„Alles, was seit der fabelhaften Entdeckung der beiden Amerikas geschehen ist, …, ist so unglaublich, dass die ganze Geschichte jedem ziemlich unglaublich erscheinen muss, der sie nicht selbst erlebt hat.“
Bartolomé de las Casas (1552)
Auf dem Flug von London nach Quito nahm Mark seine letzten siebzig Pilze ein. Wie sie ihn überhaupt nach Ecuador hineingelassen haben, ist mir ein Rätsel. In einem lila Sportanzug schritt er (Mark pflegte überall zu schreiten) über die Rollbahn in Richtung des großen Hangars, derals Ankunftshalle herhielt. Sein Kopf und seine Schultern überragten alle Ecuadorianer und die meisten Touristen. Sein Haar war ein wirres Durcheinander. Seine Pupillen waren furchtbar geweitet. Die Adern an seinen Armen und seinem Hals waren angeschwollen. Melissa und ich warteten draußen und beobachteten ihn (es ist ein kleiner Flughafen), wie er zuerst die Zollbeamten und dann die Beamten von der Einwanderungsbehörde wie ein Wahnsinniger angrinste. Er hätte nicht verdächtiger aussehen können, wenn er sich leuchtend pink angemalt und „vollgedröhnt“ auf seine Stirn geschrieben hätte.
Sie ließen Mark durch. Ecuadorianische Beamte achten wohl nicht sonderlich darauf, ob jemand halluzinogene Drogen nach Südamerika hineinschmuggelt. Marks Drogen waren sowieso sicher in einem Körper verwahrt, als er das Flugzeug verließ. Da er gerade in der zweithöchstgelegenen Hauptstadt der Welt aus einem englischen Flugzeug ausstieg, könnten seine wilden Augen und sein dummes Grinsen auch einfach eine Folge von Sauerstoffmangel gewesen sein. Es war ein schlechtes Vorzeichen.
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Bevor wir England verlassen hatten, hatte ich Mark und Melissa das Versprechen abgenommen, dass wir unter keinen Umständen Drogen über irgendwelche internationale Grenzen mitnehmen würden. Nach Antritt der Reise hielt das Versprechen gerade mal eine Stunde lang – bis Melissa und ich in Charles de Gaulle umstiegen und Melissa ein Paar fertiggedrehte Joints herauszog. Sie zu rauchen wäre, wie sie betonte, der schnellste Weg, sie verschwinden zu lassen. „Wir könnten sie wegwerfen“, wagte ich vorzuschlagen. Melissa wischte schwungvoll ihr langes braunes Haar aus dem Gesicht und sah mich traurig an. Nein. Einen Joint kann man wirklich nicht einfach so wegwerfen. Als wir hinter einer Reihe Gepäckwagen heimlich das Dope rauchten, dämmerte mir die Erkenntnis: Niemand würde dem, was ich sagte, jemals die geringste Beachtung schenken. Nicht, dass das meine Aufgabe war. Aber immerhin hatte ich die ganze Arbeit mit der Reiseplanung gehabt.
„Du hast die Tickets, die Versicherung, die Route und was wir mitnehmen und alles organisiert … was ist meine Aufgabe?“, hatte Mark gefragt. „Du kannst die Drogen besorgen“, hatte ich vorgeschlagen. Mark hatte den kompletten Flug verpasst und ihn um drei Wochen verschoben, während er sich durch die ca. 2000 Magic Mushrooms hindurchgearbeitet hatte, die in seinem Wohnzimmer trockneten. So kam es, dass Melissa und ich schon in Quito auf ihn warteten. Ich wusste, wenn Mark nach Südamerika kam, würde richtig Schwung in die Bude kommen. Ich wusste auch, dass er furchtbar nerven würde. Wie sich herausstellte, hatte ich in beiden Hinsichten Recht.
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Mark war wahrscheinlich der intelligenteste Mensch, den ich kannte. Auf jeden Fall dachte er das. Ich erinnere mich daran, wie Mark mir, während wir vor ein paar Jahren beim Glastonbury Festival herumliefen, die ganze Nacht lang erklärte, warum Sinus- und Cosinus-Funktionen für das Funktionieren des gesamten Universums entscheidend sind. Das alles ergab Sinn. Während er sprach, erwachten Sinus- und Cosinus-Funktionen zum Leben, tanzten über die Felder und sangen in der Luft. Sie bedeuteten mir etwas. Ich vergaß jedes Wort sofort wieder. (Na ja, ich war auf einem Trip.) Die meisten Leute, die über Mathe, Chemie und solches Zeug länger als, sagen wir, drei Sekunden reden, rangieren gesellschaftlich nur knapp unter einem Fußpilz. Aber Mark konnte so etwas rüberbringen, sogar bei Leuten, die ich für ernsthaft gefährlich hielt – z.B. bei Leuten, die Autos stahlen, um vom Pub nach Hause zu kommen. Natürlich hatte es auch etwas damit zu tun, dass er immer der letzte war, der in jedem Drogen-Wettbewerb noch auf den Beinen stand. Einem wie ihm stand es zu, über Cosinus-Funktionen zu reden.
Ursprünglich hatte ich Mark an der Universität kennen gelernt, wo er Anthropologie und ich Politik studiert hatte. Die letzten zwei Jahre war er allerdings arbeitslos gewesen – und glücklich dabei. Dazwischen war er der „nordeuropäische Verkaufsleiter“ einer amerikanischen Computerfirma gewesen. Was ihm an dem Job gefallen hatte (abgesehen von dem riesigen Gehalt und den Reisen nach Südkalifornien, „wo die Mädchen durchdrehen, wenn sie einen englischen Akzent hören“), war sein Büro – das „Verkaufsbüro für Nordeuropa“: Es bestand aus einer Person und befand sich in seinem Wohnzimmer. Es war genau das Zimmer, wo er sein Dope aufbewahrte. Die Firma wurde durch eine andere übernommen. Mark wurde eingespart. Er kompensierte seinen massiven Einkommensverlust, indem er seinen Speed-Konsum drastisch erhöhte, um keine Lebensmittel kaufen zu müssen, und Rechnungen nicht bezahlte. Er stellte alle Zahlungen für die Hypothek und das Telefon, für Strom, Gas und Wasser sowie für die Fernsehgebühr ein. Nichts geschah. Es folgte eine Flut roter Briefe, die gerichtliche Schritte androhen, aber sein Haus wurde nicht gepfändet. Sein Telefon wurde nicht abgestellt. Strom, Wasser und Gas flossen weiterhin aus den entsprechenden Anschlüssen. Er schaffte es sogar, sein wertvollstes Gut zu behalten: Einen Drei-Liter-Toyota-Super-Sportwagen mit Einspritzer-Motor. Als er noch gearbeitet hatte, hatte er eine stattliche Wand aus einem Fernseher, HiFi-Geräten, einem Videorecorder, Verstärkern, Gitarren und Lautsprechern zusammengestellt, die so angeordnet waren, dass sie die maximale Lautstärke sowie die optimale Klang- und Bildqualität auf einen Sessel ausrichteten, der in der Mitte des Wohnzimmers stand. Das war Marks Sessel – und falls jemand es wagte, sich dorthin zu setzen, hatte das einen anhaltenden Psychokrieg zur Folge. Auf jedem anderen Fleck auf dem Boden stapelte sich Abfall: CDs, Musikkassetten, alte Zigarettenschachteln, leere Bierdosen, halbgeleerte Zigarettenpapier-Packungen, Teller mit Essensresten, ungespülte Kaffeebecher mit Schimmel am Boden, übelriechende Schuhe, schmutzige Kleider, Fußbälle ohne Luft, Golf-Schläger, Bücher, Comics, ein Schachbrett und ein Spiel mit dem Titel Liebhaber-Fantasien.
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Eines von Marks Hobbies war, mit seinem Toyota Supra, der die Farbe eines erigierten Penis‘ hatte, auf LSD durch die engen ländlichen Sträßchen in der Nähe seines Hauses in Kent zu rasen, während wir anderen vor Angst zitterten. Auf LSD im Auto mitzufahren ist schon ziemlich angsteinflößend; in diesem Zustand ein Auto zu lenken ist ein kleines Wunder. Wir hatten keine Ahnung, ob er sicher fuhr, aber anscheinend kamen wir immer lebendig an. Da er mehr als einmal mit 180 km/h um 2 Uhr nachts angehalten wurde, unter Drogen und halbbetrunken, ohne Steuerplakette und Versicherungsschein, war es erst Recht ein kleines Wunder, dass er nie verwarnt, geschweige denn verhaftet wurde. „Ich habe eben von Natur aus Glück“, sagte er immer. Er strapazierte sein Glück bis ans Limit. Einmal wurde er von einem engen ländlichen Sträßchen geschleudert, das sich um einen Berg wand. Mit 120 km/h geriet das Auto auf eine Schotterstrecke und stieg wie eine Rakete in die Luft, um dann auf die nächstuntere Serpentine aufzuschlagen, im Salto über eine Hecke zu fliegen und in einem Weizenfeld zu verschwinden, nachdem es zwei kleine Bäume entwurzelt hatte. Andere Autofahrer hielten an und bildeten eine Menge. Sein Freund Tris, der auf dem Beifahrersitz gestanden war und seinen Oberkörper durch das Dachfenster gestreckt hatte, lag ausgestreckt über dem Autodach, entweder tot oder bewusstlos. Es sah nicht gut aus. Mark schaltete das Radio ein. Es funktionierte. Tris stöhnte. Nicht tot.
Der andere Passagier, Si, der auf dem Fenster der Beifahrertür gesessen hatte, rührte sich ebenfalls. Mark testete den Anlasser. Der Motor sprang sofort an. Er fuhr los, quer durchs Kornfeld – nur die Antenne war noch zu sehen – und verließ das Feld durchs Tor am anderen Ende. Als die Polizei auftauchte, war er verschwunden. Da er sich den Spritverbrauch nicht leisten konnte, tauschte er seinen Toyota gegen eine 650er Honda ein, die doppelt so schnell und doppelt so gefährlich war. Jede Fahrt wurde zu einem Spitzen-Rennen. „Außerdem“, sagte er, „drehen die Mädchen durch, wenn du mit einem lila Helm unter dem Arm in die Kneipe kommst.“
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Mark hatte einen Holzsplitter unter der Haut seiner linken Hand. Er hatte ihn sich beim Gotcha eingehandelt, einem Spiel, bei dem vermeintliche Erwachsene im Wald herumlaufen und mit Farb-Patronen aufeinander schießen. Als er aufgefordert wurde, ein Team zusammenzustellen, um gegen ein paar Chemiker zu spielen, bildete er eine etwas furchteinflößende Truppe aus Motorradfahrern, Kleinkriminellen, Speed-Süchtigen, Drückebergern und mir. Um die Mittagszeit hatte Marks Team jede Runde mit fast peinlicher Mühelosigkeit gewonnen, und so gönnte man sich erst einmal eine LSD-Tablette. Das verhinderte nicht, dass wir weiterhin gewannen, aber es brachte eine gewisse zusätzliche Verwirrung in den Nachmittag. Ich verbrachte eine halbe Stunde damit, eine kleine Pflanze anzugreifen, bis ich bemerkte, dass alle anderen eine Teepause einlegten.
Während der nächsten Runde rutschte Mark aus. Er versuchte, seinen Sturz abzufangen. Ein Ast, der im Schlamm steckte, bohrte sich durch seine Handfläche. Er fuhr sauber durch seine Hand und steckte auf der anderen Seite heraus. Mark stand auf. Das Holz ragte auf jeder Seite ungefähr 15 cm weit hervor.
Mark hielt seine Hand nach oben, um sie zu inspizieren. Beim bloßen Anblick wurde mir schwindlig. Irgendjemand fuhr ihn ins Krankenhaus. Er ging in den grellen, sterilen Glanz der belebten Notfallabteilung, seine Pupillen immernoch geweitet vom LSD. Eine Schwester fragte ihn, ob es schmerzen würde. Während sie sprach, wurde ein weiteres Unfallopfer eingeliefert. Ohne eine Antwort abzuwarten, streifte sie ihm eine Lachgas-Maske über den Kopf und eilte davon. Niemand kümmerte sich um Mark. Als sie sich schließlich daran erinnerten, dass er auch noch da war, musste der Arzt ihm den Lachgas-Tank mit Gewalt abnehmen. „Ich fürchte, das wird jetzt wehtun“, sagte er, als er das Stück Holz – oder zumindest den größten Teil davon – aus Marks Hand riss. Als es herauskam, grinste Mark wie eine Cheshire-Katze.
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Körperlich war Mark eine Super-Werbung für eine reine Speed-Diät. Er war hochgewachsen, schlank und muskulös und blieb stets bei bester Gesundheit. Die Amphetamine ließen seine Adern und Muskeln anschwellen wie bei einem Boxer, der sich gerade für einen Kampf warmgemacht hat. Trotzdem hatten wir beide das Gefühl, dass er eine Abwechslung nötig hatte, bevor er noch tiefer in seinen trägen Lebensstil versank. Außerdem war klar, dass ihn seine Schulden irgendwann einholen würden. „Du solltest mal verreisen“, sagte ich zu ihm. Eigentlich meinte ich, dass ich selbst verreisen wollte und ihn für einen guten Begleiter hielt. Perfekt war er nicht: Er war zu egoistisch und extrem. Aber man musste ihn nehmen wie er war. Er sprühte vor Vitalität und Unternehmungslust. Er hielt sich selbst für Superman – unbesiegbar und unzerstörbar. Und wenn man mit ihm zusammen war, neigte man dazu, sich ebenso zu fühlen.
Für ihn war das Leben ein Spiel. Verrückte Dinge gehörten dazu (z.B. als einer seinen Dobermann mit LSD fütterte und dieser auf einer Party mitten auf dem Teppich ejakulierte). Mir schien, dass es auch gut war, ihn dabei zu haben, wenn wir einmal in ernste Schwierigkeiten geraten würden – z.B. wenn wir verhaftet würden oder uns unseren Weg aus einer Gasse in einem Slum freikämpfen mussten. Mark konnte mit so einer Scheiße umgehen – auch wenn er uns wahrscheinlich überhaupt erst hineinreiten würde. Ich plante den üblichen Trip nach Asien. Ich hatte Monate mit entsprechenden Recherchen zugebracht. Ich hatte Papierfetzen mit Zeitplänen vollgekritzelt – wann ich Lederrückenschildkröten in Malaysia und Komodowarane in Indonesien sehen würde; wie ich den Monsun in Indien vermeiden und trotzdem in der kühlen Saison nach Thailand kommen würde.
Dann sah Mark eine Sendung über halluzinogene Pflanzen in Südamerika. „Komm, gehen wir dahin“, schlug er vor. Naja, warum nicht? Ich arbeitete mich durch einen weiteren hastig zusammengetragenen Berg von Reiseführern. Ich rief bei Reisebüros an. Ich erstellte Ausrüstungslisten. Ich grübelte über Landkarten und plante Routen. Mark ging auf ein Feld und sammelte zweitausend Psilos. Es war noch ein Monat bis zur Abreise, und Mark hatte immer noch immense Schulden. Ich schlug ihm vor, nach Amsterdam zu gehen und dann die Reiseversicherung zu betrügen, aber er war zu faul dazu. Ich schlug ihm vor, sein Motorrad zu verkaufen, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, sich davon trennen. Aber dann hatten wir die Idee, dass er eine Privatinsolvenz anmelden könnte: Man füllt einfach ein Formular aus, und alle Schulden sind gelöscht. Die Sache musste doch wohl einen Haken haben? Sie hatte aber keinen. Mit einem Schlag – wie man so sagt – war er frei. Die Wohnungsbaugesellschaft verlangte immer noch nicht, dass er auszog. Das Finanzamt gewährte ihm sogar einen Steuernachlass. Und natürlich (das war die ganze Zeit schon klar gewesen) musste ich ihm den Rest des Geldes für die Reise leihen.
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Das nächste schlechte Zeichen war Marks Gepäck. Melissa und ich waren schwerbeladen aus dem Flugzeug geschwankt: Unsere Rucksäcke platzten fast von der neuesten ultraleichten, Vibram-Goretex-Qualofil-Hydrolite-Aquadril-Pertex-Camping- Ausrüstung in Expeditions-Qualität. Wir hatten Taschenlampen, Kompasse, Reiseführer, Thermosflaschen, Fleece-Pullover, Gore-Tex-Überhosen und den leichtesten Camping-Kocher der Welt (nicht dass ich das Scheißding überhaupt in Gang setzen konnte). Wir hatten Moskito-Netze, Angelspulen, DEET, Malaria-Tabletten, sechs Sorten Antibiotika, Fußpilz-Cremes, Antihistamin-Creme, acht Sorten Verbände, Pflaster und Wundauflagen, sterile Spritzen und einen Tropen-Verbandskasten. Wir hatten Glukose-Tabletten und hochkonzentrierte Energie-Riegel für das Überleben im Gebirge. Wir hatten Reisestecker, ultraleichte Reise-Handtücher in der Größe eines Taschentuchs und Zahnbürsten, denen wir die Enden abgeschnitten hatten, um Gewicht zu sparen. Wir hatten Schweizer Armee-Klappmesser sowie Ersatz-Schweizer-Armee-Klappmesser für den Fall, dass wir die die Original-Schweizer-Messer verloren.
Mark kam mit einem halbleeren Rucksack in Quito an, den er gebraucht gekauft hatte. Ich sah hinein: Ein Porno-Heft, eine große, gebundene Ausgabe von Stephen Hawkings „A Brief History of Time“ aus der Chathamer Stadtbücherei, zwei Ersatzgarnituren Klamotten und zwei Dutzend Packungen King-Size-Zigarettenpapier. „Ich weiß nicht, ob es hier Rizlas gibt“, erklärte er. „Wo ist das Zelt?“, fragte Melissa. Sie hatte für ihn ein sehr gutes und sehr teures Zelt organisiert, das ihm eine Freundin von ihr leihweise überlassen wollte. „Naja, wir hatten mit Johns Auto auf dem Weg zum Flughafen eine Panne. Der Penner war außerdem blau und kam sowieso zu spät, also hatten wir keine Zeit, es abzuholen. Ich hab aber das hier.“ Mark zog eine dünne Seidenjacke heraus. „Habt ihr gewusst, dass Seide das wärmste Material ist, das die Menschheit kennt? Außerdem habe ich noch … das hier.“
Er schwenkte etwas, was aussah wie eine kleine Tasche aus Alufolie. „Astronauten benutzen das. Es reflektiert die Wärme nach innen.“ Mark begann eine lange, wissenschaftlich anmutende Erklärung über verschiedene Arten von Wärmeverlust. Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Entweder er verwirrte einen mit Wissenschaft oder er redete einfach so lange, bis man vergas, worüber man eigentlich diskutierte. „Ich glaube, diese Silberfolie ist Schrott“, murmelte Melissa leise zu mir.
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Wir wohnten im El Gran Casino, dem berühmten Traveller-Schuppen, der allgemein als das „Gran Gringo“ bekannt ist. Die meisten Städte in der Dritten Welt haben solche Treffpunkte: Das Original; das Billigste. Zimmer ohne Fenster mit feuchten Wänden und abblätternder Farbe. Zusammengebrochene Betten mit verbeulten Matratzen. Flöhe, Kakerlaken, Ratten; Hippies und Junkies – allerdings kursierte das Gerücht, dass der Sohn des Besitzers ein Bulle war und man gute Aussichten hatte, im Knast zu landen, wenn man dort kiffte.
Das Gran Casino hatte auch einige gute Seiten: Ein einigermaßen annehmbares Cafe, einen schattigen, gepflasterten Innenhof und – was merkwürdig war – eine Sauna. Das Hotel stand am Fuß einer langen Treppe, die zum El Panecillo (dem „kleinen Brotlaib“) hinaufführte, einem Berg, der von einer auffälligen Statue der Jungfrau Maria gekrönt wurde. Wegen der Raubüberfälle war diese Treppe für Touristen tabu. In derselben Straße gab es das „Gran Casino 2“, wo es in der Bar Hähnchen im Korb und einen Billard-Tisch gab. Es wurde zu unserem Treffpunkt in Quito. Das Gran Casino 2 befand sich in der Nähe eines Platzes am Hang, der sich regelmäßig in einen Trödelmarkt verwandelte. Hölzerne Stände ächzten unter Stapeln von Altmetall, kaputten Kesseln, rostigen Nägeln, den Innereien historischer Radios, alten Schuhen und Kleidern – alle abgetragen und anscheinend nicht mehr zu reparieren.
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Quito erstreckt sich wie ein Finger entlang eines Tals im Zentrum der Anden – dem „Boulevard der Vulkane“, wie Alexander von Humboldt es genannt hatte. Es ist rund 12 Kilometer lang, aber kaum mehr als 2 Kilometer breit. Deshalb kann man sich auch praktisch nicht verlaufen: Man muss nur einschätzen, wie weit nördlich oder südlich man sich befindet. Zu beiden Seiten erheben sich die Berge der Cordillera Oriental und Occidental. In ihre vorwiegend grünen Abhänge (hier am Äquator liegt die Schneegrenze bei 5000 Metern) sind Humboldts großartige schneegekrönten Vulkane eingestreut: Cotopaxi, Cayambe, Chimborazo.
Sie sind nur morgens und bei klarem Wetter zu sehen, wohingegen die grasbedeckten Hänge des 4800 Meter hohen Rucu Pichincha direkt aus dem Stadtkern zu wachsen scheinen. Das Gran Casino befindet sich in der Altstadt, Quitos ursprünglichem Zentrum. Dieses Viertel ist geprägt von einem kompakten Gitter aus Straßen, Kirchen und Plätzen aus der Kolonialzeit. Die Kirche des Heiligen Franziskus, deren Grundstein schon 1534 gelegt wurde, ist z.B. die älteste größere spanische Kirche, die in Südamerika errichtet wurde. Sie beherrscht einen gewaltigen Platz, den Straßenkünstler jeden Nachmittag in ein Open-Air-Theater verwandeln. Die Plaza de la Independencia gleicht hingegen mehr einem kleinen Dorfplatz in Spanien, wo junge Paare und müde alte Männer sich im Schatten der Palmen treffen – obwohl sie von der Kathedrale und dem Präsidentenpalast flankiert wird.
Die Kirchen waren im „Quito-Stil“ geschmückt – einer barocken Mischung aus spanischen und indianischen Motiven. Die Altarwände waren vom Boden bis zur Decke vergoldet. Mir schien, dass das eher von der Besessenheit der Conquistadores von dem glänzenden Material als von ihrer Spiritualität zeugte. Arme Indianer saßen bei gedämpftem Licht in Seitenkapellen und flehten still zu teilnahmslosen, blauäugigen Portraits von Jesus, Maria und diversen Heiligen, die alle nach der Vorstellung der Leute gemalt waren, die sie versklavt hatten.
Die Altstadt war voller Quechua-Gesichter. Gebeugt unter gewaltigen Säcken mühten sich gedrungene Indianermänner, die Filzhüte und Ponchos aus Wolle trugen, den Berg hinauf. Indianische Frauen mit ihren voluminösen Wollröcken und Pasteten-Hüten beaufsichtigten winzige Straßenstände auf dem Bürgersteig. Es roch nach abgestandener Pisse und Feuchtigkeit. Alte Busse aus den 50er Jahren, die früher einmal Schulkinder aus Kansas oder Idaho abgeholt hatten, ächzten nun die steilen, allzu engen Straße hinauf und spuckten dabei Abgaswolken aus, die die Fußgänger völlig einhüllten und die historischen, weißgetünchten Fassaden schmutziggrau färbten. Als wir am Tag nach unserer Ankunft in einem chinesischen Restaurant gebratenen Reis aßen (in Ecuador wie in ganz Lateinamerika wimmelt es nur so von China-Restaurants), driftete eine Wand aus Dieselrauch von einem vorbeifahrenden Bus durch unsere Tür. Ein paar Sekunden lang verschwand der ganze Raum in einer dichten schwarzen Wolke. Das war die Altstadt. Die Neustadt, die ein paar Kilometer nördlich auf der anderen Seite des Parque El Ejido lag, war völlig anders. Sie war (pseudo)modern, (pseudo)sauber, (pseudo)leise und überhaupt nicht überfüllt. Smarte Restaurants, Bars, Clubs und Kinos sowie Reisebüros für Berg- und Dschungeltouren, Banken, Souvenirgeschäfte und edle Hotels erfüllten den Touristen und Mitarbeitern ausländischer Firmen jeglichen Wunsch. Quito beherbergt eine Million Einwohner (hauptsächlich Quechua-Indianer) und ist eine eher ruhige und konservative Stadt; für eine Hauptstadt ist sie auch ziemlich klein. Sie ist nicht einmal die größte Stadt in Ecuador, da die Hafenmetropole Guayaquil inzwischen die Rolle des eigentlichen Wirtschaftszentrums übernommen hat. Die Straßenverkäufer, die Märkte und der Verkehr in Quito sorgen für eine Menge Trubel, aber es herrscht bei weitem nicht so ein Chaos wie in vielen anderen Hauptstädten der Dritten Welt. Das war mir gerade recht. Ich konnte Großstädte sowieso nicht leiden.
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Mark stellte seine Tasche in sein Zimmer. Wir gingen auf einen Kaffee in das Cafe des Gran Casino hinunter. Ich erwähnte, dass an diesem Nachmittag in der 50 Kilometer südlich von Quito gelegenen Stadt Latacunga eine Fiesta namens „Mama Negra“ stattfinden sollte.
Mark war scharf darauf, denn da die Pilze jeglichen Jet-Lag aufwogen, war er jetzt in Party-Laune.
Der Bus war voller lachender und witzelnder Teenager, die ihre besten Sachen trugen. Mark saß neben zwei hübschen Mädchen, die sich in tief ausgeschnittene Kleider gepresst hatten. Sie hatten rubinrote Schleifen im Haar, rubinrote Lippen und rubinrote Pumps, die offensichtlich nagelneu waren. Er bot ihnen ein paar Bonbons an. Sie kicherten.
„Wie’s aussieht, hast du schon gepunktet“, sagte Melissa. Wir erreichten Latacunga. Die Stadt bestand hauptsächlich aus Betonquadern, wie sie für die ecuadorianischen Anden typisch sind. Stahlträger standen aus den flachen Dächern hervor, als erwarteten sie den Bau weiterer Stockwerke. Ein Ende der Hauptstraße wurde von einer gewaltigen Markthalle beherrscht, die aussah wie ein Hangar; der symmetrische Vulkankegel des Cotopaxi ragte unheilvoll über der Stadt. Mit seinen 5897 Metern gilt der Cotopaxi als der höchste aktive Vulkan der Welt: 1742, 1768 und 1877 wurde die Stadt von seinen Eruptionen begraben und jedes Mal von ihren stoischen (oder besser „unklugen“) Einwohnern wieder aufgebaut.
Die Straßen wimmelten von Männern mit Baseball-Mützen und korpulenten Frauen mit schweren Röcken und roten Schals. Ihr pechschwarzes Haar war in der Mitte gescheitelt und in zwei Flächen geteilt, was sogar der betagtesten Großmutter einen unpassenden Mädchen-Look verlieh.1 Wir fanden eine Stelle, von wo aus wir alles sehen konnten, was nicht allzu schwierig war, da Mark und ich den größten Teil der Menge schon um einen Kopf überragten.
--- 1 Diese Kleidung und Haartracht wurde im 18. Jahrhundert von König Karl dem III. von Spanien eingeführt; er hatte sie der damaligen Tracht der spanischen Bauern nachempfunden.
Vor uns erweckten Geräusche und Farben die graue Straße zum Leben. Eine Prozession aus hupenden, marschierenden Bands und Straßentänzerinnen schwankte betrunken vorüber und verschwand um eine Ecke.
Die Männer trugen geschnürte Hemden und Ponchos und tanzten in einer Reihe gegenüber den Frauen, die mit den Händen ihre Röcke rafften und sie hin und her wirbelten. Alle wirkten nach Stunden ununterbrochenen Tanzens erschöpft. Jede Gruppe wurde von ein paar Männern in Umhängen begleitet, die mit gespielter Wildheit mit Peitschen schnalzten. Sie liefen bedrohlich auf jeden zu, der der Prozession in den Weg lief, um ihn zu küssen. Andere kostümierte Figuren mischten sich unter die Tänzer: Dämonen, Sklaven, napoleonische Soldaten und merkwürdige maskierte Gestalten, die man Huacos nannte. Sie waren ganz in weiß gekleidet und erinnerten mich an olympische Fechter, nur dass sie keine Degen schwangen, sondern Schilder, die mit Glasscherben, Spiegeln, Streichholzschachteln, Medaillen, Buttons, usw. geschmückt waren.
„Mama negra“ bedeutet wörtlich „schwarze Mutter“. Die Feierlichkeiten drehten sich um die Parade mit einer Statue einer schwarzen Jungfrau. Wie es kommt, dass man in dieser ganz von Quechua bewohnten Stadt eine schwarze Jungfrau verehrt, blieb uns allerdings ein Rätsel. Eine Erklärung war, dass sie die endgültige Vertreibung der Araber aus Spanien im Jahr 1492 symbolisierte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, weshalb die Einwohner von Latacunga ausgerechnet dieses Ereignis feierten. Jedenfalls war dies keine düstere christliche Parade, sondern eine heidnische Orgie zur Feier einer komplexen allegorischen Welt fremdartiger Kulte und Geister. Die Spanier hatten wohl versucht, die Religion auszurotten, die sie in den Anden vorfanden, aber tatsächlich war es ihnen lediglich gelungen, sie in eine andere Form zu lenken, da die Indios die christlichen Symbole mit anderen Bedeutungen füllten.2
--- 2 z.B. ist Jesus identisch mit dem Sonnengott der Inka; die Jungfrau Maria mit dem Mond oder mit Pachamama, der Erdgöttin der Anden. Der Inka-Gott des Donners wurde mit dem Heiligen Jakobus von Santiago identifiziert, dem Schutzheiligen der mit Schießpulver bewaffneten spanischen Soldaten. Ayamarca, bei den Inka der Monat der Toten, überlebte als der Tag der Toten am ersten November, an dem die Menschen ihre Familiengräber besuchen.
Auf diese Weise hatte ein Stück von der alten Religion der Anden überlebt – und wir betrachteten sie gerade. In der Mitte jeder Gruppe schlurfte ein Mann, der sich in der Regel unter der Last eines Pfahls krümmte, der ihm an den Rücken gebunden war. Kein Wunder, denn auf dem Pfahl war ein vollständiges Schwein aufgespießt, den leeren Blick in den Himmel gerichtet, bereit zum Grillen. Ungekochte Hühner und Meerschweinchen sowie Zigarettenschachteln und Flaschen mit Rum, dem Aguardiente, baumelten am Kadaver.
Andere Flaschen wurden unter den Marschierenden herumgereicht. Die Bands hörten sich an, als würden sie sich jedes Jahr ohne Proben zusammenfinden, in der vagen Hoffnung, dass sie sich noch an die Melodien vom letzten Jahr erinnern würden. Wie ich später herausfand, war genau das tatsächlich der Fall. Es wird dadurch leichter, dass sie den ganzen Tag dieselbe Melodie spielen. Soweit ich das beurteilen kann, spielen Marschkapellen in Ecuador immer nur eine Melodie aus ein paar wenigen Akkorden, die beliebig oft wiederholt werden. Wenn man bedenkt, wie besoffen die Leute anscheinend waren, war auch das schon eine bemerkenswerte Leistung.
Viele Prozessions-Teilnehmer waren allmählich schon völlig betrunken; die Zuschauer waren es schon lange. Kleine Gruppen stolperten vorbei und hielten sich an ihren Rumflaschen und ihren Kameraden fest. Mark und ich investierten zwei Dollar in eine der etwas besseren Marken. Wir zogen durch die Menge, schwenkten unseren Rum, wichen Betrunkenen aus und stiegen über schlafende Körper auf dem Gehsteig. Drei Teenager-Jungs lauerten uns auf, klopften uns auf den Rücken und riefen immer wieder „Gringos, Gringos“, für den Fall, dass wir es vergessen und uns versehentlich für Ecuadorianer gehalten hätten. Der Junge in der Mitte hing schlaff zwischen seinen Freunden, seine ausdruckslosen Augen auf den Gehsteig gerichtet. Die anderen beiden bestanden darauf, ihren Rum mit uns zu teilen.
Aus Höflichkeit bestanden wir darauf, dass sie etwas von unserem trinken sollten. Natürlich bestanden sie darauf, dass wir mehr von ihrem trinken sollten. Bald waren beide Flaschen leer. Ich bemerkte, dass Mark nicht mehr gerade gehen konnte. Als ich das nächste Mal zu ihm hin sah, tanzte er mit einem zwei Meter großen Transvestiten mit Shirley-Temple-Perücke, einem rosa Nachthemd und riesigen Adidas-Turnschuhen. Die Menge feuerte sie an, als der Transvestit Mark küsste. „Anscheinend hast du schon wieder gepunktet“, witzelte Melissa. Marks Knie gaben nach. Er krachte wie ein nasser Sack rückwärts auf den Gehsteig. „Und ich dachte, Mark könnte was vertragen“, sagte ich zu Melissa. Melissa sah von oben zu mir herab. Ich schloss daraus, dass ich wohl ebenfalls auf dem Gehsteig lag. Melissa begann, sich zu drehen. Nun begriff ich, warum die Leute in so einem Zustand waren. Bei dieser Höhe über dem Meeresspiegel haut der Alkohol ohne Vorwarnung rein. Gerade geht es einem noch gut … im nächsten Augenblick verliert man das Bewusstsein. Es fehlt der lustige Mittelteil, es fehlt die benebelte Erkenntnis, dass der Alkohol einen umgehauen hat, man hat kaum noch genug Zeit, sich zu blamieren. Einfach nur … Bum. KO.
Ich setzte mich vorsichtig auf. Dunkel bekam ich mit, dass Mark mühsam aufstand und in wilden, unregelmäßigen Kreisen hinter uns herum raste, um dann wieder zurückzukommen und sich neben mich zu setzen. „Ich fühle mich immer besser, wenn ich gekotzt habe“, grinste er. „Wir sollten uns lieber nach einem Hotel umschauen“, sagte Melissa. Wir wuchteten uns nach oben und lehnten uns von beiden Seiten an sie. Eine 1,70 Meter große Frau versucht, zwei Zwei-Meter-Männer zu stützen. Erst ließ mein Gewicht uns nach rechts ausscheren, dann zog uns Marks Gegengewicht wieder nach links.
Um uns her vollzogen andere Trios ähnliche Manöver. Melissa erkannte jemanden in der Menge. „Hey, Mark, da sind diese Mädchen, mit denen du dich im Bus unterhalten hast!“ Mark drehte instinktiv den Kopf. Leider drehte er ihn zu schnell für seinen Magen. Ein Strahl flüssiger Kotze schoss in hohem Bogen aus seinem Mund und landete auf den preisgekrönten roten Pumps. Das Mädchen stand wie versteinert da, ihr Lächeln war vom Schock erstarrt. Dann brach sie in Tränen aus. Wir versuchten, eine bedauernde Mine aufzusetzen, während Melissa uns in der Menge davon zerrte. An den Rest kann ich mich nur ganz dunkel erinnern. Ich erinnere mich an eine Reihe heruntergekommener Hotels, in denen wir vergeblich nach einem Zimmer fragten. An der Bushaltestelle war die Hölle los. Melissa schob uns vor einem Massenansturm von Ecuadorianern in den Bus. Wir plumpsten hinter dem Fahrer in den Sitz. Ich weiß noch, dass er eine nagelneue Lederjacke trug, die immer noch steif war und glänzte. Der Bus fuhr los und schaukelte über Schlaglöcher, die ich auf dem Herweg kaum bemerkt hatte. Es waren die reinsten Krater. Ich musste kotzen.
Aber wohin?
Das einzige offene Fenster war das des Fahrers. Um es zu erreichen, musste ich meinen Kopf auf seine Schulter stützen. Ich schaffte es gerade noch. Das meiste ging aus dem Fenster, aber etwas davon lief hinten an der neuen Jacke des Fahrers hinunter. Er sah nicht gerade glücklich aus. Dann schlief ich ein, den Kopf immer noch auf seiner Schulter.
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Ich wachte auf dem Bett unseres Hotelzimmers auf. Mein Kopf pochte. Mark schlief auf dem Boden. Melissa drehte einen Joint. Mark kam wieder zu sich und entdeckte, dass er seine Seidenjacke verloren hatte. Ein guter Anfang. Wir gingen in die Stadt, um zu frühstücken. Spiegelei auf Brot und Kaffee. Auf dem Rückweg kamen wir an einer kleinen Demonstration vorbei. Ein paar Hundert streikende Lehrer sangen halbherzig Parolen und wedelten mit Plakaten. Sie hatten seit sechs Monaten ohne Bezahlung gestreikt. Grüppchen von Soldaten warteten untätig mit ihren Maschinengewehren. An einem Ende der Straße waren zwei Panzer geparkt.
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Wir verbrachten den Nachmittag im Hotel und pflegten unseren Kater. Mark beschloss, sich die Zeit damit zu vertreiben, Melissa etwas über Religion zu erzählen. „Die Menschen hier sind Animisten“, erklärte er. „Naja, offiziell sind sie jetzt Christen, aber unter der Oberfläche sind sie immer noch Animisten.“ „Ist das nicht ein bisschen rassistisch?“, fragte Melissa. „Was?“ „Na ja, wenn man sie für Animalisten hält.“ „Nicht Animalisten, Melissa. Animisten. Schau, Animisten sind Leute, die glauben, dass alles einen Geist oder eine Seele hat. Menschen, Tiere, Pflanzen, Felsen, alles. Das ist der große Unterschied zum Christentum. Das Christentum sieht den Menschen als einen Sonderfall an, der über den Rest der Schöpfung erhaben ist. Ich glaube nicht, dass ein Christ das Leben von, sagen wir, einem Baum oder einem Tier genauso wichtig nehmen würde wie das eines Menschen. Für einen Animisten ist alles in der Natur gleichwertig.
Weißt du, die Spanier waren wählerischer im Hinblick darauf, was sie in das Königreich des Himmels ließen. Abgesehen von Felsen und Tieren haben Europäer des sechzehnten Jahrhunderts nicht einmal geglaubt, dass alle Menschen eine Seele haben. Es war ziemlich allgemein akzeptiert, dass Schwarze keine Seelen haben, und sogenannte ‚Theologen‘ diskutierten, ob die neuentdeckten Indios welche hätten.“ „Wie war das bei Chinesen?“, fragte Melissa, die eine halbe Chinesin war.
„Naja, du bist eine halbe Europäerin, also schätze ich, dass du eine halbe Seele gehabt hättest.“ „Vielleicht hätten sie deinen Oberkörper ab der Taille hereingelassen“, schlug ich vor, „und deine Beine würden unter den Wolken baumeln.“ „Ich bin so schon ziemlich klein. Ich würde die Ewigkeit damit zubringen, die Eier von Engeln anzuschauen.“ „Ich glaube nicht, dass Engel Eier haben“, sagte Mark.
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Wie jeder andere Tourist in Ecuador gingen wir nach Otavalo. Als ich auf halbem Weg aus meinem Schlummer erwachte, sah ich, dass der Bus in einer unübersichtlichen Kurve ein Auto überholte, das zwei LKW überholte. Auf einer Seite ging es senkrecht hinunter. Ein Bus kam uns wild hupend und mit aufgeblendeten Scheinwerfern direkt entgegen. Ich erstarrte in meinem Sitz. In letzter Sekunde schwenkten alle drei Fahrzeuge zurück auf ihre Seite, bevor der Bus auf der Gegenfahrbahn vorbeidonnerte. Das ist der ecuadorianische Fahrstil. Wenn man ein langsameres Fahrzeug vor sich hat, überholt man.
Hier kennt man keine Zimperlichkeiten: Man wartet nicht auf eine freie, übersichtliche Strecke und achtet auch nicht auf den Gegenverkehr. Schließlich müssen wir alle einmal sterben. Oder? Otavalo, zwei Stunden nördlich von Quito gelegen, schmiegt sich in eine dichtbevölkerte, fruchtbare ländliche Region mit Seen und Vulkanen, deren Hänge in Parzellen von grünen Feldern aufgeteilt sind. Die Stadt selbst ist für ihren Markt berühmt. Die Händler kommen aus ganz Südamerika und bieten jedes denkbare Souvenir von Jademasken und Ölmalereien bis hin zu Haschischpfeifen und Hippie-Schmuck an.
Vor allem aber ist der Markt bekannt für die eigenen Produkte der Otavalo-Indianer: Ihre Teppiche, Tücher, Pullis und Ponchos aus Alpaca-Wolle haben sie zu einer der wirtschaftlich erfolgreichsten indigenen Gruppen Südamerikas gemacht. Die Mädchen, klein und mollig, tragen rot-schwarze Röcke, erlesene weiße Schnürhemden und goldene Halsketten. Stolze junge Männer fixieren einen mit einem gleichmäßigen, direkten Blick. Ihr Haar ist pechschwarz und zu einem langen Pferdeschwanz gebunden, wie bei den tapferen Indianern im Western.
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Das Cafe unserer Wahl, Mama Rosita’s, war ein typisch ecuadorianisches Fresslokal, das zur Straße hin offen war. Es bestand aus vier Tischen, schmuddeligen Wänden mit alten Postern und einem Schild in Englisch, das „Mama Rosita’s weltberühmte Pfannkuchen“ anpries. Die Küche war eine fettige Nische im hinteren Teil des Raums. Die gleichnamige Wirtin wurde von zwei der kleinsten Frauen unterstützt (und noch öfter behindert), die ich je gesehen hatte. Da wir in Otavalo gewesen waren, hatten wir bereits ein paar besonders kleine Leute gesehen (die meisten Ecuadorianer sind sowieso ziemlich kleinwüchsig).
Vielleicht waren sie das Ergebnis irgendeines genetischen Defektes, da die meisten auch zurückgeblieben zu sein schienen. Sie standen hier ganz unten in der Hackordnung und dienten als (zweifellos billigerer) Ersatz für Esel. Männer, die gerade mal 1,50 Meter groß waren, schwankten unter Doppelbetten oder Kleiderschränken vorbei, die von einem Band gehalten wurden, das sie quer über die Stirn und hinten um die Last gelegt hatten. Es handelte sich um eine Tragevorrichtung aus der Zeit vor der spanischen Eroberung namens Tumpline.
Wir konnten sogar noch im Sitzen über die Köpfe von Rosita’s Assistentinnen hinwegsehen. Die beiden Frauen schwirrten im Raum herum, warfen Gegenstände um und brachten Dinge durcheinander, bis Rosita sie vor Verzweiflung anschrie. Sie schickte eine von ihnen los, um etwas zu besorgen (z.B. Salz von einem benachbarten Geschäft), nur damit sie mit der falschen Sache zurückkehrte. Dann schimpfte Rosita sie wieder aus, während ihre Freundin hinter Rositas Rücken dumme Grimassen zog – um dann wieder unschuldig ins Leere zu sehen, wenn sie sich umdrehte. Beide Frauen waren um die fünfzig. Rosita selbst war eine freundliche, mütterliche Frau, die immer darauf bedacht war, uns zu erklären, was wir aßen. Vielleicht hätten wir es bevorzugt, es nicht zu wissen, denn ihre Spezialitäten waren anscheinend entweder die gekochte Haut oder Magenwand von Kühen. Glücklicherweise wurden diese nicht allzu verlockenden Delikatessen mit Suppe, Reis, Kartoffeln, gebratenen Bananen, Avocados und einem Glas mit Wasser verdünntem Obstsaft serviert. Daraus setzt sich eine normale Mahlzeit zusammen, die mal als Almuerzo (Mittagessen), mal als Cena (Abendessen) oder einfach als Comida (Essen) bekannt ist. Es ist in ganz Südamerika so ziemlich dasselbe. Nur die Herkunft des Fleischklumpens variierte und erreichte gelegentlich die luftigen Höhen von Huhn oder Fisch. Von den weltberühmten Pfannkuchen gab es keine Spur.
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Samstag war Markttag in Otavalo. Eigentlich gab es in Otavalo drei Märkte. Während die Touristen auf der Plaza ihre Alpaca-Teppiche und Ponchos kauften, drängten sich die Einheimischen auf den Markt am anderen Ende der Stadt, um Essen, Jeans und Metallica-T-Shirts zu kaufen. Und schließlich gab es da auch noch den Tiermarkt. Auf einer grasbewachsenen Lichtung am Stadtrand inspizierten scharfäugige Bauern in Begleitung ihrer bodenständigen und strengblickenden Ehefrauen eine Auswahl Kühe, Schweine, Pferde und Esel. Die Tiere wurden Stück für Stück verkauft und leise weggeführt. Nur die Schweine schienen aufgeregt. Ihre neuen Besitzer – und ihre Frauen und Kinder – zerrten die widerspenstigen Borstentiere an Seilen durch den Staub, die sie ihnen um die Hälse gebunden hatten; ein erbittertes Tauziehen, bei dem die bockigen Schweine schreiend und quiekend ihre Hufe in die Erde stemmten. Ein halbes Dutzend Leute waren erforderlich, um ein großes Tier auf die Ladefläche eines Trucks zu heben (wobei man es am Schwanz und an den Ohren packte), wo es weiterhin verzweifelt schrie. Schweine sollen bekanntlich die intelligentesten Nutztiere sein.
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Die Bevölkerung der Anden besteht im Wesentlichen aus einem Mix aus Ureinwohnern (hauptsächlich Quechua-Indianern) und Spaniern. In Ecuador, Peru und Bolivien sind rund fünf von zehn Menschen reine Indios, die man im Hochland als Campesinos bezeichnet (was wörtlich „Bauern“ heißt).
Drei oder vier sind Mestizos (Mischlinge) und nur einer ist ein Latino oder Blanco – das ist eine „weiße“ Person mit spanischen/europäischen Vorfahren.3
--- 3 Campesina, Mestiza und Bianca sind die weiblichen Formen, wobei die Endung auf -a im Spanischen das weibliche Geschlecht anzeigt. Es gibt aber auch einige schwarze Volksgruppen –
hauptsächlich entlang der Pazifik-Küste – sowie ein paar verstreute „Restgruppen“ – z.B. Chinesen, Japaner und Libanesen. Da alle allgemeinen Bezeichnungen für die indigenen Volksgruppen Nord- und Südamerikas von den Kolonialmächten geprägt wurden, weshalb sie alle nicht sehr treffend sind (vor der spanischen Eroberung benötigte man keine allgemeine Bezeichnung), halte ich mich an den eindeutigsten Ausdruck „Indianer“ – trotz der offensichtlichen Schwächen (z.B., dass sie nicht aus Indien stammen).
In Wirklichkeit ist es nicht ganz so einfach. Wie Ronald Wright in seinem Buch Cut Stones and Crossroads sagt, ist ein Mestizo oft ein Vollblut-Indianer, der in die Stadt gezogen ist, Spanisch anstelle von Quechua gelernt hat und westliche Kleidung trägt. Einige Latino-Familien aus der gesellschaftlichen Elite Perus führen ihre Herkunft auf Verbindungen zwischen Conquistadores und Frauen aus dem Inka-Adel zurück, weshalb sie ethnisch gesehen eigentlich Mestizos sind. Trotz dieser gewissen Unschärfen springt es doch ins Auge, dass eine Latino-Elite mit vorwiegend europäischen Wurzeln über eine vorwiegend indianische Bevölkerung regiert: Politiker, Großgrundbesitzer, Geschäftsleute, Richter, Anwälte, Ärzte, Journalisten und Schriftsteller sind fast durchgängig Latinos. Je indianischer man ist, desto ärmer ist man in aller Regel auch. Je näher man der Gruppe der Latinos steht, desto reicher ist man. (Diese Regel scheint auch für das Verhältnis der südamerikanischen Länder untereinander zu gelten, wobei Bolivien, Ecuador und Peru am unteren Ende der Armutsskala angesiedelt sind und Argentinien an der Spitze rangiert.)
Kurz gesagt, die Anden-Staaten sind indianische Nationen, die von einer Latino-Minderheit regiert werden. Es ist ein verstecktes rassistisches Apartheid-System mit einer Gesellschaftsordnung, die sich seit der spanischen Eroberung vor 500 Jahren kaum verändert hat.
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Melissa und ich ließen Mark im Hotel zurück, wo er mit einem israelischen Mädchen flirtete, und machten eine kleine Wanderung auf dem Páramo, Ecuadors grasbewachsenem Hochland-Moor. Wir nahmen ein Taxi zu einigen Seen, den „Lagunas Mojanda“. Obwohl es dreißig Meilen nördlich des Äquators lag, erinnerte mich das Moor an die schottischen Highlands: Harte Gräser und farnartige Moose überwucherten zerklüftete Berge und wassergetränkte Sümpfe. Ein kühler Morgennebel hing über den Seen.
„Und ich dachte, Ecuador wäre in den Tropen“, witzelte Melissa. Wir planten, eine Wanderung zu einer Ruine namens Cochasquí zu unternehmen, die noch aus der Zeit vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus stammte. Sie lag rund drei Stunden entfernt; von dort aus würden wir einen Bus zurück nehmen. Aber in 4000 Metern Höhe wurde schon ein Aufstieg von 10 Minuten zu einer einstündigen Plackerei: Bei jedem Schritt rangen wir buchstäblich um Atem. Das Gras entpuppte sich als hüfthoch und äußerst stachelig. Nach vier Stunden musste ich eingestehen, dass wir uns verlaufen hatten. Eine Anzahl angedeuteter Pfade verliefen kreuz und quer durch ein breites, sumpfiges Tal. Wir entschieden uns für einen davon und schleppten uns weiter in der Hoffnung, dass er uns irgendwohin führen würde, bis wir ein einsames Haus an einem bewaldeten Bach erreichten. Ein alter Mann lehnte an einem hölzernen Gatter und beäugte uns misstrauisch.
„Ist das der Weg nach Cochasquí?“, fragte ich. „Si“, nickte der alte Mann weise. Also waren wir wenigstens auf dem richtigen Weg. „Wie weit ist es nach Cochasquí?“ „Si.“ „Haben Sie eine Uhr?“ „Si.“ „Wie spät ist es, bitte?“ „Si.“ „Ist das der Weg nach Otavalo?“
Der alte Mann schwieg eine Weile, um diese Frage zu überdenken, und nickte dann wieder. Ich gab auf. Wir marschierten weiter. Nach einer Weile kamen uns drei Männer und ein Junge auf unserem Pfad entgegen, wahrscheinlich auf dem Rückweg von der Feldarbeit. Alle hatten Macheten. Ich war es nicht gewohnt, Leuten zu begegnen, die etwas so Großes, Scharfes und Tödliches wie eine Machete bei sich trugen. In London passiert mir das eher selten.
Melissa war es auch nicht gewohnt. „Schnell, gib mir dein Taschenmesser“, forderte sie. „Was nützt ein Taschenmesser gegen drei Männer mit Macheten?“, fragte ich. „Dir passiert schon nichts. Sie vergewaltigen Frauen, weißt du“, antwortete Melissa. „Gib’s mir einfach.“ „Ich verstehe immer noch nicht, was ein Taschenmesser nützen würde“, beharrte ich. „Es würde mir mehr nützen als du.“
Melissa hatte gerade erst einen schrecklichen Bericht über einige Bergleute in Kolumbien, oder vielleicht auch in Venezuela, gelesen. Die sexuell ausgehungerten Männer, die im abgelegenen Dschungel festsaßen, hatten eine Prostituierte in ihr Camp bestellt und sie dort vergewaltigt. Dann hatten sie sie geköpft um zu verhindern, dass sie zur Polizei ging.
„Sie können mich töten, aber sie werden mich nicht vergewaltigen“, schwor sie. Die Männer waren offenbar überrascht, uns zu sehen, und fragten, wohin wir gingen. Ich erklärte es ihnen in gebrochenem Spanisch. Unter ihrer Jacke umklammerte Melissa das Taschenmesser. Aber die Männer machten keine Anstalten, uns zu vergewaltigen oder zu köpfen. Stattdessen führten sie uns zu einem kleinen Dorf, wo sie sich verabschiedeten.
Ein kleines Gebäude am Dorfplatz hatte ein Schild, auf dem „Busstation“ stand. Wir gingen rein. „Wann fährt der Bus nach Otavalo?“, fragte ich. „Am Dienstag“, antwortete die Frau hinter dem Schreibtisch ohne aufzusehen. Heute war Sonntag. Stattdessen organisierten wir einen teuren Taxi-Service mit dem einzigen Auto im Dorf, nachdem wir seinen Besitzer endlich dazu überredet hatten, mit dem Polieren aufzuhören. Wir waren über 20 Meilen vom Kurs abgekommen. Nicht schlecht für eine dreistündige Wanderung.
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Zurück in Quito beschlossen wir in einem Anfall von Traveller-Paranoia, eine Tollwut-Impfung machen zu lassen. Die Impfung verlängert die Zeit, die man hat, um nach einem Biss ein Krankenhaus zu erreichen, von einem Tag auf eine Woche, was man beim Trekking in abgelegenen Gebieten zumindest in Betracht ziehen sollte. Wir gingen ins amerikanische Krankenhaus. Wie es das ecuadorianische Gesundheitssystem erfordert, kauften wir die Medizin vorher. Wir erhielten eine einzelne Flasche für zehn Impfungen und warteten auf den Arzt, einen Amerikaner, der den beruhigenden Namen Dr. Ringenberg trug. Ein ecuadorianischer Arzt kam vorbei.
„Ich kann die Injektion machen“, bot er an und griff nach der Flasche für zehn Injektionen. „Wer will zuerst?“ „Das reicht für zehn Leute“, betonte ich. „Aber das ist nur eine Flasche“, entgegnete der Arzt irritiert. Wir beschlossen, auf Dr. Ringenberg zu warten.
„Im Jahre 1531 reiste ein weiterer großer Verbrecher mit einer Anzahl Männer in die Königreiche Perus … In krimineller Weise mordete und plünderte er seinen Weg durch die Region, wobei er Dörfer und Städte dem Erdboden gleich machte und die Einwohner auf kaum vorstellbare, barbarische Weise abschlachtete oder sonstwie quälte.“ Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder
Bartolomé de las Casas (1552)
Drei Wochen vor meiner geplanten Abreise aus England hatte ich immer noch nicht gewusst, ob Mark mich begleiten würde. Es war ein grauer und bewölkter Herbsttag in Nordlondon gewesen. Einige Arbeiter rissen vor meinem Haus die Straße mit Presslufthämmern auf.
Es klingelte an der Tür. Melissa stand weinend auf meiner Türschwelle. „Ich will mitkommen“, sagte sie. „Aber du weißt doch gar nicht, wo Ecuador ist“, warf ich ein. „Naja, es muss besser sein als hier.“ Melissa hatte ihre Gründe, London zu verlassen, und ihre Liebe zu mir war nur einer von vielen. Melissa war 33 – drei Jahre älter als ich – und wunderschön. Schöner (und gesünder) als ein Mensch mit ihrer Vergangenheit es verdient hatte. Sie sah zehn Jahre jünger aus, obwohl sie zehn Jahre älter hätte aussehen müssen. Sie war schlank und athletisch, hatte olivbraune Haut, langes braunes Haar und verführerische Mandel-Augen. Als halbe Chinesin und halbe Schottin strahlte sie mit ihrem eurasischen Äußeren eine tiefe Sinnlichkeit aus. „Rassisch gemischte Frauen sind immer am schönsten“, hatte sie mir gesagt. Sie war offen, freundlich und lachte gern, hatte einen naiven Charme und ein natürliches Lächeln. Ihre sonnigen Phasen wurden jedoch auch von Perioden unterbrochen, in denen sie sehr in sich gekehrt war. Dann zog sie sich für zehn Tage zur Meditation zurück; das war ihre Art, ihre traumatische Vergangenheit zu bewältigen. Melissa war nicht leicht zu verstehen. Wenn man ihre Lebensgeschichte der Reihe nach erzählen würde, wäre sie schon verwirrend genug. Aber die Art, wie sie Dinge erklärte, ergab nur einen Sinn, wenn man die Geschichte schon kannte. Als ich sie zum ersten Mal getroffen hatte, hatte sie sich gerade erst aus einer langen Beziehung und einer verwickelten Verbindung zu eine Kampfsportgruppe gelöst. „Naja, nicht wirklich Kampfsport.“