Verblüfft nahm Shaithis eine geduckte Haltung an, drehte sich lauernd im Kreis und starrte umher. Er sah nur Eis und wusste nun doch mit Sicherheit, dass dieser Ort mehr als nur Eis umfasste. Schließlich, die karmesinroten Augen zu Schlitzen zusammengezogen, konzentrierte er die eigenen Gedanken und fragte: Wer spricht?
Was?, erhob sich die schwache, zittrige Stimme erneut in seinem Verstand, und Shaithis spürte ein höhnisches Schnauben. Bringt mich nicht zum Lachen, Shaitan! Ihr wisst sehr wohl, wer spricht! Oder haben Euch die langen, einsamen Jahre um den Verstand gebracht? Kehrl Lugoz spricht, alter Satan. Gemeinsam wurden wir in die Verbannung geschickt; gemeinsam behausten wir für eine Weile die Höhlen des Vulkankegels; wir waren Gefährten – solange wir Fleisch hatten. Doch so, wie dieses Fleisch zur Neige ging, ging auch unsere Freundschaft dahin. Und ich bin geflohen, solange ich dies noch konnte.
Kehrl Lugoz? Shaithis runzelte die Stirn, als er sich der Wamphyri-Legenden zu erinnern suchte, die beinahe so alt waren wie das Geschlecht selbst. Und dieser Shaitan, auf den der verborgene Sprecher hinwies: Doch gewiss nicht der Shaitan? Abermals runzelte er die Stirn, und als sich sein Verdacht in Wissbegierde wandelte, fragte er: Wo seid Ihr?
Wo ich seit ... Ewigkeiten bin – ich weiß nicht mehr, wie lange. Untot konserviert im Eis, das bin ich und dort bin ich. Träumend existiere ich in meiner frostigen Hölle aus endloser Zeit. Und Ihr, Shaitan? Wie war’s für Euch? Hat der Berg Euch warm gehalten, oder sind seine Feuer wieder erstarkt, um Euch zu vertreiben?
Träumend in einer frostigen Hölle? Exakt dieses grässliche Szenario hatte Shaithis erst vor wenigen Momenten heraufbeschworen! Ja, und er glaubte, dass, wer immer dieser Kehrl Lugoz auch sein mochte, der hier mit ihm in Kontakt geraten war, tatsächlich aus einem Traum heraus zu ihm sprach. Vielleicht hatten die herabkrachenden gewaltigen Eiszapfen ihn aus seinem ewigen Dämmer gerissen.
Ihr täuscht Euch, widersprach er nun und entspannte sich ein wenig, denn ich bin nicht Shaitan. Ein Sohn seiner Söhne – möglicherweise, doch mein Name ist Shaithis, nicht Shaitan.
Oh? Ha! Der andere schien seine Worte schmerzlich amüsant zu finden. Herr der Lügner noch im Angesicht des Endes, was, Shaitan? Verderbt wie eh und je. Ihr wart der Übelste eines üblen Haufens. Doch was für eine Bedeutung hat das in diesen Tagen noch? Kommt und holt mich, wenn Euch danach ist – oder schert Euch fort und überlasst mich meinen Träumen.
Die Gedankenstimme verblasste wieder; der, dem sie gehörte, tauchte zurück in eisige Traumtiefen; doch Shaithis, indem er seine vampirischen Sinne nun allesamt aufs Höchste konzentrierte, glaubte bereits, den Quell aufgespürt zu haben. Hier bin ich, hier oben!, hatte die mentale Stimme ihn ganz am Anfang wissen lassen. Also irgendwo in diesen eisigen Höhen ...
Shaithis befand sich längst im Herzen der ins Eis gemeißelten, windumfauchten Burg. Dort, umschlossen von einer Schicht klaren Frosts, alles in allem gut neunzig Zentimeter dick, konnte er einen massiven zentralen Kern vulkanischen Gesteins ausmachen. Zerfetzt ragte er hoch empor wie der verknöcherte Stumpf eines einst gläsernen Zahns: ein steinerner Auswurf des altehrwürdigen Vulkans. Und an dieser eisigen Hülle zogen sich tatsächlich Stufen empor, gläserne Stufen – zogen sich, in kristallglitzerndes Eis getrieben, in Spiralen rings um das lavasteinerne Fundament der Burg herum hoch und höher und verloren sich schließlich nach endlos scheinenden Windungen in Grotten aus glühender Kälte.
Ihm blieb nichts, als ihnen zu folgen; der Vampir-Lord vertraute sich den frostüberwachsenen Stufen an und erstieg die gezackte Spitze des Felsenkerns, hin zu einer Verwerfung, die gleich einem schwarzen vulkanischen Fangzahn gerade nach oben stieß und so lebendig wirkte, als könne sie die Hülle jeden Moment durchstoßen. Dort war es schließlich, dass Shaithis durch Eis so hart wie Fels starrte – und dem Verursacher der geistigen Botschaften gegenüberstand.
Dort, in einem blau glosenden Herzen aus Eis – in einer Lava-Nische, aufrecht sitzend, die eine Hand so leicht auf einem Felsengrat ruhend, als handle es sich um einen Lieblingssessel – ein Mann, so alt wie die Zeit, müde, welk und unheimlich! Ins Eis eingeschlossen wie eine Fliege in Bernstein! Die Lider hatten sich beizeiten über die Augen gesenkt, sein gefrorener Körper regte sich nicht, seine Meine war so finster wie sein Los. Und doch saß er dort voller Stolz, den dürren Hals gereckt, den Kopf hoch erhoben, und mit jenem gewissen Etwas in der ganzen Erscheinung, das gedämpft, jedoch entschieden von seiner Abstammung kündete: Er war definitiv ein Wamphyri! Kehrl Lugoz, wer auch immer er gewesen sein mochte –
Nein, wer auch immer er nach wie vor war!
Shaithis streckte eine Hand zu jener Mauer glatten Eises hin, presste sie hart darauf, bis ihm die Handfläche kalt und flach erschien. Eine Minute verging, dann noch eine – bis schließlich: Poch!
Es war der schwache Schlag eines Herzens – so furchtbar schwach und scheinbar weit entfernt ... doch er war da. Und nach zwei weiteren Minuten abermals: Poch! – und so weiter. Kehrl Lugoz lebte. Ganz gleich, wie zögernd sein Herz auch pumpte, ganz gleich, wie sehr sein Leib schon zu Stein geworden war (und er war beinahe zur Gänze versteinert) – er lebte immer noch. Nur, was war dies für ein Leben, fragte Shaithis sich ein zweites Mal.
Er starrte angestrengt auf das ausgedorrte ... Ding, studierte es durch neunzig Zentimeter dickes Eis, welches, obgleich rein und pur, nichtsdestotrotz alles verzerrte und verlagerte. Und nun glaubte er die Antwort auf jene andere Frage zu kennen, die ihn unlängst ebenfalls beschäftigt hatte: Was war schlimmer – untot begraben, in die Höllenländer geschickt oder hierher verbannt zu sein? Dem Vampir-Lord fröstelte bei dem Gedanken an all die namenlosen Jahrhunderte, die vergangen waren, seit Kehrl Lugoz diesen Ort aufgesucht und sich niedergelassen und darauf gewartet hatte, dass das Eis um ihn her Gestalt annahm.
Poch! Und dieses Mal, da er ganz in seinen eigenen Gedanken verloren gewesen war und somit überrascht wurde, riss Shaithis seine Hand zurück.
Kehrl Lugoz war zu betagt; undenkbar, sein Alter auch nur annähernd richtig zu schätzen. Die Wamphyri alterten, wenn sie denn alterten, so, dass dies nicht notwendigerweise offensichtlich wurde. Shaithis selbst war über fünfhundert Jahre alt, doch er sah nicht älter aus als ein gut erhaltener Fünfzigjähriger. Aber angesichts von Entbehrungen, wie jener hier sie erfahren hatte, gab es nichts mehr geheim zu halten. Lugoz sah wahrhaftig beinahe so alt aus wie die Zeit.
Die Augenbrauen über den geschlossenen, tief in die Höhlen gesunkenen, schräg gestellten Augen waren buschig, weiß, eingefasst in Eis wie sein gesamter Leib. Auch seine Haare waren weiß, ein Heiligenschein aus Schnee über einer verrunzelten, haselnussbraunen Stirn, deren weiße Strähnen sich wild gekräuselt zu schneckenmuschelförmigen Ohren hin ergossen und sie zur Hälfte verbargen. Sein uraltes Antlitz war nicht so sehr runzlig als vielmehr zerfurcht, mumifiziert wie das eines Trogs, der zu lange in seinem Kokon verblieben war und nun wie eine überreife Frucht verdarb. Die grauen Wangen waren eingefallen, das Kinn wirkte ausgeprägt; heller Bartflaum deutete sich darauf an. Augenzähne, so groß wie Fangzähne, überragten die welke Unterlippe; sie hatten eine gelbe Färbung angenommen, und einer davon war abgebrochen. In dem gefrorenen Vampir war nicht genügend Kraft verblieben, um einen neuen nachwachsen zu lassen.
Die Nüstern der flachen, gekräuselten Nase (die streng genommen viel eher einer Fledermausschnauze glich als dies bei den allermeisten Wamphyri üblich war), zeigten Spuren von Verfall: eine Krankheit, vermutete Shaithis. Und eine große, purpurne Geschwulst war zu sehen, die sich unter dem Kinn wölbte wie der aufgeblähte Kehllappen eines Sonnseiten-Vogels zur Paarungszeit.
Was Kehrl Lugoz’ Kleidung anbelangte: Er trug eine schlichte dunkle Robe, die Kapuze war zurückgeworfen; weite Ärmel umschlotterten die mageren Handgelenke, der Saum ruhte locker auf Hühnerwaden. Nur dass natürlich weder Ärmel noch Saum tatsächlich locker waren – nein, auch sie waren im Griff des Eises erstarrt und hart wie Stein. Lugoz’ Hände, die unter der Robe hervorragten, hatten auffallend langgliedrige Finger, und diese wiederum scharfe, spitze Nägel. Am rechten Zeigefinger trug er einen breiten goldenen Ring. Das Siegel vermochte Shaithis nicht auszumachen. Dickes Aderwerk stand weiß – anstatt olivfarben oder purpurn – auf seinem Handrücken hervor. Bevor diese Kreatur zu Eis erstarrt war, hatte sie einen langen, langen Weg ohne Blut zurückgelegt.
Wacht auf!, sandte Shaithis. Ich will Eure Geschichte hören, Eure Geheimnisse erfahren. In der Tat, denn mir will scheinen, Ihr seid Wamphyri-Geschichte! Jener Shaitan, von dem Ihr sprecht: Meint Ihr damit Shaitan den Ungeborenen? Er und seine Jünger wurden in der Dämmernis aller Legenden in die Eislande verbannt. Doch dass er immer noch hier sein soll? Wie? Nein, ich kann’s nicht glauben. Wacht auf, Kehrl Lugoz! Beantwortet meine Fragen.
Es kam keinerlei Reaktion; das alte Geschöpf im Eis war zu seinen Träumen zurückgekehrt; sein geschrumpftes Herz pochte weiterhin Schlag um Schlag, doch wollte es Shaithis so vorkommen, als geschehe dies inzwischen sehr viel langsamer. Lugoz lag im Sterben. Langlebigkeit, selbst der Scheintod, ist nicht Unsterblichkeit.
»Verdammt sollst du sein!«, spie Shaithis laut aus. Von den Eingeweiden der Eisburg hallte sein Fluch zu ihm zurück – gepaart mit anderen Echos? Er wartete, bis das Getuschel verklang und nur mehr das unheimliche Ächzen des Eiswindes verblieb, dann tastete er mit seiner Vampir-Wahrnehmung ringsumher. Befand sich noch jemand hier drinnen?
Nun, wenn dem so war, schirmte er seine Präsenz meisterhaft ab. Es sei denn ...
Plötzlich erinnerte Shaithis sich wieder an den Geflügelten, den er fressend allein zurückgelassen hatte! Falls irgendjemand ihn dort antreffen sollte ...
Sein Geist griff hinaus zu dem Hybriden, fand ihn nach wie vor reißend und schlingend und stieß eine weitere Verwünschung aus, dieses Mal jedoch im Stillen. Unmöglich, die Bestie jetzt in die Lüfte zu bringen! Doch ihn fortschicken von diesem Ort – das zumindest konnte er.
Weg mit dir!, befahl er. Schnell, schnell, ganz gleich wie – aber verschwinde! Nach Westen, einen Kilometer weit mindestens, und dort versteckst du dich. Egal wie, so gut du kannst. Sogleich fühlte er in seinem Verstand, wie die stumpfsinnige Kreatur sich in Bewegung setzte.
Befriedigt, dass der Geflügelte nun Distanz zwischen sich und Volses tote Kreatur brachte – und was oder wer auch immer in der Nähe umherschleichen mochte –, wandte Shaithis sich abermals dem ursprünglichen Problem zu. Beim ersten Mal war das alte Ding im Eis durch das Geklirr fallender Eistrümmer erwacht. So sei es!
Der Vampir-Lord begutachtete einen höher gelegenen Sims, ein Gebilde mit zahllosen Auswüchsen und Zacken, das einem binnen eines einzigen Herzschlags gefrorenen Wasserfall gleichkam. Einen der Zacken, gut eineinhalb Meter lang und zwanzig Zentimeter dick, riss er ab und trug ihn zu der eisumschlossenen Leibeshülle von Kehrl Lugoz. Der alte Dummkopf ließ sich mit mentalen Anstrengungen nicht mehr wachrütteln? Nun, dann würde man sehen, wie er auf gewisse physikalische Bemühungen reagierte – wenn diese gewaltige Klinge aus Eis nämlich auf seiner Umhüllung zerbarst.
Voll und ganz von diesem Tun in Anspruch genommen, versäumte Shaithis es, weiterhin darauf zu achten, ob jemand sich über die eisige Treppenflucht heimlich näherte. Er ›brüllte‹ die im Eis thronende Gestalt telepathisch an: KEHRL LUGOZ, WACHT AUF! Dann schwang er das gewaltige Trümmerstück, um es gegen das Antlitz von Lugoz’ Umhüllung zu schmettern. Doch den entscheidenden Hieb vermochte er nicht zu führen – etwas, das sich hinter ihm befand, hielt seine Waffe fest!
Mit einem Fauchen aus dem tiefsten Grund seiner rot gerippten Kehle, einem Zischen über die glitzernde, vibrierende Wölbung der gespaltenen Zunge hinweg – die Augen hervorquellend und karmesinrot – fuhr er herum; seine kaum mehr menschlichen Gesichtszüge zerflossen instinktiv vollends zu einer furchteinflößenden unmenschlichen Wolfsfratze. So stellte Shaithis sich der Gefahr; achtlos ließ er den Eiszacken fallen und griff nach seinem Kampfhandschuh. Im selben Moment fiel ihm eine ungeheure Pranke aufs Handgelenk und raubte ihm jede Bewegungsfreiheit. Hilflos musste Shaithis in die bösartigen, grauen Gesichter zweier Gefährten aus der Schlacht um den Garten des Herrn sehen: Fess Ferenc und Volse Pinescu! Doch nur kurz – dann hatte er die Hand zurück- und freigerissen und taumelte fort von ihnen. »Verdammt seien Eure Herzen!«, schnappte er keuchend. »Ihr beide habt es gelernt, die Verstohlenheit zu eurer zweiten Natur zu machen!«
»Wir haben noch eine ganze Menge mehr gelernt.« Volse Pinescu stieß diese Worte erstickt durch einen entsetzlich vereiterten Wundschorf hervor, der seine Lippen nahezu versiegelte und ihm so das Reden erschwerte. »Und nicht erst, seit die unbesiegbare Vampir-Armee des Shaithis mit Feuer und Tod zerschmettert und in alle Winde zerstreut, ihre Festungen zerstört und ihre Überlebenden wie geprügelte Köter in die zeitlosen Ödlande des Eises verbannt wurden!«
Volses vor Geschwüren strotzendes Gesicht färbte sich purpurn vor Zorn, während er einen schweren, drohenden Schritt auf Shaithis zu machte. Doch Ferenc war weniger kampfeslüstern. Mit seiner ungeheuren Größe und Stärke, seinen entsetzlichen Händen, hatte er es nicht nötig, sich in Rage zu reden. »Wir haben viel verloren, Shaithis«, grollte er. »Seit unserer Ankunft hier dämmert uns mehr und mehr, wie viel. Aye, denn dies ist ein kalter und einsamer Ort.«
»Kalt?«, donnerte Shaithis. »Was bedeutet einem Wamphyri schon Kälte? Ihr werdet Euch daran gewöhnen!«
Volses geballte Faust ruckte aggressiv nach vorn; auf der linken Seite seines Halses zerplatzten Eiterbeulen und versprühten ihren Inhalt übers Eis. »Oh?«, gurgelte er. »So, wie er sich daran gewöhnt hat, meint Ihr?« Sein abstoßender Schädel ruckte zu Kehrl Lugoz hin, der reglos wie ein Berg nicht mehr als neunzig undurchdringliche Zentimeter von ihnen entfernt hockte. »Er und all die anderen, die wir gefunden haben, eingekapselt in ihren widerhallenden Festungen aus Eis?«
»Andere?« Shaithis blickte verunsichert von Volse zum Ferenc und wieder zurück.
»Dutzende«, antwortete Fess Ferenc schlussendlich und nickte mit dem großen, ungeheuerlichen Kopf. »Alle im Griff des Eises, und alle fest an den einen Strohhalm geklammert – dass es nur zu warten gelte, bis ihre Zeit wiederkommt, bis ein magisches Tauwetter diese Ödnis heimsucht und sie alle freilässt in ein Land voller Leben. Oder bis der Tod kommt. Denn die Kälte dieses Ortes ist nicht wie jene von Starside, Shaithis. Hier dauert sie ewig an! Sich daran gewöhnen? Standhalten? – Wie sollen wir uns denn wärmen? Wie könnten wir unser inneres Feuer dagegen schüren? Jedes Feuer braucht Nahrung – Blut ist Leben! Und womit sollen wir uns ernähren, während wir uns daran gewöhnen? Blut kühlt ab, Shaithis, Tropfen um Tropfen, Stunde um Stunde. Gliedmaßen werden eisig kalt und steif, und selbst das kräftigste Herz schlägt langsam.«
Volse griff das auf: »Ihr fragt: Was bedeutet einem Wamphyri schon Kälte? Hah! Wie oft habt Ihr auf Starside schon die Kälte gekostet, Shaithis? Ich sag’s Euch: niemals! Die Hitze der Jagd hielt Euch warm, das lodernde Feuer der Schlacht, das heiße Salzblut der Trogs oder Traveller. Euer Bett war warm und einladend bei Sonnauf, genau wie die Brüste und Hinterteile jener starken, gesunden Frauen, die Euch ganz nach Belieben das Mark aus dem Stachel saugten. All das hat Euch warm gehalten. Hat uns alle warm gehalten! Und wir hatten einen Anführer, der zu uns sprach: Schließen wir uns zusammen und erobern wir den Garten des Herrn! Und nun, was hat uns dies gebracht?«
Shaithis sah auf den Ferenc. Dieser zuckte die Achseln und sagte: »Wir sind schon viel länger hier als Ihr. Es ist kalt, und uns wird immer kälter. Schlimmer noch: Wir haben Hunger ...« Nun war seine Stimme ein Knurren.
Volses Hand berührte den hässlichen Handschuh, der an seiner Hüfte baumelte ... zögernd ... vielleicht in Gedanken ... es konnte alles bedeuten. Und Shaithis wich zurück.
Indes der bedrohte Lord seinerseits blitzartig den Handschuh anlegte, die Finger darin spannte und gleißende Messer, Stacheln und geriffelte Schneiden offenbarte, hob Fess Ferenc eine Augenbraue und polterte: »Zwei gegen einen, Shaithis? Mögt Ihr’s wirklich gegen eine solche Übermacht?«
»Nicht besonders«, zischte er, »doch ich versichere Euch, dass Ihr mindestens genauso viel Blut verliert wie Ihr trinkt! Worin also liegt Euer Gewinn?«
Volse grunzte, würgte an gelbem Schleim und spie ihn aus. »Ich – sage – das – Ganze – wird’s wert sein!« Er duckte sich, und nun trug er ebenfalls seinen Handschuh.
Doch der Ferenc blieb entspannt; er trat beiseite, zuckte abermals die Achseln und sagte: »Kämpft also, ihr beiden, wenn ihr so versessen darauf seid. Ich für meinen Teil ziehe es vor, zu essen. Ein voller Magen ist weniger grimmig, und ein gut durchblutetes Gehirn eher imstande, gescheit zu planen.« Für einen Menschen mochte seine Lebensregel sich nicht ziemen, doch zu einem Wamphyri passte sie gewiss.
Volse, der nun einsehen musste, dass er alleine stand, überdachte dies noch einmal. »Hah!«, schnaubte er, diesmal an den Ferenc gewandt. »Mir will scheinen, dass Euer Verstand sehr wohl auch im hungrigen Zustand Pläne zu schmieden vermag, Fess! Denn falls wir kämpfen, Shaithis und ich, werdet Ihr den Verlierer leer schlürfen – und so dafür sorgen, dass Ihr stärker seid als der Gewinner!« Er zog den Handschuh aus. »Solch ein Dummkopf bin ich nicht!«
Der Ferenc kratzte sich an seinem energisch vorragenden Unterkiefer und grinste, wenn auch grimmig. »Seltsam, doch für genau solch einen Dummkopf habe ich Euch stets gehalten ...!«
Shaithis, immer noch auf der Hut, hängte den eigenen Handschuh nun ebenfalls an den Gürtel zurück; schließlich nahm er aus seiner Ledertasche ein purpurnes Herz von der Größe seiner Faust. »Hier, da Ihr so hungrig seid.« Damit warf er es ihm zu. Volse schnappte es sich; geifernde Kiefer schlossen sich darum. Doch der Ferenc schüttelte nur den Kopf.
»Rot und blutspritzend für mich«, sagte er. »Zumindest, solange ich es kriegen kann.«
Shaithis starrte ihn düster an und verengte argwöhnisch die Augen, als der Gigant kehrtmachte und die Eisstufen hinabzustapfen begann. »Was habt Ihr für einen Plan?«, stieß er hervor. »Wen wollt Ihr töten?«
»Nicht wen, sondern was, muss die Frage lauten«, antwortete ihm der Ferenc über die Schulter zurück. »Und ich werde das Es auch nicht töten, bloß ein wenig entleeren ... Man möchte meinen, das liegt auf der Hand.«
Shaithis und Volse eilten ihm rutschend und unsicheren Schrittes hinterdrein. »Was?«, fragte Volse mit vollem Mund. »Was liegt auf der Hand?«
Der Ferenc blickte zu ihm zurück. »Was habt Ihr denn verzehrt, nachdem Euer zu Tode erschöpfter Flügler hier abgestürzt ist?«, sagte er.
»Ah-hah!« Volse spie Brocken kalten, dunklen Fleisches aus.
»Was?« Shaithis packte die mächtige Schulter des Ferenc’. »Redet Ihr von meinem Geflügelten? Wollt Ihr, dass auch ich für alle Zeiten hier gestrandet bin?«
Der Ferenc zögerte nur kurz, wandte sich um – und sah ihm geradewegs in die Augen. Zwei Stufen tiefer als Shaithis, und dennoch sah der Gigant ihm in die Augen. »Und warum nicht?«, erwiderte er. »Oder kommt es nur mir allein so vor, als wärt Ihr der Grund, weshalb wir alle hier gestrandet sind?«
»Nein!«, herrschte Shaithis ihn an und ruckte abermals nach seinem Handschuh – und der Ferenc schlug zu und wischte ihn von den Stufen!
Shaithis stürzte. Zu erschöpft und entkräftet, um die Verwandlung in ein Luftgeschöpf zu vollbringen, blieb ihm nichts, als die Zähne zusammenzubeißen und darauf zu warten, dass die Schwerkraft ihr Schlimmstes bewirkte. Auf dem Weg in die Tiefe schlug er mehrmals gegen Eissimse und erlitt doch keine ernsthafte Verletzung – bis er schließlich ganz unten schmetternd auf Schulter und Brust aufkam ... im Schnee! In gnadenvollem Schnee!
Durch eines der gewölbten Eisfenster musste er hereingetrieben sein; die Verwehung, obgleich mit einer dicken Eiskruste überzogen, mochte gut und gern einen Meter zwanzig tief sein. Shaithis krachte hinein, hörte das Knirschen und Knacken des Eises, spürte, wie der Schnee unter seinem Gewicht zusammengedrückt wurde, verrenkte sich die rechte Schulter – und erst kürzlich verheilte Rippen zersplitterten erneut. Dann lag er still in seiner Pein und verfluchte Fess Ferenc aus den tiefsten Tiefen seines schwarzen Herzens!
Meinetwegen verflucht mich, ganz wie’s Euch beliebt, Shaithis. Der Ferenc hatte ihn gehört. Doch ich bezweifle nicht, dass Ihr Euch eines Besseren besinnt. Natürlich werdet Ihr das, denn es hieß: Ihr oder Euer Flügler. Volse hätte zweifellos Euch gewählt, denn es lebt ein Vampir in Euch! Ah, die Essenz an sich! Doch ich persönlich halte es für besser, wenn Ihr lebt. Zumindest noch eine kleine Weile.
Shaithis erhob sich, wankte von dannen und hielt Ausschau nach einem Ort, an dem er sich verstecken konnte. Er gestattete dem Schmerz, über ihn hinwegzuwogen; wohl überlegt beschwor er zudem noch die Todesqualen des Absturzes auf Starside herauf, durch den ihm Körper und Gesicht zerschmettert worden waren, und jene des Kampfes mit den Bären. Sie alle fügte er der Pein des Aufpralls hinzu. Und so ließ er den falschen Eindruck, ernsthaft verletzt zu sein, aus sich herausströmen, damit die Vampirsinne der anderen ihn aufschnappten. Volse mochte dies gewiss dankbar zur Kenntnis nehmen – falls er es überhaupt wahrnahm, was Shaithis bezweifelte. Der Eiterfreund war fast so stumpfsinnig wie ein Hybride und viel zu sehr darauf versessen, seine Abszesse und Beulen zu erzeugen.
Was? Der Ferenc schien überrascht, indes auch gleichgültig. So viel Schmerz? Seid Ihr mit dem Gesicht zuerst gelandet, Shaithis? Dem ließ er ein bitteres mentales Glucksen folgen. Nun, jetzt wisst Ihr, wie ich mich die ganze Zeit gefühlt habe, denn der Anblick Eures Gesichts wusste mir stets Schmerzen ohne Ende zuzufügen!
Shaithis vermochte sich nicht zu zügeln: Aye, lacht lang und laut, Fess Ferenc! Aber denkt dran: Wer zuletzt lacht ...
Ferencs Gekicher verstummte, und Shaithis hörte ihn sagen: Also doch nicht allzu ernstlich verletzt, was? Ein Jammer. Oder vielleicht doch nur heldenhaftes Getue, um das Gesicht zu wahren? Wie auch immer, eine Warnung halte ich für angemessen: Kommt mir nicht in die Quere, Shaithis. Wenn Ihr auch nur daran denkt, Euren Flügler zur Flucht anzuspornen – vergesst es. Denn wenn wir ihn nicht aufspüren, dann, seid versichert, werden wir um Euretwillen zurückkommen. Befehlt der Kreatur, uns anzugreifen, am Ende werden wir doch triumphieren. Denn wie Ihr wohl wisst, geben Flügler armselige Krieger ab, und unsere Gedanken werden ihn wie Pfeile durchbohren. Und dann werden wir um Euretwillen zurückkommen! – Lasst also alles seiner Wege gehen und erhebt keinen Protest ... und Ihr werdet ein wenig Zeit gewinnen. Denn letzten Endes werdet auch Ihr wissen, wohin Ihr Euch zu wenden habt, wenn Euch der Hunger plagt. Und solange Euer Geschöpf vorhält – vorausgesetzt, wir sind nicht in der Nähe, wenn Ihr zur Nahrungsstätte kommt ... exakt so lange soll auch Euer Leben andauern, Shaithis von den Wamphyri.
Im Labyrinth der Eisburg fand Shaithis einen tiefen, schützenden Spalt und verkroch sich darin. Er hüllte sich in seinen Mantel und dämpfte seine pulsierende vampirische Aura, so gut es ging. Nun musste er sich Zeit nehmen, bis er wiederhergestellt war. Vielleicht würde er schlafen und so seine Energien bewahren. Und wenn er erwachte, konnte er gewiss sein, ein letztes, kleineres Bärenherz vorzufinden. Wenn er seine Gedanken nur gut genug abschirmte und seine Träume ebenfalls, würden Volse Pinescu und Fess Ferenc ihn nicht finden.
Doch zuerst galt es noch etwas in Erfahrung zu bringen. Warum, Fess?, sandte er eine letzte telepathische Frage aus. Es wäre Euch ein Leichtes gewesen, mich zu töten, doch Ihr habt mich leben lassen. Und gewiss nicht aus Herzensgüte. Warum also?
Auf halbem Weg die Eisstufen hinab verzog der Ferenc den Mund zu einem breiten Lächeln. Ihr seid stets ein Denker gewesen, Shaithis, antwortete er. Aye, und ein gerissener dazu. Oh, Ihr habt Fehler begangen, gewiss, doch nur wer die Hände in den Schoß legt, macht keine Fehler. Ich sehe die Sache so: Wenn es einen Ausweg von hier gibt, dann werdet Ihr ihn finden. Und wenn Ihr ihn findet, werde ich dicht hinter Euch sein.
Und wenn nicht?
Der Ferenc übermittelte eine mentale Entsprechung seines Achselzuckens. Blut ist Blut, Shaithis. Und das Eurige ist edel und kostbar. Lasst Euch eines ganz deutlich gesagt sein: Wenn das Eis unser Schicksal ist, wenn unser aller Weg hier endet ... dann werde zu guter Letzt ich derjenige sein, der, von Frost umhüllt, auf das Große Tauwetter wartet. Fess Ferenc und kein anderer. Und ich werde meinem Schicksal keinesfalls hungrig entgegengehen ...
Zwei verbannte Wamphyri-Lords – grotesk und gewaltig der eine, gewaltig grotesk der andere – verließen die glitzernde Eisburg, kosteten die bittere Luft, nahmen die Witterung von Shaithis’ todgeweihter Bestie auf und folgten dieser ätherischen Spur.
Fleisch war üblicherweise nicht die Kost des Geflügelten; seine Mahlzeiten bestanden aus zermahlenen Knochen, dem Gras von Sunside, Honig und anderen süßen Flüssigkeiten – und ein wenig Blut. Da er jedoch selbst aus metamorphem Fleisch bestand, war er imstande, nahezu alles Organische zu sich zu nehmen. So hatte er die Gelegenheit genutzt und das gefrorene Fleisch des anderen Geflügelten in sich hineingeschlungen und musste nun – aufgebläht – ruhen, bis die Nahrung verdaut war. Natürlich fand er sich nicht mehr dort, wo die ehemaligen Lords ihn zum ersten Mal erspäht hatten, neben dem zerfressenen Kadaver von Volses Flügler, sondern gut achthundert Meter westlich davon; dort hatte er, wie von Shaithis befohlen, im Windschatten eines großen Eisblocks Schutz gesucht.
Nun bildete das behäbige, stumpfsinnige Wesen in seinen Flanken große Glotzaugen aus und stierte, während sein rautenförmiger Schädel sachte hin und her pendelte, dem Ferenc und Volse Pinescu entgegen, die sich ihm näherten. Nässende Augen unter schweren Lidern ›sahen‹, was geschah, das Gehirn jedoch vermochte dies kaum zu verarbeiten. Solange dem Geflügelten nicht der Befehl zu handeln erteilt wurde, und dies von seinem rechtmäßigen Meister, Shaithis persönlich, würde er überhaupt nichts tun, nicht einmal denken. Oh, bis zu einem gewissen Grad mochte er danach trachten, sich selbst zu schützen, jedoch niemals dergestalt, dass er dabei einem Wamphyri ein Leid zufügte. Denn die Stacheln konzentrierter Vampir-Telepathie verletzten solche Kreaturen so nachhaltig und entsetzlich wie Wurfspieße und hatten sie noch jedes Mal binnen eines Lidschlags zur Unterwerfung gezwungen. Dies hatte zur Folge, dass der Flügler, auch wenn er weder Fess noch Volse irgendwohin fliegen würde, doch zumindest ruhig liegen blieb. Selbst, als sie ihm den warmen Bauch aufschlitzten, die großen Arterien durchtrennten und sich gierig saugend an seinem Blut labten.
In seinem Felsspalt in der Burg aus Eis ›vernahm‹ Shaithis das erste qualvolle mentale Aufplärren der gigantischen Kreatur und war versucht, ihr entsprechende Befehle zu erteilen: Roll dich zusammen, zermalm diese Männer, die dich plagen! Spring auf und lass dich auf sie niederfallen! Nach wie vor, selbst aus dieser Entfernung, vermochte er solche Kommandos zu übermitteln und wusste, der Geflügelte würde augenblicklich, instinktiv, Folge leisten. Doch ebenso wusste er, dass, sollte die Bestie die Lords im ersten Ansturm nur verletzen, sie ihnen letztlich niemals mehr den Todesstoß versetzen könnte. Und natürlich erinnerte er sich an Ferencs Warnung. Den Flügler auf sie zu hetzen (und keine Garantien zu haben, dass er sie ganz und gar unschädlich machte), hieße, sich selbst in unmittelbare Gefahr zu bringen. Weshalb er nun zwar mit den Zähnen knirschte, sich ansonsten jedoch still verhielt und nichts unternahm.
Dennoch hielt Shaithis es für eine elementare Verschwendung: Die gute Reit-Kreatur als Nahrung zu verwenden! Insbesondere, da Volses Flügler – buchstäblich zwei Tonnen exzellenten, wenn auch nicht besonders appetitlichen Fleisches – bereits dasselbe Schicksal erlitten hatte und nun gefroren und damit dem Verfall entrissen dort draußen lag ... Und somit für lange Zeit noch als Nahrungslieferant hätte dienen können. Plötzlich wurde Shaithis klar, dass mehr als bloßer Hunger dahinter steckte; der Ferenc führte mehr im Schilde, als sich nur den Wanst voll zu schlagen!
Natürlich würde der Hybride nach dieser ersten gefräßigen ›Heimsuchung‹ seitens Fess’ und Volses so ermattet darniederliegen, dass jede weitere Luftreise außer Frage stand; was bedeutete, dass Shaithis nun genau wie die anderen an diesen verdammten Ort gekettet war. Dies mochte Ferencs Art darstellen, ihm sein Versagen in der Schlacht um den Garten des Herrn heimzuzahlen – doch in der Hauptsache musste es um etwas völlig anderes gehen.
Denn Tatsache war und blieb, dass Shaithis wahrhaftig der große Denker gewesen war, mit einer solch genialen Leistungsfähigkeit, wenn es darum ging, Pläne zu schmieden, dass ihn dies abgesondert und weit über jeden anderen seiner Art gestellt hatte – der allumfassend verschlagenen Wamphyri. Wenn es jemandem gelingen mochte, einen Weg aus den Eislanden zu finden, dann nur Shaithis. Eine solche Flucht wiederum würde Fess Ferenc zugute kommen, indem er sich, wie angekündigt, einfach an seine Fersen heftete. Das allein war der Grund, weshalb er Shaithis geschont hatte; damit Shaithis sich aufs Überleben konzentrieren konnte, zum Vorteil aller Verbannten.
Wobei ›alle‹ in diesem Fall natürlich insbesondere Fess Ferenc bedeutete; denn vorausgesetzt, es kam nicht im letzten Moment noch zu einem wahrhaft großen und unvorhergesehenen Meinungsumschwung, so hegte Shaithis keinen Zweifel, dass schließlich auch der ganz und gar widerwärtige Volse Pinescu den Weg allen Fleisches gehen musste. Was zu der Frage führte, warum der Ferenc Volses Gesellschaft überhaupt so lange geduldet hatte. Vielleicht war ihm einfach der Gedanke unerträglich gewesen, dieses Eiterding fressen zu müssen! Shaithis gestattete sich ein, wenngleich schmerzliches und bitteres Grinsen, bevor er sich ein weiteres Mal daranmachte, der Frage nach Volses Überleben nachzuspüren. Er dachte an die Einsamkeit dieser eisigen Ödnis, die er bereits überdeutlich als drückende Last empfand, und die daraus resultierende Langeweile. Konnte es sein, dass der gewaltige Fess die Gesellschaft eines anderen benötigte?
Nur, dass dieser Ort so absolut tot und bar jeder nennenswerten Intelligenz war – davon war er noch immer nicht überzeugt. Selbst hier, in seiner Eisnische, während er seine Gedanken allesamt aufs Beste abgeschirmt hielt, selbst hier vermittelte ihm sein vampirisches Wesen das prickelnde Gefühl, den Verdacht, dass ... jemand ihn in seiner Drangsal belauerte? Möglicherweise. Doch etwas zu wissen oder zu vermuten, war eine Sache, es unter Beweis zu stellen eine ganz andere.
Weshalb er nun zu schlafen gedachte. Mochte sein Vampir ihn derweil heilen, sodass er seine Aufmerksamkeit später mit Leib und Seele dem Überleben widmen konnte ... Ganz zu schweigen von jener kleinen Angelegenheit, die man Rache nannte.
Indem Shaithis seinen Geist noch intensiver abschottete, ließ er sich nieder und spürte zum ersten Mal die Kälte, und zwar körperlich, wie sie an ihm zu nagen begann. Nun war ihm klar, dass der Ferenc und Volse Pinescu die Wahrheit gesagt hatten; selbst Wamphyri-Fleisch musste einem solchen Eisesschauer schließlich erliegen. Dies konnte er nicht in Abrede stellen, nicht angesichts eines Beweises wie Kehrl Lugoz.
In dem Moment, als Shaithis sich anschickte, das rechte Auge zu schließen (nur das rechte, das linke würde offen bleiben, selbst im Schlaf), schwebte ihm etwas Kleines, Weiches, Weißes für die Dauer eines hastigen Atemzugs geradewegs vors Gesicht – und sauste schnell wie ein Blitz unter winzigem, nahezu unhörbarem schnatterndem Geschrei in die höheren, verborgenen Bereiche dieses Ortes davon. Jedoch nicht schnell genug, als dass Shaithis es nicht erkannt hätte. Blassrot waren sie gewesen, die Augen dieses winzigen Flatterers, die Schwingen kaum mehr als Hautmembranen; verdreht und gleichfalls blassrosa die Schnauze. Eine zwergenhafte Albino-Fledermaus – das brachte Shaithis auf eine Idee.
Mittlerweile mochten Volse Pinescu und der Ferenc völlig in ihr Mahl vertieft sein, vermutlich trunken von der eigenen Unersättlichkeit. Shaithis riskierte es, seinen Geist von neuem zu öffnen. Er griff hinaus und rief die Fledermäuse dieser Burg aus Eis, und schließlich kamen sie zu ihm. Ängstlich zuerst, doch dann ließen sich Einzelne bereits auf ihm nieder – und mehr, immer mehr. Zuletzt begruben sie ihn nahezu unter einer wimmelnden, schneeweichen Decke. Eine ganze Kolonie dieser Kreaturen fand sich ein und versammelte sich in Shaithis’ Refugium.
Gewärmt von ihren kleinen Körpern schlief er ein.
Die Lakaien-Fledermäuse von Shaitan dem Ungeborenen (manche nannten ihn auch den Gefallenen) wärmten Shaithis nicht nur, während er schlief, sondern beobachteten ihn auch, wie sie es seit seiner Ankunft getan hatten. Auch Fess Ferenc und Volse Pinescu waren von ihnen ausspioniert worden; desgleichen Arkis Leprasohn sowie dessen Sklaven (die er beide binnen einer Zeitspanne von nur zwei Aurora-Morgenröten leer gesaugt und als blutleere Kadaver in einem Gletscher-Kältelager verborgen hatte), wie auch zwei von Menor Malmzahns Stellvertretern, die sich nach der Schlacht um den Garten und Menors Tod so jählings von der Leibeigenschaft erlöst sahen. Sie alle hatten auf ganz eigenen, verschlungenen Wegen hierher gefunden, doch nachdem sie einmal hier weilten, war selbst ihr allergeringstes Tun von den winzigen Albinos getreulich erfasst und ihrem uralten Meister, Shaitan, berichtet worden.
Die beiden zuletzt erwähnten, von Menor zu Vampiren gemachten ehemaligen Traveller waren die Ersten einer ganzen Reihe neuer Exilanten gewesen, die es hierher verschlagen hatte. Sie hatten den besten Flügler ihres toten Meisters bis zur völligen Erschöpfung angetrieben, und schließlich war er keuchend und ausgedörrt einfach mit ihnen vom Himmel und ins Salzmeer am äußersten Saum der Eisöde gestürzt. Seine Reiter hatten es überlebt und die nächsten fünfzig Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Und den Rauch bemerkt, den Shaitan wohl überlegt durch seinen Kamin hatte aufsteigen lassen. Wie besessen schleppten sie sich darauf zu und hofften auf einen warmen Ort. Wie sich herausstellte, war er in der Tat warm genug. Schon bald drehten sie sich langsam an beinernen Haken, die von der niederen Decke eines uralten Lava-Luftlochs in der Westflanke des Vulkans hingen: Shaitans frostiger Speisekammer.
Die Stellvertreter waren leichte Beute gewesen, sie hatten keine Vampire in sich getragen; ihr Verstand und Fleisch waren verwandelt worden, aber Wamphyri waren sie deshalb noch lange nicht. Hundert Jahre mehr an Lebenserfahrung, und sie wären möglicherweise schwerer zu schnappen gewesen. Doch ihre Zeit war abgelaufen – hier und jetzt, zusammen mit all ihrem reichhaltigen roten Blut.
Was die vier Wamphyri-Lords anbelangte, war Shaitan weit argwöhnischer. Sollten sie zuerst gegeneinander kämpfen und sich verschleißen! Das schien ihm nur vernünftig. In seiner Jugend (an die Shaitan sich kaum erinnerte), ah, da wäre es anders gewesen! Da hätte er mit ihnen allen und noch vieren mehr die Klingen gekreuzt. Dreitausendfünfhundert Jahre allerdings sind eine lange Zeit, und die Zeit fordert ihren Tribut stets von mehr als nur der Erinnerung. In der Tat von nahezu allem. Nun war er ... müde? Zugegeben, selbst sein Vampir war müde! Und der war der bei weitem größte Teil von ihm.
Nicht kränklich, schwach oder todmüde – nur ... müde. Der unerbittlichen Kälte müde, die zeitweise sogar durch das Vulkangestein geradewegs ins Herz des Berges zu kriechen schien, selbst in die tiefen Luftlöcher und Kavernen in seinem Fundament; der endlosen, dumpfen Routine seiner Existenz; schlicht und einfach der Eintönigkeit und Leere des Daseins in diesen ewigen, zeitlosen Eiswüsten.
Aber keinesfalls seines Lebens müde. Noch nicht ganz.
Gewiss nicht in jenem Maße, dass Shaitan seine Anwesenheit jemandem wie Fess, Volse, Shaithis und Arkis Leprasohn verkünden würde! Nein, denn richtig bedacht, gab es viele bessere Arten zu sterben. Und nun, da die Verbannten hier waren, mochte es auch mehr und bessere Gründe geben, am Leben zu bleiben.
Insbesondere dieser ›Shaithis‹.
In der Tat, mit einem solchen Namen mochte er sich gar als Verwirklichung – als Verkörperung? – einer gänzlich neuen Existenz erweisen. Die Letzte war nur ein Traum Shaitans, das stimmte schon. Aber auch im Verlauf so vieler Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte war er nicht verblasst. Indes sich alles andere grau verfärbt hatte, erstrahlte sein Traum hell und klar wie ehedem. Und rot.
Ein Traum von Jugend und erneuerter Lebenskraft, von siegreicher Rückkehr nach Starside und Sunside und davon, sie allesamt zu verheeren und sodann die Invasion der jenseitigen Welten voranzutreiben. Aye, dachte Shaitan und spürte eine neue Kampfeslüsternheit die morschen Muskeln und Sehnen spannen. Dieser sein Glaube, seine instinktive Überzeugung, dass es solche Welten gab, hatte ihn in all den monotonen Jahrhunderten des Exils aufrecht erhalten, war ihm Sinngeber und Ziel gewesen.
Doch während der Traum jung und strahlend blieb, war der Träumende alt geworden und ein wenig matt. Nicht im Geiste, doch was den Leib anging. Die menschlichen Teile Shaitans waren nach und nach verrottet und von nichtmenschlichem Zell- und Muskelgewebe ersetzt worden, die Metamorphose seines Vampirs hatte die Verderbnis des Wirtskörpers bei Weitem übertroffen, bis der Menschen-Teil nun beinahe zur Gänze verschwunden und allein Reste vom ursprünglichen Fleisch, den ursprünglichen Organen und deren Beiwerk übrig geblieben war. Der miteinander verschmolzene Verstand von Mensch und Vampir allerdings war sehr wohl erhalten; auch wenn ein großer Teil als vergessen gelten mochte, war die Anhäufung jener Bewusstseinsinhalte, sein Wissen, unermesslich. Und VERDERBT.
Shaitans VERDERBTHEIT gründete im Bodenlosen, und doch war er nicht verrückt. Denn Intelligenz und Verderbtheit sind keinesfalls unvereinbar. In der Tat ergänzen sie einander. Der Mörder braucht Verstand, um ein kluges Alibi zu konstruieren. Ein Idiot vermag niemals eine Atombombe zu bauen.
Die Verderbtheit, das Böse, ist die perverse Zurückweisung von Rechtschaffenheit, und Shaitan verkörperte sie absolut. Er war das BÖSE an sich, und als solches mochte er das ganze Universum in Brand setzen, sodann der ausgeglühten Schlacken ansichtig sein und sie gut finden! Er war Dunkelheit, die Umkehrung von Licht; man hätte ihn auch das Urdunkel nennen können, welches sich dem ersten Licht widersetzte. Das war auch der Grund, weshalb selbst die Wamphyri ihn verbannt hatten. Doch er wusste, ohne zu wissen, warum er es wusste, dass seine Verbannung schon lange davor ausgesprochen worden war.
Verbannt ... von der Rechtschaffenheit? Von einem wohltätigen Gott? Shaithan hielt zwar nicht viel von einem der Erkenntnis entzogenen Konzept, doch konnte er sich einen solchen durchaus vorstellen. Denn wie mochte das BÖSE existieren ohne das GUTE? Doch einstweilen ...
... fegte er derartige Gedanken beiseite. Er hatte sie lange genug gedacht. Dreieinhalb Jahrtausende sind Zeit genug, über mancherlei Dinge nachzusinnen, von den entlegensten trivialen bis hin zu den unendlich tiefgründigen. Für den Moment war sein Ursprung nicht wichtig, sein Schicksal jedoch sehr wohl. Und sein Schicksal mochte durchaus eng mit demjenigen dieses Mannes verknüpft sein, mit dem Los dieses Wesens namens Shaithis.
In den Alten Zeiten hatten die Wamphyri ihren ›Söhnen‹ auch ihren Namen gegeben. Blutsöhne, Empfänger oder Erben des Eies, gewöhnliche Vampire – sie alle hatten den Namen ihres jeweiligen Vorfahren angenommen. Dieser Brauch hatte sich verändert – doch wurde er niemals völlig aufgegeben. Arkis Leprasohn war empfangender Sohn seines leprösen Vaters Radu Arkis, genannt ›Arkis der Aussätzige‹. Weshalb sein ›Sohn‹ – ein Traveller-Statthalter, dem vor über einem Jahrhundert vor Radus scharlachroten Augen Gnade und Gunst zuteil wurden – nun Arkis Leprasohn hieß. Er trug Radus Ei.
Ähnlich verhielt es sich bei Fess Ferenc: Er war der Blutsohn – der von einer Frau geborene Sohn – des Ion Ferenc; die Traveller-Mutter starb bei der Geburt des Giganten, und seine Größe beeindruckte den Vater so sehr, dass er ihn leben ließ. Das erwies sich als großer Fehler; denn als Fess herangewachsen war, tötete er Ion, öffnete sodann dessen Leib, raubte das Vampir-Ei und verschlang es gierig. Damit stellte er ein für alle Mal sicher, dass Ion es nicht einem anderen übertragen konnte, wodurch seine Feste auf Starside ›natürlich‹ an Fess gehen musste.
Seinerzeit hatte Shaithan auf die unterschiedlichsten Arten für Nachkommen gesorgt. Doch sein Ei war an Shaithar Shaitansohn gegangen, der seinerseits wiederum Vater von Vampiren geworden war. Die Kinder aus Shaitans eigener Blutlinie hatten sich Shaithos, Shailar der Gepeinigte, Shaithag und so weiter genannt. Unter Shaithar Shaitansohns Brut dagegen war einer namens Shailar der Widerliche zu finden und möglicherweise andere mit ähnlich klingenden Namen. Sie waren allesamt von dem einen, ursprünglichen hergeleitet. All dies geschah vor Shaitans Verbannung.
Führte es also zu weit, wenn er sich fragte ... War es zu unwahrscheinlich, dass dreitausend Jahre später dieser eine, dieser Shaithis, nun gerade auftauchte, verbannt wie vor ihm sein Vorfahr? Shaitan dachte: Nein. Aber ein direkter Abkömmling? Das Blut ist das Leben, und Blut allein würde die Antwort geben.
Bemächtigt euch seines Blutes, befahl Shaitan deshalb den Winzigsten, die seinem Gebot unterlagen. Nur einer von euch. Ein Schlückchen nur, ein allerwinzigstes Nippen. Nimm es und bring es mir. Mehr sagte er nicht.
Und in jenem Spalt im Eis, der ihm als Versteck diente, spürte Shaithis kaum die Zähne, die sich ihm spitz wie Angelhaken ins Ohrläppchen bohrten und sein Blut raubten. Schwach war er sich lediglich eines Geflatters winziger Schwingen bewusst, das sich von ihm entfernte – hinaus ins frostige Labyrinth der Burg und weiter, fort aus diesem erstaunlichen Gebilde und hinein in die sternenklare Nacht der Welt.
Kurz darauf stieß der Albino bereits hinab ins Innerste des fast erloschenen zentralen Vulkankegels auf Shaitans schwefelgelbe Wohnstatt zu; dort angekommen, verharrte er schwebend und erwartete weitere Befehle.
Aus dem Dunkel einer Ecke wisperte es: Komm, kleiner Verbündeter. Ich werde dich nicht zerquetschen.
Die winzige Kreatur flog hin zu ihrem Meister Shaitan, faltete die Schwingen und klammerte sich an seine ... Hand? Speichel und Schleim wurden hochgewürgt in etwas, was als Handfläche gelten mochte, darunter ein kleiner, heller Spritzer rubinroten Blutes. Gut!, lobte Shaitan. Und jetzt – geh. Dienstbeflissen wirbelte die Fledermaus von ihrem Meister fort und überließ ihn sich selbst.
Fasziniert bedachte Shaitan das Rubintröpfchen mit einem langen, langen Blick. Es war Blut, und das Blut ist das Leben. Ungeduldig harrte er dessen, was nun geschehen musste: dass das Fleisch seiner Hand sich zu einem winzigen Maul auftat und das Tröpfchen verschlang – eine Selbstverständlichkeit, aus scheußlichem Instinkt geboren, als deren Folge er jedoch wissen würde, ob dies lediglich der Lebenssaft eines normalen Mannes war. Doch auf dieses Resultat wartete er vergebens, denn wie er selbst war auch Shaithis außergewöhnlich. Genau wie er selbst.
»Er gehört zu den meinen!«, sagte Shaitan schließlich in einem krächzenden, entzückten Gewisper. »Fleisch von meinem Fleisch!«
Daraufhin erbebte das Tröpfchen und sickerte durch die bleiche Haut wie durch einen Schwamm in ihn ein.