Wir blieben alle einen Moment lang stehen und sahen ihm beim Sterben zu.
»Ich glaube, wir haben gerade Gott getötet.«
Trotz Wind und Regen wusste ich irgendwie, dass die Worte von Jamie stammten, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Seine Stimme war ruhig und emotionslos, ausgesprochen monoton. Während wir durchnässt und außer Atem unter der düsteren Wolkendecke standen, antwortete ihm weder Martin noch ich. Vor uns lag der durch Narben verunstaltete Mann. Der Großteil seines massakrierten Körpers verbarg sich hinter frischen Wunden. Martin hielt das Schwert nach wie vor wie einen Baseballschläger in beiden Händen, hatte dessen Spitze aber in Richtung Boden gesenkt. Das Regenwasser vermischte sich mit Blut und Hautfetzen, die an der gewaltigen Klinge klebten. Die Flüssigkeit tropfte beharrlich ins hohe Gras. Es kam mir wie ein entfernter Fiebertraum vor. Als wäre das alles nicht real.
Wie es in dieser Nacht regnete! Wasser ergoss sich aus dem Himmel, prasselte auf den Wald und sturmgepeitschte Gebäude runter, überflutete die Küsten und trommelte auf den Boden, schlug kleine Löcher in die Erde und brachte sie zum Überlaufen, bis die Rinnsale als zornige Fluten jedes Feld, jeden Bürgersteig, jede Einfahrt und jede Straße durchdrangen. Ein lebendiges Wesen war nach New Bethany gekommen – eine riesige flüssige Entität, deren Fühler sich unaufhaltsam über die Stadt und ihre Grenzen hinweg ausbreiteten. Einige Menschen ertranken in dieser Nacht, andere wurden getauft. Alles schien in Bewegung zu sein: Selbst für die Ewigkeit Bestimmtes entdeckte seine Flüchtigkeit. Eine dunkle Wolkenbank thronte über allem und besah sich den Zorn der Natur mit merkwürdiger Gleichgültigkeit. Ein ungewohnt strahlender Mond schien hindurch wie ein Leuchtturm inmitten von Dunkelheit und einem Niederschlag, der alles unter sich begrub.
In der Ferne schickte der Jahrmarkt seine letzten Lebenszeichen in die Nacht hinaus. Lediglich das Riesenrad war noch erleuchtet und spendete den Schaustellern ein wenig Licht, als sie ihre zahlreichen Buden und Fahrgeschäfte schlossen.
Mit diesem Riesenrad als Kulisse, das geheimnisvoll vor dem ansonsten finsteren Horizont seine Runden drehte, hatte ich den Narbenmann zum ersten Mal gesehen. Im vom Regen gewaschenen Mondlicht wirkte er wie ein Brandopfer, und ich hielt ihn für einen der Angestellten des Rummelplatzes. Obwohl er nicht sehr groß war, bewegte er sich kraftvoll und überraschend anmutig. Erst als er aus dem hohen Gras auftauchte und den schmutzigen Weg überquerte, der uns voneinander trennte, bemerkte ich, dass er sich einer primitiven Lagerstelle näherte. Sie bestand aus einem uralten Zelt, dem ein Segeltuch als improvisiertes Vordach diente. Das Lagerfeuer war längst vom Regen erstickt worden. Zurück blieb lediglich ein Steinkreis mit einer rostigen Bratpfanne aus Eisen und einem blechernen Kaffeebecher, die in einem morastigen Haufen aus Schlamm und Asche halb versunken waren.
Zuerst ging ich davon aus, dass sich die Verbrennungen auf die Glatze des Mannes, Gesicht und Hals beschränkten, aber als er das Lager erreichte und zum Nachthimmel aufsah, knöpfte er langsam sein Hemd auf, zog es aus und ließ es auf den Boden fallen. Ebenso wie seine Hose und seine Jacke machte es einen zerlumpten Eindruck und war völlig zerknittert. Bei den abgelaufenen Arbeitsschuhen konnte man kaum noch etwas von der Sohle sehen. Ich stellte mir vor, dass die Kleidung an seinem Körper und die wenigen Gegenstände um das Zelt herum die einzigen Besitztümer des Narbigen sein mussten. Gleichzeitig klebten meine Augen wie Magneten an seinem Oberkörper. Die Narben waren hier noch weitaus unansehnlicher, zogen sich über die durchtrainierte Brust und den Rücken sowie Schulter und Arme – eine abstoßende Melange des Schreckens, wie Brandmale eines Dämonen in der Haut verewigt. Über den oberen Schulterbereich erstreckte sich ein großzügiges Tattoo in gotischer Schrift. Nur ein einziges Wort.
CHAOS.
Er zog den Kopf zurück und fing den Regen mit dem Mund auf. Während sich seine muskulösen Hände gen Himmel streckten, schloss er seine Augen. Ich war mir sicher, dass sich die entstellten Überreste seiner früheren Lippen bewegten, konnte aber kein Wort verstehen. Als er auf die Knie sank und dabei Schmutzwasser aus einer Pfütze hochspritzte, wusste ich, dass er betete.
Ich duckte mich ins Gras auf der anderen Seite der Straße und sah zu, wie der Narbige seinen Gott pries. Es erinnerte mich an die Sonntage, die ich mit meiner Mutter in der Kirche verbracht hatte. Allerdings kam mir seine Art der Lobpreisung weitaus mächtiger vor als bei den Messen in St. Gabriel’s. Dieser sonderbare Mann unterschied sich vom Rest der Welt, und das betraf nicht allein sein Äußeres. Normalerweise hätte er mir Angst einjagen müssen, aber das tat er nicht.
Ich werde wohl niemals erfahren, ob er am Ende seines Gebets angelangt war oder einfach nur meine Anwesenheit bemerkte. Jedenfalls ließ er sich plötzlich unter dem Vordach auf den Hintern plumpsen. »Was machst du hier, mein Junge?«, erkundigte er sich mit einer ernsten, aber überraschend freundlichen Stimme.
Ich trat aus dem Gras an das kleine Lager heran. »Ich gehe nach Hause.«
»Na, dann mach mal. Zuhause ist ein guter Ort.« Der Narbenmann hob seine riesigen, eckigen Pranken zum Gesicht und wischte sich ein paar Regentropfen weg. Die Narben bedeckten jeden Quadratzentimeter von Kopf, Gesicht und Nacken und hatten selbst seine Ohren wie Strünke von Blumenkohl deformiert. Die tiefen Furchen auf der olivfarbenen Haut hoben seine stahlblauen Augen noch stärker hervor als bei einem gewöhnlichen Mann. Wenn er sprach, öffneten sich seine verformten Lippen, um riesige, extrem weiße Zähne zu entblößen.
»Kein gutes Wetter, um sich draußen herumzutreiben. Nun geh schon, Kind.«
»Ich bin kein Kind«, protestierte ich. »Ich bin schon 14.«
»Nur ein Kind.«
»Wie Sie meinen.«
»Kämpf nicht dagegen an. Es wird der Tag kommen, an dem du dir diese Zeit zurückwünschst.«
Ich kam näher heran. »Was ist mit Ihnen passiert?«
»Haben deine Eltern dir nichts beigebracht?«
»Was denn?«
»Dass man gewisse Fragen nicht stellt.« Der Mann starrte mich eine Weile an und winkte mich schließlich zu sich. »Wenn du schon nicht abhaust, dann komm wenigstens aus dem Regen und ruh dich eine Minute aus. Aber dann gehst du. Schon in Ordnung, ich tu dir nichts.«
Ich machte einen auf dicke Hose. »Ich habe keine Angst vor Ihnen.«
»Darauf würde ich jede Wette eingehen.« Er lächelte ein wenig. »Komm, stell dich unter, bevor du noch absäufst.«
Ich flitzte unter die Zeltplane und kniete mich hin, hielt dabei aber genügend Abstand zwischen uns, um jederzeit weglaufen zu können, wenn es nötig wurde. »Was machen Sie hier draußen?«
»Bin nur auf der Durchreise.«
»Wenn die Polizei Sie erwischt, werden Sie bestimmt verprügelt. Die mögen es nicht, wenn sich Penner in der Gegend herumtreiben.«
»Was hältst du davon?«, fragte er und starrte in die Dunkelheit hinaus, während in etwas Entfernung der Donner grollte. »Ich nenn dich nicht mehr Kind, wenn du mich nicht mehr Penner nennst.«
Ich nickte schuldbewusst. »Okay, Mister.«
»Komm mal wieder zu Atem und dann mach dich auf den Weg. Der Sturm wird sicherlich noch schlimmer.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß es einfach.«
»Gehören Sie zu den Leuten vom Jahrmarkt?«
»Nein. Die sind nur zufällig zur selben Zeit in der Stadt wie ich.«
»Ich und meine Freunde sind eben noch dort gewesen.«
»Hattet ihr Spaß?«
Ich nickte eifrig. Selbst jetzt, wo er direkt vor mir saß, war es schwer zu schätzen, wie alt er sein mochte. Ich tippte mal auf Mitte 40. »Ziemlich cool, ja. Waren Sie auch schon mal dort?«
Er schüttelte den Kopf.
»Haben Sie da gerade eben gebetet?«
»So was Ähnliches.«
Ich sah mir eine Weile seine Narben an. »Waren Sie in Vietnam?«
Er bekam plötzlich einen entrückten Blick, antwortete mir aber nicht.
»Sehen Sie deshalb so aus?«
Regentropfen rollten über seine Narben. »Die Sünden der Welt«, murmelte er.
»Wie meinen Sie das?«
Die Schatten verlagerten sich. Das Riesenrad leuchtete nicht mehr.
»Stellst du eigentlich immer so viele Fragen?«
Ich schämte mich, zuckte aber mit den Achseln und mimte den Coolen.
»Du solltest jetzt gehen«, sagte er.
»Tut es weh?«, hakte ich nach.
»Manchmal. Aber es gibt verschiedene Arten von Schmerz.«
Der unheilvolle Unterton, der in seiner Stimme mitschwang, verursachte mir Unwohlsein. Zum ersten Mal empfand ich in seiner Gegenwart so etwas wie Furcht.
»Meine Freunde werden bald hier sein.« Ich schielte unbestimmt in die Dunkelheit. »Ich hatte einen ziemlich großen Vorsprung.«
»Geh einfach.« Der Narbenmann deutete in Richtung des Weges. »Du musst nicht auf sie warten. Heute Abend sind unschöne Dinge in der Stadt passiert. Und es wird sogar noch schlimmer kommen.«
Ich rückte weiter weg an den Rand des Vordachs. »Was für unschöne Dinge denn?«
»Verschwinde. Ein Junge in deinem Alter sollte um diese Zeit nicht mehr draußen sein.«
Mit wild klopfendem Herzen trat ich hinaus in den Regen, ließ ihn aber keine Sekunde aus den Augen. »Haben Sie etwas angestellt, Mister?«
Er schüttelte den Kopf und griff nach seinem Hemd.
Dabei beugte er sich nach vorne, sodass ihn die Plane nicht länger vor dem Regen schützte. Sofort rannen die Tropfen in Strömen über seinen kahlen Schädel, Arme und Handgelenke, Brust und Bauch. Schon damals wusste ich, dass es nicht nur der Regen war, sondern mehr als das. Ich wischte mir nervös das Wasser aus den Augen und zwinkerte, um besser sehen zu können.
Die Narben gerieten in Bewegung, kräuselten und veränderten sich – in einer kontinuierlichen Welle verschmolz eine mit der anderen –, liefen genau wie die Sturzbäche vom Himmel in flüssigen Bewegungen über seinen Körper und erweckten den Eindruck, er bestünde aus mehreren lebenden Organismen. Als er hastig versuchte, mit seinem Hemd zu verdecken, was passierte, wurde der Schmerz offenbar zu stark. Er stöhnte und fiel auf die Seite; eine Schulter grub sich tief in den Schlamm unterhalb des Vorzelts.
»Was ist los mit Ihnen? Wie – wie machen Sie das?«, stammelte ich und stolperte rückwärts.
»Es ist alles in Ordnung«, ächzte er, richtete sich auf und presste beide Hände gegen den Magen, kniff seine Augen fest zusammen. Seine Brust hob und senkte sich unter seinen Atemzügen. Dann endete die Bewegung der Narben genauso plötzlich, wie sie begonnen hatte. Der Körper des Mannes entspannte sich, er wirkte zwar erschöpft, aber nicht länger leidend. »Geh jetzt«, wiederholte er. »Geh … einfach.«
Ich hätte mir beinahe in die Hose gepinkelt, aber trotz meines Entsetzens konnte ich mich nicht von der Stelle rühren. Meine Turnschuhe steckten im Matsch fest. Ich konnte mich mit dem, was ich beobachtet hatte, nicht abfinden, und mein Verstand suchte nach logischen Erklärungen. Eine Täuschung aus Schatten, Mondlicht und Regen, das – klar, das musste es sein … klar. Eine andere Erklärung gab es dafür nicht.
»Phil!«
Ich spähte durch den Regen auf die Wiese in meinem Rücken und erkannte Martins Stimme. Er und Jamie standen am Rand des schlammigen Wegs und wirkten wie zwei durchgeweichte Ratten, die im aufgekommenen Sturm zitterten. Beide musterten uns entsetzt, Augen und Mund weit aufgerissen. Sie hatten es ebenfalls gesehen.
Der Narbige zwängte sich in sein zerschlissenes Shirt und bedeckte die Löcher im Stoff mit seiner riesigen Hand. »H-habt keine Angst«, keuchte er und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
»Lauf!«, brüllte Martin.
Aber keiner von uns folgte der Aufforderung.
»Schon in Ordnung«, beruhigte uns der Mann. Er kniete inzwischen, schien aber immer noch nicht in der Lage zu sein, aufzustehen. Seine blauen Augen glotzten uns hilflos an und er zitterte. In diesem Moment – als ich in seine Augen starrte und zum ersten Mal einen Blick auf das erhaschte, was hinter den Narben lag – ergriff eine unbeschreibliche Traurigkeit von mir Besitz. Als hätte sich das gesamte Elend der Menschheit in dieser seltsamen, tragischen Gestalt versammelt, die vor uns stand.
Es gab kein Entkommen. Für keinen von uns.
Jamie bekreuzigte sich. »Habt ihr das gerade gesehen?«
»Komm.« Martin tauchte neben mir auf und zerrte an meinem Arm. »Los.«
Aber ich konnte mich immer noch nicht rühren.
»Phil.« Er schüttelte mich ein bisschen, was mir bewusst machte, wie stark Martin trotz seiner durchschnittlichen Körpergröße war. »Komm schon.«
»Glaubst du, er hat’s getan?«, wollte Jamie wissen. Er stand wie festgewachsen auf dem Weg.
»Was getan?«, fragte ich einfältig und nach wie vor ein bisschen neben der Spur.
Martin starrte auf den Narbenmann, wie um sicherzugehen, dass er noch nicht wieder aufgestanden war. »Jemand hat Sarah Bryant getötet.«
Er hatte so leise gesprochen, dass ich ihn kaum verstand. »Davids kleine Schwester?«
Martin nickte, sein lockiges Haar pappte durchnässt an der Stirn. »Kurz nachdem du weg bist, ist die Polizei aufgetaucht. Ich habe gelauscht, als sich Mr. Barrett mit Chief Burke unterhielt.«
»Warum würde jemand Sarah etwas antun?«
»Sie haben ihre Leiche am Spielplatz drüben an der Bibliothek gefunden. Irgendein kranker Bastard hat ihr den Kopf abgehackt.« Seine Stimme kippte, und ich war mir nicht sicher, ob es sich bei der Flüssigkeit, die über seine Wangen lief, um Regen oder Tränen handelte. Ich hatte ihn noch nie so ängstlich und aufgewühlt erlebt, was nicht gerade dazu beitrug, meine eigene Furcht zu verringern.
David Bryant ging in unsere Klasse. Ich betrachtete ihn zwar nicht als engen Freund, kannte ihn aber ganz gut. Sarah hatte ich öfter mal in der Stadt gesehen, aber sie war wesentlich jünger als ich, damals erst acht. Ich versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, wie sie aussah, aber ich bekam kein klares Bild in den Kopf. Noch etwas, das absolut aus dem Rahmen fiel. In New Bethany wurden keine Menschen ermordet. Es gab hier so gut wie keine Verbrechen, schon gar keine toten Kinder. So etwas passierte in den Filmen, die wir uns abends heimlich im Autokino anschauten, nicht im wirklichen Leben.
»Die Bullen haben eine Ausgangsperre verhängt«, berichtete Martin. »Sie fahren die Kinder vom Jahrmarkt nach Hause, weil sie nicht wissen, ob sich der Killer noch in der Gegend rumtreibt.«
»Wir wussten ja, dass du schon hier draußen bist«, fügte Jamie hinzu, »deshalb haben wir uns aus dem Staub gemacht, bevor uns jemand bemerkte.«
Ich sah zum Narbigen hinüber. Er stützte sich auf eines seiner Knie und versuchte erneut aufzustehen, drückte sich mit einem seiner kräftigen Arme vom Boden ab, kämpfte aber immer noch gegen die Erschöpfung. Der Zwischenfall vorhin, was auch immer es gewesen sein mochte, schien ihn völlig ausgelaugt zu haben.
Heute Abend sind unschöne Dinge in der Stadt passiert …
»Ich glaube, er könnte es gewesen sein«, hörte ich mich selbst sagen und besiegelte damit unser Schicksal. »Er hat mir vorhin erzählt, dass er von irgendeiner kranken Scheiße wusste, die in der Stadt gelaufen ist.«
Und es wird sogar noch schlimmer kommen …
»Außerdem hat er diese freakige Tätowierung auf dem Rücken«, erzählte ich ihnen.
»Wir müssen hier weg«, rief Jamie. »Am besten holen wir die Bullen!«
Falls Martin ihn gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Seine zusammengewachsenen Augenbrauen starrten in die Nacht hinaus, wobei ihn Unsicherheit und Angst mehr zu faszinieren als zu lähmen schienen. Ich konnte die Gedanken förmlich durch seinen Verstand rasen sehen. »Dann muss er etwas damit zu tun haben. Wie könnte er sonst davon wissen?«
»Ja«, bestätigte ich. »Jamie liegt völlig richtig. Lasst uns losgehen, um den Wachtmeister zu suchen.«
»Ihr versteht das nicht«, fiel mir der Mann ins Wort. »Ihr – hört mir nicht richtig zu, ihr …«
»Halt’s Maul!« Martin wirbelte herum und versetzte dem Narbigen einen heftigen Tritt mitten ins Gesicht. Es geschah so plötzlich, dass ich einige Sekunden brauchte, um wahrzunehmen, was gerade passiert war. Der Mann grunzte und fiel auf den Rücken. Sein Hemd klaffte auf, als er in eine Pfütze aus Schlamm und Regenwasser purzelte. »Du verdammter Freak!«
Dass Martin von einem Moment auf den anderen so wütend werden konnte, betäubte mich regelrecht. Ich glotzte dümmlich, während ich mich bemühte, meine Gedanken zu sortieren.
Der Mann wand sich auf dem Boden und versuchte, sich auf Hände und Knie zu berappeln. Blut sickerte aus seiner lädierten Nase, und er rasselte etwas in einer Sprache herunter, die uns allen unbekannt war.
Martin musterte ihn mit einem eisigen Blick, den ich von ihm nicht kannte. »Was zum Teufel treibt er da?«
»Ich glaube, er betet.«
»Was ist das für eine Sprache?«
»Kommt schon«, jammerte Jamie und trat ungeduldig auf der Stelle, als müsste er dringend mal aufs Klo. »Lasst uns gehen!«
»Jawoll«, pflichtete ich ihm bei und bewegte mich vom Zelt weg. »Machen wir uns auf den …«
»Zu wem betet er?« Martin umkreiste den Hingefallenen langsam und kostete seine neu entdeckte Machtposition genüsslich aus. Jamie und mich trieb unsere Angst zur Flucht an, ihn schien sie auf merkwürdige Weise stärker und zielgerichteter zu machen. »Gott kann es jedenfalls nicht sein. Das sind keine Bibelverse.«
Jetzt war es an mir, ihn zum Aufbruch zu drängen. »Lassen wir das die Polizei entscheiden, hm? Machen wir die Fliege!«
Martin drehte sich um und starrte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Und was ist das überhaupt für eine kranke Scheiße mit seiner Haut? Wie hat er das hinbekommen?«
»Ich weiß es nicht. Ich …«
»Seht euch nur an, wie kräftig er ist«, warf Jamie ein. »Sobald er aufsteht, sind wir geliefert.«
»Der steht nicht auf«, erklärte Martin seelenruhig.
»Warte«, sagte ich und versuchte inmitten des ganzen Wahnsinns einen klaren Gedanken zu fassen. »Wir wissen doch gar nicht, ob er’s wirklich getan hat.«
»Doch, das wissen wir!« Martin spuckte die Wörter regelrecht aus. »Seht ihn euch doch an. Niemand aus der Stadt würde einem kleinen Mädchen so etwas antun. Verfickte Scheiße, vermutlich ist er nicht mal ein Mensch.«
»Jesus, Herr im Himmel«, entfuhr es Jamie, der sich wieder bekreuzigte. »So etwas darfst du nicht sagen.«
»Ihr Jungs habt doch gesehen, wie sich diese Narben bewegt haben. Kennt ihr einen Menschen, der das fertigbringt?«
Ich beobachtete, wie sich der Narbige auf den Bauch rollte und langsam rückwärts in Richtung Zelt krabbelte. Die Tätowierung zeichnete sich trotz Regen und Dunkelheit deutlich auf seinem verwüsteten Rücken ab. CHAOS.
»Wer sind Sie?«, rief ich durch die Nacht.
Kurz vor dem Zelt schaffte es der Mann, sich auf Hände und Knie aufzurichten. Er schien einen Teil seiner Reserven mobilisiert zu haben, als er seinen Kopf hob und in meine Richtung spähte. Die stahlblauen Augen durchbohrten mich förmlich, und etwas strahlte vor mir auf. Ich hielt es zunächst für einen Blitz, aber dafür war es zu nah – als hätte er es direkt von seinen Augen zu meinen geschickt.
»Sind Sie es gewesen?«, fragte ich ihn, während sich alles vor mir drehte. »Haben Sie Sarah Bryant das angetan?«
Anstelle einer Antwort krabbelte der Mann in Richtung Zelt und griff nach etwas, das direkt hinter dem Eingang lag. Martin stürzte sich auf ihn und riss ihm den zerschlissenen Rucksack aus den Händen. Er stolperte ein paar Schritte zurück, verspritzte dabei Wasser und Schlamm, öffnete die Lasche und tastete ins Innere. Seine Hand kehrte mit einem kunstvoll verzierten Schwert zurück.
Wir standen alle nur da und gafften es im strömenden Regen an. Niemand sagte ein Wort.
Der Narbenmann ließ den Kopf sinken und blieb auf allen vieren.
Martin hielt das Beweisstück anklagend in die Höhe. Die Stahlklinge war nicht besonders lang – maximal 30 Zentimeter – verjüngte sich aber wie ein Dolch zu einer schmalen Spitze. Das Metall war dick, abgeschrägt und über und über mit aufwendigen Gravierungen verziert, bei denen es sich um uralte, komplexe Symbole zu handeln schien. Der Griff war so geschmiedet, dass er an Flügel erinnerte, an jeder Seite des Handgriffs winkelten sie sich nach unten ab. In der Mitte des Griffs fiel ein einzelner, wunderschöner blauer Kristall in der Größe eines Vierteldollarstücks ins Auge. Wie Martin so völlig durchnässt und mit wildem Blick vor uns stand, konnte man ihn ohne Weiteres mit einem Geisteskranken verwechseln.
Ich hatte genug gesehen. Warum schleppte jemand eine solche Waffe mit sich herum?
»Jamie!«, rief ich ihm über meine Schulter zu. »Lauf zurück zum Weg und such einen Polizisten. Wir bleiben hier und passen auf ihn auf.«
Vielleicht war es der Wind, der uns ablenkte. Vielleicht auch der Regen. Oder wir merkten alle für einen kurzen Moment, dass wir völlig den Verstand verloren hatten. Jedenfalls nutzte der Narbenmann diesen kurzen Moment des Schweigens, um endgültig aufzustehen.
Ich erinnere mich, wie Martin das Schwert drohend in Richtung des Tätowierten schwang, als sich dieser schließlich berappelte und seine Arme schüttelte, um die Durchblutung in Schwung zu bringen. Jamie stand wie versteinert am Wegrand, von dem er sich seit Minuten nicht wegbewegt hatte, und ich weiß noch, wie ich dachte, ich müsste jetzt etwas sagen. Aber ich hörte nur den Regen, während Martin nach vorne trat und die Klinge im vernarbten Bein des Mannes versenkte.
Ein schreckliches Geräusch, bei dem sich einem der Magen umdrehte, hallte durch den Wind, während sich das Schwert durch die Haut in den Knochen bohrte.
Und dann dieser Schrei. So etwas hatte ich damals noch nicht gehört und bis heute nicht noch einmal. Eine gleichberechtigte Mischung aus Höllenqualen und Wut teilte die Nacht in zwei Hälften und überzeugte mich davon, dass der Mann, ob er nun schuldig war oder nicht, unmöglich ein Mensch sein konnte.
Kein menschliches Wesen konnte solche Töne hervorbringen.
Als Martin das Schwert mit zwei Händen schwungvoll wieder aus der Wunde herauszog, verlor er das Gleichgewicht, fiel in den Schlamm und wäre beinahe bewusstlos geworden. Der Mann ruderte mit den Armen und umklammerte mit erstaunlicher Zielstrebigkeit die Kehle meines Freundes.
Die Idee, wegzulaufen, wäre sicher gekommen, wenn ich mir kurz Zeit zum Nachdenken genommen hätte. Aber ich reagierte einfach nur, ging auf den Mann los und riss ihn in den Dreck. Jamie gesellte sich zu dem Knäuel am Boden und wir bearbeiteten ihn gemeinsam mit unseren Fäusten.
Der Griff um Martins Hals löste sich. Er hustete und krümmte sich im Versuch, wieder Luft zu bekommen.
Selbst mit der schweren Beinverletzung schüttelte uns der Mann ab wie eine Horde lästiger Insekten und kam wieder auf die Beine.
Aber Martin erwartete ihn bereits und rammte die Klinge diesmal in den Hals des Narbigen.
Es klang, als hätte er eine Grapefruit aufgeschlitzt, gefolgt von einem feuchten Quietschen – danach völlige Stille.
Ich hatte noch nie so viel Blut gesehen.
Martin schien genauso geschockt zu sein wie ich und starrte mit eingefrorenen Gesichtszügen wortlos sein Werk der Zerstörung an. Er ließ die Waffe auf den Boden fallen und sie klatschte mit einem lauten Plumps in die nächste Pfütze. »Ich wollte nicht … Das habe ich doch nicht …«
Der Mann sackte auf die Knie, seine Hände drückten verzweifelt auf die klaffende Wunde, und diese strahlenden blauen Augen visierten etwas hinter uns an. Jenseits der Felder und der Wiese, der Dunkelheit und der Spuren von Mondlicht. Vermutlich konnte nur er es sehen.
Unglaublicherweise stand er kurz danach wieder vor uns.
Jamie und ich attackierten ihn ein zweites Mal, boxten und traten ihn, bis er endlich mit dem Gesicht voran in den Dreck knallte.
Er lag zu unseren Füßen und gab eine Zeit lang noch beunruhigende gurgelnde Geräusche von sich, während sein Körper zuckte und sich zusammenkrampfte.
Als er schließlich zur Ruhe kam, drehte ich mich zu Martin um. Das Blut des Mannes war auf seine Wangen und das Kinn gespritzt, aber der Regen hatte es größtenteils bereits weggewaschen. Das Gesicht meines Freundes war völlig ausdruckslos, als wäre es ebenfalls gestorben.
Eine gespenstische Stille folgte. Der Regen fiel. Der Wind blies. Das hohe Gras rekelte sich. Aber wir waren gar nicht wirklich hier und würden wahrscheinlich auch nie wieder zurückkehren.
»Wir brauchen jetzt wirklich einen Polizisten«, fand ich schließlich meine Sprache wieder.
»Nein.« Martins Stimme klang überraschend selbstsicher und deutlich. »Keine Polizei.«
»Was haben wir nur getan?« Jamie vergrub das Gesicht in den Händen und fing an zu weinen. »Was haben wir – was – was ist da nur gerade passiert?«
»Es war Notwehr.« Ich bekam meine zitternden Hände nicht in den Griff.
»Vielleicht ist er nur verletzt. Bestimmt kommt er durch. Er …«
»Er ist tot.« So unmöglich es klang, wir konnten es nicht länger leugnen.
»Er hat Sarah Bryant getötet«, erinnerte Martin.
Jamie schüttelte hektisch den Kopf. »Das wissen wir nicht genau! Warum hast du ihn umgebracht? Du – hättest ihn einfach nur verletzen können, ohne ihm gleich an die Gurgel zu gehen. Er …«
»Wir haben ihn getötet«, schnappte Martin.
»Ich wollte dir nur helfen. Er hat dich gewürgt und …«
»Haltet mal beide das Maul.« Ich drängte mich zwischen sie und die Leiche und hoffte, dass ich damit ihre Aufmerksamkeit auf mich ziehen konnte. »Wir müssen jetzt die Bullen holen und ihnen erzählen, was passiert ist. Der Mann ist tot.«
»Er ist kein Mann.«
»Wir müssen …«
»Ich will nicht ins Gefängnis.«
»Wir sind minderjährig und haben uns nur verteidigt. Dafür steckt man uns nicht in den Knast.«
»Erinnerst du dich an Vince Rhodes?«, fragte Martin.
»Das kannst du nicht vergleichen.«
»Man hat ihn wegen Einbruchs eingebuchtet, als er gerade mal 13 war. Nicht in irgendeinen Jugendknast, sondern direkt in dieses Hochsicherheitsgefängnis im Westen. Die älteren Häftlinge haben ihn dort jeden Tag verprügelt und ihn nachts in den Arsch gefickt. Als er zurückkam, war er ein verdammter Zombie. Das wird mir nicht passieren, und ich lasse auch nicht zu, dass man euch so etwas antut. Wir müssen die Leiche loswerden.«
»Loswerden? Hältst du das hier für ’nen verfickten Hollywoodstreifen?«
»Niemand kann uns diese Sache anhängen, Phil, wenn wir ihnen keinen Grund geben.«
»Mein Gott.«
Jamie riss uns aus unseren Gedanken. Er kniete im Dreck und durchwühlte den Rucksack des Toten. »Er wollte vermutlich gar nicht das Schwert rausholen«, sagte er und zog ein zerfleddertes schwarzes Buch mit einem antiquiert wirkenden Sonnensymbol auf dem Deckel heraus.
»Was ist das?«
Jamie blätterte es zaghaft durch und versuchte, die Seiten mit seinem Körper so gut es ging vor dem Regen abzuschirmen. »Ich glaube, es ist eine Bibel oder … zumindest etwas in der Art. Irgendein uraltes heiliges Buch, aber ich – es ist in einer fremden Sprache geschrieben.«
Martin beugte sich hinunter, fischte das Schwert aus dem Dreck und hielt es mit der Klinge nach unten in beiden Händen. »Nein, er wollte seine Waffe rausholen«, beharrte er.
»Und wenn nicht?«, schrie Jamie. »Was dann?«
»Er hat Sarah Bryant getötet.«
»Das wissen wir nicht«, heulte Jamie hysterisch, drückte das Buch an seine Brust und wiegte es wie ein Neugeborenes. »Das wissen wir nicht.«
»Wer besitzt schon ein solches Schwert? Sieh’s dir doch mal an, Mann, das sieht aus, als käme es direkt aus der Gruft eines Teufelsanbeters.«
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sich mein Leben gerade in seine Einzelteile auflöste. Das anfängliche Entsetzen war zunächst Schock und Ungläubigkeit gewichen und inzwischen der traurigen und unangenehmen Gewissheit, dass wir ein Menschenleben auf dem Gewissen hatten. Ich wollte flennen, rumschreien, nach Hause gehen und vergessen, was vorgefallen war. Stattdessen stand ich hier wie ein begossener Pudel, mit Händen, die aufgrund meiner Boxattacken gegen den Narbenmann schmerzhaft pochten.
»Gastfrei zu sein, vergesset nicht«, zitierte Jamie schluchzend aus der Heiligen Schrift. »Denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.«
»Halt’s Maul, Jamie!«, bellte Martin. »Ich habe keinen Bock auf deinen blöden Bibelscheiß, hörst du? Ich mein’s ernst, verschon uns mit diesem Schrott.«
»Was machen wir jetzt?«
Martin sah mich an. Ich nickte. Unser Schicksal war besiegelt.
Jamie zog es vor, zu schweigen. Als er wieder die Stimme erhob, war jegliche Emotion daraus gewichen. Es klang nach einem leblosen Monolog.
»Ich glaube, wir haben gerade Gott getötet.«
Ein paar Wochen später war der Sommer vorbei, und wir fanden uns in der High School wieder. Martin und ich gingen zu einer öffentlichen Schule, Jamie ein paar Ortschaften weiter in ein privates katholisches Internat. Wir sahen uns in dieser Zeit nicht mehr so häufig und entfremdeten uns Monat für Monat, Jahr für Jahr ein bisschen weiter voneinander. Martin und ich hatten völlig unterschiedliche Freundeskreise. Ich war mehr der rebellische Einzelgänger und schaffte jeweils nur mit Ach und Krach die Versetzung. Er ging anders mit seinem eigentlich recht ähnlichen Naturell um und setzte seine Verschrobenheit zu seinem Vorteil ein. Die meisten Schulkameraden stuften ihn als rätselhafte, schillernde Persönlichkeit ein, mich lediglich als nervigen Freak.
Nach meinem Abschluss wechselte ich auf ein College in der Nachbarschaft. Jamie studierte in Boston und schloss sich danach einem Priesterseminar an, um sein Leben in den Dienst der Kirche zu stellen. Martin verschwand mit der Ankündigung, ein oder zwei Jahre lang mit dem Zelt durch Europa zu trampen, für eine Weile von der Bildfläche. Er wollte sich erst später den Kopf darüber zerbrechen, wie seine Zukunft aussah.
Für ihn schien es diese regnerische Nacht niemals gegeben zu haben, und vermutlich stimmte das auf irgendeine merkwürdige Art und Weise sogar. Als Mörder der kleinen Sarah Bryant wurde schließlich ihr eigener Vater festgenommen, der mit seiner geheimen Sammlung von Kinderpornografie und anderen unappetitlichen Perversionen über Jahre hinweg ein gefährliches Doppelleben geführt hatte. Er legte bereits wenige Tage nach der Tat ein umfassendes Geständnis ab und verschaffte New Bethany eine zweifelhafte Berühmtheit, weil sämtliche Nachrichtenagenturen des Landes wie die Geier über den Fall herfielen.
Vielleicht hatte der Narbenmann wirklich nur das Buch aus der Tasche holen wollen.
Seine Leiche wurde nie gefunden. Wir bauten damals sein Zelt ab, sammelten seine wenigen Habseligkeiten ein und schleppten sie zusammen mit seinem leblosen Körper zum Fluss am anderen Ende des Feldes. Nachdem wir ihn mit den größten Steinen beschwert hatten, die wir auftreiben konnten, schoben wir ihn ins tiefere Wasser. Jamie weinte bitterlich und betete die ganze Zeit. Martin blieb ungewöhnlich still. Und ich? Ich fühlte mich in dieser Situation viel zu abgestumpft, um irgendetwas zu empfinden.
Wie gesagt: Unsere Wege trennten sich, vermutlich absichtlich, und es vergingen ein paar Jahre, bevor wir wieder über diese schicksalsschwangere Nacht sprachen.
Möglicherweise lag der Körper des Narbigen immer noch dort draußen, nur noch ein Haufen Knochen auf dem Grund des Flusses. Vielleicht aber auch nicht. Ich weiß nicht, ob wir es jemals erfahren werden, und glaube manchmal, es ist besser so. Es spielte schließlich keine Rolle, ob wir in dieser Nacht einen Mann oder mehr als das aus dem Weg geräumt hatten.
So oder so würden wir dafür bezahlen müssen.