ERSTES KAPITEL

Für jemanden, der beim E-Dezernat arbeitete, zählten schlechte Träume zum Berufsrisiko. Jeder nahm es hin, dass die Arbeit Albträume mit sich brachte. Ben Trask, der derzeitige Chef des Dezernats, hatte schon immer schlecht geträumt. Seit der Sache mit Yulian Bodescu vor zwölf Jahren hatte sich das noch gesteigert; und gerade mal die Hälfte dieser Albträume hatte er, während er schlief. Das war die harmlose Sorte; denn sie flößten einem zwar furchtbare Angst ein, konnten einen aber nicht umbringen. Ihren Ursprung hatten sie in den Albträumen der anderen Art – denjenigen, die er im Wachzustand durchlebte, und die waren ganz anders. Mitunter konnten sie einen durchaus töten – oder Schlimmeres; denn sie waren Wirklichkeit.

Der Traum, in dem er gerade gefangen war, war eher unheimlich als schlimm, und umso unheimlicher, als Trask hellwach war, nachdem er in einer regnerischen Nacht, noch ehe der Morgen graute, und ohne überhaupt zu wissen, warum, in die Londoner Innenstadt gefahren war und seinen Wagen gegenüber der Zentrale des E-Dezernats geparkt hatte. Dabei war Trask normalerweise sehr eigen, was solche Dinge anging; schließlich wusste er schon ganz gern, was er tat.

Es war ein Sonntag Mitte Februar 1990, einer jener seltenen Tage, an denen Trask sich von seiner Arbeit frei machen und abschalten, oder besser: sich einklinken konnte, und zwar ins normale Leben, das es außerhalb des Dezernats noch gab. Zumindest hätte es ein solcher Tag werden sollen. Doch nun befand er sich hier, vor der Zentrale inmitten der schlafenden Stadt, und vor seinem geistigen Auge spielte sich dieser merkwürdige Traum ab, der einfach nicht weichen wollte, ein Tagtraum, der ihm immer wieder die gleiche Szene zeigte, so als würde jemand die flimmernden Bilder eines alten Schwarzweißfilms auf ein Fenster projizieren, sodass er durch sie hindurchsehen konnte – ein Geisterfilm.

Wenn er heftig blinzelte, verschwanden die Bilder, wenn auch nur für Augenblicke, und sobald er sich entspannte, kehrten sie wieder zurück.

Ein schwelender Leichnam mit ausgebreiteten, vom Feuer geschwärzten Armen, den noch rauchenden Kopf wie im Todeskampf zurückgeworfen, stürzte, sich ständig überschlagend, in einen dunklen, von dünnen, leuchtend blauen, grünen und roten Lichtstrahlen oder -fäden durchzogenen Abgrund.

Es handelte sich um eine gequälte Kreatur, ja, doch jetzt war sie ihren Qualen erlegen und litt nicht mehr. Unbekannt und unkenntlich, nicht zu verstehen wie der ganze unheimliche Wachtraum, dem sie entstammte. Und doch kam Trask die Gestalt auf makabre Weise vertraut vor. Während er sie betrachtete, wurde er ganz grau im Gesicht und seine Lippen zogen sich in einem lautlosen Knurren von den kräftigen, leicht gelben Zähnen zurück. Wenn die Leiche nur einen Moment innehalten würde, damit er sie besser sehen und einen genaueren Blick auf das blasenübersäte, in einem stummen Schrei erstarrte Gesicht werfen könnte ...

Trask stieg aus dem Wagen und geriet in einen plötzlichen Guss bleierner Regentropfen, als hätte ein Unsichtbarer die Hände ins Wasser getaucht, um es ihm ins Gesicht zu schütteln. Fluchend schlug er den Mantelkragen hoch und schaute hinüber zu dem Gebäude auf der anderen Straßenseite. Dabei reckte er den Hals und spähte hinauf zu den hoch gelegenen Fenstern des E-Dezernats. Er rechnete damit, da oben ein Licht zu sehen – nur eins im mittleren Fenster des oberen Stockwerks, dessen gesamte Länge das Dezernat einnahm. Es brannte in dem Raum, in dem der Beamte vom Dienst seine einsame Nachtwache verbrachte. Nun, er sah das Licht des diensthabenden Beamten, das stimmte schon, dazu kamen allerdings noch drei oder vier weitere, die er nicht erwartet hatte. Er sah jedoch mehr als nur die Lichter, denn auch der Regen vermochte die gequälte, unablässig vor seinem inneren Auge dahinstürzende Gestalt nicht wegzuwaschen.

Trask war klar, dass eine solche Erfahrung ihm, wäre er ein anderer gewesen und nicht der Leiter eines ultrageheimen, in mehr als nur einer Hinsicht esoterischen Sicherheitsdienstes, eine Heidenangst eingejagt hätte. Ihm hatten jedoch, nun ja, Experten bereits jede Menge Angst eingejagt. Sonst müsste er wahrscheinlich annehmen, er sei dabei durchzudrehen. Aber das E-Dezernat war nun einmal ... eben das E-Dezernat. Was er da gerade erlebte, musste wohl so etwas wie Einbildung sein. Ja, das war es, denn eine physikalische Erklärung gab es dafür nicht. Oder vielleicht doch?

Eine Halluzination? Hm, schon möglich. Es war nicht auszuschließen, dass sich jemand an ihn herangemacht, ihn mit Drogen vollgepumpt und ihm eine Gehirnwäsche verpasst hatte ... Aber wozu? Weshalb sollten sie ihn mitten in der Nacht hierher bringen? Und weshalb noch diese anderen Leute? Er dachte an die überzähligen Lichter dort oben, an den glänzend schwarzen MG Metro, der gerade am Straßenrand hielt, und den Mann auf der anderen Straßenseite – mit Sicherheit einer seiner Agenten – der durch den Regen auf den Hintereingang des E-Dezernats zurannte. Was hatten sie alle hier zu suchen?

»Sir?« Eine junge Frau mühte sich steif und unbeholfen aus dem Metro. Es handelte sich um Anna Marie English, eine ESPerin des Dezernats. Sie hieß zwar English, war aber alles andere als eine englische oder sonst wie geartete Rose. Sie wirkte abgehetzt, blass und fade, ohne jeden Schick, eine herrenlose Katze, die der Regen durchnässte. Es lag an ihrem Talent. Das wusste Trask, und sie tat ihm leid. Sie war »ökologisch bewusst« beziehungsweise, wie sie selbst es für gewöhnlich darstellte, »eins mit der Erde«. Wenn irgendwo der Grundwasserspiegel sank und eine Wüste sich ausbreitete, trocknete auch ihre Haut aus und verlor alle Feuchtigkeit. Wenn der saure Regen sich in die skandinavischen Wälder fraß, rieselten ihr die Schuppen nur so vom Kopf, als würde es schneien. In ihren Träumen hörte sie die Trauergesänge der Wale, die davon handelten, dass sie immer weniger wurden und ihnen die Ausrottung unausweichlich bevorstand. Der Schmerz in ihren Knochen verriet ihr, wann die Japaner wieder Delfine abschlachteten. Sie war ein menschlicher Detektor und spürte illegalen Atommüll auf, registrierte, wenn Schadstoffe ausgestoßen wurden, und zuckte vor den Löchern, die in der Ozonschicht klafften, zurück wie ein Polyp in einem Korallenriff, den ein Taucher mit der Spitze seiner Harpune anstupst. Sie war eine »Ökopathin«. Sie fühlte mit der Erde, litt an allem, was dem Planeten widerfuhr, und im Gegensatz zum Rest der Menschheit war ihr klar, dass dies eines Tages auch für sie das Ende bedeuten würde.

Trask blickte sie an. Sie war vierundzwanzig und sah aus wie fünfzig. Obwohl sie ihm leid tat, standen ihm paradoxerweise nur schroffe, ablehnende, beinahe missbilligende Begriffe zur Verfügung, um sie zu beschreiben: dicke Brillengläser, Leberflecken, ein Hörgerät, strähniges, ungekämmtes Haar, zerknitterte Bluse, X-Beine. Er wusste, dass er sie nicht mochte, weil sich der Niedergang der Welt in ihr spiegelte. Und hier war wiederum sein Talent am Werk. Ben Trask war ein menschlicher Lügendetektor. Er erkannte eine Lüge, wenn er eine sah, fühlte, hörte oder auf sonst eine Art wahrnahm, und empfand sie wie einen Schlag ins Gesicht. Umgekehrt musste er, wenn etwas ohne jeden Falsch war, anerkennen, dass es die Wahrheit war. Nur war Anna Marie Englishs Wahrheit unerträglich.

Wenn Greenpeace über sie verfügen und die Welt dazu bringen könnte, ihr zu glauben, hätten sie mit ihrer Sache auf Anhieb gewonnen – zugleich allerdings auch verloren. Denn jeder würde davon ausgehen, dass es bereits zu spät sei. Doch Trask wusste, dass es sich nicht ganz so dramatisch verhielt. Die Welt war ein riesiges, zutiefst verwundetes Wesen, und Anna Marie English war ganz einfach zu klein, so viel Leid auf einmal zu ertragen. Doch während Anna Marie English beinahe unerträglich litt, würde die Erde es noch eine ganze Weile aushalten. So jedenfalls sah Trask die Angelegenheit. Er nahm an, das machte ihn zum Optimisten, was eigentlich ein Widerspruch in sich war.

»Können Sie es sehen?«, fragte er. »Haben Sie eine Ahnung, was hier vorgeht?«

Sie blickte ihn an und sah einen Mann Ende dreißig mit mausgrauem Haar und grünen Augen vor sich. Trask war etwas über einsfünfundsiebzig, hatte leichtes Übergewicht und hängende Schultern. Seinen Gesichtsausdruck konnte man nur als kummervoll bezeichnen. Möglicherweise lag das an seinem Talent. In einer Welt, in der die simple Wahrheit immer schwerer zu finden war, war es nicht leicht, ein Lügendetektor zu sein. Notlügen, Halbwahrheiten und faustdicke Lügen stürzten von allen Seiten auf ihn ein, bis er manchmal einfach nicht mehr hinsehen wollte.

Doch Anna Marie English hatte ihre eigenen Probleme. Schließlich bewegte sie ihren tropfnassen Kopf und nickte. »Ich sehe es, ja. Aber fragen Sie mich nicht, worum es hier geht. Ich bin aufgewacht, habe es gesehen und wusste, dass ich hierherkommen musste. Das ist alles. Aber mir schwant, dass die Welt mal wieder den Kürzeren zieht.« Ihre Stimme war ein hustendes Schnarren.

»Eine Vorahnung?«

Sie runzelte die Stirn. »Das hat nichts mit meinem Talent zu tun. Diesmal bin ich nur ... eine Zuschauerin? Es tut mir nicht weh. Oh, es tut mir schon leid, so ist das nicht, aber was mit ihm passiert, scheint die Welt als solche nicht zu berühren. Und doch habe ich zur gleichen Zeit irgendwie den Eindruck, dass ihr damit etwas verloren geht.«

»Kennen Sie ihn?«

»Es kommt mir so vor, als müsste ich ihn kennen, sicher«, erwiderte sie. Gleichzeitig schüttelte sie den Kopf und fügte reumütig hinzu: »Statt mich auf die Straße zu konzentrieren, habe ich ihn mir angesehen. Ich bin mindestens zweimal bei Rot über die Ampel gefahren!«

Trask nickte, nahm sie am Ellenbogen und ging mit ihr über die Straße. »Gehen wir zu den anderen. Mal sehen, was die sagen. Vielleicht hat ja einer von ihnen einen Anhaltspunkt.« Tatsächlich hatte er bereits mehr als nur einen Anhaltspunkt, wollte jedoch nicht darüber reden. Falls er recht hatte, konnte er dieses Phänomen, genau wie die Ökopathin, kaum als für die Erde schädlich einstufen. Im Gegenteil, es wäre ein Grund aufzuatmen.

Hier, keine zehn Minuten zu Fuß von Whitehall entfernt, schien die zerrissene Titelseite einer weggeworfenen Prawda, die in dem überfluteten Rinnstein langsam mit der Strömung rotierte, merkwürdig fehl am Platz. Zentimeter um Zentimeter trieb sie völlig durchweicht, fast wie ein Omen, auf die vergitterte Öffnung eines gurgelnden Gullys zu. Doch dem prasselnden Regen, der Nacht und allen anderen Ablenkungen zum Trotz blieb das geisterhafte Hologramm weiterhin sichtbar, ganz gleich, wohin Trask und Anna Marie English auch blickten. Es war da in dem winzigen, menschenleeren Foyer, spielte auf den in neutralem Grau gehaltenen Aufzugtüren, als würde es von ihren Pupillen dorthin projiziert. Und als die Türen sich mit einem Zischen öffneten, um sie einzulassen, nahmen sie es mit in die Kabine, um es empor in die im obersten Geschoss gelegenen Büros des E-Dezernats zu tragen.

Eigentlich handelte es sich bei dem Gebäude um ein renommiertes Hotel mit hell erleuchteter Fassade und einem livrierten Türsteher aus dem Corps of Commissionaires (1859 gegründete Vereinigung mit dem Ziel, Veteranen der Armee als Türsteher und Portiers unterzubringen), der unter einer gestreiften Plastikmarkise Schutz vor dem Regen suchte oder, was nun, wo alle Gäste schliefen, wahrscheinlicher war, eine Tasse Kaffee mit dem Nachtportier trank. Doch hier, in der obersten Etage ...

Das war eine gänzlich andere und obendrein noch merkwürdige Welt.

Über das E-Dezernat dachte Trask heute nicht anders als vor vierzehn Jahren, als er rekrutiert worden war, und nicht anders als jeder ESPer des Dezernats vor oder nach ihm. Alec Kyle, ehemals sein Freund und Leiter des Dezernats, war mittlerweile tot und vergessen (Tatsächlich? Und was war mit seinem Körper? War es das, worum es hier ging?). Aber er war der Sache stets am nächsten gekommen, wenn er zu sagen pflegte: »Das E-Dezernat? Ein verdammt komischer Laden, Ben! Wissenschaft und Zauberei, Telemetrie und Telepathie, computergenerierte Wahrscheinlichkeitsmuster und Vorahnungen, High Tech und Gespenster. Zu all dem haben wir jetzt Zugang!«

Dieses »jetzt« war die große Einschränkung. Denn Kyle hatte damals von Harry Keogh gesprochen. Später war er gar zu Harry Keogh geworden – zumindest hatte sein Körper Keoghs Bewusstsein beherbergt ...

Mit einem Ruck hielt der Aufzug. Zischend öffneten sich die Türen.

Trask und die unnatürlich gealterte junge Frau verließen den Lift und mit ihnen das Hologramm.

Ist es nun ein Hologramm oder ein Phantom?, fragte sich Trask. High Tech oder ... ein Gespenst? Als Kind hatte er an Geister geglaubt, danach eine Zeit lang nicht mehr. Nun arbeitete er für das Dezernat und ... wünschte sich manchmal, er wäre wieder ein Kind. Denn damals hatte sich alles lediglich in seiner Einbildung abgespielt.

Ian Goodly, in dieser Nacht der Beamte vom Dienst, empfing sie im Korridor. Er war sehr groß, schlaksig, klapperdürr und konnte in die Zukunft blicken. Er war ein »Wahrsager«. Goodlys Züge waren grau und vor allem hager. Er lachte selten und machte für gewöhnlich ein ernstes Gesicht. Lediglich seine Augen, groß, braun und absolut entwaffnend, straften den ansonsten ziemlich unvorteilhaften ersten Eindruck Lügen, einen ausgemergelten Leichenbestatter vor sich zu haben. »Anna!« Er nickte der jungen Frau höflich zu. »Ben?«

»Siehst du es auch?«, erwiderte Ben auf die doch recht allgemein gehaltene Frage.

»Wir alle sehen es«, entgegnete Goodly. Seine Stimme klang hoch und etwas schrill, doch daran war nichts Ungewöhnliches. Noch ehe Trask etwas sagen konnte, fuhr Goodly fort: »Ich habe mir gedacht, dass du kommen würdest. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen in der Einsatzleitung auf dich warten.«

»Wie viele sind es denn?«

Goodly zuckte die Achseln. »Alle im Umkreis von dreißig Meilen.«

Trask nickte. »Danke, Ian. Ich werde mit ihnen reden. Und du gehst besser wieder auf deinen Posten.«

Abermals zuckte Goodly die Achseln. »In Ordnung. Aber abgesehen von der Sache hier ist es eine ruhige Nacht. Es passiert nun mal und bald wird es vorüber sein. Dann werden wir schon sehen, was dabei herauskommt.« Langsam wandte er sich ab.

Trask ergriff ihn am Arm und hielt ihn zurück. »Hast du eine Ahnung, worum es hier geht?«

Goodly seufzte. »Wie wär’s mit einer ... fundierten Vermutung? Aber ich nehme an, du siehst es dir lieber selber an, bis es zu Ende ist.« Wie alle Wahrsager zögerte er, zu sehr ins Detail zu gehen. Die Zukunft ließ sich nicht leichtfertig vorhersagen.

Jemand hatte den Fahrstuhl gerufen. Die Türen schlossen sich, und auf der Anzeige sah man, dass es abwärts ging. Als Goodly sich daranmachte, auf seinen Posten zurückzukehren, äußerte Trask ein verspätetes »Stimmt!« und wandte sich dann nach links den Flur entlang in Richtung der Einsatzzentrale. Anna Marie English schlurfte hinter ihm her.

In der Einsatzzentrale warteten die Kollegen bereits auf sie. Vor dem Podium waren ein paar Stühle weggerückt worden. Dort bildeten elf ESPer, mit dem Gesicht nach innen, einen Kreis. Mit Trask und dem Mädchen waren sie zu dreizehnt. Ein Hexendutzend, dachte Trask humorlos. Mit uns ist der Coven vollständig.

Als die ESPer den Kreis öffneten und etwas zur Seite traten, um den Nachzüglern Platz zu machen, erkannte Trask, warum sie sich so aufgestellt hatten. Die vereinte Gedankenkraft der ESPer wirkte auf die Erscheinung wie ein Verstärker. Das Hologramm in der Gruppe zu erfahren, hieß, es klarer hervortreten zu lassen und ihm größere Schärfe zu verleihen. Die bislang eher vage mentale Projektion, die Trask als 3-D-Bild vor seinem inneren Auge sah, nahm innerhalb eines Augenblicks direkt vor ihm eine scheinbar körperliche, feste Gestalt an! Allerdings nur scheinbar, denn ganz offensichtlich war das Ganze ja nicht real.

Der Kreis, den die ESPer bildeten, hatte einen Durchmesser von gut und gerne viereinhalb, fünfeinhalb Metern. Der sich mitten in der Luft wie an einem unsichtbaren Bratspieß rückwärts überschlagende, schwelende Leichnam war von keinem der jeweiligen Betrachter mehr als drei Meter entfernt. Wenn er Substanz gehabt hätte, überhaupt »hier« gewesen wäre, müsste es sich um die Gestalt eines Kindes oder Zwerges handeln. Die Proportionen waren jedoch die eines normalen Erwachsenen. Also musste es sich bei der Erscheinung um so etwas wie ein Hologramm handeln, das sie jedoch aus weit größerer Entfernung betrachteten, als es den Anschein hatte. Es war, als würden sie in eine Kristallkugel blicken. Sie sahen etwas, das sich irgendwo anders abgespielt hatte, möglicherweise noch abspielte. Und mehr denn je kam Trask dieses ... Opfer? ... bekannt vor. Immer stärker wuchs in ihm die Vermutung, dass es sich um eine Szene aus einer anderen Welt handelte, womöglich aus einem anderen Universum.

Gleich als Trask in den Raum gekommen war, hatte er auf einen Blick registriert, wer die Anwesenden waren. Da war Millicent Cleary, eine hübsche, kleine Telepathin, deren Talent noch nicht ganz ausgereift war. Eines Tages würde sie sich zweifellos zu einer Kapazität entwickeln, aber im Moment war sie noch ziemlich verletzlich – dazu konnten telepathische Kräfte durchaus führen. Trask sah in ihr die kleine Schwester, die er nie gehabt hatte. Dann war da David Chung, ein hoch talentierter Lokalisierer und Seher. Er war klein und drahtig, hatte Schlitzaugen und konnte seine chinesische Abstammung nicht leugnen. Dabei war er von Geburt Brite, Londoner, und dem Dezernat blind ergeben. Das waren sie alle, andernfalls würde der Dienst nicht funktionieren. Chung konnte geheime sowjetische U-Boote orten und spürte aktive IRA-Einheiten und Drogenkuriere auf – vor allem Letztere. Die Sucht hatte seine Eltern getötet. Von ihnen hatte er sein Talent geerbt, und es wuchs noch immer.

Zu Trasks Linker stand der Wahrsager Guy Teale. Wie bei Ian Goodly bestand seine Begabung darin, in die Zukunft zu blicken, ein bestenfalls zweifelhaftes Talent. Die Zukunft ließ sich nun mal nicht gerne in die Karten schauen und sie hatten sich schon mehrmals geirrt. Teale war klein, dünn und schreckhaft, und zwar so sehr, dass er ständig unter extremer Anspannung stand. Den Platz neben Teale nahm Frank Robinson ein, mit dem Teale auch früher schon ein Team gebildet hatte. Robinsons Talent bestand darin, andere ESPer einwandfrei auszumachen. Während Teale dunkles Haar hatte, war Robinson blond. Mit seinen Sommersprossen wirkte er geradezu jungenhaft, höchstens wie neunzehn, dabei war er in Wirklichkeit sieben Jahre älter. Vor sechs oder sieben Monaten hatten die beiden gemeinsam mit Trask an der Sache mit Harry Keogh gearbeitet. Sie hatten Trask geholfen, den Necroscopen in seinem Haus bei Edinburgh in die Enge zu treiben und das Anwesen niederzubrennen. Daraufhin war Harry in die Parallelwelt jenseits des Tores von Perchorsk geflohen. Seitdem betete jeder, der wusste, was auf dem Spiel stand, darum, dass er nicht eines Tages zurückkommen würde. Und er war auch nicht wiedergekommen ...

Bis jetzt?, fragte sich Trask. Handelt es sich bei dieser ... Erscheinung ... womöglich um Harry? Er hegte den starken Verdacht, dass sie sich alle dieselbe Frage stellten. Und genau wie er waren wahrscheinlich alle froh, dass es sich nur um ein Abbild handelte.

Paul Garvey, ein Telepath, dessen Fähigkeit zur Gänze entwickelt war, stand Trask auf der anderen Seite des Kreises direkt gegenüber. Durch die sich unablässig drehende Projektion hindurch blickte er Trask unverwandt an und nickte ihm kaum merklich zu. Das war Garveys Art, Trasks Gedanken zu bestätigen, die er »gehört« hatte. Ja, sie dachten alle so ziemlich dasselbe.

Garvey war groß und kräftig und ein gut aussehender Mittdreißiger gewesen. Doch dann, bei der Sache vor sechs Monaten, war er einem mordlüsternen Dreckskerl namens Johnny Found in die Quere gekommen und hatte dabei den größten Teil seiner linken Gesichtshälfte eingebüßt. Seither hatten ihn einige der besten plastischen Chirurgen Englands unter dem Messer gehabt, sodass er wieder ganz passabel aussah. Aber ein richtiges Gesicht bestand nun einmal aus mehr als nur Fleisch. Garveys Gesicht jedenfalls setzte sich jetzt hauptsächlich aus künstlichem Gewebe zusammen, und die Nervenverbindungen funktionierten nicht allzu gut. Mit der rechten Seite konnte er lächeln, nicht jedoch mit der linken, deshalb vermied er es, überhaupt ein Lächeln zu versuchen.

Es war passiert, als sie Harry Keogh gefolgt waren, der seinerseits Found verfolgt hatte, einen Nekromanten, dessen Spezialität darin bestand, Frauen sowohl vor als auch nach ihrem Tod zu belästigen. Garvey hatte den Fehler begangen, als Erster über Harrys Zielperson zu stolpern, das war alles. Doch der Necroscope hatte ihn gerächt. Später hatte die Polizei Founds Leiche auf einem Friedhof gefunden, und zwar derart übel zugerichtet, dass er kaum noch zu erkennen war. Trotz allem, was sich damals sonst noch ereignet hatte, und trotz der Tatsache, dass sie ja eigentlich hinter Harry hergewesen waren, war Garvey der Meinung, dass er dafür in Harrys Schuld stand.

Ben Trask dagegen vertrat die Auffassung, dass sie alle mehr oder weniger in Harrys Schuld standen, die ganze Welt. Es wäre für den Necroscopen ein Leichtes gewesen, die Plage des Vampirismus, die er in sich trug, über die Menschheit hereinbrechen zu lassen und sich zum Herrscher über den gesamten Planeten aufzuschwingen. Stattdessen hatte er es zugelassen, dass sie ihn ins Exil einer fremden Vampirwelt hetzten, in der er lediglich ein Monster unter vielen war. Harry hatte es geschehen lassen, ganz recht, bevor das Wesen in ihm endgültig die Kontrolle übernehmen konnte.

Wenn Trask daran zurückdachte, an die fremdartigen Leidenschaften, die Harry beherrscht hatten, daran, wie Harry ausgesehen hatte, als er ihm im Garten seines brennenden Hauses unweit von Edinburgh zum letzten Mal gegenüberstand – dann klärten sich seine, Trasks, gemischten Gefühle ganz schnell und er wusste, dass es das Beste gewesen war.

Der untere Teil von Harrys Gestalt war von Dunstschleiern umhüllt gewesen, in dem trüben, milchigen Wabern seines Vampirnebels nur als undeutlicher Schattenriss zu erkennen ... Dafür hatten sie den Rest umso besser gesehen. Er hatte völlig normale, dunkle, schlecht sitzende Kleider getragen, die ihm anscheinend zwei Nummern zu klein waren, sodass sein Oberkörper geradezu wie ein Keil aus der Hose wuchs. Das Jackett, das von einem einzigen Knopf gerade noch so zusammengehalten wurde, hatte sich über Harrys mit gewaltigen Muskeln bedeckten Brustkorb gespannt.

Sein weißes, am Kragen offenes Hemd war an der Knopfleiste entlang aufgeplatzt und enthüllte das Spiel seiner muskelbepackten Rippen und das gewaltige Heben und Senken seiner Brust. Harrys Hemdkragen hatte ausgesehen wie eine zerknitterte Manschette, überflüssig an einem Hals, an dem sich die Muskelstränge wie Drahtseile abzeichneten. Seine Haut war von einem stumpfen Grau gewesen, auf das der lodernde Schein der Flammen und das Licht des Mondes orangene und widerlich gelbe Flecken warfen. Er überragte Trask um ganze dreißig Zentimeter und ließ ihn buchstäblich zwergenhaft erscheinen. Doch sein Gesicht ...

... war die absolute Verkörperung eines wahr gewordenen Albtraumes! Seine leuchtenden Dämonenaugen hatten ausgesehen, als würden sie Schwefel sprühen. Und sein ... Grinsen? War das tatsächlich ein Grinsen gewesen? Nun, vielleicht hätte man es in einer fremden, Starside genannten Vampirwelt jenseits des Möbius-Kontinuums so bezeichnet. Doch hier auf der Erde war es die Fratze eines riesigen, tollwütigen Wolfes, dem der Geifer vom Maul troff. Hier war es nichts als Zähne, die zusehends länger wurden und sich aus glänzenden, knorpeligen Kieferleisten hervorkrümmten, um durchs Zahnfleisch zu stoßen, aus dem Tropfen rubinroten, heißen Blutes spritzten. Hier war es nichts als scharlachrote Lippen, die sich zurückzogen, nichts als eine faltige, gekräuselte Schnauze, die langsam flacher wurde, nichts als ein Paar Kiefer von der Größe eines Fangeisens, die sich allmählich öffneten ...

Dieses Gesicht ... dieses Maul ... dieser blutrote, von Zähnen, gezackt wie Glasscherben, starrende Rachen! Sah so das Tor zur Hölle aus? Genau so! Denn Harry war ein Wamphyri geworden!

Trask fuhr zusammen, als Anna Marie English zu seiner Rechten ihn am Ellenbogen packte und überflüssigerweise atemlos feststellte: »Sir, er bewegt sich von uns fort!«

Sie hatte recht, wie jeder der Anwesenden sehen konnte. Das Hologramm des Leichnams wurde kleiner und stürzte beziehungsweise zog sich schneller und schneller an seinen vielfarbigen, nebelhaften Ursprung oder Bestimmungsort zurück, aus dem ihm sich die blau, grün und rot leuchtenden Lichtfäden wie sich windende Tentakel entgegenreckten, um ihn willkommen zu heißen. Die schwelende, sich um ihre eigene Achse drehende Gestalt wurde immer winziger, bis sie nur noch ein Punkt war und schließlich verschwand!

An ihrer Stelle ...

... sah man eine Explosion, eine ungeheure Eruption goldenen Lichts, das sich lautlos, beängstigend nach allen Richtungen ausbreitete, sodass die dreizehn Beobachter den Atem anhielten und sich duckten. Obwohl sich alles nur in ihren Köpfen abspielte, wandten sie sich von dem blendenden Gleißen und dem, was aus ihm hervorgeschleudert wurde, ab. Bis auf Trask, der eine Hand schützend vor die Augen hielt und den Kopf einzog, aber weiterhin zusah, weil er unbedingt die Wahrheit erfahren musste – und David Chung, der vor Verblüffung aufschrie, wankte und beinahe umfiel. Aber sie hatten es gesehen, alle beide, die Myriaden goldener Splitter, die aus dem plötzlichen Aufflammen nach allen Seiten davongeschleudert wurden und suchend, als hätten sie ein Bewusstsein, an nicht minder zahlreiche, unbekannte Orte entschwanden. Diese ... Teile ... des Necroscopen? War das alles, was von Harry Keogh übrig war? Als auch der letzte Splitter an Trask vorübergesaust und lautlos außer Sicht geraten war – im Korridor verschwunden, wie es den Anschein hatte – erloschen die leuchtenden Bänder aus blauem, grünem und rotem metaphysischen Licht, und im Konferenzraum sah alles wieder aus wie zuvor.

Allerdings ... hatte dieser letzte goldene Pfeil so real gewirkt. Trask hätte schwören können, dass er sich tatsächlich hier mitten in der Einsatzzentrale materialisiert und Substanz und Empfindungsvermögen gewonnen hatte, ehe er in den Flur hinausgejagt und dem Blick entschwunden war!

Nun befanden sich nur noch dreizehn bestürzte, außergewöhnliche Menschen im Saal, die mit offenem Mund dastanden. Aber verglichen mit dem, was sie gerade erlebt hatten, waren sie vollkommener Durchschnitt ...

Trask zwang sich dazu, etwas zu tun, und trat quer durch den Raum auf David Chung zu, der sich immer noch nicht gefangen hatte. Er streckte den Arm nach ihm aus, hielt ihn fest, bis sein Schwanken wieder nachgelassen hatte, und fragte knapp: »David, bist du in Ordnung?«

»Nein, ja«, erwiderte Chung. »Aber er nicht!« Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, schloss den schlaff herabhängenden Mund und deutete mit der Hand fuchtelnd in die Mitte des Raumes, wo wieder Leben in die ESPer eingekehrt war.

»War das Harry?«, flüsterte Trask.

Chung seufzte schwer und sank etwas in sich zusammen. »Oh ja. Das war Harry, Ben. Er war es.«

»Ist er tot?«

Chung nickte, öffnete seine bebende Hand und zeigte Trask, was er darin hielt – eine Haarbürste mit Naturborsten, deren ovaler, hölzerner Kopf genau in seine Handfläche passte. Im ersten Augenblick wusste Trask nicht, was das sollte. Dann begriff er. Chungs Talent! Chung war ein sympathetischer Lokalisierer. Im Anschluss an die Bodescu-Affäre hatte Harry Keogh einen ganzen Monat im Dezernat verbracht, um seine Gedächtnislücken wieder aufzufüllen. Eine Zeit lang hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, den Posten des Dezernatsleiters anzunehmen. Aber nachdem der Necroscope seine Frau und seinen Sohn verloren hatte, war für ihn eine Welt zusammengebrochen, und er war nach Schottland gezogen, um dort das Leben eines Einsiedlers zu führen. Die Haarbürste hatte ihm gehört. Sie war einer von mehreren Gegenständen, die er zurückgelassen hatte.

»Ich habe sie die ganze Zeit über aufbewahrt, seitdem ich beim Dezernat angefangen habe«, erklärte Chung den übrigen ESPern, die sich nun um ihn scharten. »Diese Haarbürste und ein, zwei andere Stücke, die ihm gehörten. Vor sechs Monaten, als die Russen meldeten, dass er durch das Tor von Perchorsk geflohen war, habe ich seine Sachen hervorgekramt und versucht, ihn zu orten. Ich meine, natürlich konnte ich ihn nicht lokalisieren, aber es war dasselbe wie damals mit Jazz Simmons. Ich wusste, dass Harry nicht hier war, nicht in dieser Welt, aber er war auch nicht tot. Er war auf Starside.«

»Und jetzt?« Das war Anna Marie English. Sie machte sich Sorgen um den Planeten und um sich selbst.

Chung schüttelte den Kopf. »Jetzt ist er nicht mehr dort.«

»Nicht mehr auf Starside?«, stieß einer der jüngeren ESPer hervor. »Du meinst, er ist zurückgekommen? Er ist hier?«

Abermals schüttelte Chung den Kopf und zeigte ihnen die Haarbürste in seiner Hand. »Dieses Stück Holz, diese paar Borsten haben etwas bedeutet. Sie haben mir etwas erzählt. Sie haben mir gesagt, dass der Necroscope am Leben war. Wenn nicht hier, dann irgendwo anders. Ich brauchte nur diese Haarbürste hier oder etwas von Harrys Sachen in die Hand zu nehmen, und es war mir klar. Jetzt ... ist es nur noch eine Haarbürste, es steckt kein Leben mehr in ihr. Und auch nicht in Harry Keogh. Vor wenigen Augenblicken ist er irgendwo gestorben. Und wir alle waren Zeugen.«

»Harry ist tot«, kam Ben Trask ohne Umschweife zur Sache. »Was wir da gerade gesehen haben, war er. Irgendwie hat er einen Weg gefunden, es uns wissen zu lassen, damit wir beruhigt sein können. So jedenfalls sehe ich die Sache.«

Ian Goodly kam mit zwei Neuankömmlingen herein, einem weiteren ESPer und dem zuständigen Minister. Der Minister war Mitte vierzig, recht jung für diesen Posten, hatte jedoch einen messerscharfen Verstand. Er war nicht sehr groß, elegant und hatte durchdringend blaue Augen. Das dunkle Haar war mit reichlich Pomade straff zurückgekämmt. Der blaue Anzug passte in die Etagen der Mächtigen. Irgendwie demonstrierte seine gesamte Kleidung seine gesellschaftliche Stellung. Obwohl er in keinster Weise übersinnlich begabt war, gehörte er dennoch zum Dezernat. Auch er hatte den Ruf vernommen. Etwas hatte ihn hierher gelockt, bis es vor einem Moment verstummte.

Während Trask dem Minister berichtete, was geschehen war, holte Goodly Kaffee. Danach saß die ganze Gruppe ein, zwei Stunden lang nur herum und dachte an Harry. Gesprochen wurde sehr wenig, es genügte ihnen, einfach nur da zu sein. Eigentlich hätten sie sich freuen müssen, aber sie konnten es nicht. Denn obwohl sie von einer ungeheuren Heimsuchung verschont geblieben waren, hatten die meisten das Gefühl, dass sie einen Freund verloren hatten.

David Chung hatte Harrys Haarbürste in die Tasche gesteckt. Hin und wieder langte er nach ihr und betastete sie mit den Fingerspitzen. Doch es war nur noch eine tote Bürste, Holz, Klebstoff und Borsten, mehr nicht.

Und so sollte es sechzehn Jahre lang bleiben ...

Vierzehn Tage später rief Zek Föener von ihrer griechischen Inselheimat auf Zante aus an. Sie hatte es vor sich hergeschoben, bis sie es nicht mehr aushielt, aber schließlich musste sie einfach mit Trask sprechen. »Sind wir wieder Freunde, Ben?«

Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, nickte er und lächelte. Er wusste, dass Zek es mitbekam, denn ihre telepathischen Kräfte waren sehr stark. »Nach dem, was wir im Mittelmeer mit Janos Ferenczys Kreaturen angestellt haben? Da werden wir wohl immer Freunde sein, Zek.«

»Ungeachtet der Tatsache, dass ich ihm zum Schluss geholfen habe?« Ihre Stimme kam ein bisschen verzerrt durch die Leitung, doch die Besorgnis, die darin mitschwang, war echt. Trask konnte sich auf sein Talent verlassen und fühlte, dass sie es ehrlich meinte, genau wie er seinen eigenen Herzschlag spürte.

Er zuckte die Achseln, was ihr wohl ebenfalls nicht entging, und sagte: »Du bist nicht die Einzige, die Harry geholfen hat, Zek.«

»Du auch? Irgendwie habe ich mir gedacht, dass du das tun würdest.«

»Ich habe es darauf ankommen lassen«, sagte er ihr. »Wäre es schief gegangen ... hätte ich als der größte Verräter dagestanden, den die Menschheit je gesehen hat! Wahrscheinlich hätten wir sogar schon eine neue Weltordnung.«

»Ich weiß. Ich habe mir so ziemlich dasselbe gedacht. Aber es handelte sich immerhin um Harry.«

»Zur Hälfte jedenfalls«, erwiderte Trask.

»Eigentlich ist er schon vor sechs, sieben Monaten gestorben«, sagte sie.

»Was?« Damit überraschte sie Trask.

»Für uns war er doch in dem Augenblick tot, als er das Tor von Perchorsk durchschritten hat«, erklärte sie. »Zumindest so gut wie. Es gab keine Chance, dass wir ihn je wiedersehen würden. Er hatte doch beide Tore schon benutzt, dasjenige im Ural und das andere in Rumänien. Er konnte ja gar nicht zurückkommen. Die grauen Löcher hätten ihn abgewiesen.«

Trask hatte sich gefreut, ihre Stimme zu hören, mit Zek zu reden, aber plötzlich hatte er schlechte Laune. Sie hatte etwas angesprochen, worüber er nicht nachdenken wollte. »Das ist so weit richtig«, sagte er. »Aber sein Sohn hat einen anderen Weg benutzt. Harry hatte sich immer für den Herrn des Möbius-Kontinuums gehalten, aber in Wirklichkeit war er nur ein Anfänger. Diese Worte stammen von ihm, nicht von mir. Harry Junior war der wirkliche Meister. Aber wenn jemand das weiß, dann doch du: Auf diese Weise hat er dich und Jazz doch hierher zurückgebracht.«

Es entstand eine kurze Pause, ehe sie erwiderte: »Der Herr des Gartens bereitet dir immer noch Sorgen, habe ich recht?«

»Der Herr des Gartens?« Trask runzelte die Stirn. Doch im nächsten Augenblick verstand er. »Ach ja, du meinst Harry Junior. Natürlich bereitet er mir Sorgen, das stimmt schon. Das Tor von Perchorsk bereitet mir Sorgen, und dass bei Radujevac in Rumänien ein Nebenfluss der Donau wieder auftaucht, bereitet mir ebenfalls Sorgen. Das alles bereitet mir Sorgen, denn in allen diesen Fällen handelt es sich um Wege aus der Welt der Vampire zu uns.«

»Aber sie werden jetzt doch bestimmt bewacht?«

»Harry Junior nicht.«

Nun war es an Trask, ein Kopfschütteln mitzubekommen.

»Er wird nicht zurückkehren«, erklärte Zek. »Er ist Wamphyri, ja, aber er ist trotzdem anders als sie. Genauso anders wie die Lady Karen oder sein Vater. Er hat um das Stück Land, das ihm auf Starside gehört, gekämpft, und er wird dort bleiben und es behalten. Er hat mit den Vampiren Krieg geführt, Ben, und sie vernichtet, und soweit ich weiß, hat er selbst keinen einzigen Vampir erschaffen. Er hat weder Knechte noch Offiziere oder Vampirgeliebte gehabt. Nur Freunde. Und die haben ihn geliebt, ebenso sehr wie die Große Mehrheit seinen Vater liebte.«

Das beruhigte Trask. »Zek«, sagte er, »ich weiß, du hast mir schon mal einen Korb gegeben. Aber ich glaube wirklich, du und Jazz, ihr solltet mal herkommen. Seid unsere Gäste, verbringt auf unsere Kosten eine Zeit lang in London und erzählt uns eure Geschichte in allen Einzelheiten. Nein, ihr seid uns überhaupt nichts schuldig, weder du noch Jazz. Aber du hast selbst gesagt ... wir sind Freunde. Und ihr beiden habt eine solche Menge an Informationen in euren Köpfen – über Starside und die Wamphyri, es gibt sogar Dinge über Harry Keogh und seinen Sohn, die nur ihr wisst. Die Welt ist dabei, ein besserer Ort zu werden, Zek. Nicht in großen Sprüngen, noch nicht. Aber wer weiß ... Vielleicht könnt ihr, du und Jazz, ihr dabei ein bisschen helfen? Und wenn schon nicht helfen, dann zumindest auf sie aufpassen.«

Ehe sie etwas erwidern konnte, fuhr er fort: »Ich meine, es ist nicht mehr so wie früher, Zek. Ihr beide seid ausgenutzt worden, wie viel zu viele andere auch! Vom russischen E-Dezernat und von uns! Aber wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und heute ist alles ganz anders. Wir alle haben dazugelernt. Ich habe viel darüber nachgedacht, und es kommt mir so vor, als hätte sich alles, womit der Necroscope in Berührung gekommen ist, zum Besseren gewendet und für alle Zeiten verändert. Bevor er wusste, dass es das Möbius-Kontinuum überhaupt gibt, musste er den Checkpoint Charlie in Berlin benutzen, um nach Ostdeutschland ans Grab von Möbius in Leipzig zu gelangen. Und wo ist der Checkpoint jetzt? Und was Rumänien angeht ... Verstehst du, was ich meine, Zek? Es ist, als hätte sich für die Menschheit eine neue Seite aufgeschlagen, und das alles, seit Harry aufgetaucht ist beziehungsweise uns verlassen hat. Aber sollte uns das wirklich überraschen? Ich weiß noch, wie Harry einmal gesagt hat: ›Es gibt ziemlich viele Talente unter den Toten, und sie haben ihre eigene Art, damit umzugehen.‹ Aber er war derjenige, der ihnen gezeigt hat, wie sie miteinander reden können. Er hat die Verbindungen zwischen den Gräbern hergestellt. Seitdem ... Du brauchst dich doch nur einmal umzusehen!

Sind etwa die zahllosen Toten dafür verantwortlich? Wer weiß schon, was oder wie sie es erreicht haben! Der Kommunismus hat sich als ein einziger großer Reinfall erwiesen, er liegt in den letzten Zügen, und die Welt ist sicherer geworden. Als Nächstes schicken wir den Rest unserer falschen ideologischen Götzen in die Wüste, und dann können wir vielleicht von vorne anfangen und mit einer groß angelegten ökologischen Umstrukturierung Mutter Erde selbst wieder auf die Beine helfen. Im Moment ist die Welt bereits sicherer, aber immer noch nicht sicher genug. Könntet ihr beide, du und Jazz, nicht dazu beitragen, sie nur ein kleines bisschen sicherer zu machen, Zek? Ich würde mir wünschen, dass du darüber nachdenkst. Wenn schon nicht meinetwegen, dann wenigstens für Harry. Ich meine, glaubst du nicht, dass die Aufgabe, die er begonnen hat, es wert ist, dass man sie zu Ende führt?«

»Das ist nicht fair, Ben!«, sagte sie.

»Nun, denk darüber nach.«

Das tat sie – später, gemeinsam mit Jazz. Aber sie kamen nicht nach London. Es würde noch lange dauern, bis ihre Wunden verheilt waren und sie den E-Dezernaten dieser Welt vergeben konnten ...

Auch wenn sechzehn Jahre, gemessen am Lauf der Welt, keine allzu große Zeitspanne darstellen, kann in ihnen doch manches passieren. Menschen, Gesichter und Orte verändern sich, Regierungen und Organisationen kommen und gehen, politische Ideen und Ideologien scheitern und neue werden geboren. Aber hat eine Einrichtung sich erst einmal etabliert, bleibt sie in der Regel bestehen, und sei es nur, weil sie etabliert ist.

Kalte Kriege waren aufgeflammt und wieder erloschen. Heiße ebenfalls, wenngleich zeitlich und räumlich begrenzt. Stets hatten dabei die Geheimdienste dieser Welt Konjunktur. Selbst als Perestroika und Glasnost intensiv vorangetrieben wurden (oder vielleicht gerade deshalb), bestand der esoterischste aller Dienste, das E-Dezernat, weiter, und nach wie vor hieß sein Leiter Ben Trask. Obgleich es einige seiner Agenten nicht mehr gab und an ihrer Stelle andere angeworben worden waren, erwies die Organisation selbst sich doch als äußerst erfolgreich. Für das Dezernat würde es immer Arbeit geben, und sollte sich das je ändern ... Die Wahrheit war, dass die jeweilige Regierung wahrscheinlich gar keine Ahnung hatte, was sie mit den übersinnlichen Talenten des E-Dezernats anfangen sollte, wenn man diese entließ ... Auf diese Art hatte man wenigstens die Kontrolle darüber, dass die ESPer für das Gemeinwohl arbeiteten.

Was den gegenwärtigen Zustand der Welt betraf:

Im Gefolge Russlands schlitterte das kommunistische China unaufhaltsam dem ökonomischen Niedergang entgegen, und die UdSSR selbst zerfielen. Im Innern war Russland immer noch damit beschäftigt, sich von siebzig selbstzerstörerischen Jahren zu erholen, doch das gelegentliche schmerzhafte Aufbäumen war von außen schon nicht mehr wahrzunehmen und entsprang Schädigungen von mittlerweile deutlich geringerem Ausmaß ... Die Gefahr einer globalen Auseinandersetzung war gebannt. Die letzte verbleibende Supermacht, die USA, hatte ihre Vormachtstellung behauptet und war auch bereit, sie zu wahren, desgleichen ihre Verbündeten.

Doch wichtiger noch, dieses Bündnis brauchte kein Mensch zu fürchten. Ganz wie Ben Trask es einst vorhergesagt hatte, war die Welt um einiges sicherer geworden, und zwar so sehr, dass unter politischen und zeitgeschichtlichen Kommentatoren der Versuch, den Wendepunkt auszumachen und die primären Faktoren und Verantwortlichen zu benennen, Mode geworden war. Als da wären: der Mikrochip, Lech Walesa, gigantische technologische Abfallprodukte aus dem Wettlauf um die Eroberung des Weltalls und ein satellitengestütztes Raketenabwehrsystem, Satellitenaufklärung, Tschernobyl, der totale Zusammenbruch des Kommunismus in Europa, Präsident Reagan, Premierministerin Thatcher und bis zu einem gewissen Grad auch Präsident Gorbatschow. Dazu kam noch der Golfkrieg, bei dem die ganze Welt fasziniert, erstaunt und mit einem gehörigen Maß an Entsetzen zugesehen hatte, wie einfache Krieger mit veralteten, an Feuerkraft unterlegenen Waffen unter dem Ansturm einer bis dahin nicht gekannten Empörung und überlegenen Technologie niedergemäht wurden.

Während all dies sich ereignete, erinnerte sich niemand außer vielleicht einer Handvoll Angehöriger des E-Dezernats an den Necroscopen Harry Keogh, und schon gar niemand führte auch nur einen Bruchteil der nun bestehenden Weltordnung auf das zurück, was Harry Keogh getan hatte. Und außer dieser kleinen Handvoll kam auch niemand auf den Gedanken, dass die Große Mehrheit, die zahllosen Toten, dabei eine Rolle gespielt haben könnten.

So standen die Dinge an jenem Montagmorgen im Januar des Jahres 2006, als Trask in der Zentrale des E-Dezernats im Herzen Londons eintraf und dort auf David Chung stieß, der mit einem Mobiltelefon in der Hand im Foyer hin- und herwanderte und auf ihn wartete. Es war jedoch nicht das Mobiltelefon, das Trask plötzlich innehalten ließ, als er das Gebäude betrat, sondern der Ausdruck auf Chungs Gesicht und das, was er in der anderen Hand hielt – eine alte Haarbürste.

Harry Keoghs alte Haarbürste ...

Ehe Trask das erkannte, bemerkte er allerdings die Dringlichkeit in Chungs Gebaren und setzte zu einer Entschuldigung an: »Tut mir leid, David, mein Autotelefon ist kaputt. Außerdem ist es heutzutage ja sowieso so oft gestört, dass man kaum denken, geschweige denn miteinander sprechen kann. Gibt es irgendwo ein Problem? Hast du versucht, mich ... zu ... erreichen?«

Er erblickte die Haarbürste und verstummte abrupt. Was in jener Nacht vor sechzehn Jahren geschehen war, stand lebhaft vor seinem geistigen Auge. Trasks Herzschlag beschleunigte sich, um mit dem plötzlichen Adrenalinschub Schritt zu halten. »David?«, sagte er. Es war eine Frage.

Chungs Antwort bestand in einem grimmigen Nicken, sonst nichts, und er bedeutete Trask, in den Fahrstuhl zu steigen. Als die Türen sich hinter ihnen schlossen und sie allein waren, stieß er diejenigen Worte hervor, die Trask am meisten fürchtete: »Er ist wieder da!«

Trask wollte es zunächst nicht glauben. »Er?«, flüsterte er heiser, obwohl er genau wusste, wer er war, um wen es sich handeln musste. »Harry?«

Chung nickte und zuckte hilflos die Achseln. Anscheinend wusste er nicht, wie er es sagen sollte. »Etwas von ihm«, erwiderte er schließlich, »wer oder was auch immer er jetzt sein mag. Ja, Ben, ich spreche von Harry. Ein Teil von Harry Keogh ist zu uns zurückgekehrt ...«