Seit fast einer Stunde wusste Lord Nestor Leichenscheu von den Wamphyri nun bereits Bescheid, dass sein Bruder – an den er so gut wie keine Erinnerung mehr hatte; sein richtiger Bruder, aye, sein »Bluts-«Bruder, allerdings nur dem Namen nach, ansonsten jedoch sein Erzfeind – nach Starside zurückgekehrt war. In ebendem Moment, als Maglore von Runenstatt und der zur Mumie gewordene ungeheure Eygor Todesblick in seiner Abfallgrube, die toten und träumenden Thyre und Nathans Neffen, die Wölfe, es gespürt hatten, da hatte auch Nestor es gewusst, und zwar mit derselben Gewissheit wie die anderen auch.
Nur war es Nestor paradoxerweise schwer gefallen, es zu glauben, hatte er sich doch für den Mörder seines Bruders gehalten! Mehr noch, er hatte gewusst, dass Nathan für immer verschwunden war, aus dieser Vampirwelt verbannt durch das Tor auf der Sternseite, aus dem weder Mensch noch Monster oder sonst eine Kreatur, ob sie nun die Natur oder die Bottiche der Wamphyri hervorgebracht hatten, je zurückgekehrt war. Es musste einfach so sein, denn schon vor siebzehn, wenn nicht gar achtzehn Sonnaufs hatte sein erster Leutnant, Zahar Leichenscheu, Nestor Bericht erstattet, dass er Nathan Nestors Geheiß gemäß in das Tor geworfen und damit zur Hölle gesandt hatte. Seither, bis zu dieser Nacht, war Nestor sich dessen gewiss gewesen. Denn mit dem Verschwinden seines Bruders war ihm zumindest noch ein weiterer Fluch von den Schultern genommen, der bislang wie ein Joch darauf gelastet hatte ... und nun wieder zurück war!
Der Zahlenwirbel!
Jener kryptische, wie irrsinnig kreisende Strudel aus Ziffern, Zeichen und Symbolen, der tief aus dem merkwürdigen Geist seines Zwillingsbruders hervorzuströmen schien und oft noch in Nestors Träume eingeflossen war; Nathans geistiger Schild, hinter dem er sich als Kind immer verschanzt hatte. Nun verriet er ihn wie ein Licht in der Nacht, wie die Lagerfeuer der Traveller, deren Geruch der Wind über die Sonnseite trug, von deren Lagerplätzen kündeten oder wie das hektische Summen von Schmeißfliegen ein Stück verfaulenden Fleisches verriet.
Nestor hatte es zum ersten Mal gespürt, als er und die anderen den Grat des Grenzgebirges überquerten, auf halbem Weg zwischen dem Großen Pass und Siedeldorf. Allerdings ... hinter sich? Der Ursprung des Gefühls hatte sich hinter ihm befunden, auf der Sternseite, in der Nähe des Tores. Doch was hatte ein Mann von der Sonnseite dort wohl zu suchen? Und was sollte ein Toter irgendwo zu suchen haben? Doch als sie auf der Sonnseite in die dem Gebirge vorgelagerten Hügel hinabglitten, war das Gefühl schwächer geworden. Und da er annahm, dass es sich lediglich um eine zufällige Erinnerung handelte an Zeiten, die besser vergessen blieben – denn was konnte es anderes sein, nun, da Nestors Erzfeind nicht mehr war –, hatte er sein Bestes getan, es aus seinem Geist auszuschließen und nicht mehr daran zu denken.
Doch als die geballte Streitmacht der Wrathhöhe wie eine Schar von Schatten vor dem tieferen Schatten des Gebirges pulsierend vorwärts schoss, war es mit einem Mal wieder da gewesen und wirbelte stärker als jemals zuvor durch Nestors Vampirgeist! Denn war der Zahlenwirbel früher ungeordnet, chaotisch und scheinbar ohne Sinn gewesen, so war er nun zielgerichtet und schien einen Sinn zu haben.
Und doch, falls sein Erzfeind tatsächlich noch am Leben war, was ging dann hier vor? Denn erst hatte Nestor ihn nahe am Tor zu den Höllenlanden gespürt, und nun ... weit im Süden, in der Wüste jenseits der Wälder und der Savanne? Das ergab keinen Sinn. Kein Mensch (und schon gar nicht ein Toter) konnte an zwei Orten gleichzeitig sein!
Also hatte Nestor den Drang verspürt, seinem Gefolgsmann Zahar Vorhaltungen zu machen oder ihm zumindest ein paar Fragen zu stellen, und ihn längsseits befohlen, um leichter mit ihm sprechen zu können. Ein Stück abseits der Hauptstreitmacht glitten sie durch die Nacht, und ohne seinen hünenhaften grimmigen Leutnant auch nur eines Blickes zu würdigen, verlangte Nestor in seiner »sanftesten« Stimmlange zu wissen:
Zahar, bist du mir treu ergeben?
»Euch, mein Gebieter? Immer!« Zahar sprach die Worte laut aus, in der Gewissheit, dass Nestor sie auch über dem Getöse des Windes noch »hören« konnte. Aber obwohl er Nestors Frage bejahte, war doch seine Besorgnis geweckt. Er fragte sich, worauf Nestor wohl hinauswollte, ihm zu dieser Zeit und an diesem Ort eine solche Frage zu stellen.
Darauf hatte ihm der Nekromant über den luftigen Abgrund hinweg einen nachdenklichen, ja, missbilligenden Blick zugeworfen und, indem er seine blutroten Augen zusammenkniff, gefragt: Aber ... bist du mir jemals ungehorsam gewesen?
Zahar schüttelte voller Inbrunst den Kopf. »Niemals, mein Gebieter! Und dies wird auch niemals der Fall sein!«
Einen Moment lang hielt Nestor seinen Blick über die böigen Aufwinde hinweg fest, Auge in Auge in der Nacht, blutrot der Blick des einen, ein tierhaftes Gelb der des anderen. Und ihm war klar, dass sein Leutnant die Wahrheit sagte. Denn Zahar Leichenscheu fürchtete die Kunst seines Herrn und die Qualen, die dieser ihm nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der nächsten zu bereiten vermochte. Noch nicht einmal die Toten waren vor Nestor sicher, einem Nekromanten, der sie folterte, damit sie ihm ihre Geheimnisse preisgaben, ihrem toten Fleisch Schmerz zufügte, als seien sie noch am Leben. Und im Verlauf der letzten vier, fünf Monate war Zahars Furcht sogar noch gewachsen, denn die Veränderung, die mit Nestor vorging, war so offensichtlich, dass Zahars früherer Gebieter, Vasagi der Sauger, im Vergleich dazu ein geradezu freundliches, ja, heiteres Wesen an den Tag gelegt hatte.
Als Zahar Nestor so anblickte – wenn auch nur flüchtig, denn es war nicht ratsam, einen Wamphyri zu lange oder zu offen anzustarren –, wie er nach vorn gebeugt im Sattel saß und sich leicht in den Wind lehnte, sah er einen Mann vor sich, der sich gewaltig verändert hatte. Noch vor zweieinhalb Jahren war er eins achtzig groß gewesen, und nun maß er beinahe zwei Meter zehn. Damals war er von der Sonne gebräunt gewesen, doch jetzt war er bleich von der Nacht, und seine Blässe kündete von seinem Zustand, denn sein Fleisch hatte die bleierne Farbe des Untodes angenommen. Seine Szgany-Augen waren von Natur aus dunkel gewesen ... aber nicht lange, höchstens für einen Tag, so rasch hatte die Verwandlung eingesetzt! Wamphyri, aye, und er war ein Naturtalent! Seine Augen leuchteten rot wie Glut.
Und doch ... vielleicht war es für ihn nicht ganz so »natürlich«, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Denn er verhüllte sein graues Fleisch, als würde er sich dessen schämen, kleidete sich von Kopf bis Fuß ganz in Schwarz, sodass seine Augen über einer Maske aus schwarzem Tuch erglühten. Doch ob es nun Scham war oder Nichtwahrhabenwollen, selbst als soeben erst aufgestiegener Lord – über all dem Schmerz, der Frustration und der Ungewissheit der Verwandlung in einen Vampir –, hatte sich Nestor dennoch etwas von seinem Sonnseitenerbe bewahrt. Und eine Zeit lang war er trotz allem, obwohl er immer mehr zum Wamphyri wurde, noch ein Mensch geblieben.
Mensch genug jedenfalls, dass er, als er eines Nachts mit Canker Canisohn zur Jagd auf die Sonnseite aufbrach, mit einer Freundin aus frühren Zeiten zurückkehrte – dem Mädchen Glina, das ihn geliebt hatte. Ah, doch darin hatte sich seine Menschlichkeit zum letzten Mal gezeigt. Denn wo waren Glina und das Kind, das sie von der Sonnseite mitgebracht hatte, jetzt?
Zahar wusste es sehr wohl, denn er war Zeuge gewesen und mehr als das. Das Kind war tot, zerschmettert bei seinem Aufprall auf die Felsen am Fuß der Wrathhöhe, und Glina von der Sonne verbrannt. Auch sie war von hoch oben herabgestürzt und ihr Leichnam in einem Spalt westlich des Großen Passes hinter Steinen eingemauert worden. All dies war zwar nicht von Nestors Hand, aber auf sein Geheiß passiert, und da war seine Verwandlung noch nicht abgeschlossen gewesen.
All dies war parallel zu seiner Affäre mit Wratha der Auferstandenen geschehen, während der sein Schritt leichter, sein Gemüt heiterer schien. Aber ihre »Liebe« war nicht minder falsch gewesen als Wratha selbst ... oder als Nestor? Wie dem auch sein mochte, sie war nicht von Dauer gewesen. Denn mittlerweile hatte Nestor seine Fähigkeiten als Nekromant entdeckt und festgestellt, dass er mit den Toten zu reden und ihre Geheimnisse aus ihnen herauszupressen vermochte. Und als er sich darüber im Klaren war, hatte seine Verwandlung eine völlig neue Richtung genommen; es war ein düsterer Nestor, der nun nächtens umging und sich wie ein Gespenst durch die labyrinthischen Gänge der Saugspitze bewegte ...
Oh, hin und wieder sahen sie einander schon, Nestor und Wratha, selbst jetzt noch, und sie teilten auch das Bett miteinander, schließlich waren sie Wamphyri und hatten so ihre Bedürfnisse. Doch ein Vampir-Lord denkt in erster Linie an sich. Er sucht Sicherheit, sorgt für seine Langlebigkeit vor. Dies war keine Zeit für Liebende, nun, wo der Wind aus dem Osten von jenseits der Großen Roten Wüste Krieg verhieß. Es gab Szgany-Blut zu vergießen, und Armeen von Untoten mussten geschaffen werden. Aye, und schon bald galt es mächtige Eindringlinge zu vernichten. So war es nun einmal: töten oder getötet werden.
Also wurden die Annehmlichkeiten dieser Verbindung hintangestellt, und das schwarz gekleidete Wesen, das nun neben Zahar auf dem Nachtwind dahinglitt, hatte herzlich wenig mit einem Menschen gemein, dafür umso mehr mit einem Vampir. Allerdings gab es darüber hinaus noch etwas anderes, was Zahar nicht ganz einzuordnen vermochte. Einen unsagbaren Schrecken? (Nestors Leutnant wagte es kaum zu denken, und was er da dachte, durfte auf keinen Fall jemand mitbekommen!) Doch ... quälte seinen nekromantischen Gebieter etwa die Furcht vor einer gewissen Krankheit?
... Zahars Blick war zu kühn! Desgleichen seine Gedanken, wie sehr er sie auch abschirmen mochte! Gefährlich kühn, aye! Er wusste es und wandte den Blick ab, zwang seinen Geist zu undurchsichtigen, sinnlosen Abschweifungen. Es war sicherer so ...
Da Nestor ohnehin die meisten von Zahars Gedanken las, wusste er, dass sein Gefolgsmann es niemals wagen würde, ihn zu belügen. Aber er wollte auf Nummer sicher gehen.
Zahar, sagte er, hör zu. In jener Nacht, als ich auf der Sonnseite abstürzte und du dachtest, ich sei für immer verloren, da hast du ihn gefangen genommen, meinen Erzfeind, und mir erzählt, er sei in ebendem Augenblick erwacht, als du ihn in das Tor warfst. Aber bist du dir auch sicher – wirklich ganz sicher –, dass er auch in dem Tor verschwunden ist?
»Ja, mein Gebieter«, und hastig fügte er hinzu: »Alles so, wie du es mir aufgetragen hattest!«
Natürlich, nickte Nestor nach einer kleinen Weile. Natürlich ... Doch nachdem Zahar sich wieder zurückfallen ließ, verspürte er erneut den inneren Aufruhr, jenen Schauder, dass da etwas war, und erkannte den Zahlenwirbel! Er war hier! Nathan ... war hier!
Es kam und ging, ein plötzlicher Ansturm aus dem Südosten, von weit jenseits des Waldes, und dann wiederum – nichts! Als habe jemand, wenn auch nur vorübergehend, eine Kerze entzündet und dann wieder gelöscht. Prompt flammte es ein zweites Mal auf, diesmal jedoch schwächer, von jenseits der Berge auf der Sternseite, sodass Nestor sich die Frage stellte: Habe ich nun einen Erzfeind? Oder sind es gar zwei? ... Oder drei? Oder spielte sich all dies nur in seinem Kopf ab?
Darauf fragte er sich: War es das? Ließ ihn jetzt nicht nur sein Körper, sondern auch noch sein Geist im Stich? Denn Nathan und dessen Zahlenwirbel waren nicht der einzige Fluch, mit dem Nestor Leichenscheu zu kämpfen hatte, und das Wesen in seinem Körper erfüllte ihn mit weit größerer Angst als irgendein Geisteszustand, den er sich womöglich nur einbildete. Oh ja! Denn Letzteren mochte er zwar durchaus in Zweifel ziehen; das Wesen in seinem Körper dagegen war unzweifelhaft real.
Und doch hatten beide Plagen ein- und denselben Ursprung, eine unglückselige Nacht vor etwa achtzehn Sonnuntern, als er mit Zahar auf der Sonnseite Jagd machte ... Jagd auf seinen Erzfeind, Nathan, und auf eine verräterische Lidesci-Schlampe namens Misha.
Und während die Wamphyri-Lords und ihre Luftstreitmacht dem Zufluchtsfelsen zustrebten, wanderten Nestors Gedanken zurück in die Vergangenheit, zu den Schrecknissen jener Nacht. Doch er wünschte sich gewiss nicht an all die furchtbaren Nächte zu erinnern, die seither verstrichen waren ...
Der Hunde-Lord Canker Canisohn, der von Zeit zu Zeit aus Träumen die Zukunft las, hatte Nestor davor gewarnt, es zu tun. Doch der Nekromant hatte nichts davon wissen wollen. Sein Erzfeind befand sich auf der Sonnseite, und Nestor hatte die Absicht, ein für alle Mal mit ihm abzurechnen.
Canker sollte Recht behalten, der Überfall endete in einer Katastrophe. Nestors Flieger wurde verkrüppelt. Das halbe Gesicht wurde ihm weggeschossen und das winzige Gehirn schwer beschädigt. Auch Nestor war schwer verletzt, halb geblendet vom Silberschrot aus einer Schrotflinte der Lidescis. Allein die Zähigkeit der Wamphyri und reine Willenskraft hatten ihn im Sattel gehalten, als seine sterbende Bestie südwärts glitt und über den Wäldern an Höhe verlor.
Dann der Absturz ... die Bewusstlosigkeit .. das allmähliche Erwachen. Ein bisschen Schmerz, auf den er am besten nicht weiter achtete. Die Wamphyri verdrängen Schmerzen zumeist. Sie leiden schweigend, während ihr Parasit sich um die Heilung kümmert. Doch der Ort, an dem er erwachte: eine Aussätzigenkolonie!
Lepra! Der große Fluch eines jeden Vampirs!
Aus Furcht und Abscheu hatte Nestor die Flucht ergriffen, zugleich war er vor den tödlichen Strahlen der aufgehenden Sonne geflohen, tief in die Wälder, in eine Höhle am Ufer eines Flusses, wo er den langen Sonnseitentag verschlafen und seine Fieberträume geträumt hatte. Und während er sich im Schlaf stöhnend hin und her warf, hatte tief in seinem verwundeten Fleisch sein Egel mit dem metamorphen Heilungsprozess begonnen.
Bei Einbruch der Nacht hatte er sich auf den Weg zur Sternseite gemacht, und hoch oben im Grenzgebirge hatten ihn sein Gefolgsmann Zahar und Canker Canisohn aufgelesen. Allem Anschein nach gab Lord Nestor gar kein so schlechtes Bild ab (nun, ein paar Kratzer und ein, zwei Narben, und die tiefste davon würde er vielleicht als Andenken behalten), aber er ließ kein Wort darüber verlauten, wie er den vorherigen Tag und die Nacht überlebt hatte. So kehrte er in die Saugspitze zurück, seine Stätte im letzten großen Felsenturm der Wamphyri.
Und ... er hegte nicht den geringsten Wunsch, sich daran zu erinnern, was als Nächstes gekommen war. Nicht hier und jetzt, mit so vielen scharfsinnigen Wamphyri ringsum. Womöglich hatte er sich bereits an viel zu vieles erinnert – aber er bezweifelte es. Die anderen konzentrierten sich viel zu sehr auf das, was kommen mochte, und nicht auf das, was womöglich gewesen war.
Doch Zahar Leichenscheu (vormals Saugersknecht), der ein Stück hinter seinem Gebieter flog, erinnerte sich nicht weniger als Nestor an diese Zeit. Er schirmte seine Gedanken ab, so gut er konnte, gewiss, aber dennoch erinnerte er sich ...
In der Saugspitze (die ihren Namen noch von ihrem einstigen Gebieter, Vasagi dem Sauger, hatte) war der Nekromant Lord Nestor Leichenscheu ziemlich bald in eine gewisse Routine verfallen, zunächst allerdings von einer Art, die nur er selbst kannte, und zudem noch reichlich merkwürdig für einen Lord der Wamphyri, vielleicht beinahe schon krankhaft. Zahar erinnerte sich noch genau daran, wie es dazu gekommen war:
Direkt unterhalb der Wrathspitze gelegen, die in der Tat die Spitze des Turmes darstellte und sich gut einen Dreiviertelkilometer über den Trümmern und dem Geröll erhob, war die Saugspitze die zweithöchste der gewaltigen Stätten des Felsenturms. Vor Vasagis ... Ableben ... und Nestors Aufstieg war sie ein düsterer, unheilschwangerer Ort gewesen, selbst nach den Maßstäben der Wamphyri Trübsinn erregend, mit einer ganz eigenen Aura ... oder vielmehr derjenigen des Saugers.
Vasagi war eiskalt gewesen und auch für seinesgleichen oftmals vollkommen unergründlich, ein wahres Ungeheuer. Er war das Opfer einer erblichen Knochenkrankheit, und als das Wachstum seiner Kiefer und Zähne das wandelbare Fleisch seines Gesichtes zu überwältigen drohte, hatte er sie einfach entfernt. Mit anderen Worten: Er hatte sich sämtliche Zähne aus seinem Oberkiefer gerissen, sich den Unterkiefer ausgehakt, sämtliches Fleisch von den widerspenstigen Knochen zurückgezogen und war ihrer so ledig worden. An ihrer statt hatte er sein Gesicht zu einem spitz zulaufenden blassrosigen Tentakel geformt, der vorn in eine bewegliche Nadelsaugspitze auslief, dem Rüssel einer Biene nicht unähnlich. Dies war eine Waffe, die er mit erstaunlicher Geschicklichkeit und auf die vielfältigste Weise zu führen vermochte. Er konnte sie noch in die winzigste Ader einsinken lassen, um Blut zu saugen, oder durch ein Trommelfell oder Auge tief in die Hirnwindungen eindringen, um zu vampirisieren, Anweisungen zu erteilen, zu verletzen oder zu töten.
Weil der Sauger sich selbst derart verstümmelt hatte, konnte er zwar nicht sprechen, doch hatte er seine Mimik und Gestik zu höchster Vollkommenheit verfeinert. Er war jedoch auch als Mentalist unübertroffen, sodass man ihn mittels seiner Gesten und seiner telepathischen Fähigkeiten stets verstand – sofern er dies wollte. Aber da Vasagi meist für sich und in seiner Stätte blieb, hatte er wenig Verwendung für Sprache gleich welcher Art, sondern zog die Abgeschiedenheit vor. Und gleichermaßen schien er einem kargen Leben den Vorzug zu geben.
Als Nestor zum Herrn der Saugspitze aufgestiegen war, nachdem Wran der Rasende Vasagi bei einem Duell auf der Sonnseite getötet (oder nur schwer verletzt?) hatte, war er entsetzt darüber gewesen, dass die Stätte weder über Licht noch Heizung verfügte, die Wasserversorgung unzureichend war und es überhaupt an jeder Annehmlichkeit mangelte. Die Vorrichtungen waren zwar allesamt vorhanden, aber weitgehend abgestellt oder verstopft worden, denn von derart gewöhnlichen Einrichtungen hatte Vasagi keinen Gebrauch gemacht. Und auch das Leben seiner Knechte, ob nun unerfahrene Vampire oder auch Leutnante, war karg. Und da Vasagi »stumm« war, waren auch sie schweigsam, sprachen nur das Nötigste und schlichen verschüchtert durch die Saugspitze.
Es mag zwar eine Tatsache sein, dass alle Vampirknechte ihre Herren fürchten, aber Vasagis Sklaven (und vor allem seine Sklavinnen) fürchteten ihn mehr; denn mit seinem absonderlichen Gesicht – den blutroten Augen und dem merkwürdigen Rüssel mit dem Saugstachel – wirkte er eher wie ein Insekt als ein Mann. In den Tagen vor ihrem Duell auf der Sonnseite hatte Wran der Rasende Vasagi oftmals verhöhnt, dass er seine Odalisken wohl nur von hinten bestieg, weil sie den Anblick seines Gesichts nicht ertragen konnten!
Nun, und nach dem Duell dürften sie seinen Anblick noch viel weniger ertragen können. Denn in einem Akt abscheulicher Gnadenlosigkeit hatte Wran Vasagi den Saugrüssel herausgerissen und anstelle eines Gesichts nur eine bluttriefende, klaffende Wunde hinterlassen. Nur dass die Vampirfrauen der Saugspitze dieses grässlichen Anblicks niemals gewahr werden würden, denn es war ein Kampf auf Leben und Tod gewesen ... oder hätte es zumindest sein sollen.
Doch wie dem auch sein mochte, Wran hatte den Sauger in der dunstigen Morgendämmerung der Sonnseite schwer verletzt in seinem Blut zurückgelassen, an einen südwärts gelegenen Hang des Vorgebirges gepflockt, um auf den Sonnenaufgang und damit einen qualvollen Tod zu warten. Seither hatte niemand in der letzten Felsenburg mehr etwas von ihm gehört oder gesehen. Und es vermisste ihn auch niemand, abgesehen vielleicht von der Lady Wratha, die ihn als Verbündeten betrachtet hatte ...
Doch in der Saugspitze – Nestor hatte seine Gründe, warum er ihr keinen neuen Namen gab – lebte Vasagis Aura weiter. Seine Leutnante waren weiterhin mürrisch und verschlossen und geizten sowohl mit Worten als auch im Gebrauch der Versorgungseinrichtungen ... eine Zeit lang zumindest, so lange, bis sie sich an Nestor gewöhnt hatten.
Aber schließlich hatte der junge Lord Leichenscheu all dies geändert. Er war keine kalte Kreatur, sondern ein Mann von der Sonnseite, und seine Neigungen und Begierden glichen eher denjenigen eines Menschen. Wenn der Vampir-Lord Vasagi der Sauger sich eine Frau nahm, dann hatte er sie bestiegen und sich zugleich an ihr gütlich getan und war nicht allein mit seinem Glied, sondern auch mit seinem Saugstachel in sie eingedrungen, in die Brust, den Hals oder unter die Zunge. Es war eine äußerst schmerzhafte Angelegenheit, mit ihm das Bett zu teilen. Mit Nestor dagegen war es die reinste Wonne. Da Nestor noch reichlich unerfahren war, was Frauen anging, unterwiesen Vasagis Odalisken ihn in ihren diversen Künsten, und er war ein eifriger Schüler. Doch schon bald konnte er mit Hilfe des Szgany-Mädchens Glina Berea ihnen etwas beibringen.
In der Saugspitze stellte Nestor das Wasser an, das aus Gorvis Brunnen heraufgepumpt und von Wrathas Wasserwarten in der Wrathspitze weiterverarbeitet wurde. Er ließ die Gasleitungen säubern und, soweit erforderlich, wieder in Stand setzen und zweigte seinen Anteil des Gases aus den Methankammern der Irrenstatt ab, um in der Saugspitze zusätzliches Licht und zusätzliche Wärme zu schaffen. Und auch wenn so mancher es eher für Luxus als für eine Notwendigkeit gehalten hätte, kümmerte er sich doch um die wenigen Bedürfnisse seiner Knechte, sodass auch deren Leben nicht ganz ohne Annehmlichkeiten blieb.
Im Gegenzug verlangte er von Knechten und Leutnanten gleichermaßen absoluten Gehorsam, und wer seinen Geboten zuwiderhandelte, hatte schwere Strafen, mitunter sogar den Tod zu fürchten. Und weil Nestors Wort Gesetz war und das Gesetz eindeutig, handelte niemand zuwider. Alles in der Saugspitze gehörte ihm: Seine Gefolgsleute und Kreaturen, selbst Vasagis Krieger, die noch in ihren Bottichen heranwuchsen, waren nun Nestors Besitz, und er konnte mit ihnen verfahren, wie ihm beliebte.
Es war eine Zeit der gegenseitigen Annäherung in der Saugspitze gewesen und für Lord Leichenscheus Knechte großenteils auch eine Zeit der Zufriedenheit – obwohl man sich darüber im Klaren sein muss, dass wirkliche Freude und wirkliche Zufriedenheit im Leben eines Knechtes nichts zu suchen haben. Doch wie dem auch sei, für ihre grundlegenden Bedürfnisse war nun wesentlich besser gesorgt ... am Anfang zumindest ...
... bis Nestor seine nekromantischen Fähigkeiten entdeckte; und insbesondere bis zu jener Nacht, in der er mit Zahar das Grenzgebirge überquerte, um auf der Sonnseite zu jagen.
Seitdem war alles nur schlimmer geworden. Nicht so sehr, was den Unterhalt oder die »Moral« der Saugspitze selbst anging, sondern vielmehr mit ihrem Herrn und Gebieter. Seine Launen wurden wechselhaft wie der Wind – nicht jedoch seine Miene, die stets ernst war –, und seine Knechte fingen wieder an, wie zu Vasagis Zeiten schweigend umherzuschleichen. Es war, wie Zahar bald feststellte, als laste ein krankhafter Fluch auf ihm ... oder als trage er eine morbide Furcht mit sich herum.
Einmal, als Zahar mit einer Nachricht des Freundes und Nachbarn des Nekromanten, des Herrn der Räudenstatt, Canker Canisohn, in Nestors Privatgemächer hastete, hatte er seinen Gebieter völlig nackt im Bad angetroffen. Offensichtlich war er damit beschäftigt, seinen Körper, die Haut seiner Unterarme und Schenkel einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. Er war so sehr darin versunken, dass er Zahars Gegenwart eine Zeit lang gar nicht bemerkte. Doch als er seiner dann schließlich gewahr wurde, war er außer sich vor Zorn!
Was?, verlangte er zu wissen, indem er sich eilends bebend ankleidete. Belauschte ihn sein getreuer Leutnant etwa schon in der Abgeschiedenheit seiner Gemächer? Wohlan, von nun an war ihm und jedem anderen der Zugang zu diesen Räumlichkeiten untersagt. Und Zahar würde auch nie wieder mit einer Nachricht, ganz gleich von wem, hier hereinplatzen, es sei denn, Nestor rief ihn herein. Mehr noch, es würde auch nie wieder einen telepathischen Kontakt zwischen ihnen geben, es sei denn, Nestor leitete ihn in die Wege. Und sollte Zahar jemals den Drang verspüren, ungebeten in Nestors Geist einzudringen, und sei es in noch so geringem Ausmaß ... dann sollte er erst das Geheimnis des Fliegens erlernen, denn diese Kunst würde er mit Gewissheit brauchen, wenn man ihn aus einem der Fenster der Saugspitze warf! Zahar hatte ihn noch nie derart wütend erlebt ...
... Aber ihm war bewusst, dass ohne Unterlass Brennstoff für die Feuergrube des Lords herbeigeschafft wurde, und zwar in solchen Mengen, dass eigens ein Knecht dazu abgestellt war, der ständig Szgany-Holzkohle in Nestors Badezimmer trug. Und er wusste ebenfalls, dass Nestor ein Gutteil des Wassers aus den Hähnen des Reservoirs abzapfte, damit das heraufgepumpte Wasser der gesamten Stätte zum freien Gebrauch zur Verfügung stand. Das konnte nur bedeuten, dass Nestor häufig badete – sehr häufig! Aber wozu? Sauberer als sauber konnte ein Mann doch nicht werden.
Oder wusch er womöglich mehr als nur seinen Körper? Vielleicht versuchte er auch seine Seele zu reinigen? Aber wovon? Etwa von Taten, die selbst ein hartgesottener Leutnant grässlich finden würde? Immerhin war Nestor ein Nekromant. Und Zahar hatte sich stets gedacht: Das Leben hält doch schon genügend Schrecken und Qualen für einen bereit, auch ohne dass ein Mann auch nach seinem Tod noch gefoltert werden müsste. Derartige Gedanken behielt er allerdings, so gut es ging, für sich.
Oder reinigte Nestor sich womöglich von unschuldig vergossenem Blut? Falls dies der Fall war, dann war er wohl der erste Lord der Wamphyri, der sich seine Schuld eingestand! Aye, denn die anderen schwelgten darin! Ah, aber es gab Schuld und es gab Schuld, und Zahar erinnerte sich nur zu gut an diese Frau, Glina, und ihr Gör ... allerdings war dies ein weiterer Gedanke, den er lieber für sich behielt.
Dann war da noch die Sache mit Nestors Bedürfnissen. In Bezug auf seine Frauen hatte er sich nur so lange zurückgehalten, wie er regelmäßig Wratha aufsuchte, denn er wollte seine Kraft für sie aufsparen. Vor ihrer Affäre jedoch und in der darauf folgenden Zeitspanne, in der die Leidenschaft zwischen ihnen allmählich abkühlte, war er keinesfalls zu kurz gekommen. Vasagi war zwar ausgesprochen hässlich gewesen, aber er hatte ein Auge für gut aussehende Mädchen gehabt und sich eine reichliche Anzahl davon von der Sonnseite geholt. Mit dem Egel des Saugers hatte Nestor auch sie geerbt und sie allesamt ausprobiert; und eine von ihnen – eine der Ersten – etwas zu sehr. Er hatte sie ausgesaugt und zu Tode erschöpft – oder vielmehr zum Untod. Und damit sie aus ihrem Schicksalsschlaf nicht als unerwünschte Lady der Wamphyri erwachte, gar als Herrin in Nestors Stätte, hatte Zahar dazu geraten, sie ins Grenzgebirge zu bringen und dort anzupflocken, damit sie auf den Sonnenaufgang wartete und so vernichtet wurde. Und Nestor hatte eingewilligt.
Es hatte also nie einen Mangel an Frauen gegeben, um Nestors Bett zu wärmen, weder vor noch nach seiner großen Romanze mit Wratha. Doch seitdem er nach besagtem Jagdausflug zu Fuß von der Sonnseite zurückgekehrt war, schien er jedes Interesse an den Frauen der Saugspitze verloren zu haben; und wenn nicht jedes, so doch einen Großteil davon.
Und sein Appetit ...
Nestor hatte nie großen Wert darauf gelegt, dass seine Speisen blutig waren. Wenn es denn unbedingt sein musste, akzeptierte er es, aber im Allgemeinen genügte es ihm, wenn das Fleisch leicht angebraten war. Wenn er allerdings einmal (und dies war wirklich merkwürdig) etwas Lebendiges zu sich nahm, ging er sicher, dass das Opfer sofort im Anschluss daran den Tod erlitt – und zwar den wahren Tod, nicht den Untod – und der Leichnam gereinigt, gehäutet und das Fleisch gut durchgebraten wurde, bevor es in die Vorratskammern wanderte! Und stets war es ausschließlich für den Verzehr durch die Krieger bestimmt, deren Konstitution es ihnen erlaubte, nahezu alles zu verdauen und wieder auszuscheiden.
Und dennoch ... gierte er nach Blut wie all die anderen auch. Dies wusste Zahar mit Gewissheit, denn er hatte mit Nestor auf der Sonnseite gejagt und erlebt, dass er den Besten in nichts nachstand, wenn es voll blutigen Eifers ans Töten ging – ein sicherer Maßstab für die Vitalität eines Wamphyri, denn Mordrausch und Blutdurst gingen stets Hand in Hand. Warum also nicht bei Nestor? Wie auch immer die Antwort ausfallen mochte, sie erklärte sicherlich seine fahle Blässe. Selbst für einen Lord der Wamphyri war Nestor Leichenscheu in letzter Zeit unbestreitbar bleich. Das Blut ist das Leben, doch Nestor kostete kaum davon.
Andererseits hatte er diesem Raubzug gegen die Lidescis voll gespannter Erwartung (oder ... voll unheilvoller Vorahnungen? Es war schwer zu sagen.) entgegengesehen. Und Zahar entsann sich, wie Nestor ihn vor wenig mehr als hundert Stunden im frühen Morgengrauen in sein südwärts gelegenes Ruhegemach gerufen hatte. In diesen Tagen geschah es nicht mehr allzu oft, dass der Nekromant jemandem eine Audienz in seinen Gemächern gewährte – und es war ein Grund zur Sorge. Man konnte sich nämlich nie ganz sicher sein, was Nestor im Sinn hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte er jedoch lediglich das Bedürfnis nach Gesellschaft verspürt, nach der Gegenwart eines anderen. Außerdem wollte er ein bisschen plaudern.
Ein großes Fenster in Nestors Ruhegemach ging auf die Findlingsebene und das Grenzgebirge hinaus, dessen höchste Gipfel bereits in Gold gefasst waren, als sich weit im Süden die Sonne erhob. Es würden noch Stunden vergehen, bevor die sengenden Strahlen des glühenden Feuerballs zwischen den Bergspitzen hindurch die Wrathhöhe erreichten, und auch dann nur die von einer ausgebleichten Kalkschicht überzogene Südflanke der luftigen Wrathspitze. Lange zuvor würden Wrathas Vorhänge aus schwarzem Fledermauspelz dicht zugezogen sein, um auch nicht den kleinsten Strahl schädlichen Sonnenlichts durchzulassen, und die Lady selbst würde sich an einem dunklen, sicheren Ort aufhalten.
Was die übrigen Stätten anging: Auch wenn die Sonne sie niemals beschien, begaben ihre vampirischen Gebieter sich im Allgemeinen doch bei Sonnauf zu Bett, um sich nach der langen Nacht auszuschlafen. Doch Nestor war immer schon anders gewesen. Er fürchtete die tödliche Macht der Sonne, zugegeben, aber dennoch faszinierte sie ihn. Oft saß er in seinem Ruhegemach, um den giftig goldenen Fleck zu verfolgen, der über die fernen Felsspitzen kroch, und blieb dort bis zum letztmöglichen, unerträglichen Augenblick, in dem er ein schwaches, fernes Brodeln zu vernehmen glaubte, wie von Säure, die sich in den Stein fraß.
Ebendort hatte Zahar ihn vorgefunden, als Nestor nach ihm rief. Er hatte an dem großen Fenster gesessen, die Läden weit geöffnet, und nach Südwesten aufs Grenzgebirge hinausgeblickt, dessen Konturen bereits golden erstrahlten.
Nach einer Weile hatte Nestor gesagt: »Du weißt, dass ich Wratha von einem Stützpunkt der Lidescis erzählt habe, den sie den Zufluchtsfelsen nennen ...« Es war keine Frage gewesen, eher eine Feststellung.
»Mitunter reichen auch die Untergebenen der Felsenburg Nachrichten weiter, wie du wohl weißt, mein Lord«, erwiderte Zahar vorsichtig. »Es gibt Knechte, die die Wasser- und Gasleitungen zwischen den Stätten reparieren, andere arbeiten hoch oben, um die Hähne der Wasserreservoirs auszuwechseln und die Wappen und Wimpel in Stand zu halten. Manchmal schnappen sie etwas von dem, was geredet wird, auf. Es geht das Gerücht um, dass wir heute Nacht angreifen!«
»Wir alle, aye«, nickte Nestor. »Du, ich, Grig, Norbis, Lexis, Asabar und die besten unserer aufstrebenden Knechte; die Lady Wratha und ihre Männer, desgleichen die Lords Spiro Todesblick und Wran der Rasende, Gorvi der Gerissene und Canker Canisohn. Dazu ein Kontingent an Kriegern – in der Tat alle Krieger, ausgenommen diejenigen, die gerade aus ihren Bottichen kommen! Das allerbeste Material des gesamten Felsenturms, und nur eine Hand voll vertrauenswürdiger Knechte bleibt zurück, um sich während unserer Abwesenheit um unsere Stätten zu kümmern.«
»Die Lidescis sind bereits dem Tod geweiht, mein Lord!«
Darauf hatte Nestor die Lehne seines Sessels gepackt und ihm ruckartig das Gesicht zugewandt. »Ach, tatsächlich? Sind sie das? Bist du dir dessen sicher? Diese Lidescis sind ein hartnäckiges Völkchen, Zahar!«
»Das trifft auch auf Gräser und Flechten zu, mein Lord, und dennoch kann man sie mit dem Stiefelabsatz von den Felsen kratzen.«
»Dafür sterben Flechten nicht im Sonnenlicht! Siehst du das Grenzgebirge da drüben? Die Gipfel sind voller Flechten, die dort wachsen. Sie können überleben, wo wir es nicht vermögen.«
»Das trifft auch auf die Szgany zu, und doch« – Zahar legte die Stirn in Falten – »ist Sonnenlicht etwas Natürliches und keine Waffe der Szgany.«
»Einst war es das aber«, sagte Nestor grüblerisch, indem er den Blick wie zuvor zum Grenzgebirge wandte. »Mir ... mir scheint, ich entsinne mich einer Sage oder Legende – einer Geschichte aus einer fernen Zeit –, als ich noch klein, vielleicht auch noch nicht einmal geboren war. Der Legende zufolge gab es vor Wratha und uns Übrigen hier andere Vampire. Und allem Anschein nach verhält es sich wirklich so, denn man findet hier allenthalben Spuren ihrer Behausungen und Anzeichen ihres Verfalls und Niedergangs. Dies hier ist nur eine einzige, die letzte Felsenburg, aber weit und breit über die Findlingsebene verstreut liegen für jeden sichtbar die Überreste weiterer Felsentürme, die in einem gewaltigen, schrecklichen Krieg zerstört wurden. Ihre zerschmetterten Stümpfe sind rauchgeschwärzt, und überall finden sich Hinweise auf eine ungeheure Hitze und Explosionen. Denn in jenen vergessenen Zeiten schien die Sonne auch auf die Sternseite!«
»Diese ›Sage‹ ist mir nicht unbekannt, mein Lord!«, erwiderte Zahar. »Doch bin ich, mit Verlaub, älter als du und weiß, dass sie den Tatsachen entspricht. Ich war damals noch ein Kind auf der Sonnseite, acht oder neun Jahre alt, und ...«
»Einen Moment!« Erneut wandte Nestor ihm den Blick zu, neugierig diesmal. »Erst sag mir eines ... Vermisst du sie?«
»Wen, mein Lord?« Zahar runzelte die Stirn.
»Deine Kindheit. Dein ... Menschsein? Vermisst du die Sonnseite? Du wurdest von Vasagi geraubt und zu dem gemacht, was du jetzt ... bist. Aber ... das ist noch gar nicht so lange her, etwas über drei Jahre? Du erinnerst dich doch gewiss daran, wie es gewesen ist? Sag es mir, Zahar! Fehlt dir, was du hattest und was du warst?«
Völlig verblüfft konnte Zahar nur die Achseln zucken. »Ich bin ein Vampir, mein Lord. Ich habe, was ich habe, was Vasagi – und du, mein Lord – mir gegeben habt. Wenn ich Glück habe ... sehr viel Glück, nun, dann kann es sein, dass ich ewig lebe! Oder wenn schon nicht ewig, dann doch für eine sehr lange Zeit. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich vermag es nicht zu sagen, ich weiß einfach nicht, ob mir irgendetwas ›fehlt‹. Oh, es gibt Dinge, die ich begehre, gewiss. Aber ... ich bin nun einmal ein Vampir, mein Lord!«
»Und warum fehlt es dann mir? Eh?« Nestors Stimme klang mit einem Mal tiefer, erfüllt von einer merkwürdigen Melancholie. »Wie kommt es, dass du dich an alles zu erinnern vermagst, ohne dass es dir etwas bedeutet, während ich, wo ich doch nahezu alles vergessen habe, mir ... so viele Gedanken darum mache?«
»Du machst dir Gedanken um die Sonnseite? Um die Traveller?« Zahar zuckte die Achseln. »Das ist nicht schwer zu verstehen. Immerhin sind die Szgany deine Lebensgrundlage, sie bedeuten Zukunft und Langlebigkeit für dich. Das Blut ...«
Ohne sein Gegenüber anzublicken, hob Nestor eine Hand und schnitt ihm damit das Wort ab. Müde sagte er: »Erzähle mir nicht, dass es das Leben ist, denn das weiß ich bereits. Aber ziehe doch einmal etwas anderes in Betracht: Könnte es auch den Tod bedeuten?«
Zahar war verwirrt, doch dann lächelte er tapfer. »Du ... du spielst ein Wortspiel mit mir! Habe ich Recht, mein Lord?«
Zunächst schüttelte Nestor den Kopf, doch im nächsten Augenblick nickte er. »Natürlich.«
»Darin bin ich nicht so gut, mein Lord«, meinte Zahar bedauernd. »Selbst wenn er gut gelaunt war, hat Vasagi nie viel gesprochen – und wenn, dann nur sehr merkwürdig.«
»Hmm!«, machte Nestor nachdenklich und griff dann das vorherige Thema wieder auf: »Nein, ich mache mir keine Gedanken um die Szgany, und schon gar nicht um die Szgany Lidesci. Jedenfalls nicht mehr!«
»Obwohl sie dein Volk waren?« Doch Zahar erkannte sofort, wie dumm es war, einem Wamphyri eine solche Frage zu stellen. »Selbstverständlich nicht, mein Lord!«, fügte er deshalb rasch hinzu. »Alles, was dich kümmert, bist du selbst. Und natürlich deine Stätte und ... diejenigen in deiner Obhut?«
Abermals bedachte Nestor ihn mit einem Blick. »Habe ich mich etwa nicht um Wratha die Auferstandene gekümmert?«
Das Lächeln war aus Zahars Gesicht gewichen. Nun ging es nicht mehr nur um das Denken auf verschlungenen Pfaden und die Lust am Argumentieren um des Argumentierens willen. Jetzt musste er aufpassen, was er auf diese Frage antwortete. »Dies ist doch nur ein Spiel, mein Lord? Ich meine ... soll ich offen sprechen?«
In Nestors blutrotem Blick lag keinerlei Regung, als er erwiderte: »Oh ja, das verlange ich!«
Zahar stellte fest, dass seine Kehle trocken war. »Vielleicht ... vielleicht sollte man das weniger ›kümmern‹ als vielmehr ›begehren‹ nennen, mein Lord?« Er krümmte sich innerlich, während er auf eine Reaktion wartete.
Doch Nestor schien keinerlei Anstoß daran zu nehmen und fragte ohne langes Zögern: »Heißt das also, dass Vampire Liebe nicht kennen?«
»Ich habe zwar schon davon gehört, es aber noch nie gesehen.« Froh, wieder in sicherem Fahrwasser zu sein, seufzte Zahar erleichtert auf.
»Liebst du, Zahar?«
»In deiner Stätte gibt es Frauen, mein Lord ... abgesehen natürlich von deinen eigenen! Zu einer von ihnen gehe ich, ja. Aber sie lieben ...?«
»Abgesehen von meinen eigenen?« Noch immer ließen weder Nestors Stimme noch sein Gesicht auch nur die geringste Emotion erkennen. »Aber sie gehören doch alle mir, oder etwa nicht?«
»So wie wir alle«, beeilte Zahar sich, ihm beizupflichten. »Aber du pflegst nicht alle Frauen deiner Stätte aufzusuchen, nur diejenigen, die deiner würdig sind. Und selbstverständlich weiß ich Bescheid, welche Vorlieben du hast.«
»Ich habe meinen Harem, gewiss«, nickte Nestor.
»In der Tat, mein Lord.«
»Aber manchmal müssen sie darben.«
»Wie es dir beliebt, natürlich.«
»In letzter Zeit habe ich mich ihnen ... versagt.«
»Und dir selbst auch, mein Lord.«
Erneut bedachte Nestor ihn mit einem flüchtigen Blick. »Sind sie zu anderen gegangen? Zu dir? Oder anderen Leutnanten? Zu anderen Männern? Etwa zu gemeinen Knechten?«
Zahar war hastig einen Schritt zurückgewichen. »Aber ... so etwas würden sie niemals wagen! Was, deine Frauen? Mit anderen Männern ...? Und welcher deiner Gefolgsleute würde hoffen oder versuchen oder hätte den Nerv ... ich meine ...«
»Ich weiß, was du meinst. Mein Arm ist lang und meine Strafen hart.«
Abermals seufzte Zahar auf. »Ja, mein Lord!«
»Bin ich zu hart?«
(Was sollte er darauf erwidern? Ja sagen und für einen Schwächling gehalten werden? Oder Nein sagen und Gefahr laufen, dass Nestor ihm gleich hier und jetzt, auf der Stelle, das Gegenteil bewies, womöglich indem er ihm einen weiteren seiner Finger abschnitt?) »Du bist genauso hart, wie du sein musst, mein Lord! Weder zu streng noch zu nachgiebig.«
Darauf blickte Nestor ihn an und grinste freudlos. »Schlau! Du bist gar nicht so schlecht in Wortspielen, Zahar – nun, sofern man in Rechnung stellt, wie schwer es war, überhaupt mit Vasagi zu reden, und wie schwierig die Nuancen dessen, was er sagte, zu greifen waren. Aber dennoch hast du mir meine Frage nicht beantwortet. Du hast behauptet, das Blut sei das Leben. Und ich wiederum fragte: ›Kann es auch den Tod bedeuten?‹ Wie lautet deine Antwort?«
Zahar zögerte. »Ich habe keine. Dein Rätsel ergibt für mich keinen Sinn. Wie kann das Blut den Tod bedeuten? Wir trinken es, um zu leben, nicht um zu sterben.«
»Und wenn, was wir trinken, verdorben ist?«
»Vergiftet, mein Lord?«
Nestor zuckte die Achseln. »Nenn es meinetwegen vergiftet. Ja.«
»Mit Silber oder mit Kneblasch?«
gegeben hat
Diese ganze – unangenehme? – Unterhaltung hatte vor etwa einhundert Stunden in Lord Nestor Leichenscheus Ruhegemach in der Saugspitze stattgefunden.
Doch nun musste Zahar seine Gedanken zurück in die Gegenwart zwingen, in das Hier und Jetzt, und der Tatsache ins Auge sehen, dass er soeben »gehört« hatte, wie sein Gebieter Wratha der Auferstandenen eine gedankliche Warnung zukommen ließ:
Wratha, zurück! Nicht landen! Da unten ist jemand. Ein Feind – und was für einer! Aye, und er ist gefährlich!
Gefahr! Und die erste Pflicht eines Leutnants bestand darin, seinen Herrn und Gebieter zu schützen! Zahar trieb seinen Flugrochen an, bis er neben Nestor dahinglitt. Und sein Blick folgte demjenigen Nestors.
Links vor ihnen senkte sich der gewaltige prunkvoll gesattelte Flugrochen der Lady Wratha bereits auf die abgeflachte, plateauähnliche Kuppe des riesigen Findlings beziehungsweise des von gewaltigen Kräften abgerundeten Zufluchtsfelsen genannten Vorsprungs hinab. Direkt vor ihr setzte die Bestie ihres ersten Leutnants gerade zur Landung an. Etwas weiter zur Linken – parallel zu Nestor, allerdings ein Stück höher, sodass sie hinter Wratha eine ungefähre V-Formation bildeten – stand, eine Reihe äußerst anschaulicher Flüche bellend, Canker Canisohn in den Steigbügeln und zerrte an seinen Zügeln. Wie stets mit Feuereifer bei der Sache, zügelte der Hunde-Lord seinen Flieger in voller Absicht, damit er umso schneller an Höhe verlor. Er konnte es kaum noch erwarten, endlich zu landen. Dicht hinter diesen dreien folgten Wran der Rasende Todesblick in Nestors Windschatten und sein Bruder Spiro in demjenigen Cankers, und hinter diesen in einigem Abstand natürlich noch deren dienstälteste Leutnante, die die beiden Abschnitte des »V« bildeten.
Doch plötzlich tauchte wie aus dem Nichts aus einem ginsterüberwucherten Felsspalt direkt in der Flug- beziehungsweise Landebahn des vordersten Fliegers ein Mann auf. Er trug eine merkwürdige Maske mit hervortretenden reflektierenden Augen und über der Schulter eine einer länglichen Kiste nicht unähnliche Apparatur ... die er auf den Leitrochen auszurichten schien! Wratha nahm Nestors Warnung jedoch ernst und hatte bereits Kontakt zum Reiter jener Kreatur aufgenommen:
Wer auch immer dies sein mag, schnapp ihn dir mit der Bauchtasche deiner Bestie, befahl sie. Und dann schleudere ihn über den Rand des Felsens!
Der Mann an der Spitze machte Anstalten, den Befehl auszuführen, drängte sein Reittier mit zu riesigen Luftsegeln gewölbten Schwingen vorwärts und näherte sich seinem Opfer. Doch schon im nächsten Augenblick herrschte ein heilloses Durcheinander. Das Chaos brach los!