1. Auflage 2012 © 2012 by hansanord Verlag
Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages nicht zulässig und daher strafbar. Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
„AAA – Das Manifest der Macht“ basiert auf einer Idee
von Kirstin Roegner und Markus Vogelbacher
ISBN: 978-3-940873-37-8
Cover, Layout und Gesamtbearbeitung: Judith Wittmann // Ju2 Design
Lektorat: Melanie Melchior
Druck: CPI books GmbH, Leck
Für Fragen und Anregungen:
info@hansanord-verlag.de
Fordern Sie unser Verlagsprogramm an:
vp@hansanord-verlag.de
hansanord Verlag
Am Kirchplatz 7 | 82340 Feldafing | Tel. +49 (0) 8157 9266 280
info@hansanord-verlag.de | www.hansanord-verlag.de
hansanord ist ein Imprint
des IMAGINE Verlag – Thomas Stolze
Für Johanna, Emma,
Hannah, Noa und Tim
Tita, Celi, Beccy, Luca,
Emma, Leni
Frankreich, Dezember 1880
Er schlug den abgewetzten Pelzkragen seines schäbigen Wintermantels hoch, um sein Gesicht ein wenig vor dem beißenden Schneesturm zu schützen, der schon seit Stunden die Bewohner des Ortes in ihren Behausungen gefangen hielt. Weit und breit war keine Menschenseele. Das war es, was er wollte. Guy de Levigne wollte nicht gesehen werden, bei dem was er vorhatte, und er wollte vor allem nicht, dass ihn zufällig jemand beobachtete.
Die letzten Wochen hatten ihm zugesetzt. So viel war zu bedenken und vorsichtig in die Tat umzusetzen gewesen. Nun hatte er es fast geschafft. Einen einzigen Hinweis musste er noch unterbringen, sozusagen den Schlusspunkt hinter sein gut gehütetes Geheimnis setzen. Eine geradezu kindliche Freude erfüllte ihn. Es war gar nicht so schwer gewesen. Seine Mission – er lächelte über den etwas hochtrabenden Ausdruck – war fast erfüllt, und wenn er ehrlich war, fand er den Ausdruck doch ganz passend. Er hatte sein Tun in den letzten Wochen mit geradezu religiösem Eifer vorbereitet. Alles war glatt gegangen.
„Beinah zu glatt“, murmelte er leise und lachte verhalten. „Ich bin zwar kein Jungsporn mehr, aber ein wenig mehr Nervenkitzel hätte nicht geschadet.“
Trotzdem würde die Welt noch in Jahren, nein, Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten von seinem Handeln sprechen, da war er sich sicher. Er hatte etwas unternehmen müssen; er selbst hatte die Zügel in die Hand nehmen müssen, denn jemand musste doch dem, was seine Partner vorhatten, Einhalt gebieten. Seine Partner! Er schüttelte den Kopf, und Schnee fiel von seiner Mütze. Sein Plan und sein Mut würden ihn unsterblich machen, wenn die Nachwelt eines Tages alle Fakten richtig zuordnete. Irgendwann. Hoffentlich.
Guy wischte die aufkommende Besorgnis energisch fort, denn er hatte jetzt wirklich keine Zeit für Sentimentalitäten! Der letzte Hinweis war noch anzubringen. Bloß nicht müde werden, munterte er sich selbst auf. Das viele Nachdenken der letzten Wochen hatte sich gelohnt. Er hatte in seiner Not ziemlich geniale Ideen gehabt. Verschlüsselte Hinweise, die in einer bestimmten Reihenfolge von ihm versteckt wurden, würden eines Tages auf die Spur einer einzigartigen Entdeckung führen.
Er verschloss das schmiedeeiserne Tor zu dem kleinen Garten vor der Werkstatt seines Freundes Frédéric-Auguste, in der dieser seit Jahren die vielen Einzelteile einer in Bau befindlichen Statue gelagert hatte. Er öffnete die schwere Holztüre, und fast zärtlich strich Guy über die großen Metallteile der Statue. Bewundernd betrachtete er eine Weile das Schaffen seines Freundes und machte sich dann ans Werk.
Kurze Zeit später schloss Guy zufrieden die massive Holztür hinter sich und verwischte auf dem Weg hinaus rückwärtsgehend seine Spuren im Schnee.
„Wenn es noch ein Stündchen weiter schneit, sind auch die letzten Spuren meines kleinen Ausflugs verschwunden“, murmelte er grinsend und stapfte über die schneeverwehte Dorfstraße nach Hause.
Die beiden Männer, die sich im Schutze des Schneetreibens von hinten an ihn heranschlichen, bemerkte er erst, als sie ihm eine Schlinge um seinen Hals legten. Bilder von Frau und Sohn schossen durch seinen Kopf, und sein letzter Gedanke war: „Ich habe meine Mission erfüllt.“
Dann gab es nur noch Dunkel und Nichts.
John Marks war mit sich und seinem Leben zufrieden. Die Fusion war perfekt. Die größte, die die Anwaltskanzlei First Internationals jemals initiiert und begleitet hatte. Ein hartes Stück Arbeit, die ersten Kontakte lagen schließlich bereits zwei Jahre zurück, in denen es mindestens einmal wöchentlich danach ausgesehen hatte, als würden die Verhandlungen scheitern. Irgendwie war es jedoch weiter gegangen, was nicht zuletzt Johns unermüdlichem Einsatz zu verdanken war. In der letzten Woche herrschte endlich Einigkeit in allen bis dahin noch strittigen Punkten, und die Verträge waren unterschrieben worden. John lehnte sich in seinem weich gepolsterten Ledersessel zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Das Honorar für die Kanzlei würde im oberen dreistelligen Millionenbereich liegen; von seiner eigenen Sondergratifikation könnte man sicherlich den Jahresetat einer mittleren Kleinstadt finanzieren. Außerdem würde ihn dieser Erfolg deutlich nach oben katapultieren. Heute Morgen im Aufzug hatte ihm einer der Seniorpartner anerkennend auf die Schulter geklopft. Das war schon mal ein gutes Zeichen, und heute Abend würde es einen Empfang geben, auf dem Frank van den Bergh, Sprecher der Geschäftsleitung, hoffentlich die längst überfällige Berufung von John Marks zum Seniorpartner der renommierten und weltweit tätigen Anwaltskanzlei bekanntgeben würde. John stieß sich vom Schreibtisch ab und drehte sich in seinem Sessel, bis er durch die bis zum Boden reichenden Scheiben seines Büros im 65. Stockwerk des First International Buildings den Blick auf das grandiose Panorama des zu seinen Füßen liegenden Manhattan genießen konnte.
Kurz sah er das Spiegelbild seines Gesichts in der Fensterscheibe und fokussierte seinen Blick darauf. Er war sicher nicht eitel, aber trotzdem immer darauf bedacht, gepflegt und distinguiert aufzutreten. Sein dunkles, glattes Haar war fast militärisch korrekt geschnitten, dafür sorgte sein Friseur einmal im Monat. Seine braunen Augen passten perfekt zu dem Rest seines Erscheinungsbildes. John war sportlich, aber kein sehr großer Mann. In der Schule war er oftmals Jahrgangs-Kleinster, was ihm dort einige Probleme bereitet hatte. Seine Mitschüler hatten ihren Spaß daran, ihn deswegen zu hänseln. Doch damit hatte er leben können. Sein außerordentliches Selbstbewusstsein ließ ihn solche Hänseleien von Anfang an überhören, und Gott sei Dank hatte er in der Pubertät dann doch noch einen ordentlichen Wachstumsschub gemacht. Er war von sich überzeugt und konnte es auch sein. Denn er hatte nicht nur die High School mit Auszeichnung absolviert, sondern auch seinen Job in dieser renommierten Kanzlei machte er mehr als gut.
Ein zufriedenes Lächeln huschte über Johns Gesicht. Langsam drehte er den Stuhl wieder herum und ließ seinen Blick durch sein weiträumiges Eckbüro streifen. Die Innenarchitektin hatte ihren Job perfekt erledigt. Alle Möbel waren aus hochwertigem Kirschholz gefertigt, das so aufpoliert war, dass John sein Gesicht darin mustern konnte.
Sein ausladender Schreibtisch beherrschte den Raum, der an der einen Wand von deckenhohen Bücherregalen eingerahmt wurde. Johns Blick glitt über die Rücken der in Schweinsleder gebundenen Urteilssammlungen, und er dachte an seine Zeit in Harvard, als er wochenlang in der Bibliothek gesessen und versucht hatte, sich den Inhalt einzuprägen.Auf der dem Bücherregal gegenüberliegenden Wand hingen zwei Lithographien von Salvador Dali, Johns Lieblingskünstler. Das eine, „Die Beständigkeit der Erinnerung“, das Bild mit den fließenden Uhren, entstanden in Dalis surrealistischer Periode, hatte es John besonders angetan. Er hatte es so aufhängen lassen, dass es immer in seinem Blickfeld war, weil es für ihn die Flüchtigkeit des Moments symbolisierte.
Seine Anfangszeit in dieser Kanzlei kam ihm in den Sinn. Als junger Anwalt hatte er zunächst nur einen unbedeutenden Schreibtisch in einem Großraumbüro zugewiesen bekommen, wo es zuging wie in einem Taubenschlag. Seine Kollegen hatte er gemocht. Doch fühlte er sich lange fehl am Platz in diesem Büro, in dem sein juristisches Können definitiv unterging. Und so hatte er einen Fall nach dem anderen an sich gerissen und ausnahmslos mit Bravour gewonnen, was ihm schnell eine Beförderung einbrachte und schließlich noch eine. Bis er sich auf diesem Stuhl wiederfand. Vor diesem hochglanzpolierten Vollholzschreibtisch.
Abermals musste John lächeln. Er hatte es geschafft. Er war bis zum Juniorpartner der Kanzlei aufgestiegen und stand jetzt kurz vor dem nächsten Schritt auf der Karriereleiter.
Wieder sah John hinunter auf die Stadt. Zwar konnte er durch das dicke Glas keinerlei Geräusche der Außenwelt wahrnehmen, und doch wusste er, dass das rote Auto der New Yorker Feuerwehr dort unten einen Riesenlärm machte. Einmal bekam er Besuch von einem Studienkollegen und seiner Frau, die in Michigan in einer Kanzlei arbeiteten. Als die beiden nach dem Abendessen in einem angesagten New Yorker Restaurant auf die Straße traten und vorbeirauschende Polizei-, Rettungs- und Feuerwehrautos hörten, meinte die Frau: „Hier könnte ich nie leben, bei diesem Lärm. Niemals.“
John antwortete ihr mit einem Lächeln: „Du musst dir nur vorstellen, die sind alle Tag und Nacht unterwegs, um im Ernstfall dein Leben zu retten, und schon siehst du alles in einem ganz anderen Licht.“ Die Reaktion der Frau ließ ihn heute noch schmunzeln. „So habe ich das noch nie betrachtet, das werde ich mir merken!“
Die lange Autokette, die sich tief unten wie ein nie endender Strom durch die Straßenschlucht wälzte, wurde immer wieder durch die für New York typischen gelben Taxis unterbrochen. Fast war es, als hätte man eine Perlenkette mit vielen bunten, aber vor allem gelben Perlen, vor sich.
Solange John denken konnte, war es sein Traum gewesen, Anwalt zu werden. Nicht einer von denen, die kleine und große Gesetzesbrecher vor dem Gefängnis bewahrten. Auch nicht einer von denen, die armen Leuten gegen übermächtige Konzerne oder gegen den Staat und seine Institutionen beistanden.
John war anders.
Das anwaltliche Sendungsbewusstsein, das viele seiner Studienkollegen vor sich hergetragen hatten, war ihm immer fremd gewesen. Er hatte von Anfang an ganz nach oben gewollt, dorthin, wo ausschließlich Geld und Macht eine Rolle spielten.
Das dezente Summen seines Telefons riss John aus seinen Gedanken. Er drehte den Sessel wieder zum Schreibtisch und drückte auf die Sprechtaste.„Ja, bitte?“
„Sir“, meldete sich die Stimme seiner Sekretärin, „die beiden Reporter von Worldwide News sind hier. Ihr Elf-Uhr-Termin.“
„Danke, Jennifer. Bitten Sie die Herrschaften noch um ein paar Minuten Geduld.“
John klappte die Akte zu, an der er zuvor noch gearbeitet hatte, und schob sie in eine der Schreibtischschubladen. In den letzten Tagen hatte es Dutzende von Interviewanfragen und Einladungen zu Talkshows gegeben. Die Fusion hatte in den Medien für ziemlichen Rummel gesorgt, und jetzt wollten alle mehr wissen. Die Kanzlei hatte viele der Anfragen von vornherein abgeblockt, aber die Beiträge von Worldwide News liefen nun einmal auf allen wichtigen internationalen Nachrichtenkanälen.
Mit einer federnden Bewegung erhob John sich aus seinem Sessel und ging hinüber zur Schrankwand, wo er zwei der raumhohen Türen öffnete und sich an dem dahinter eingebauten Waschbecken die Hände wusch. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel strich er sich mit den noch feuchten Fingern durch seine vollen dunklen Haare, trocknete sich dann die Hände an einem Handtuch ab und richtete den Knoten seiner Seidenkrawatte. Danach schloss er die Schranktüren wieder.
Er schlüpfte noch in sein elegantes blaues Sakko und öffnete dann die Tür, die zu seinem Vorzimmer führte. Als er hinaustrat, um seine Besucher persönlich zu begrüßen und in sein Büro zu geleiten, stutzte er einen Moment. Wegen der Ankündigung seiner Sekretärin hatte er zwei Männer erwartet, aber zu seiner Überraschung kam eine schlanke, blonde Endzwanzigerin in einem dunklen Kaschmir-Kostüm auf ihn zu und streckte ihm mit einem erfrischenden Lächeln die Hand entgegen.
„Guten Tag, Mr. Marks. Vielen Dank, dass Sie Zeit für uns haben. Ich bin Samantha Cunningham.“ Sie deutete auf den hinter ihr stehenden Mann, der über der einen Schulter eine große Filmkamera und über der anderen eine schwarze Umhängetasche trug.„Das ist mein Kameramann, Ben Atwood.“
John ergriff die ausgestreckte Hand und war erstaunt über den kräftigen Händedruck der jungen Frau. Ein leichter Hauch eines angenehm frischen Parfums erreichte seine Nase. Er erwiderte das Lächeln.
„Freut mich, Mrs. Cunningham. Es ist mir ein Vergnügen, Sie zu empfangen.“
Dann lächelte er über ihre Schulter hinweg den Kameramann an, der ihn erwartungsvoll anschaute.„Hallo,Ben,es ist lange her. Schön, dich zu sehen.“
„Hallo, John!“ Der Kameramann erwiderte das Lächeln. „Ja, es ist wirklich lange her. Fünfzehn Jahre?“
„Könnte hinkommen, plus minus ein paar Jahre.“
Samantha Cunningham schaute überrascht und irritiert zwischen den beiden Männern hin und her.
„Ihr … ich meine, Sie kennen einander?“
„Ja“, sagte Ben zögernd,„wir kennen uns.Aber unsereWege haben sich irgendwann getrennt.“
„Gehen wir doch hinein“, lenkte John die Situation wieder in die korrekten Bahnen,„wir haben alle wenig Zeit, und das ist nun wirklich ein anderes Thema.“ Er wies mit dem ausgestreckten Arm durch die offene Tür in sein Büro. „Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht? Oder lieber etwas Kaltes?“
„Ich habe schon gefragt“, meldete sich seine Sekretärin, „einen grünen Tee und eine Cola. Für Sie einen Cappuccino, Sir?“
„Genau! Danke, Jennifer, perfekt wie immer.“
Die beiden Journalisten betraten Johns geräumiges Büro. John folgte ihnen, nachdem er noch mit einem kurzen Blick Jennifers strahlendes Lächeln eingefangen hatte, und schloss dann die Tür hinter sich.
„Setzen wir uns dort hin!“ John wies auf die Sitzgruppe, die für Besprechungen in seinem Büro vorgesehen war.„Möchten Sie gleich mit dem Interview anfangen, Mrs. Cunningham?“
„Miss Cunningham, bitte, oder einfach Samantha, jedenfalls, solange die Kamera nicht läuft. Und ja, wenn es Sie nicht stört, möchte ich gleich loslegen. Wir haben eine Stunde, sagte Ihre Sekretärin, und davon sind schon sieben Minuten um. Ben, bist du soweit?“
„Gleich, aber vorher muss ich euch noch verkabeln.“
Ben zog zwei Ansteckmikrophone aus einem Seitenfach seiner großen Umhängetasche. Das eine steckte er Samantha ans Revers ihrer Kostümjacke, das andere bei John vorne ans Sakko.
„So, ich kann in der nächsten Sekunde drehen.“ Ben hob die Kamera auf die Schulter, schaute durch den Sucher und machte einen Schwenk durch den Raum. In diesem Moment klopfte es an der Tür, die sich kurz darauf öffnete.
„Ah, Jennifer, wunderbar, vielen Dank. Dort auf den Tisch, bitte!“ John wartete, bis seine Sekretärin den Raum wieder verlassen hatte. „Ich schlage vor, ich setze mich in den Sessel und Sie, Samantha, auf die Couch. Richtig?“
„Ja, das ist für das Licht am besten, stimmt´s, Ben?“ Samantha wartete Bens Bestätigung gar nicht erst ab, sondern nahm auf dem Zweisitzer Platz, zog die Tasse mit dem Tee zu sich heran und schob den Cappuccino in Richtung Sessel.
„Hier, Ben, stell´ deine Cola woanders hin.“ Sie reichte Ben das Glas. „Und ich brauche eine zweite Kameraeinstellung für den Schnitt.“
„Hab ich mir schon gedacht!“ Ben stellte die große Kamera auf den Boden, holte eine kleine Kamera plus Stativ aus seiner Tasche und schraubte beides zusammen. Das Stativ stellte er so auf, dass die Kamera ständig auf Samantha gerichtet war. Er klappte das Display auf, richtete den Ausschnitt noch einmal aus und betätigte die Aufnahme-Taste.
„Gut, Ben, dann fang an zu drehen.“ Samantha wurde langsam ungeduldig.
John setzte sich in den Sessel. In dem Moment, als Ben die Schulterkamera auf Samantha und John richtete und das rote Licht aufleuchtete, setzte Samantha ein strahlendes Lächeln auf. „Wir sind hier in den Räumlichkeiten der weltbekannten Kanzlei First Internationals in Manhattan“, begann sie das Intro.„In der vergangenen Woche wurde eine der größten internationalen Fusionen der letzten Jahre unter Dach und Fach gebracht. Maßgeblichen Anteil am Zustandekommen hatte John Marks, Wirtschaftsanwalt und bei First Internationals zuständig für M&A, der hier neben mir sitzt. Mr. Marks, M&A ist ein Tätigkeitsgebiet, das von der breiten Bevölkerung nicht als spezifisch anwaltlich wahrgenommen wird. Können Sie in kurzen Worten erklären, was sich dahinter verbirgt?“
John räusperte sich kurz.
„In wenigen Worten ist das schwierig, Miss Cunningham, weil es sich letztlich um hochkomplexe Vorgänge handelt, aber ich will es versuchen. Der Begriff „Mergers & Acquisitions“, kurz M&A, umschreibt im weitesten Sinne alle Handlungen, die dazu führen, dass Unternehmen fusionieren oder ein anderes übernehmen. Durch solche Zusammenschlüsse werden Synergien erzeugt und freigesetzt, was für beide Unternehmen sowohl im Fall der Fusion, als auch im Fall der Übernahme wirtschaftlich sinnvoll und nützlich ist.“
„Können Sie das etwas genauer erklären?“, hakte Samantha nach.
„Nun, jedes Unternehmen ist natürlich bestrebt, bei seiner Tätigkeit mit möglichst geringem Aufwand ein möglichst gutes Ergebnis zu erzielen. Dabei steht es in weltweitem Wettbewerb mit anderen Unternehmen, nämlich im Hinblick darauf, erfolgreicher zu sein als diese und sie vielleicht sogar vom Markt zu verdrängen. Ein Beispiel: Ein Unternehmen hat ein besonderes, patentiertes Herstellungsverfahren und besitzt damit faktisch eine Monopolstellung. Will nun ein anderes Unternehmen seine Produkte ebenfalls auf diese Weise herstellen, hat es die Möglichkeit, eine Lizenz zu erwerben. Es kann aber auch versuchen, den Konkurrenten und damit das Patent zu übernehmen, was auf Dauer sogar wirtschaftlicher sein kann.“
„Und welche Rolle spielen Sie, beziehungsweise spielt Ihre Kanzlei dabei?“
„Auch wenn viele große Unternehmen eigene M&A-Abteilungen beschäftigen, wird meist zunächst ein Vermittler, häufig eine in solchen Dingen erfahrene Anwaltskanzlei wie zum Beispiel First Internationals beauftragt, an das andere Unternehmen heranzutreten und die Übernahmeabsicht dort kundzutun. In der überwiegenden Zahl der Fälle ist es so, dass unsere Mandanten anfangs nicht selbst in Erscheinung treten wollen. Stößt das Übernahmeangebot bei der anderen Seite auf Interesse, übernehmen wir je nach Auftrag auch das weitere Prozedere, also die Verhandlungen, die Vertragsausgestaltung, soweit erforderlich die Hinzuziehung externer Fachleute und so weiter – bis hin zum Vertragsabschluss.“
„In diesem Fall haben sich Großunternehmen aus zwei recht verschiedenen politischen Hemisphären zusammengeschlossen, aus den USA und aus Russland. Sicher hat Ihre Kanzlei schon viele Fusionen beratend begleitet, aber dieses Mal dürften Sie doch auf einige Schwierigkeiten gestoßen sein.“
„Das stimmt, Miss Cunningham. Lassen Sie mich dazu nur so viel sagen: Wir haben im Laufe der monatelangen Verhandlungen immer wieder Neuland betreten.“
„Wer sind denn Ihre Auftraggeber, oder anders gefragt, wo innerhalb einer Unternehmenshierarchie sind Ihre Auftraggeber angesiedelt?“
„Regelmäßig auf der Eigentümerebene, also dort, wo die Unternehmensanteile gehalten werden. Das kann eine Einzelperson sein, in den meisten Fällen ist es aber eine Bank oder eine Fondsgesellschaft, also ein institutioneller Anleger, der ein Interesse daran hat, den Wert der bei ihm deponierten oder von ihm selbst gehaltenen Anteile zu steigern.“
„Aus der Sicht der Shareholder bringt eine Unternehmensübernahme immer Vorteile, aber es gibt ja auch negative Auswirkungen. Durch die Zusammenlegung von Unternehmen wird in großem Ausmaß Personal überflüssig, es kommt zu Entlassungen, Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz. Wie stehen Sie, bzw. wie steht Ihre Kanzlei, wie steht First Internationals dazu, Mr. Marks?“
„Das ist eine Konsequenz unseres Wirtschaftssystems, die unangenehm ist, aber im Interesse des wirtschaftlichen Erfolges in Kauf genommen werden muss. Außerdem werden solche Freisetzungen ja auch immer von entsprechenden Abfindungszahlungen begleitet, die nach unseren Erfahrungen bis in den Bereich sechs- oder siebenstelliger Beträge gehen.“
„Das mag für die Führungskräfte eines Unternehmens zutreffen, Mr. Marks, aber vielfach treffen die Entlassungen ja auch Kräfte aus der Produktion und den unteren Verwaltungsebenen.“
John verspürte ein leichtes Unwohlgefühl. Was bezweckte diese Journalistin? Worauf wollte sie hinaus?
„Nun, Miss Cunningham“, John gelang trotz seines Unbehagens ein sympathisches Lächeln,„gemeinsam mit unseren Mandanten sind wir uns der besonderen Verantwortung bewusst und versuchen, auch hier, in jedem Einzelfall eine befriedigende Lösung zu finden. Vergessen Sie nicht, dass eine Entlassung auch immer die Chance auf einen persönlichen Neuanfang in sich trägt, die jeder individuell nutzen kann.“
„Sicher, aber Sie werden mir doch zustimmen, dass für einen kleinen Angestellten, der seine Hypothek abbezahlen und seine Familie ernähren muss, die Entlassung erst einmal eine Katastrophe ist. Die Vorteile bei Unternehmensfusionen liegen also überwiegend auf Seiten der Kapitalgeber, besser gesagt, der ohnehin Vermögenden, und wer kein Geld hat, ist ausgeschlossen und bleibt möglicherweise auf der Strecke.“
„Miss Cunningham, um alle Menschen an den finanziellen Vorteilen partizipieren zu lassen, müsste man unser gesamtes Wirtschaftssystem ändern. Und Sie werden mir sicherlich zustimmen, wenn ich sage, dass sich alle diesbezüglichen Bestrebungen als wunderschöne, jedoch völlig wirre Träume von der Gleichheit aller Menschen herausgestellt haben; angefangen bei den frühchristlichen Gemeinden bis hin zu den weltfremden Spinnereien linker Extremisten und den gescheiterten kommunistischen Systemen unserer Zeit.“
Bevor seine Interviewpartnerin ihre nächste Frage stellte, bemerkte John für einen kurzen Moment einen zufriedenen Zug um ihre Lippen.
„Gut, aber neben den Kapitalgebern gibt es ja noch weitere Gewinner. Wie hoch müssen sich unsere Zuschauer das Honorar vorstellen, das in Fällen wie diesem an Ihre Kanzlei gezahlt wird?“
„Ich bin leider nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.“
„Mr. Marks, Sie und Ihre Kanzlei werden sich jetzt sicherlich nicht auf den Lorbeeren ausruhen, welche Projekte haben Sie für die nähere Zukunft in der Schublade?“
„Miss Cunningham, Sie haben sicherlich Verständnis, wenn das Anwaltsgeheimnis meine Kollegen und mich verpflichtet, über solche Dinge absolutes Stillschweigen zu bewahren.“
„Selbstverständlich, Mr. Marks, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.“ Samantha drehte ihren Kopf in Richtung Ben. „Das war Sam Cunningham für Worldwide News.“ Sie strahlte noch einige Sekunden, bis das rote Licht an der Kamera erlosch.„Hast du alles im Kasten, Ben?“
Ben nahm die Kamera von der Schulter.„Von Anfang bis Ende!“
„Gut.“ Samantha nippte kurz an ihrem Tee. „Ich denke, dass mein Sender den Beitrag heute in den Neunzehn-Uhr-Meldungen unterbringt. John, wenn Sie wollen, können Sie die Aufnahme noch einmal am Monitor der Kamera anschauen.“
John überlegte einen Moment und entschied dann: „Ich glaube nicht, dass das notwendig ist, Samantha.“
„Schön.“ Samantha erhob sich von der Couch. „Dann wollen wir Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen, John. Noch einmal danke.“ Sie hielt John die Hand hin; dieser ergriff sie und hielt sie fest.
„Ich danke Ihnen, Samantha, ich hoffe doch, das war nicht unser letztes gemeinsames Interview.“ Und einem plötzlichen Impuls nachgebend, fügte er hinzu:„Hätten Sie irgendwann mal Zeit und Lust, mit mir essen zu gehen? Vielleicht nächste Woche?“
„Gern!“ Samantha schenkte John ein strahlendes Lächeln. „Aber das müssen wir dann kurzfristig absprechen. Am besten, ich rufe Sie an, okay?“
„Ich freue mich drauf!“ sagte er, hatte aber gleichzeitig das Gefühl, gerade einen Korb bekommen zu haben.
„Na dann!“ Samantha blickte zu Ben.„Können wir?“
Sie wandte sich zur Tür.
„Ich bin dicht hinter dir, wie immer“, grinste Ben, der seine Ausrüstung inzwischen zusammengepackt und geschultert hatte.
John war als Erster an der Tür und hielt sie für Samantha und Ben auf.
„War schön, dich mal wieder zu treffen, Ben“, meinte John, als dieser an ihm vorbeiging.„Sehen wir uns demnächst mal?“
Ben ging weiter, so als hätte er ihn nicht gehört. Dann blieb er stehen, drehte sich um und blickte John in die Augen. „Da bin ich mir ganz sicher, John! Wir sehen uns bestimmt.“ Er streckte John die Hand hin. John ergriff sie und spürte ein Stück Papier in seiner Handfläche.
„Mach`s gut, John. Lass` von dir hören“, sagte Ben und folgte Samantha, die bereits auf dem Flur auf ihn wartete.
„Jennifer, Sie können dann bitte abräumen.“ John blieb in der offenen Verbindungstür stehen, bis seine Sekretärin die leeren Tassen und Gläser auf ein Tablett geräumt und hinausgetragen hatte.
Nachdenklich schloss John seine Bürotür.
Rational betrachtet war das Interview gut gelaufen, auch die unangenehmen Fragen hatte er souverän beantwortet. Aber das unbehagliche Gefühl war immer noch da. Irgendetwas führte diese Frau im Schilde, sagte ihm sein Instinkt, aber was bloß? Nicht nur der Aufbruch kam ihm etwas zu plötzlich vor. Mit Zeitdruck allein ließ sich das nicht erklären, immerhin hatten sie noch eine knappe halbe Stunde bis zum geplanten Ende des Termins. Im Nachhinein hätte er sich ohrfeigen können wegen seiner Frage nach einem Date. Welcher Teufel hatte ihn da bloß geritten? John öffnete die rechte Hand und betrachtete das Stück Papier, das ihm Ben gegeben hatte, und er faltete es auseinander. Es enthielt eine Telefonnummer, die Ben offenbar in aller Eile hingekritzelt hatte. Auch Bens seltsame Äußerung über ein baldiges Wiedersehen beunruhigte ihn. Hatte er ihm noch etwas mitteilen wollen?
Nein, Unsinn, beruhigte er sich, während er den Zettel in die Brusttasche seines Hemdes schob. Ben war schon auf dem College wegen seines geheimnisvollen und bisweilen verschwörerischen Verhaltens verschrien gewesen. Warum sollte er sich geändert haben, nachdem sie sich damals aus den Augen verloren hatten? John wischte alle Gedanken an Samantha, Ben und das Interview beiseite, setzte sich an seinen Schreibtisch und vertiefte sich wieder in seine Akten.
Zwei Stockwerke unter Johns Büro ging eine sportlich-elegant gekleidete Enddreißigerin konzentriert auf und ab. Dominique van den Bergh hatte ihre engsten Mitarbeiter um sich geschart, um die für den Abend erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen zu besprechen. Die Namensgleichheit mit dem obersten Chef von First Internationals beruhte nicht auf einem Zufall, denn Dominique war seine Tochter. Sie hatte vor einigen Jahren angefangen Jura zu studieren, um später als Anwältin in die Kanzlei einzutreten. Ihr uneingeschränktes Interesse für fernöstliche Kampfsportarten, Waffen aller Art und schnelle Autos hatte sich jedoch so negativ auf ihr Studium ausgewirkt, dass sie nach wenigen Semestern wegen schlechter Noten die Universität verlassen musste.
Danach hatte sie sich drei Jahre an wechselnden Orten in Ostasien aufgehalten und ihre Kenntnisse in Kung-Fu, Thai-Boxen und mehreren anderen Disziplinen zur Perfektion getrieben. Zurück in den Vereinigten Staaten hatte ihr Vater sie beim Sicherheitsdienst der Kanzlei untergebracht, dessen Leitung Dominique bereits nach kurzer Zeit übernahm. Das hatte sie nicht ihren familiären Beziehungen zu verdanken, sondern ausschließlich ihrem unbändigen Führungswillen und einem untrüglichen Instinkt für Gefahr, gepaart mit skrupelloser Brutalität. Seit einem Vierteljahr war sie weltweit für die innere und äußere Sicherheit von First Internationals zuständig.
Um den ovalen Konferenztisch, an dessen Kopfseite Dominique thronte, saß ein halbes Dutzend breitschultriger, grimmig dreinblickender junger Männer, allesamt ehemalige Mitglieder diverser Militär- oder Geheimdienstorganisationen. Auf der Tischplatte waren Pläne aller Etagen ausgebreitet. Prüfend ließ Dominique ihren Blick durch den Raum schweifen. Sie hatte diesen Raum selbst eingerichtet, gemäß ihren eigenen Prinzipien. Spartanisch, nur mit dem Nötigsten. Ein riesiger, ovaler Konferenztisch dominierte das Zimmer, er war außer einem kleinen Stahlschrank, auf dem eine Kaffeemaschine stand, das einzige Möbelstück des Raumes. Bilder an den Wänden gab es nicht. Dominique duldete keine Ablenkung bei der Arbeit.
Jetzt richtete sie ihren Blick nacheinander auf jeden Einzelnen ihrer Mitarbeiter, die geduldig, aber aufmerksam auf ihre Anweisungen warteten.
Keiner der Männer, die an diesem Tisch saßen, hatte je so viel Respekt vor einer Frau gehabt, wie vor Dominique. Sie sahen sie nicht als Frau, und Dominique tat alles dafür, ihre durchwegs männlichen Mitarbeiter nicht mit weiblichen Reizen abzulenken. Für diese war sie schlicht und einfach der Boss, und man musste sich hüten, ihren Anordnungen zu widersprechen oder in ihrem Beisein etwas Falsches zu sagen. Dominiques Wutausbrüche hatten einige der am Tisch sitzenden Männer schon erlebt.
Auch als kleines Mädchen war Dominique bei ihren Spielkameraden nicht gerade beliebt gewesen. Mit ihrem rabiaten und herrschsüchtigen Verhalten eckte sie überall an. Außer bei ihrem Vater, der schien Gefallen daran zu haben.
Dominique ließ kurz ihren Gedanken freien Lauf, während sie zu dem Stahlschrank ging, um sich eine der weißen Tassen mit Kaffee zu füllen.
Sie wusste inzwischen, dass ihr Vater für alles verantwortlich war. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, und ihr Vater war danach nie wieder eine feste Beziehung eingegangen. Ihre Erzieherinnen, die so häufig wechselten, dass sie zu keiner von ihnen eine persönliche Beziehung aufbauen konnte, hatten sich strikt an seine Instruktionen gehalten. Dominique durfte als kleines Mädchen nicht mit Barbies oder anderen Puppen spielen. Sie musste immer nur Hosen tragen. Nur selten wurde ihr erlaubt, mit anderen Kindern zu spielen, und wenn, dann nur mit älteren Jungen. Ihr Vater hatte ihr von Anfang an das Gefühl gegeben, dass sie ein Sohn hätte werden sollen; dass er überhaupt keine Tochter gewollt hatte. Und so hatte Dominique es sich, um ihm zu gefallen, zur Aufgabe gemacht, für ihren Vater mehr ein Sohn als eine Tochter zu sein.
Sie nahm die Kaffeetasse, ging zur Schmalseite des Ovals, stellte sie darauf ab, räusperte sich kurz und begann dann mit ihren Instruktionen. Ihre Erinnerungen verbannte sie wieder in die hinterste Kammer ihres Gehirns.
„Heute Abend kommen ausschließlich Mitarbeiter, allerdings auch welche der höchsten Kategorie“, erläuterte Dominique. „Ab sechzehnhundert gilt Sicherheitsstufe eins.“ Dominique liebte es, die Uhrzeit im militärischen Jargon in Hunderter-Einheiten anzugeben.
„Rodriguez“, wandte sie sich an den Latino, der rechts neben ihr saß, „du teilst die Männer in den Etagen ein. Und vergiss nicht, für den ersten Check zwei Mann unten in der Eingangshalle und zwei in der Tiefgarage zu postieren, gleich am Portal. Hans, du bist verantwortlich für die Personenkontrolle vor dem Aufzug. Nimm dir vier Leute dafür.“
Ein blonder Hüne an der linken Tischseite nickte bestätigend.
„Die übrigen: dunkler Anzug! Ihr bewegt euch im Saal unter den Gästen und haltet die Augen auf.Alle, ich wiederhole, alle Unregelmäßigkeiten werden über Funk an mich gemeldet. Ich entscheide dann, was gemacht wird. Keine Eigenmächtigkeiten! Alles verstanden?“
Die Männer nickten unisono. Sie wussten, was sie zu tun hatten.
„Kannst du mir vielleicht vorher sagen, wenn du mit meinem Interviewpartner per du bist?“ Samanthas energische Schritte hallten durch die Parkgarage. Ben hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. „Lass mich ja nie wieder so blöd dastehen“, fauchte sie, während sie auf den weißen Van mit der Aufschrift „Worldwide News“ zusteuerten.„Nie wieder! Woher kennst du ihn überhaupt?“
Ben betätigte die Fernbedienung für die Türentriegelung „Nun schalt´ mal einen Gang zurück, Sam.“, brummte er, öffnete die Hecktür und verstaute seine Ausrüstung. Dann kletterte er ins Führerhaus und startete den Motor. Samantha saß bereits auf dem Beifahrersitz.
„Sag´ schon, woher kennt ihr euch?“, drängelte sie ungeduldig, während Ben den Van rückwärts aus der Parkbucht setzte und in Richtung Ausfahrt lenkte. Er wartete mit seiner Antwort, bis sie draußen auf der Straße waren.
„Schön“, meinte er, „ich sag´s dir, aber dann musst du mir auch was erklären.“
„Okay, ich erklär´ dir auch was“,schnaubte Samantha,„aber ich habe zuerst gefragt. Also, los, woher kennst du John Marks und warum bist du so vertraut mit ihm?“
Ben schwieg eine Weile, die Samantha wie eine halbe Ewigkeit vorkam. Dann holte er tief Luft. „Von Harvard!“, stieß er hervor. „Ich kenne ihn von Harvard. Wir haben zusammen studiert.“
„Du warst in Harvard?“ Samantha riss ungläubig die Augen auf. „Und warum rennst du dann jetzt mit der Kamera hinter mir her?“
„He!“ Ben unterdrückte den Ärger, der auf diese Frage hin in ihm hochstieg. „Bloß weil ich für dich den Packesel mache, bin ich noch lange kein schlechterer Mensch!“
„Hab’s ja nicht so gemeint“, lenkte Samantha ein,„es ist nur, weil…“
„Sag’s ruhig! Weil ich so blöd war, nicht zu Ende zu studieren. Ich weiß schon.“ Ben bremste etwas zu abrupt an einer roten Ampel.
„Nein, das hab´ ich nicht gesagt, aber ich dachte immer, dass alle Harvard-Studenten geistige Überflieger sind und später die große Karriere machen.“
„So wie George W. Bush, meinst du wahrscheinlich.“
„Na, schön“, seufzte Samantha, „das mit dem geistigen Überflieger nehme ich zurück, aber zumindest die Karriere ist doch sicher.“
„Nicht immer, wie du an mir siehst. Er ist wenigstens Präsident geworden.“
„Das kannst du immer noch werden, du bist ja noch jung“, grinste sie ihn charmant an, „aber erzähl´ mir lieber von John Marks. War er ein guter Student?“
„Nicht so gut, dass ihm sein heutiger Posten bei First Internationals auf die Stirn geschrieben gewesen wäre. Ich weiß allerdings nicht, wie seine Abschlussnoten waren. Ich bin ja ein Jahr zuvor von Harvard weggegangen, und wir hatten danach fast keinen Kontakt mehr. Vielleicht ist er ja doch noch Jahrgangsbester geworden.“
„Wie hat er denn sein Studium finanziert?“
Ben blickte Samantha überrascht an.„Was soll die Frage?“
„Ach, nur so.“ Samantha schaute scheinbar unbeteiligt aus dem Seitenfenster. „Hätte ja sein können, dass er reiche Eltern hatte.“
„Soweit ich weiß, ist er bei Pflegeeltern aufgewachsen. Er hat damals irgendwoher ein Stipendium bekommen.“
„So? Woher denn?“
„Keine Ahnung. Man munkelte, von irgendeinem Privatmann. Aber wieso interessiert dich das?“
„Es interessiert mich nicht wirklich, höchstens beruflich. Außerdem hättest du mir vorher sagen können, dass du ihn von früher her kennst. Wäre fürs Interview vielleicht hilfreich gewesen, so ein wenig Hintergrundinformation.“
„Ich fand´s besser, dir nichts zu sagen, ich wusste ja nicht, wie er reagiert. Wäre doch peinlich gewesen, wenn er sich nicht mehr an mich erinnert hätte oder vielleicht so getan hätte. Im Übrigen …“
Bens Erklärung wurde durch den Klingelton von Sams iPhone unterbrochen. Sie zog es aus der Seitentasche ihrer Kostümjacke, warf einen Blick auf das Display, wandte sich zum Seitenfenster und tippte dann auf das Gerät.
„Ja?“, meldete sie sich, und nach einigen Sekunden fügte sie hinzu: „Ja, danke, alles bestens, wie geplant.“ Sie hörte wieder einen Moment zu und sagte dann: „Ja, das bin ich auch. Heute Abend wissen wir mehr.“ Danach unterbrach sie das Gespräch und steckte das iPhone wieder weg.
„Was Wichtiges?“, fragte Ben.
„Nein, und sei nicht so neugierig. Du warst vorhin bei: ‚Im Übrigen …’, wie geht´s weiter?“
„Genau, ich wollte sagen: Im Übrigen mach´ mir doch nichts vor. Ich kenn´ dich jetzt lange genug, du hast doch vor deinem Interview alles über John Marks in dich hineingefressen, was dir in die Finger kam. Verdammt!“ Ben ließ die flache Hand auf das Armaturenbrett krachen. „Los, du blöder Idiot da vorne! Fahr´ endlich, oder willst du hier übernachten?“ Er drückte wild auf die Hupe und ließ dabei den Motor aufheulen.
Samantha schüttelte den Kopf. „Warum so gereizt, Ben? Natürlich habe ich mich vorher über John Marks informiert, da spricht doch nichts dagegen.Aber ich weiß eben noch nicht alles über ihn.“
„Na gut, dann stelle ich jetzt meine Frage. Warum bloß habe ich das Gefühl, dass du weit mehr über John Marks weißt, als du zugeben willst? “
„Unsinn! Wie kommst du denn darauf?“
„Hör zu, Sam, ich kenne den triumphierenden Ausdruck in deinen Augen, wenn du einem Gesprächspartner das entlockt hast, was du hören wolltest. Außerdem hast du vorhin fast fluchtartig Johns Büro verlassen, so als ob du etwas erbeutet hättest und es in Sicherheit bringen wolltest. Und was sollte diese Frage, wie er sein Studium finanziert hat? Du kanntest die Antwort doch längst.“
Samantha schwieg eine Weile. „Ja“, sagte sie dann, „tut mir leid. Ich habe versucht, dich auszuhorchen. Aber nachdem du ihn von früher kanntest, war es einfach zu verlockend, noch ein wenig nachzubohren. Schade, du weißt auch nicht mehr als ich.“
„Und umgekehrt, Sam?“, fragte Ben. „Was weißt du, was ich nicht weiß? Du hast doch irgendein As im Ärmel!“
„Das weiß ich noch nicht genau. Du musst dich noch gedulden.“
„Wer hat da eben angerufen? Das hat doch auch mit John zu tun!“
„Das geht dich nun wirklich nichts an!“
Ben wusste Bescheid. Es kam selten vor, dass Samantha ihn nicht einweihte. Aber wenn, dann war sie an einer wirklich heißen Sache dran, deren Auswirkungen sie selbst noch nicht einschätzen konnte. Er fragte nicht weiter.