gerade in einem anderen Vernehmungszimmer im Einsatz war.
Über den Sinn der Aussage vom Albert sollte sich der 1.Kriminalhauptkommissar Dr. Ernst Huber, der Leiter der Mordkommission, einen Reim machen, bei dem das Protokoll morgen auf dem Schreibtisch landen würde. Als Neuer auf dem Revier hatte es sich der Köstlbacher sehr schnell abgewöhnt, eine eigene Meinung zu äußern, auch wenn sie für die Ermittlung seiner Meinung nach durchaus Sinn machte. In Straubing, wo er vorher im Morddezernat gesessen hatte, da wusste man seine Ideen durchaus zu würdigen, die nach langen Dienstjahren oft ganz von selber da waren. Aber hier in Regensburg, da galt er als einer, bei dem man erst einmal abwarten wollte, was der drauf hat.
Ist ja nicht so, dass er scharf auf diesen Umzug nach Regensburg gewesen wäre, aber seine Frau, die Anna, die hatte ihr Elternhaus hier im Prinzenweg geerbt und da war es natürlich klar: Versetzungsgesuch nach Regensburg, aus Straubinger Mietswohnung raus, Einzug ins Elternhaus der Anna in Regensburg.
Seine erste Vernehmung, gleich nach seinem Dienstantritt hier, wurde sehr bald darauf als aufgedunsene Wasserleiche unterhalb der Wurstkuchl in der Donau von der Gisela gesichtet. Dass der Köstlbacher die Wasserleiche, damals war sie freilich noch keine Wasserleiche, dass der Köstlbacher den jetzt Toten vor ein paar Tagen auf dem Revier wegen einer Aussage zu einer schweren Körperverletzung mit Todesfolge im Rotlichtmilieu vernommen hatte, da kam man ja erst viel später drauf, als ein Foto der Leiche im Revier hing und irgendwer sich erinnern konnte, dass die Leiche unlängst noch quicklebendig aus dem Zimmer vom Köstlbacher spaziert ist.
Das Bergen der Leiche war gar nicht so einfach gewesen. Weil man sie über die Ufermauern nicht schnell genug zu fassen bekam, konnte sie die Wasserschutzpolizei mit Hilfe der Feuerwehr erst zwei Kilometer stromabwärts aus der Donau ziehen. Hat übel ausgesehen. Gut, dass um diese Jahreszeit kaum noch Schulklassen am Ufer zu Unterrichtsgängen unterwegs waren, weil da hätte der Lehrer bestimmt seine Not mit den Kindern gehabt, die ja alle noch nie eine echte Wasserleiche gesehen haben und ganz wild darauf gewesen wären, der Wasserschutzpolizei mit den zwei Tauchern der Feuerwehr zuzusehen. Die Wasserschutzpolizei auf dem Polizeiboot allein wäre schon interessant gewesen, die Taucher natürlich noch mehr. Aber eine echte Leiche! Das hatten sie noch nicht einmal als Foto im Biologieunterricht. Das Grusligste, was der Lehrer ihnen bisher im Biologieunterricht geboten hatte, war ein menschliches Skelett. Aber als der Lehrer ihnen dann gesagt hat, dass das Skelett nur aus Plastik ist, da hat auch keiner mehr so richtig hingeschaut. Uncool!
Bei der Wasserleiche, da hätten sie aber bestimmt alle hingeschaut. Voll cool! Nicht nur, weil noch keiner eine gesehen hatte. Die Wasserleiche war bis auf einen weißen Tennissocken nackt. Der weiße Tennissocken wegen des schmutzigen Wassers der Donau natürlich nicht mehr weiß, aber man konnte sich die ehemalige Farbe vorstellen. Sie musste weiß gewesen sein. Jede andere Farbe hätte, eingefärbt vom Schmutzwasser der Donau, anders ausgesehen. Auf den Socken achtete die Wasserschutzpolizei aber gar nicht, als die Taucher der Feuerwehr die Leiche in ihren Kahn gehievt hatten.
So eine Wasserleiche bekommt die Wasserschutzpolizei ja auch nicht gerade jeden Tag zu Gesicht. Die Donau in Regensburg schließlich nicht die Seine in Paris, oder die Moskwa in Moskau, wo so eine Leiche schon eher was Alltägliches ist. Darum drehte sich dem jungen Polizisten, der gerade seine erste Einsatzfahrt auf dem Boot machte, auch der Magen um. Zum Glück Windrichtung von vorne und Polizist backbord. So nur Fischfütterung! Außer Mund abwischen keine weiteren Reinigungsmaßnahmen nötig.
Wäre für eine Schulklasse ein zweites Erlebnis geworden, quasi ein Erlebnis im Erlebnis, so wie diese russischen Figuren, von denen du eine in die nächste stecken kannst. Keiner hatte vorher je einen Polizisten beim Kotzen beobachten können. Je nach Altersstufe der Schulklasse wäre so eine Beobachtung bestimmt richtungsweisend für eine Berufswahl geworden, bzw. für eine Nichtberufswahl. Die Polizeilaufbahn hätte aus dieser Klasse dann wohl kaum noch einer einschlagen wollen, schon gar nicht die der Wasserschutzpolizei.
Wie gut das war, dass keine Schulklasse Zeuge dieses Ereignisses wurde, darüber kann jede Schule froh sein, Schüler und Lehrer, weil Schüler und womöglich auch Lehrer anschließend geistliche und psychologische Betreuungen nötig. Heutzutage Standard!
Das Besondere der Leiche war nämlich nicht nur der eine von der Donau verschmutzte Tennissocken. Dass am anderen Fuß kein Socken war, das lag am Fehlen desselben, nicht des Sockens! Des Fußes! Samt Unterschenkel! Abgetrennt! Am Knie! Kann schon sein, an dem fehlenden Gliedmaß war auch ein weißer Tennissocken, vielleicht sogar ein sauberer, weil das fehlende Körperteil nie in der Donau.
Wie die von der Zeitung so schnell von der Wasserleiche erfahren konnten, ist mir ein Rätsel. Außer der Gisela hat schließlich nur die Polizei etwas davon gewusst, weil eben keine Schulklasse unterwegs und auch sonst kein Spaziergänger. Und die Gisela hätte auch gar nichts von dem Fuß mit Tennissocken erzählen können, weil so genau hat sie die Wasserleiche gar nicht gesehen. Und es ging auch alles viel zu schnell. Donau schließlich gerade bei der Wurstkuchl nach den Donaustrudeln der Steinernen Brücke kein müdes Gewässer. Weil die Leiche mit dem Rücken nach oben in der Donau an der Wurstkuchl vorbeigetrieben ist, gerade als die Gisela zu einer Zigarettenpause am Ufer gestanden hat, konnte die Gisela auch gar nicht sagen, ob Leiche Mann oder Frau. Erst der junge Neuling von der Wasserschutzpolizei, der später das Einsatzprotokoll schreiben musste, beschrieb die Leiche als eine männliche Leiche, was er aber auch erst, nachdem er gekotzt hatte, bewusst registriert hat.
Sein Kollege war von dem Anblick zwar auch nicht gerade begeistert, aber als alter Hase steckte er die Wasserleiche leichter weg, weil er während seiner Laufbahn bei der Wasserschutzpolizei schon ein paar Mal so einen ›Fund‹ bearbeiten musste. Schön war so etwas nie, weil Wasserleichen, vor allem wenn sie schon länger im Wasser gelegen haben, aufgebläht wie ein Frosch und bestialischer Geruch. Das ist ja auch der Grund, warum sie oben schwimmen, wegen dem Verwesungsgas, das sich in ihnen bildet und das sie wie einen Ballon nach oben drückt. Vorher ist jede Wasserleiche ja erst einmal untergegangen. Waren ja noch keine Auftriebsgase drin, von den paar Blähungen von der letzten Malzeit mal abgesehen.
Wenn einer nicht ertrunken ist, wenn er quasi schon vorher umgebracht worden ist, dann hat er kein Wasser in der Lunge und war dann oft auch gar nicht so lange unter Wasser. Die in der Gerichtsmedizinischen, die haben da ein Auge drauf. Sind Experten auf diesem Gebiet. Können sogar feststellen, was du als Wasserleiche zuletzt gegessen hast, natürlich nicht wirklich als Wasserleiche, weil die isst ja nichts mehr.
Da haben sie die von der Gisela gemeldete Wasserleiche auch hingebracht, in die Gerichtsmedizinische. Weil wegen des bis zum Knie abhanden gekommenen Beins mit dem weißen Tennissocken war ein Kapitalverbrechen nicht auszuschließen. Dass in der Lunge kein Wasser sein würde, davon ging man bei der Kripo fast vor einer Obduktion in der Gerichtsmedizinischen schon aus. Weil, dass einer ein halbes Bein verliert und dann im Wasser ertrinkt, das erschien denen eher unwahrscheinlich. Nach so einer Verwundung verblutest du ja so schnell, dass du gar nicht mehr zum Ertrinken kommst.
Außer der Tote hat sein Körperteil im Wasser verloren. Schiffsschraube oder so. Kann aber in der Gerichtsmedizinischen auch ziemlich sicher festgestellt oder ausgeschlossen werden. Vorab jedenfalls kam gar niemand auf den Gedanken, das Bein könnte im Wasser abhanden gekommen sein, weil niemand im Wasser eines gefunden hat, auch später nicht oder weiter Donau abwärts. Und die Gerichtsmedizinische sah auch keine Anhaltspunkte für Schiffsschraube oder so.
Aber da bin ich jetzt schon etwas voraus!
Als der Albert seine Aussage machte, da kam es jedenfalls niemandem in den Sinn, dass ein Zusammenhang zwischen dem Verbrechen in den Toiletten des 4**** Nobelhotels und der Wasserleiche bestehen könnte, außer vielleicht der, dass die Leiche dort auch männlich war und Tennissocken trug. Aber sie war nicht nackt und hatte auch nicht im Wasser gelegen, sondern nur neben der Kloschüssel im Nachbarklo vom Albert, als der gerade seine Steingeister bewunderte und von denen so abgelenkt wurde, dass er ganz vergessen hatte, warum er eigentlich auf dem Klo gesessen hat. Wie sollte er sich da noch an etwas erinnern können, was im Nachbarklo passiert sein könnte, während er fasziniert seine Steingeister begutachtete? Außerdem, wer konzentriert sich schon auf das Nachbarklo? Das macht doch höchstens ein Spanner! Und so einer ist der Albert schon dreimal nicht.
Wäre das Klo in dem 4**** ›Hotel Ratisbona‹ nicht videoüberwacht gewesen, natürlich nicht das Klo selbst, aber der Gang zum Klo, dann wäre die ermittelnde Mordkommission gar nicht darauf gekommen, dass der Albert, der zur vermuteten Tatzeit im Nachbarklo auf die Verrichtung eines größeren Geschäftes gewartet hat, aus dem wegen den Steingeistern dann ja nichts geworden ist, dass der Albert was mit der Sache zu tun haben oder zumindest Zeuge der Sache sein könnte.
Eigentlich wollte der Albert ja heute in dem Regensburger Nobelhotel nur die Monika, eine Internetbekanntschaft, treffen. Um 12.00 Uhr war der Albert mit ihr in der Hotellobby verabredet. Eventuell sogar Techtlmechtl und so. Erst mal abwarten. Auf alle Fälle Recherchen! Dann unerwartet SMS von der Monika. Sagte kurzfristig ab!
HEUTE ZU GEFÄHRLICH! KOMME MORGEN!
Und nun auch noch zusätzlich Ärger, weil Vernehmung als Zeuge von weiß Gott was. Hatten ihn von zu Hause mit einem schwarzen Audi abgeholt, als er gerade seinen Nachmittagskaffee trinken wollte. Die Irmi war zum Glück schon in der Arbeit!
»Sind Sie Herr Albert Stiegler?«, hatte der Mann an der Haustüre etwas unfreundlich gefragt, während sein Begleiter interessiert in die Wohnung blickte.
»Ja! Mit wem habe ich die Ehre?«, hat der Albert zurück gefragt.
»Polizei! Hauptkommissar Köstlbacher!«, antwortete der Herr und zückte gleichzeitig seinen Dienstausweis.
»Das ist mein Kollege, Kommissar Liebknecht.«
»In Zivil?«, fragte der Albert, weil es ihm schon komisch vorkam, dass so ein Polizist keine Uniform anhatte.
»Wir möchten Sie gerne wegen eines Vorfalls im ›Ratisbona‹ zu einer Routinevernehmung mit aufs Revier nehmen«, sagte der Polizist in Zivil, ohne auf die Frage vom Albert einzugehen.
»Sie waren doch heute gegen 12.00 Uhr in diesem Hotel?«, setzte er noch hinzu.
»Heute? Ja doch, denke schon! Warum?«, antwortete der Albert.
»Darüber wollen wir eben gerne mit Ihnen auf dem Revier reden und nicht hier zwischen Tür und Angel!«, sagte der Köstlbacher.
Weil es dem Albert eh sehr unangenehm gewesen wäre, wenn die Polizisten in seine Wohnung gekommen wären, stimmte er zu. Irgendwas Unangenehmes war es bestimmt, und bevor die Irmi unvermittelt nach Hause kam, lieber Revier! Schließlich wusste die Irmi ja nichts von seinem ›Besuch‹ im Hotel. Wegen der Nachbarn brauchte sich der Albert zum Glück keine Gedanken machen, weil Polizei in Zivil, nicht als Polizei erkennbar. Hätten auch zwei alte Bekannte sein können, die ihn zu einem Treffen abholen.
Auf dem Weg ins Präsidium in der Bajuwarenstraße aber dann doch mulmiges Gefühl. Polizei immer mulmiges Gefühl, egal ob Verkehrskontrolle oder Vernehmung!
Dann Vernehmungszimmer. Vorlesen der Rechte, dass du dich zur Sache nicht äußern musst und so weiter. Aber weil ›Sache‹ dem Albert nicht bekannt, auch keine Aussageverweigerung sinnvoll.
»Warum hielten Sie sich zur vermuteten Tatzeit am Tatort auf?«, hat den Albert der Kriminalhauptkommissar Köstlbacher zu Beginn der Vernehmung gefragt. Nicht der Kommissar Liebknecht, der am anderen Ende des Tisches gesessen hat. Der hat nichts gesagt und immer nur seltsam geschaut oder mit seinem Kollegen Blickkontakt aufgenommen, du weißt schon, so einen Blickkontakt, über den du dich furchtbar ärgern kannst, weil du genau merkst, dass die sich über irgendwas einig sind oder sich bei irgendwas bestätigt fühlen und du keine Ahnung hast, worum es überhaupt geht.
»Wieso Tatort? Ich war am Klo! Ist das neuerdings verboten?«, antwortete der Albert mit einem flauen Gefühl im Magen, weil Tatort so einen Beiklang hatte, den er gar nicht mochte.
»Jetzt werden Sie nicht frech! Ich stelle hier die Fragen!«, sagte der Köstlbacher unfreundlich, weil er es gar nicht leiden konnte, wenn eine seiner Fragen mit einer Gegenfrage beantwortet wurde.
»Es geht hier um Mord! Und da werden Sie schon etwas genauere Angaben machen müssen!«
Da musste der Albert erst einmal schlucken, weil er bisher geglaubt hatte, die Vernehmung hätte nur was mit einem Diebstahl zu tun, der sich im Hotel ereignet haben soll. Bevor der Albert im Hotel auf die Toiletten ging, da hat er ja schon ein paar Minuten in der Lobby rumgesessen, weil er zu früh dran war. Bei der Gelegenheit hat er auch Gesprächsfetzen einer Unterhaltung mitbekommen, die zwei Hotelangestellte beim Vorbeigehen führten. Der Albert schnappte das Wörtchen ›gestohlen‹ auf. Weil seine Gedanken aber bei der Monika, vergaß er das Gehörte gleich wieder.
»Hab ja nicht gewusst, dass ich hier gleich in einen Mord verwickelt werde!«, sagte der Albert und wurde im Gesicht weiß wie Schneewittchen oder wie der Michael Jackson in seinen letzten Lebensjahren.
»Niemand hat Sie in irgendwas verwickelt!«, antwortete der Köstlbacher. »Sie werden hier zunächst nur als Zeuge vernommen! Ein Hotelangestellter hat Sie auf seinem Bildschirm aus den Herrentoiletten kommen sehen! Überwachungskamera! Kurz bevor eine Gruppe von Hotelgästen dort eine Leiche entdeckte!«
›Jesus Maria!‹, dachte der Albert. ›Ich war doch nur auf dem Klo!‹
»Und was soll ich bezeugen, wenn ich nichts gesehen und nichts gehört habe?«, fragte er bewusst laut, weil sonst seine Stimme am Ersticken gewesen wäre.
»Das ist es ja, was ich raus bekommen will. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, dass man auf einer Kloschüssel sitzt und nicht merkt, wie einen halben Meter weiter ein Mensch gewaltsam ins Jenseits befördert wird!«, meinte der Kommissar.
»Ein halber Meter kann einiges bewirken, wenn eine mit Marmor verkleidete Wand dazwischen ist, von der Steingeister herausstarren!«, versuchte sich der Albert aus der Klemme zu ziehen.
In dem Augenblick, wo der Albert das gesagt hat, da wusste er es schon, dass er das nicht hätte sagen sollen. Das mit den Steingeistern. Weil jetzt war’s dem Polizeihauptkommissar Köstlbacher klar: Mit dem Albert, da stimmt was nicht! Wahrscheinlich meschugge!
Der Albert hätte sich auf die Zunge beißen können, aber dazu war’s jetzt schon zu spät.
Aber der Köstlbacher ganz andere Interpretation!
»Steingeister? Reden Sie von Monika Steingeister? Woher kennen Sie diese Frau?«
Monika Steingeister war der Regensburger Polizei keine Unbekannte. Gegen sie ist schon mehrfach Anzeige erstattet worden. Es waren immer aufgebrachte Ehefrauen, die bei der Polizei angerufen hatten, um sie zum Vorgehen gegen diese Frau zu bewegen. Aber was sollte gegen eine Frau wie die Monika Steingeister unternommen werden? Schließlich tat sie nichts Unrechtmäßiges. Als angemeldete Prostituierte durfte sie selbstverständlich unbehelligt ihrem Gewerbe nachgehen.
Heutzutage sogar Rentenanspruch! Ob Arbeitslosengeld möglich, weiß ich nicht. Harz IV vermutlich auf alle Fälle!
Auch wenn sie sich in einem Hotel einquartierte, dann war das nicht strafbar. Sollten die vom Hotel doch besser aufpassen, wem sie ein Zimmer geben! In eine Straftat, eine richtige, keine aus der Sicht von Ehefrauen, war sie jedenfalls noch nie verwickelt gewesen.
Der Köstlbacher oder einer seiner Kollegen vom Dezernat hatten mit der Monika bisher noch nichts zu tun gehabt. Sie war ihnen höchstens vom Hörensagen bekannt, weil spezielle Berufe immer größerer Bekanntheitsgrad.
Der Albert wurde jetzt aber erst einmal noch weißer, Schneewittchen nun fast Sonnenbank dagegen, was dem Köstlbacher natürlich nicht entging und ihn sofort Witterung aufnehmen ließ.
Im Internet hatte sich die Monika immer ›Monika Stein‹ genannt. Hätte der Albert gewusst, dass sie das ›Steingeister‹ zu ›Stein‹ verkürzt hatte, dann hätte er schon zwei Mal nicht der Polizei gegenüber was von den Steingeistern erzählt, die ihn auf dem Klo so gefesselt hatten. Wenn der Albert erst nur gemeint hatte, der Köstlbacher würde ihn wegen seiner Steingeistergeschichte für abgedreht halten, dann jetzt noch viel schlimmer! Prostituierte und Mord oft nicht unbedingt zusammenhanglos. Sieht man doch in jedem Krimi!
»Die Monika?«, sagte der Albert gedehnt, um sich für eine plausible Antwort noch etwas Zeit zu verschaffen, eine Antwort, die ihn aus dem drohenden Schlamassel vielleicht noch würde heraushalten können. »Die Monika Steingeister? Mit den ›Steingeistern‹ meinte ich doch die Gesichter, die so ein toller Marmor wie der in den Toiletten des ›Ratisbona‹ hervorbringt, wenn man ihn nur lange genug betrachtet.«
Klar, dass der Albert mit so einer blöden Antwort einem Polizeihauptkommissar wie dem Köstlbacher damit nur dumm gekommen ist und erst recht sein Interesse angefacht hat. Quasi vielleicht erste Spur! Jetzt alle Register ziehen!
»Und das sollen wir Ihnen abnehmen? Wir denken, Ihre Geschichte von den ›Steingeistern‹ und der Steingeister, die stinkt doch!«, meinte der Köstlbacher. Jetzt richtig in seinem Element! Wechselte absichtlich vom ›Ich‹ ins ›Wir‹, wegen mehr Gewicht!
Albert jetzt Schweißausbruch. Nicht weil besonders heißer Tag, aber weil Bedenken, sich da in was reinmanövriert zu haben, was sehr unangenehm. Bild von wutentbrannter Irmi taucht auf. Viel schlimmer, als nicht vorhandene Verbindung zu Mord, auch wenn’s der Hauptkommissar Köstlbacher momentan anders sah.
Da ist’s einfach wieder, das schlechte Gewissen. Du bekommst es immer wieder, wenn du allgemein überhaupt ein Gewissen hast. Das schlechte ist freilich viel dominanter. Du brauchst bloß so einem Typen wie dem Köstlbacher gegenüber zu sitzen und seinen Blickwechsel mit dem Kommissar am anderen Tischende zu beobachten, und schon hast du es, dein schlechtes Gewissen. Um so heftiger, wenn dir im Kopf dann noch die Irmi umgeht, die eh schon komisch geschaut hat, weil sie es dir nicht ganz geglaubt hat, dass du heuer schon wieder ein Klassentreffen hast und sie in all den Jahren noch kein einziges.
»Zufall, Herr Kommissar!«, versuchte sich der Albert zu verteidigen. »Dass die Monika Steingeister heißt, das wusste ich nicht einmal.«
»Sie treffen sich mit der einschlägig bekannten Frau Steingeister in einem unserer besten Hotels und wollen behaupten, Sie wüssten nicht, wie die Dame heißt?«, sagte der Köstlbacher.
»Mir ist Monika nur unter dem Namen Stein bekannt«, versuchte der Albert sich kleinlaut zu rechtfertigen.
»Und das sollen wir Ihnen glauben?«, lächelte der Köstlbacher spöttisch.
»Also im Internet auf der ›facebook‹-Plattform, da nennt die Monika sich Stein! Das lässt sich doch nachprüfen, oder?«, antwortete der Albert mit fragend hochgezogener Stirn.
Der Köstlbacher nickte kurz zum Kommissar Liebknecht hin. So ein Nicken, du weißt schon, das heißt nicht ›Ja‹. Das soll eher bedeuten: ›Überprüfen Sie das mal gleich!‹ Und das tat sein Kollege auch, weil der sofort aus seiner Sitzstarre erwachte und sich zu seinem PC hindrehte.
»Stein oder Steingeister«, sagte der Polizeihauptkommissar, um die Zeit zu überbrücken, bis der Kollege fündig würde. »Was wollten Sie überhaupt von der?«
In dem Augenblick ein Nicken vom Kollegen auf der anderen Tischseite. Diesmal Nicken eindeutig ›Ja‹. Der Köstlbacher musste erst mal kurz überlegen, weil er jetzt aus dem vermeintlichen Widerspruch in Alberts Aussage kein Verdachtsmoment mehr ableiten konnte.
»Wir werden ihre Geschichte überprüfen!«, sagte er schließlich zum Albert Stiegler.
Einen Moment sah es so aus, als ob der Köstlbacher zu neuen Fragen ansetzen würde. Aber statt dessen meinte er nur:
»Sie können fürs Erste gehen!«
»Aha!«, sagte da der Albert ein wenig verwirrt von dem schnellen Sinneswandel des Kripobeamten und froh, dass er die letzte Frage vom Köstlbacher nicht mehr beantworten musste.
»Soll das jetzt heißen, dass ich Regensburg verlassen darf?«, fragte der Albert noch zur Sicherheit nach, weil wieder Erinnerung an Fernsehkrimis und so, wo ›zur Verfügung halten‹ gefordert wurde.
»Ich habe nichts Gegenteiliges von Ihnen verlangt!« sagte der Köstlbacher und erhob sich etwas schwerfällig, weil er ein beachtliches Übergewicht mit sich herumschleppte und beim Aufstehen jedes Mal unter einem Stechen im Rücken litt. Nachdem er sein Kreuz wieder durchgebogen hatte, ließen seine Rückenschmerzen nach.
Dem Albert fiel ein Stein vom Herzen und er bekam auch gleich wieder etwas Farbe im Gesicht. Die ganze Zeit hatte er an seine Irmi denken müssen. Ganz schlecht ist ihm geworden bei dem Gedanken, der Irmi alles Mögliche erklären zu müssen. Zwar war die Irmi nicht seine Frau, aber er lebte schon so einige Jahre mit ihr quasi in wilder Ehe zusammen. Da ist dann kein großer Unterschied mehr, ob du verheiratet bist oder nicht. Das Gezeter wäre das Gleiche. Laute Worte hin, laute Worte her, Geheule, Liebesverweigerung, eben die ganze Palette!
»Und was die Frau Steingeister betrifft: Das ›Ratisbona‹ ist eines der besten Hotels in Regensburg mit einem tadellosen Ruf!«, fügte der Köstlbacher noch hinzu, als ob er was Wichtiges vergessen hätte.
»Was soll das nun wieder heißen?«, regte sich der Albert auf. »Ich bin Schriftsteller und mein Interesse an Frau Monika Stein, bzw. Steingeister, ist rein beruflicher Natur. Ich schreibe einen Roman über ihr Milieu. Da muss ich natürlich erst mal Milieurecherchen betreiben! Ich ermorde schließlich niemanden, nur weil in meinem Buch vielleicht auch mal ein Mord vorkommt! Und genauso wenig fange ich was mit einer vom Gewerbe an, nur weil ich wissen will, was da so abläuft!«
Der Köstlbacher lächelte nur vielsagend, drehte sich um und verließ den Raum. Die Edith Klein schrieb noch ein letztes Wort und folgte ihm dann schnell. Sein Kollege, der Kommissar Liebknecht, der blieb an seinem Schreibtisch sitzen und ignorierte den Albert, der kopfschüttelnd aufstand, den Reißverschluss seines Anoraks zur Hälfte hochzog und sich auf den Weg nach draußen machte.
So gut tat Frischluft schon lange nicht mehr wie jetzt, nach der dicken Luft im Vernehmungszimmer der Kripo in der Bajuwarenstraße.
Wenn der Albert sich im Zusammenhang mit einem eventuellen Verbrechen in den Herrentoiletten des ›Ratisbona‹ auch absolut keiner Schuld bewusst war, die Vernehmung soeben durch den Kriminalhauptkommissar Köstlbacher, die verunsicherte ihn doch sehr. Da willst du dich aus rein beruflichen Motiven mit jemandem treffen und wärest sogar bereit, ein bisschen Selbsterfahrungen zu sammeln, quasi um lebensechter schreiben zu können, und schon bist du in einen Mordfall verwickelt, auch wenn’s nur als Zeuge ist.
Dabei war der Albert vermutlich tatsächlich nur auf den Toiletten des ›Ratisbona‹ gewesen.. Aus dem Treffen mit der Monika war ja nichts geworden. Schon vor seinem Gang zu den Toiletten hatte der Albert in der Hotellobby doch diese SMS von der Monika erhalten.
HEUTE ZU GEFÄHRLICH! KOMME MORGEN!
Gut, dass der Köstlbacher nichts von dieser SMS mitgekriegt hat. Der hätte da bestimmt wieder ein riesen Zinnober draus gemacht!
Gedankensprünge
Kapitel 2
Genau betrachtet sind Gedankensprünge richtige Sprünge, nur dass du die eben nicht mit deinen Beinen und Füßen machst, sondern deine Gedanken von einer Synapse im Hirn zur einer oft recht entfernten hüpfen. Und im Gegensatz zum Dreisprung bei den Sportlern sind da weit mehr Sprünge möglich, unendlich viele, wenn du so willst. Höchstens der eine, von dem du neulich in der Zeitung lesen konntest, der nur eine Hirnhälfte hat und, auch wenn’s die Wissenschaftler noch so wundert, damit gut zurecht kommt, der eine kann in Gedanken nicht gar so viel rumspringen. Weil der hat ja quasi eine begrenzte Sprunggrube.
Im Gegensatz zu dem einen mit der nur einen Gehirnhälfte scheinen manche Politiker gleich drei Hälften zu haben. Der Verdacht zumindest liegt nahe, wenn so ein ›Homo politicus‹ am Rednerpult steht und wild gestikulierend sagt:
»Nehmen wir einmal an, dass, aber nicht immer, die Entfernungen sind ja zu groß, falls die Finanzen es erlauben, eine Erhöhung haben wir im Wahlkampf ausgeschlossen, unsere Soldaten, und in diesem Zusammenhang sind mir die Proteste der Opposition völlig unverständlich, und dazu stehen wir!«
Untersucht hat das ja noch keiner, das mit den drei Gehirnhälften, weil, wer interessiert sich schon für die Gehirnhälften von einem Politiker. Aber wenn’s stimmen würde, dann wäre das ein eindeutiger Beweis dafür, das mehr oft auch weniger sein kann.
Der Albert ist zwar kein Politiker, auch wenn er ab und zu mal einen politischen Gedanken in seinen Büchern aufgreift, aber unsinniges Zeug hat er trotzdem gefaselt, als ihn seine Irmi am Abend nach der Vernehmung neugierig gefragt hat, wie er den Tag verbracht hat und ob das Klassentreffen wohl schon zu Ende sei. Dabei wollte die Irmi auf gar nichts Spezielles hinaus, einfach nur mit ihrem Albert reden. Quasi partnerschaftlicher Smalltalk!
»Ich seh’ schon,« sagte die Irmi. »Ihr habt euch über tausend Dinge gleichzeitig unterhalten. Kannst mir ja ein anderes Mal Einzelheiten erzählen. Oder auch nicht! Ich kenne ja sowieso kaum jemanden aus deiner Schulzeit! Übrigens, ich geh’ heute Abend noch weg!«
»Aha! Hast mir ja gar nicht gesagt, dass ich den Abend alleine verbringen muss!«, schmollte der Albert. Zumindest spielte er den Schmollenden recht gut.
»Ich war der Meinung, du bist heute Abend noch mit dem Klassentreffen beschäftigt. Normalerweise findet so etwas doch am Abend statt!«, sagte die Irmi.
»Normalerweise schon!«, wiederholte der Albert. »Aber in meiner Klasse war anscheinend niemand normal! Zuerst, da hieß es, dass wir uns heute am Vormittag zum Bratwurstessen in der Wurstkuchl treffen, zumindest die, die schon da sein können. Am Abend wollten wir uns dann gemütlich im Hofbräuhaus zusammensetzen.«
»Und, warum macht ihr das dann nicht so?«, fragte die Irmi.
»Weil heute nur wenige da waren! Die anderen haben gedacht, das Freitagsdatum auf der Einladung sei ein Versehen, weil wir uns bisher immer samstags getroffen haben. War übrigens wirklich ein Fehler!«, erklärte der Albert und entwickelte mit seinen Lügen dabei eine ganz schön kriminelle Energie.
»Und wie habt ihr das geregelt?«, fragte die Irmi.
»Handy! Wie sonst! War ein ganz schönes Durcheinander! Mir kann’s ja egal sein, ob heute oder morgen!«, fügte der Albert mit perfekt rüber gebrachter Gleichgültigkeit in seiner Stimme hinzu.
»Dann bin ich also morgen am Samstag alleine zu Hause?«, fragte die Irmi.
»Red’ doch mit der Rosi! Vielleicht hat die Lust mit dir ins Kino zu gehen!«, schlug der Albert vor.
»Mal sehen!«, beendete die Irmi die Unterhaltung, weil das Telefon läutete und sich eine alte Freundin aus München meldete.
Dem Albert war klar, dass die Irmi jetzt längere Zeit abgelenkt sein und auf das Thema ›Klassentreffen‹ heute kaum noch mal zurückkommen würde. Zudem ging es schon auf den Abend zu, und die Irmi hatte sich zu einem Treffen mit ein paar Arbeitskollegen im ›Leeren Beutel‹ verabredet. Ihr Chefarzt Prof. Dr. Michael Herzig von der Orthopädie der Uniklinik hatte seiner OP-Crew Karten für eine Veranstaltung im Jazzclub besorgt. Seine neue OP-Schwester, die Irmi, sollte ihre Kollegen und Kolleginnen etwas privater kennen lernen. Quasi Teamgeiststärkung! War schon ein Ritual vom Prof. Dr. Herzig, das er jedes Mal praktizierte, wenn seine Mitarbeiterschar einen Neuzugang hatte. Irmi hatte die Stelle erst vor ein paar Tagen angetreten. Zur Uniklinik konnte sie quasi zu Fuß in die Arbeit gehen von ihrer Wohnung am Ziegetsberg. Zu den Barmherzigen Brüdern ging es nicht ohne Auto oder den Stadtbus, zumindest im Winter und an Regentagen nicht. Das Fahrrad war nur an relativ wenigen Tagen im Jahr möglich, weil zu einer Arbeit im OP kannst du nicht ausgefroren oder abgehetzt kommen.
Mit einer Flasche Bier machte es sich der Albert auf dem Wohnzimmersofa bequem und schaltete das Regensburger Regionalprogramm TVA ein. Seine Gedanken sprangen immer noch wild durcheinander. In was war er denn da hinein geraten? Hatten ihn die Steingeister auf dem Klo tatsächlich so abgelenkt, dass er von dem Mord im Nachbarklo nichts mitbekommen hat? Oder wurde womöglich gar niemand dort ermordet? Vielleicht nur abgelegt? Und was war mit der Monika los? Was sollte die SMS von ihr?
Ich meine, ohne diese ganze Vernehmungsgeschichte, da hätte der Albert die SMS so verstanden, dass die Monika ihn vor einer Entdeckung durch die Irmi warnen wollte. Die Monika kennt zwar die Irmi nicht persönlich, mutmaßte der Albert, und hat somit auch keinen blassen Schimmer, was die Irmi weiß oder was sie vorhat. Aber die Monika kennt die Rosi. Das wusste der Albert zwar weder von der Monika selbst, noch von der Rosi. Aber im Internet, da war auf Monikas Seite ein Gästebucheintrag von der Rosi. Einer mit Bild! Gesehen hat das der Albert nicht auf der ›facebook‹-Plattform. Gesehen hat er das bei den ›wkw‹ Leuten. Drum heißt diese Plattform ja auch ›wer-kennt-wen‹, weil du da immer gleich siehst, mit wem derjenige oder diejenige noch aller in Kontakt steht. Die Monika hat aber keine Ahnung, dass der Albert sie auf ›wkw‹ auch gefunden hat und auch nicht, dass er von ihrer Bekanntschaft mit der Rosi Kenntnis hat.
Da auf dem Sofa, als die TVA Nachrichten so nebenbei liefen, da ist ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dem Albert, aber nur ganz oberflächlich und noch nicht richtig fassbar: ›Die Rosi...!‹ Aber dann war der Gedanke auch schon wieder im Chaos verschwunden, das momentan in seinem Hirn die Oberhand hatte. Ist quasi davongesprungen im allgemeinen Wettbewerb der Gedankenspringer. Schuld waren aber wahrscheinlich die Bilder, die vom TVA gerade zu sehen waren, die den Albert so sehr ablenkten.
»... Die männliche Leiche, die heute gegen 11.45 Uhr vom Personal des Hotels Ratisbona in einer Herrentoilette liegend aufgefunden wurde, konnte nicht als einer der Hotelgäste identifiziert werden. Ermittlungen ergaben, dass der Ermordete das Hotel allem Anschein nach nur zu einem Treffen mit einem Gast aufgesucht hat. Die Kriminalpolizei will eine Sonderkommission bilden, um den Fall möglichst schnell aufzuklären!
Der Stadtrat von Regensburg hat mit großer Mehrheit.......«
Albert drehte den Ton ab. Was der Stadtrat von Regensburg mit großer Mehrheit befürwortet hatte, das interessierte ihn nicht. Der vorangegangene Bericht hingegen, leider hatte er ihn nicht von Anfang an gesehen, der ließ seine Hände spontan schweißnass werden. Im Gehirn momentan Gedankensprungpause. Denken nicht mehr möglich! Schockzustand! TVA-Bilder drängten alle anderen Gedanken zurück. Herrentoilette des Hotels, Abtransport eines Blechsarges durch zwei Männer, Ausschnitte einer Pressemitteilung der Kripo und eines Interviews mit dem Hotelmanager. Den Hotelmanager kannte der Albert nicht, wohl aber den Kripobeamten, der zu sehen war! Kriminalhauptkommissar Köstlbacher!
»Also, ich geh’ dann!«, sagte die Irmi, die auf einmal hinter dem Albert stand.
»Geht’s dir nicht gut?«, fügte sie noch hinzu, weil sich der Albert umdrehte und sie wie einen Geist anstarrte.
»Hallo! Ich hab’ dich was gefragt!«, kam es nun etwas lauter von der Irmi, weil der Albert nichts antwortete.
»Nein, nein! Alles okay!«, sagte der Albert wie abwesend und mit wenig Überzeugungskraft.
Aber die Irmi war mit seiner Antwort zufrieden, weil sie einerseits noch in Gedanken bei dem eben geführten Telefonat mit ihrer Freundin aus München war und weil sie sich beeilen musste, um rechtzeitig im Leeren Beutel zu sein.
»Also dann! Tschüss!«, sagte sie noch.
»Tschüss! Und viel Spaß im Jazzclub!«
»Danke!«, sagte die Irmi. »Brauchst nicht auf mich warten. Wird bestimmt spät heute!«
Doch das hörte der Albert nicht mehr, weil seine Gedanken wie auf Kommando wieder zum Springen angefangen haben.
Die ganze Springerei hatte trotz des scheinbaren Chaos irgendwo System. Es tauchten immer wieder die selben Personen auf und die selben Orte: das ›Ratisbona‹ in der Altstadt, die Monika mit der Rosi, der Eiserne Steg, die Wurstkuchl neben der Steinernen Brücke, die Untere Bachgasse. Seltsamerweise wusste der Albert nicht, warum sich gerade diese speziellen Orte wie in einer Endlos-Diashow immer wieder in sein Bewusstsein drängten. Das ›Ratisbona‹, das konnte er ja noch verstehen, warum das immer wieder aufblitzte, aber die übrigen Orte, die waren dem Albert natürlich vertraut, wie 1000 andere x-beliebige Plätze in Regensburg auch, aber warum gerade die und warum gerade jetzt die? Und warum die Rosi Gerber?
Da musste es doch irgendwas geben, was dem Albert im Moment nicht klar war, an das er aber ständig erinnert werden wollte. Wenn seine Gedanken doch mal für kurze Zeit mit dem Springen aufhören würden. Vielleicht wäre dann ein Zusammenhang erkennbar.
Gerade als der Albert geglaubt hat, dass er es jetzt gleich wüsste, was sein Hirn da eigenständig auf die Reihe bringen wollte, da unterbrach das Summen seines Handys erneut alle Gedankensprünge. Natürlich ohne vorher ein greifbares Ergebnis zu hinterlassen.
Auf dem Display war keine Nummer zu sehen. Aber er konnte sich schon denken, wer dran war.
»Albert Stiegler!«, meldete er sich.
»Hi Albert! Hast du meine SMS gelesen?«, fragte ihn die Monika.
»Hi Moni! Hab’ ich! Wurde aber nicht schlau draus!«, antwortete der Albert. »Was hast du mit ›zu gefährlich‹ gemeint? Ist’s wegen der Irmi?«
»Wieso wegen der Irmi?«, fragte die Monika.
»Hätte ja sein können, dass du mit der Rosi über uns gesprochen hast und die, sagen wir mal unbeabsichtigt, der Irmi was weitererzählt hat«, vermutete der Albert.
»Aber nein! Ich red’ mit der Rosi über vieles, aber doch nicht über uns! Weiß doch, dass sie die Busenfreundin deiner Irmi ist«, beschwichtigte die Monika und lenkte damit den Albert ab, weil sie natürlich mit ihrer Freundin tatsächlich längst über alles geratscht hatte.
»Es geht um ganz was anderes!«, fügte sie noch hinzu.
»Und das wäre?«, fragte der Albert, nun aber schon sehr gespannt.
»Der Tote, der den sie aus der Herrentoilette des ›Ratisbona‹ geholt haben. Ich kenne ihn!«, sagte die Monika.
Da hat es den Albert richtig gerissen, wie er das gehört hat.
»Echt? Und woher?«, fragte er.
»Kannst du dir doch vorstellen! In der Kirche habe ich ihn bestimmt nicht kennen gelernt. Obgleich die Idee durchaus was Reizvolles hat«, antwortete die Monika.
»Er war also einer deiner Kunden?«, fragte der Albert.
»Nicht in dem Sinn, wie andere«, sagte die Monika.
»Wie, nicht in dem Sinn? In welchem Sinn hast du denn sonst noch Kunden?«, wollte der Albert wissen.
»Ich meine, nicht in dem Sinn, dass er bezahlt hat!«, antwortete die Monika.
»Okay, ein Unterschied für dich, aber Kunde ist Kunde. Der eine zahlt viel, der andere zückt sein Rabattmarkenheft und erhält Preisnachlässe und der ganz andere bekommt auch mal was umsonst, sozusagen der Gewinner des Preisausschreibens«, meinte der Albert mit einem sarkastischen Unterton in seiner Stimme.
»Du verstehst nicht, was ich sagen will! Der Benni, also der Benni Tischke, also der, den sie auf der Herrentoilette gefunden haben, der Benni ist mein, ... mein Freund!«
»Du hast einen Freund? Du hast mir nie erzählt, dass du einen Freund hast!«, sagte der Albert etwas ungläubig.
»Du hast mir auch lange nichts davon erzählt, dass du eine Frau hast!«, konterte die Monika.
»Die Irmi ist ja auch nicht meine Frau, zumindest nicht so richtig, so papiermäßig!«, log der Albert.
»Du meinst, weil sie nichts von deiner Rente bekommt, wenn du ins Gras beißt, drum ist sie auch nicht ›richtig‹ deine Frau!«, sagte die Monika fast etwas bissig. Du lebst seit weiß Gott wie lange mit ihr zusammen, teilst tagein tagaus Tisch und Bett mit ihr. Da ist sie für mich deine Frau, nicht mehr und nicht weniger. Ein Trauschein ist in diesem Zusammenhang nicht mehr wert, als das Papier, auf das er gedruckt ist. Oder glaubst du im Ernst, Treue würde für dich zu einem Begriff mit anderem Inhalt, wenn du eine Heiratsurkunde hättest?«
»Was regst du dich auf einmal so auf? Was hat das alles mit der Irmi und deinem Benni zu tun?«
»Siehst du, genau das ist es! Du sprichst von ›der‹ Irmi aber ›meinem‹ Benni. Dabei lebst du mit ›deiner‹ Irmi zusammen und ›der‹ Benni ist jetzt tot! Der Benni war nie ›mein‹ Benni. Ich war dem Benni seine Monika. Das ist ganz was anderes! Ich habe ihm gehört! Verstehst du’s endlich?«, schrie die Monika nun fast. Auf alle Fälle begann sich ihre Stimme zu überschlagen, als sie noch hinzufügte: «Der Benni war das, was ihr Spießer einen Zuhälter nennt, auch wenn ihr nie begreifen werdet, wer sich hinter diesem Wort verbirgt!«
Da ist dem Albert erst mal die Kinnlade hinunter gefallen und er bekam eine Ewigkeit andauernde Sekunde keinen Ton mehr heraus. Gut, dass ihn die Monika so nicht sehen konnte, weil jetzt bestimmt gedacht, der Albert hat was an der Birne.
»Was ist? Hat’s dir die Sprache verschlagen?«, fragte sie, als keine Antwort kam.
Aber beim Albert Pause vom Gedankensprungturnier vorüber. Absolut hektischer Durchgang! Romanfiguren im Wettstreit mit lebenden Vorbildern. Die Zuschauerränge besetzt mit Toten, die trotz ihrer Leichenblässe frenetisch herausragende Leistungen applaudierten. In den Kabinen wartende Huren, begleitet von Zuhältern mit Goldkettchen und Polarfuchsmänteln, die Rollex ums Handgelenk. Eine männliche Leiche, liegend im eigenen dunkelrot gefärbten Blut in der marmornen Männertoilette. Neben einer Kloschüssel!
»Haaaaaaallo!«, rief die Monika ins Handy, weil sich der Albert gar so still verhielt.
Turnier mit einem Schlag beendet! Siegerehrung abgebrochen. Bekanntgabe der Ergebnisse verschoben! After-Game-Party ausgefallen!
«Scheiße! Der Benni, war das so ein großer, dunkelblonder, der in der Adolf-Schmetzer-Straße...?«, fragte der Albert und brach damit sein Schweigen.
»Ja, genau der!«, antwortete die Monika nun ihrerseits überrascht. »Du kanntest ihn?«
»Kennen ist vielleicht etwas übertrieben. Ich hab’ dort mal vorgesprochen und um ein paar Insiderinfos gebeten. Der Herr Tischke hat mich freundlich lächelnd gleich durchs ganze Etablissement geführt. – Und der gehörte zu dir? Der war quasi dein ...!«
»Zuhälter! Ja! Du kannst das Wort ruhig aussprechen«, vervollständigte die Monika den Satz vom Albert. »Du kannst ihn natürlich auch meinen Chef nennen, wenn dir das leichter über deine Scheiß Spießerlippen geht!«
»So war das nicht ...«
»Doch! Genau das meinst du! Du wirst von deinem Agenten ständig dumm angemacht und beizeiten über den Tisch gezogen. Du nennst ihn deinen Chef und lässt dich trotzdem Tag für Tag von ihm ficken. Für mich war der Benni mein Freund, auch wenn er mein Zuhälter war. Und im Gegensatz zu deinem Agenten fickte er mich wenigstens richtig und nicht so wie diese Agentenarschgeige dich. Der macht dich doch nur fertig wann und wo’s ihm passt!«, sagte die Monika und traf damit den Albert an seiner empfindlichsten Stelle.
Da hatte sie schon recht! Der Agent vom Albert, der saugte ihn aus bis aufs Blut. Drei Kriminalromane konnte der Albert bisher schon veröffentlichen. Die letzten beiden in Auflagen, wovon du nur träumen kannst. Aber was hat der Albert davon gehabt? Außer dass ihn jetzt jeder kennt und er nicht mehr durch die Stadt bummeln kann, ohne angesprochen zu werden? Wenig! Zumindest wenig Geld. Sein Agent hat bestens dafür gesorgt, dass der Albert auf den Verkaufslisten ganz oben stand. Er hat aber auch rechtzeitig dafür gesorgt, dass der Albert nur so viel vom Kuchen abbekam, dass er ständig gezwungen ist, einen weiteren Roman zu schreiben.
Ja, da hatte sie wirklich recht, die Moni. Sein Agent nimmt ihn aus wie eine Weihnachtsgans oder, um es mit ihren frivolen Worten zu sagen, er fickt ihn unaufhörlich.
»Ich weiß, wer den Benni umgebracht hat!«, sagte da plötzlich die Monika.
»Was hast du gesagt?«, fragte der Albert, weil er sich nicht vorstellen konnte, das das, was er soeben gehört hatte, dass das wirklich aus der Hörmuschel seines Handys gekommen war.
»Ich weiß, wer den Benni umgebracht hat!«, wiederholte die Monika.
»Woher? Ich meine wer...?«, fragte der Albert, momentan nicht in der Lage zu entscheiden, was er zuerst wissen will.
»Ich werde mich hüten, einen Namen zu nennen. Womöglich schwimme ich dann auch als Wasserleiche in der Donau oder liege erstochen in der Damentoilette«, antwortete die Monika.
»Wieso Wasserleiche?«, fragte der Albert, der von einer Wasserleiche vor ein paar Tagen in der MZ gelesen hatte, aber keinen Zusammenhang zu dem toten Benni in der Herrentoilette erkennen konnte.
»Der Tote in der Donau! Der Gruber Hans! Der Chefportier vom Ratisbona!«, sagte die Monika Steingeister. »Ich muss die Rosi anrufen!« fügte sie noch hinzu und beendete ohne ein weiteres Wort das Gespräch. Vielleicht Akku leer! Vielleicht aber auch nur launisch, die Monika!
Wenn der Albert nicht schon auf dem Sofa gesessen hätte, spätestens jetzt hätte er sich hinsetzen müssen.
Dass die Rosi und die Monika sich kennen, das wusste der Albert ja schon länger. Deshalb hatte er ja auch Angst gehabt, über die Rosi könnte was von seinem Treffen mit der Monika zur Irmi durchsickern. Eine Scheißangst hat er gehabt, weil die Irmi dann bestimmt riesen Affentheater!