Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Impressum
Für
Dr. phil. N. H. D. W. Frhr. v. E.
700 Jahre Herrschaft in M.,
45 Jahre Freundschaft,
… und dann noch der Ring!
„Und webte auch auf jenen Matten
Noch jene Mondesmärchenpracht,
Und stünd sie noch im Waldesschatten
Inmitten jener Sommernacht;
Und fänd ich selber wie im Traume
Den Weg zurück durch Moor und Feld,
Sie schritte doch vom Waldessaume
Niemals hinunter in die Welt.“
Theodor Storm
Gedichte, Erstes Buch
Der Tag versprach, wunderschön zu werden. Nach einer kurzen, klaren Nacht hatte sich die Sonne aus der Morgendämmerung erhoben und den leichten Dunst vertrieben, der im Morgengrauen unmerklich aus den Gründen des Münsterlandes aufgestiegen war. Jetzt strahlte sie über die Fluren und Wälder, über Ackertrifte und grüne Weiden, über Höfe und Flussauen. Hier und da arbeiteten die Bauern auf ihren Höfen. Gelegentlich war das Brummen von Treckern und anderen Maschinen zu hören. Sonst war es jedoch still in der Landschaft. Nur ein leichter Sommerwind spielte in Bäumen und Büschen, rauschte sanft in den kleinen Waldstücken und den Wallhecken, brachte wellenförmige Bewegung in die heranreifenden Felder und ließ die Wiesenkräuter wie die Binsen an den Ufern von Bächen und Teichen sich neigen und zittern. Mittsommer war gekommen.
Zwei junge Leute, die ihr Auto an der schmalen Straße geparkt und sich auf einen schmalen Patt längs der Wiese begeben hatten, folgten nun dem Lauf eines kleinen Baches, um an den Rand des ausgewiesenen Naturschutzgebietes im Stockhemer Feld zu gelangen. Das blondgelockte Mädchen ging zielstrebig voran, der Junge drömmelte eher missmutig hinterher. Das Mädchen war frisch wie der junge Tag; sie trug eine helle Jeans, leichte Sportschuhe und ein buntes T-Shirt, von dem sich die wuscheligen, langen Locken abhoben; sie war bester Laune und äußerst zungenfertig. Über die Schultern hatte sie einen kleinen Rucksack gelegt. Der Junge, aufgeschossen, hager und sportlich, trug angesagte amerikanische Markenklamotten: Shorts, T-Shirt und eine schon etwas kuddelige Baseballkappe; allerdings war er erkennbar gleichgültig gegenüber den Interessen und der fachlichen Begeisterung seiner Freundin. Zudem war er unrasiert und noch etwas grau im Gesicht. Folgerichtig beschwerte er sich darüber, dass einzelne Pflanzen, Binsen und Ranken ihm die Beine zerkratzten.
Früh am Morgen hatte Fredric aufstehen müssen, obwohl er fast die ganze Nacht zuvor auf einer stadtbekannten Feiermeile an Münsters Hafen zugebracht hatte. Wie gerne hätte er sich weiter die Decke über den Kopf gezogen. Seine Julia bestand indes darauf, dass Verabredungen eingehalten werden müssten, und für diesen Vormittag war fest abgesprochen, gemeinsam die Exkursion eines Biologie-Leistungskurses vorzubereiten, den sie als Referendarin an einem Gymnasium in der Kreisstadt für einige Zeit unterrichtete. Mit der Unterrichtsreihe war ein als existenziell empfundener Unterrichtsbesuch von Seminarleitung und Fachleitung verbunden. „Lehrerin wird man nur noch mit besten Zensuren!“, hatte Julia konstatiert. Allein wollte sie sich auch nicht in die freie Natur begeben. Im Übrigen würde die frische Luft nach der durchzechten Nacht Fredrics Körper und Geist äußerst guttun. Es war nicht einfach gewesen, den matten Knaben auf die Spur zu bringen, aber mit nachhaltigem Einsatz und dank verschiedenster Überzeugungsstrategien hatte die Kleine ihren Hasenbären aus dem Bett, auf die Beine, in die Klamotten, ins Auto und auf die Exkursion befördert. Fredric hatte nicht die geringste Chance. So musste er nun das Beste daraus machen.
Sie wanderten zügig den kleinen Bach entlang. Dabei registrierte Julia mit dem Blick der begeisterten Biologin Fauna und Flora und wusste auch mit den lateinischen Fachtermini zu glänzen. Das Beobachtungsgebiet, das sie sich für die Exkursion ausgesucht hatte, war erst vor einigen Jahren unter Naturschutz gestellt worden. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hatte eine kleine Ziegelei aus dem nahen Dorf Stockhem begonnen, hier Ton abzugraben. Als man dann vor etwa 30 Jahren den Betrieb einstellte, blieben große Abgrabungsflächen und mehrere, bis zu zwei Meter eingetiefte Tongruben zurück. In ihnen und auf den tonigen Flächen sammelte sich das Wasser. Es dauerte nicht lange, und in dem Rückzugsgebiet siedelten sich seltene Pflanzen und Tiere an. Der örtliche Heimatverein tat sich mit Fachkräften des Naturschutzes zusammen, und man verabredete sich vor allem dahin, regelmäßig die Gewässer freizustellen und den Uferbewuchs zu kürzen, die mächtig aufschießenden Weiden und andere Kleingehölze zu entfernen, zudem die Grünflächen einmal im Jahr mit der Sense zu schneiden. Mittlerweile war das Stockhemer Feld bei Biologen und Naturfreunden ein Geheimtipp. Zwar erfreute sich die Dorfjugend hier trotz diverser Verbotsschilder immer mal wieder mit Partys und nächtlichem Bad in der freien Natur, aber insgesamt wurde das Gebiet doch geachtet und konnte sich ungestört entwickeln, vor allem nachdem die Naturfördergesellschaft mehrere Geländestücke rund um das Feuchtgebiet angepachtet und somit Distanzflächen geschaffen hatte. Nahezu alle Besucher hielten sich an die Regeln, blieben auf den Wegen und benutzten zur Beobachtung der Vogelwelt die beiden aus Holz errichteten geschützten Stände mit ihren Sichtluken.
Derweil hatten die jungen Leute, nachdem sie zwei Fischreiher aufgescheucht hatten, die mit lässigem, gleichmütigem Schwingenschlag über die Wasserflächen abzogen, den ersten der Aussichtsstände erreicht und erstiegen. Aus ihrem Rucksack holte Julia eine Digitalkamera hervor und hängte sie sich um. Fredric bekam ein Fernglas um den Hals gelegt. Das Vogelbestimmungsbuch musste er tragen, während sie sich mit dem entsprechenden Fachbuch zunächst um die Pflanzenbestimmung kümmern wollte. Gemeinsam verschafften sie sich von dem Ansitz mit Hilfe der Flurkarte einen Überblick und beschlossen, auf der dem Naturschutzgebiet abgewandten Wegseite Flächen von je einem Quadratmeter festzulegen, auf denen die Schülerinnen und Schüler Pflanzen erkennen, bestimmen, zählen und schlussendlich beschreiben sollten. Die eigentliche Analyse konnte dann in der Schule erfolgen.
Die natürliche Vegetation hatte im Laufe der Jahre die Grenze des eigentlich geschlossenen Gebietes überwunden. Schon längs des Weges wuchsen seltene Seggenarten, wie sie für saure Wiesen typisch sind. Aber auch Geflecktes Knabenkraut, Breitblättriges Knabenkraut, Stendelwurz und Zwergbinsen hatten sich angesiedelt. Julia suchte, fotografierte, kartierte und war immer wieder entzückt, wenn sie eine seltene Art identifizieren konnte. Fredric interessierte sich mehr für die ruhigen Wasserflächen, aus denen gelegentlich das Quaken einzelner Frösche zu hören war. Nach der Beschreibung der Naturfördergesellschaft tummelten sich mittlerweile sieben Amphibienarten in den Tümpeln, darunter selten gewordene Froscharten und Molche. Über den Wassern gaukelten große Libellen in schillernden Farben, die Binsen nickten im Morgenwind. Dem gedruckten Naturführer zufolge hätte man sogar Eis-
vogel, Turteltaube und Graugans beobachten können. Fredric war dazu jedoch zu müde, sein Blick noch etwas getrübt.
Nachdem Julia ihren Exkursionsplan abgerundet und so schöne Fachbegriffe wie „Isoëto-Nanojuncetea“ und „Schoenoplectus tabernaemontani“ zitiert und mehrfach wiederholt hatte, blieb nur noch, den Wetterbericht der nächsten Tage abzuwarten und die Haltestelle des Überlandbusses ausfindig zu machen, an der der LK Biologie demnächst ankommen sollte. Gemeinsam studierte das Pärchen die Karte. Sie hatten ihr Auto, da sie direkt von Münster gekommen waren, eigentlich am falschen Ende des Naturschutzgebietes geparkt, an seiner östlichen Seite. Die Bushaltestelle musste westlich eines Waldstückes an einer Landstraße liegen. Von dort führte ein befestigter Verkoppelungsweg etwa 500 Meter zum westlichen Rand des Naturschutzgebietes und fand Anschluss an den Wanderweg. Um Zeit und Weg zu sparen, kürzten die beiden jungen Leute ab, streiften geraden Wegs über eine breite Wiesenfläche und erreichten so den Waldrand, an dem vor allem Holunderbüsche ihre breiten Dolden in die strahlende Sonne reckten. Julia erinnerte sich eines Gelees, das ihre Mutter aus diesen Fruchtständen zu gewinnen pflegte. Fredric musste achtgeben, sich nicht an Dornenranken die Beine völlig zu zerkratzen. Auch Brennnesseln tauchten hier und da auf. Schon betraten sie den lichten Buchenwald, stöberten durch das Altlaub und ließen manchen morschen Ast knacken, bis sie auf eine große Lichtung gerieten, die sich im Sonnenschein reichlich bunt und merkwürdig unpassend möbliert präsentierte.
Rund um den freien Wiesenplan war ein rot-weißes Flatterband als Grenze gezogen. Zwei bunte Bauwagen waren aufgefahren, einige Zeltdächer waren aufgespannt und Campingmöbel in Gruppen verteilt worden. Ein Lagerkreuz mit Fahnen durfte ebenso wenig fehlen wie ein Dixi-Klo am Rande. Julia und Fredric zögerten einen Augenblick, wollten aber die große Lichtung nicht umgehen. Sie hoben also das Flatterband an und bewegten sich auf den vom Sonnenlicht überfluteten
Platz zu.
Das Ganze war offensichtlich ein Kinderlager, wobei die einzelnen Funktionen der Örtlichkeiten durch bunte, in Plastik eingeschweißte Bilder markiert waren: Es gab niedrige Spiel- und Essenstische, ein Ruhezelt, ein Küchenzelt und eine Sanitätsstation. Die beiden Bauwagen dienten wohl als Unterschlupf und Aufenthaltsstätte bei starkem Regen. Feste größere Bänke und Tische für Erwachsene waren sogar im Boden verankert worden. Am Weg, der auf den Platz führte, hatte man aus Stangen im Western-Stil ein Tor errichtet, unter dessen Querbalken eine bemalte Holztafel verkündete: „Waldkindergarten der Pfarrei St. Nikolaus Stockhem“.
„Die Blagen sind nicht da, weil’s Samstag ist. Und die Kindergärtnerinnen auch nicht! Sonst ist alles da und für uns vorbereitet!“, zeigte sich der junge Mann begeistert, denn auf einem Tisch stand eine Flasche Champagner mit zwei Gläsern. Fredrics Laune stieg, er setzte sich und bewunderte die Flasche, die in der Sonne wohl etwas zu warm geworden war. Als er sich gemütlich zurücklehnte und sich dabei auf die Bank stützen wollte, fand er unter seiner Hand eine kleine Damenhandtasche. Verwundert hob er das edle Ledertäschchen mit schmalem Gurt hoch und zeigte es seiner Freundin. Julia war etwas verunsichert. „Na, da lass mal lieber die Finger davon. So was lässt man doch nicht liegen. Es sind wahrscheinlich doch Leute hier. Wir verschwinden besser wieder!“
„Es ist aber organisatorisch alles da, also muss man den Service auch mal nutzen!“, meinte Fredric und wies auf das Dixi-Klo. Die Folgen der letzten Nacht könne er nicht beliebig lange verdrücken. Und bei der genossenen Alkoholmenge müsse er auch auf das Grundwasser im Naturschutzgebiet Rücksicht nehmen: „Sonst werden deine Libellen total blau und schaukeln noch mehr!“, flachste er. Schwerfällig erhob er sich von der Bank und schritt auf das Klo-Häuschen zu. Das stand am Rand der Lichtung unter einem Baum, die Seite mit der Tür vom Waldkindergarten abgewandt.
„Das ist doch bestimmt abgeschlossen, Hasenbär!“, quengelte Julia. „Nix abgeschlossen!“, gab er zurück: „Exklusiv für uns geöffnet!“, und rappelte ein wenig mit der Tür, an der anscheinend ein Riegel lose herunterhing. Fröhlich winkte Fredric seiner Freundin zu. Dann öffnete er das Häuschen, um einzutreten.
Der junge Mann erstarrte und schlug mit einem vernehmlichen Knall die Tür wieder zu.
Fredric war zutiefst erschreckt. Er sagte keinen Ton. Es hatte ihm schlicht die Sprache verschlagen. Das machte Julia natürlich besonders neugierig. Sie kam in der ihr eigenen zielstrebigen Art herbei und wollte das Klo-Häuschen ebenfalls besichtigen. Fredric hielt sie mit beiden Händen an den Schultern fest: „Guck da jetzt nicht rein, ich bitte dich! – Was machen wir bloß?“
Sie nahm das Ganze nicht ernst: „Was ist denn los, dass es dir sogar auf die Blase schlägt?“
Er hielt sie fest und rief eindringlich: „Lass es sein! Guck da jetzt nicht rein!“
Julia war wie stets der Überzeugung, ihre eigenen Entscheidungen fällen zu sollen. Lebenspraktisch, wie sie nun einmal war, schob sie ihren Freund geradezu unsanft an die Seite, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen. „Mach mal Platz, Hasenbär!“
Rasch zog sie nun selbst die Tür des Plastikhäuschens auf.
Also richtig verstanden, Herr Kattenstroht, dann schmoren lassen! Lange schmoren lassen bei niedriger Temperatur, höchstens 150 Grad!“ Der junge Sautmann lehnte sich über die Theke seines Verkaufswagens, als habe er ein Geheimnis mitzuteilen. Die Kattenstrohts, behängt mit diversen Einkaufstaschen, hörten den Ausführungen des Kaufmanns interessiert zu. Sie kauften seit Jahren bei Frank Sautmann, Händler für Eier, Wild und Geflügel, dessen Vorfahren schon über Generationen als Kiepenkerle aus einem kleinen Dorf nahe Münster auf die Märkte gezogen waren. „Im Handel liegt der Segen!“, hatte schon die Devise von Uropa Sautmann gelautet, und seine Gene blühten und wirkten in verschiedensten Kaufmannsfamilien im Kernmünsterland fort. Schon Bettys Mutter hatte über Jahrzehnte an diesem Stand gekauft, und Betty hielt nicht nur diesbezüglich auf Treue. Sie und ihr Klaus hatten den schönen Samstagmorgen fest verplant, hatten die Jungs schlafen lassen und nach einer nur kurzen Runde mit Snoopy den Domplatz in Münster angesteuert.
Natürlich hatten sie Käse-Humborg ihre Aufwartung gemacht, hatten an einem Holländer Käse in Schweizer Machart schnabuliert – Humborgs Phantasie war auch im Einkauf grenzenlos –, hatten dann einen Baumberger Gemüsestand näher inspiziert, um jetzt bei Sautmann nach der Lammkeule zu schauen, die sie schon in der Vorwoche bestellt hatten. Am Sonntag wollten Gäste kommen, Stellmacher und seine Theresia sowie Kathrin Eilers und ihr Thomas; man wollte sich einen schönen und entspannenden Abend mit frühem Essen leisten.
Kattenstroht war sich mit dem Rezept noch immer nicht sicher: „Hab ich das richtig verstanden? Fettschicht einritzen; marinieren mit einer Mischung aus Olivenöl, Pfeffer, Rosmarin, Thymian; spicken mit halbierten Knobi-Zehen und dann drei Stunden eingepackt in den Kühlschrank. Ofen heiß werden lassen, beidseitig anbraten bei 250 Grad, dann Temperatur für fünf Stunden – habe ich fünf Stunden verstanden? – runter auf 150 Grad. Regelmäßig wenden und mit der Bouillon übergießen. Die Dörrpflaumen und die Schalotten schwimmen schon im Bräter mit im Portwein. Zehn Minuten vor Schluss die Keule noch einmal einreiben mit Mischung aus Honig, Öl, Pfeffer und Paprikagewürz und die Temperatur noch einmal auf 250 hochfahren, ja richtig?“
Sautmann nickte: „Den Knochen bitte mit im Sud halten; ich habe ihn ja schon extra aus der Keule herausgelöst.“
Das Handy klingelte, der Kommissar wandte verzweifelt den Blick zum Himmel – und ging dran. Schließlich hatte er Rufbereitschaft. Es war Austrup, der ihm den strahlenden Samstag mit seiner Meldung rui-nierte. In einem Wäldchen in der Nähe des Dörfchens Stockhem sei heute Morgen eine weibliche Leiche gefunden worden. – Ja, offensichtlich ein Gewaltverbrechen. Nein, Kattenstroht müsse sofort kommen. Schücking von der Kreispolizei sei alarmiert, und Frau Eilers wolle er anschließend noch anrufen.
„Mensch, Austrup! Wie stellen Sie sich das vor, ich stehe gerade auf dem Markt an den Galenschen Kapellen. Ich diskutiere über ein schottisches Lamm, und Sie kommen mir mit so was!“
Es hülfe alles nichts; bei allem Verständnis: Kattenstroht werde gebraucht. Austrup schlug vor, mit dem Dienstwagen umgehend vom Präsidium aufzubrechen und den Kommissar an der Bushaltestelle am Stadttheater abzuholen. Der Kommissar nickte gottergeben und bekam noch eine Frist von etwa 15 Minuten. Das musste reichen, die Einkäufe zum Wagen zu bringen und, wie Kattenstroht zu sagen pflegte, tränenreichen Abschied von der besten Ehefrau zu nehmen.
Tatsächlich lief es mit dem Treffen wie am Schnürchen. Der Kommissar übernahm aber selbst das Steuer, fuhr seine Schleichwege aus der Stadt heraus und setzte sich per Freisprechanlage mit Schücking in Verbindung. Der war gerade erst selbst in Stockhem angekommen und beschrieb den Kollegen die etwas komplizierte Anfahrt: „Nicht zu vergessen, der Tatort liegt am Rande eines Naturschutzgebietes und ist etwas versteckt.“
„Naturschutzgebiet? Ihr Naturschutz im Kreis bezieht sich offensichtlich nicht auf Menschen?“, hatte Kattenstroht leise geknurrt, der noch immer verstimmt war, weil er sein Wochenende wohl komplett abhaken konnte.
Sie erreichten auf Straßen, die sie zunächst durch das malerische Stockhem führten, nördlich des Dorfes die Einmündung eines Verkoppelungsweges, an dem ein buntes Schild einen „Waldkindergarten“ ankündigte. Schon hier stand ein Polizeiwagen und war die Zufahrt gesperrt. Weiträumig hatten die Kollegen aus dem Kreis das Gebiet umstellt und hielten so Schaulustige vom Tatort fern. Die letzten hundert Meter zum Wäldchen mussten sie laufen, so hatte es Beucking von der Spurensicherung offensichtlich angeordnet. Seitlich des Waldweges, der zu einer Lichtung führte, parkten noch auf dem festen Weg ein Krankenwagen und ein Notarztwagen, deren Blaulichter hektisch zuckten.
Schücking begrüßte Kattenstroht und Austrup und gab eine kurze Übersicht: „Die Leiche sitzt auf einem Dixi-Klo, das für den Waldkindergarten aufgestellt worden ist. Ein junger Mann und seine Freundin waren heute Morgen am Rande vom Naturschutzgebiet unterwegs. Die Frau ist Junglehrerin und hatte hier was für ihre Schule vorzubereiten. Nachdem sie ihre Arbeit getan hatten, sind die beiden durch den Wald gestromert und sind auf den Waldkindergarten gestoßen, aber von der Rückseite, nicht von der Straße bzw. dem Weg her. Der junge Mann muss mal, findet das Dixi-Klo offen und schaut rein. Auf dem Lokus sitzt blutüberströmt eine tote junge Frau. Man hat ihr mit einer Waffe, wir wissen noch nicht, welche es gewesen ist, mit unglaublicher Wucht in die Brust gestochen. Die arme Frau muss relativ schnell tot gewesen sein.“
„War die Dame auf dem Häuschen“, Kattenstroht suchte nach einer angemessenen Formulierung, „zwecks Erledigung einer Notdurft?“ Schücking schüttelte den Kopf. „Nein, gewiss nicht, sie war bekleidet, auch untenrum. Die Tür ist vielleicht geknackt worden. Ich habe das Gefühl, dass das Opfer vor dem Täter geflohen und in das Dixi-Klo gesprungen ist. Der Mörder hat dann die Tür von außen aufgebrochen und ist auf sein Opfer losgegangen.“
„Könnt ihr schon was zur Identität sagen?“ Kattenstroht ließ seinen Blick in die jungen Bäume schweifen und nahm den Duft der morgendlichen Sommerfrische wahr.
„Alles da!“ Schücking hielt in einem durchsichtigen Beutel eine kleine Handtasche hoch. „Papiere, Geld, Brieftasche. Unter einer Bank haben wir ein Schlüsselbund gefunden, passend zu einem roten Golf, der drüben weiter unten am Waldweg geparkt ist. Die Halterin ist offensichtlich unser Opfer: Johanna Flinker, 32 Jahre alt, Kauffrau. Stammt hier aus Stockhem, wohnt da auch und ist einem unserer Kollegen in Person bekannt. Die Identifizierung ist eindeutig.“
Kattenstroht erkundigte sich nach der Benachrichtigung der Angehörigen. Schücking war umsichtig wie stets: „Ist schon in die Wege geleitet. Der Kollege Ritzmann, ist von hier, er kennt die Familie und ist selbst ziemlich von der Rolle, hat den Ortspastor und unseren Notfallseelsorger verständigt. Er stellt sich der Aufgabe. Die drei sind, denk ich mal, seit einer halben Stunde bei den Hinterbliebenen. Ritzmann erzählte, das Opfer hätte noch beide Eltern, einen Bruder und eine Schwester. Die ist übrigens ausgerechnet die Leiterin vom Kindergarten, der hier dies Sommerereignis für zwei Wochen gestartet hat.“
„Und wozu stehen die Kollegen mit dem Krankenwagen und der Notarzt noch da rum?“, wollte Kattenstroht wissen. Schücking erinnerte an die beiden jungen Leute, die das Opfer gefunden hatten. „Der Junge hat den ersten Blick auf das Opfer geworfen, und das hat ihm gereicht. Er wollte seiner Freundin den Anblick ersparen, aber die war etwas vorwitzig, schob ihren Freund an die Seite, kam, sah und fiel um: Wahrscheinlich schwerer Schock!“
„Neugierig war des Schneiders Weib, ersann sich diesen Zeitvertreib!“ Kattenstroht wurde lyrisch. „Ist denn der Knabe wenigstens vernehmungsfähig?“
„Ich denke schon; er saß eben noch drüben im Notarztwagen. Er will seine Freundin natürlich nicht im Stich lassen. Wollen Sie ihn gleich anhören? Hier können wir ohnehin nichts machen, bis Beucking und seine Leute alles gesichert haben. Der Doktor ist auch schon da.“
„Wie hat denn die Alarmierung geklappt?“, wollte Kattenstroht wissen.
„Handys haben ja doch ihre Vorteile!“, erläuterte Schücking. „Der junge Mann hat die Notfallnummer angerufen, und da die beiden sogar eine Flurkarte des Gebietes dabeihaben, konnte er den Rettungswagen und auch unsere Leute direkt hierherlotsen. Kollege Ritzmann war natürlich als Erster hier. Euch in Münster muss die Alarmierung fast zeitgleich erreicht haben. Sie waren ja nur einige Minuten später hier als ich.“ Der Kreis-Kommissar warf einen Blick auf die Uhr: „Und Frau Eilers müsste jetzt auch jeden Augenblick auflaufen.“
Kattenstroht nickte, warf noch einmal aus einiger Distanz einen Blick auf den Tatort und ging durch einen jungen Schlag zurück zum Weg, an dem die Autos standen. Auf der Einfahrt war einer der Kollegen der Spurensicherung damit beschäftigt, Fußspuren und die Abdrücke von Autoreifen zu erfassen. Er hatte bereits verschiedene Bereiche mit Flatterband umgrenzt. Ob das was gebe, wollte Kattenstroht wissen. Der Spurensachverständige wiegte den Kopf hin und her: „Ganz schwierig, Herr Kattenstroht, ganz schwierig. Unter der Gras-decke ist dummerweise just hier ein recht lockerer sandiger Boden. Heute in der Nacht war es feucht von Tau, und die Abdrücke irgendwelcher Autoreifen trocknen in der Sonne schnell ab und sind dann futsch. Und erst mal die Fußspuren. Hunderte von Kinderfüßen habe ich da, in jeder Pfütze ein Dutzend Abdrücke; aber auch da: Wie sollen wir’s erfassen?“
Der Kommissar wedelte aufmunternd mit der Rechten: „Nun sind Sie mal bitte nicht so defätistisch, mein Lieber. Es ist die Nadel im Heuhaufen, die uns die Fälle löst – oder eben die Fußspur in der Blutlache.“ Sprach’ s und begab sich zum Notarztwagen, wo er nicht nur den jungen Begleiter einer angehenden Biologielehrerin, sondern auch seine Assistentin Kathrin Eilers antraf, die sich gerade von einem Kollegen grob in den Tatort einweisen ließ.
Fredric war noch in Sorge um seine Julia. Der Arzt wollte sie für einen oder zwei Tage zur Beobachtung ins Krankenhaus einweisen. Nun war der Junge hin- und hergerissen, ob und wie er die Freundin begleiten könne. Zudem stand das eigene Auto auf der anderen Seite des Naturschutzgebietes. Kattenstroht beruhigte den jungen Mann, der wenige Minuten zuvor ein schwieriges Telefonat mit seiner zukünftigen, sehr besorgten Schwiegermutter hatte führen müssen. Man werde Fredric mit einem Dienstwagen auf dem Umweg über das Dorf zum Auto bringen, so dass er seiner Freundin bald folgen und sich um sie kümmern könne. Zuerst aber wollten Kattenstroht, Eilers und Austrup ihn doch noch mal ausführlich befragen.
Zu dritt kehrten sie zum Waldkindergarten zurück, wo Fredric den beiden im Detail erzählte, wie sie auf die Lichtung gekommen und sich umgeschaut hatten; wie er dann auf der Bank die Champagnerflasche mit den beiden Gläsern bewundert, die kleine Damenhandtasche gefunden und schließlich den Gang zum Klo gestartet hatte. Zu dritt ging man auch durch den Wald zurück bis zur Wiesenfläche, über der jetzt die Luft in der schon stärker brennenden Sonne flirrte.
Aus dem Schatten des Waldrandes ließ Kattenstroht seine Blicke über die Landschaft schweifen. Jenseits des Naturschutzgebietes, das durch Reihen von herangewachsenen Weiden optisch begrenzt war, erkannte man den Stockhemer Kirchturm mit seinem spitzen Helm, der auf eine gewisse Weise selbstbewusst aus der ihn umgebenden Landschaft herausragte. Den Hintergrund bildeten die sanften Hügel der Rodorper Berge, in deren weiten Gehölzen es sich so wunderbar wandern ließ. Auf den höheren Kuppen drehten sich gemächlich einige Windräder.
„Wiede Kämp un hauge Hieggen! – Münsterland, geradezu zum Stöhnen!“, seufzte der Kommissar. „Und inmitten dieser Herrlichkeiten eine solche Tat! Es ist nicht zu glauben.“
Fredric erläuterte anhand der Flurkarte den Weg, den er mit Julia zurückgelegt hatte. Zudem konnte er mit Hilfe der Digitalkamera belegen, was Julia und er in den anderthalb Stunden vor dem Leichenfund alles veranstaltet hatten. Über einige witzig gedachte Aufnahmen, die die beiden voneinander gemacht hatten, musste auch Kattenstroht nachdenklich und milde lächeln.
Die Geschichte war insgesamt schlüssig.
Von Stockhem klang das Mittagsläuten herüber. Dem Stundenschlag und den neun Schlägen des Angelus folgte das helle Gebimmel einer kleinen Glocke: „Wie passend!“, knurrte der Kommissar, „das Totenglöckchen.
Auf der Lichtung ließ man sich im Beisein der Spurensicherung genau erklären, wo sich Fredric hingesetzt und was er angefasst hatte. Dies alles wurde von Austrup präzise dokumentiert.
Der Arzt erschien und erstattete einen vorläufigen Bericht. „Eine ungewöhnlich schwere Stichwunde in die Brust. Ich vermute eine Aortenruptur. Daher auch der gewaltige Blutverlust. Das Blut ist ja sogar unter der Klotür hervorgesickert. Die Frau hatte keine Chance. Schrecklich. Übrigens erfordert das Zufügen einer solchen Verletzung eine Menge Kraft. Es ist nur eine einzige Wunde, und die war gleich tödlich. Ich wette zehn zu eins auf einen recht kräftigen, höchstwahrscheinlich männlichen Täter.
Auf Kattenstrohts Frage nach der Tatzeit wog der Arzt vorsichtig ab. Erste Messungen müssten noch mit den Temperaturen der Außenluft abgestimmt werden, zudem habe die Sonne auf das Klohäuschen geschienen, so dass die Leichenstarre wahrscheinlich etwas verzögert wurde. „Ich denke mal, man hat die arme Frau nicht vor Mitternacht, aber auch nicht sehr viel später ums Leben gebracht. Was übrigens die Obduktion angeht, wird das wohl kaum was vor Montag. An sich ist die Sachlage ja auch ziemlich eindeutig.“
Derweil wurden die Champagnerflasche und die beiden Gläser vorsichtig verpackt. Kattenstroht erinnerte noch einmal daran, dass auch Fredric die Bouteille angerührt habe. „Ansonsten haben wir vielleicht Spuren von Opfer und Täter drauf!“ Und nach einer Pause: „Stil sollte das hier wohl haben: Ein Rendezvous, in der freien Natur, in der Mittsommernacht, bei Vollmond und mit einer Mondscheinserenade an einer der richtig schönen Plätze im Münsterland. Und dann kam der Täter.“ Der Kommissar wandte sich an seine Assistentin: „Wie können wir uns den Ablauf vorstellen?“
Kathrin Eilers wandte sich um, überblickte noch einmal den Tatort und fasste zusammen: „Tja, ein Stelldichein in der Vollmondnacht! Sehe ich auch so. Sie bringt den Champagner mit, ist ja auch nur eine kleine Flasche. Sie kommt, vielleicht ist sie ihm dort begegnet, von irgendeiner Veranstaltung. Sie trägt ein sehr schickes Kostüm, also war’ s festlich. Sie setzt sich an diesen Tisch hier, legt das Täschchen auf die Bank, der Autoschlüssel fällt herunter. Sie stellt den Champagner bereit, die beiden Gläser sehen nach edlem Kristall aus, sind also nicht aus dem Lokal oder vom Festzelt mitgebracht worden.“
Kattenstroht nickte: „Sehe ich genau so. Zudem möchte ich die Kneipe im Brinketal sehen, die „Veuve Clicquot Ponsardin“ in der Demi-Flasche ausschenkt. Das ist vielleicht im Landhotel Edelbroick üblich. Ich glaube auch, dass die arme Frau die Flasche mitgebracht hat. Champa-gner hat für mich etwas Weibliches, diese Marke sowieso.“
Kathrin Eilers wurde bissig: „Du meinst auch wohl, ein Mann kommt nur mit einem echten schottischen Whiskey um die Ecke, so wie du mit deinem Oban oder Talisker!“
„Nicht vergessen“, hob Kattenstroht die Stimme an: „Wie lieb und luftig perlt die Blase / Der Witwe Klicko in dem Glase! – Das ist die Hochzeitsreise der frommen Helene bei Wilhelm Busch. Diese Dame hier wollte vor Ort was von ihm, aber bestimmt keinen Sex; er wollte wahrscheinlich just das mit ihr. Es gibt Streit, er wird handgreiflich oder gewalttätig, sie flieht ins Klo – und im Eifer des Geschlechtes sticht er zu.“ Kattenstroht stockte einen Augenblick und sprach Schücking an, der sich gerade mit Austrup über den Abtransport der Leiche und die Sicherung des Tatortes abstimmte: „Habt ihr eine Tatwaffe gefunden oder gesehen?“ Die beiden verneinten: Es sei nichts gefunden worden.
Da bliebe einiges zu klären, seufzte Kattenstroht. Er stemmte die Hände in die Hüften und schaute sich auf der Lichtung um. „Das ist doch noch ein ziemliches Durcheinander hier. Ich schlage vor, wir sehen uns erst einmal im Dorf um, essen was und versuchen dort, Anschluss zu finden.“
Auf dem Weg zum Auto grübelte der Kommissar über etwas nach und warf beim Einsteigen lässig hin, die Person, die den Champagner mitgebracht habe, sei offensichtlich ziemlich knauserig gewesen. „Kommt zur Mondscheinserenade mit einer Demi von nicht mal einem halben Liter daher. Dabei gibt’s von diesem edlen Gesöff richtige Bouteillen von 15 oder sogar 30 Litern. Und die heißen dann auch noch Jeroboam und Melchisedech, wenn ich mich nicht irre: wie Könige und Hohepriester. Aber eine kleine Demi?“
Kathrin Eilers konnte über die Gedankensprünge ihres Chefs angesichts einer so blutigen Mordsache nur noch den Kopf schütteln.
Vom Tatort steuerte der Kommissar den Dienstwagen ins Dorf. Sie wurden am Dorfrand durch ein großes Schild zum „125-jährigen Jubiläum der Stockhemer Genossenschaft Brinkeland“ begrüßt, die just in dieser Woche eine Kette von Veranstaltungen angeboten hatte. Zahlreiche Häuser waren beflaggt, das Dorf hatte sich insgesamt fein gemacht. „Hier ist die Bäuerliche noch was wert!“, hatte Kattenstroht geknurrt. „Die Genossen sind ja auch solider als so manch ein anderer Finanzhai!“ Seine Laune war jedoch trotz des positiven Urteils über münsterländische Bankiers insgesamt schlecht: Kattenstroht hatte ganz einfach Hunger.
Schon unmittelbar hinter dem Ortsschild lauerte er ziemlich ungeduldig nach rechts und links, kontrollierte vorm Einbiegen in die Hauptstraße, sich weit vorlehnend, die Reklameschilder und fand endlich einigermaßen beruhigt einen Schnellimbiss. Seit den Cerealien, die ihm Betty vor dem Marktgang überhaupt noch zugestehe, habe er nichts mehr picken können. Auf Nachfragen seiner Assistentin musste er allerdings einräumen, dass die Probiererei an Humborgs Käsestand doch recht ergiebig gewesen sei und ihm über die Zeit geholfen habe.
Es war schon später Mittag. Die Stockhemer Dorfstraße zeigte sich im strahlenden Sonnenschein ziemlich ruhig, kaum ein Mensch war unterwegs. In der Frittenbude, wie Kattenstroht die Gastronomie einigermaßen despektierlich titulierte, gab es nur ein beschränktes Angebot. Zunächst schwankend zwischen Bouletten und belegten Brötchen, ließen sich der Kommissar und seine Assistentin dann je einen Salat aus der Kühltheke geben, nahmen ein Brötchen und ein Wasser dazu und fanden schließlich vor dem Haus im Schatten einen einigermaßen gemütlichen Platz mit Tisch und Bänken für das frugale Mahl. Dass sie dabei die Hauptstraße im Blick hielten, war nützlich. So konnten sie sich bei Bedarf schnell mit Kolleginnen und Kollegen verabreden.
„Das ist in Ordnung mit dem Salat“, meinte Kathrin Eilers, „heute kriegen wir ja noch Lamm!“
Kattenstroht schaute abrupt auf, und auch Kathrin Eilers begriff sofort, dass angesichts der Ermittlungen das geplante Kattenstroht’sche Gelage kaum Wirklichkeit werden konnte. Zehn Minuten und einige Handytelefonate später hatte man das Festessen um einen Tag auf den frühen Sonntagabend verschoben. „Wenn ich Betty nicht helfen kann, können wir uns eine solche Fete schenken. Macht mir auch keinen Spaß, sie allein die ganze Arbeit machen zu lassen. Zum Glück war die Lammkeule noch nicht im Ofen.“
Während er mit seiner Plastikgabel versuchte, die letzten Maiskörner in der Plastikschale aufzuspießen, wanderte der Blick des Kommissars immer mal wieder die Dorfstraße hinunter: „Ist ja richtig ordentlich hier! Unser Dorf soll schöner werden! Die haben bestimmt mal den ersten Platz gemacht: Golddorf mit Bürgersteigen in Waschbeton, Peitschenleuchten und Fahrradwegen. Bloß keine natürlichen Pättkes und kein Unkraut mehr. Hier lebt doch kein Stück Vieh mehr im Dorf!“
„Nun sei mal nicht so ungnädig mit den Leuten auf dem Lande. Willst du denen vorwerfen, dass sie die Fehler der Städte aus den 1950er und 1960er Jahren nachgeholt haben?“, warf Kathrin Eilers ein. „Immerhin geben sie sich Mühe, halten das Dorf in Ordnung und haben für das Jubiläum auch schön geschmückt. Ich wundere mich nur über die weiß-blauen Fahnen. In den meisten Dörfern wird doch grün und weiß geflaggt, mit den Schützenfarben. Oder ist das hier in Stockhem eine Schalke-Hochburg?“
Es war an Kattenstroht, wieder einmal mit seinen landeskundlichen Kenntnissen zu glänzen: „Das ist nicht Weiß-Blau, das ist Blau-Weiß! Bei Clemens-August – Blau und Weiß –, da lebt man wie im Paradeis! Das haben die Münsterländer Bauern zu Ehren ihres Landesherrn Clemens August von Wittelsbach vor 250 Jahren schon gesagt. Mal ernsthaft: Die Farben sind eine der Spuren unserer Geschichte. Vergiss nicht, wir Münsterländer sind nun mal die nördlichsten Bayern. Jahrhundertelang von denen oder von Österreichern regiert. Deswegen sind wir doch so lebenslustig hier!“
Der Kommissar wollte schon zu einem längeren kulturgeschichtlichen Exkurs ansetzen, wurde aber von seinem Handy abgelenkt, auf dem sich Schücking meldete. Der hatte sich derweil wieder mit Ritzmann getroffen und wollte gemeinsam mit Kattenstroht und Eilers das weitere Vorgehen abstimmen. Der Kommissar beschrieb den beiden seinen Aufenthaltsort, und schon wenige Minuten später fuhr Schückings Dienstwagen vor. Den Kollegen Ritzmann hatte er gleich mitgebracht. Da Kattenstroth und Eilers allein auf den Bänken vor dem Schnellimbiss saßen, setzten sich die beiden anderen Beamten dazu und ließen sich erst mal eine Erfrischung bringen. Ritzmann begann, nachdem er sich über die Stirn gewischt und einen ersten Schluck Mineralwasser genommen hatte, mit seinem Bericht:
„Die Eltern und Johanna Flinkers Geschwister zu informieren war hart. Ich habe gedacht, weil ich die Flinkers ja kenne, übernehme ich das und lasse mich dabei von den Notfallseelsorgern unterstützen. Aber es wurde dann ganz schrecklich – viel schlimmer als in ähnlichen Fällen. Wir konnten die Eltern nur mit Mühe davon abhalten, ins Stockhemer Feld zu fahren, um die Tochter abzuholen.“
„Weiß man denn schon was über den gestrigen Abend und die Aufenthaltsorte des Opfers?“, fragte Kathrin Eilers.
Ritzmann zückte seinen Block und setzte an. „Sprechen konnte ich dann einigermaßen mit der Schwester; Brigitte heißt die, wird im Dorf nur Gitti genannt und wohnt noch bei den Eltern. Also, gestern war doch der große Ball der Genossenschaft zum Jubiläum. Das Festzelt steht am Sportplatz. Deswegen ist ja auch noch geflaggt. Der Ball begann um 19.30 Uhr, und Johanna Flinker war auch da; sie ist ja in der Geschäftsführung bei Brinkeland tätig gewesen. Es war die ganze Mannschaft da, auch hoher Besuch aus Münster, viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Umfeld der Banken und den Bäuerlichen, insgesamt – sagen wir mal – etwa 400 Gäste. Die Kapelle sollte bis 2.00 Uhr spielen. Johanna hat viel getanzt, hatte ihren Spaß, ist aber vor Ende des Balls bereits verschwunden. Sie muss dann zu ihrer Wohnung gegangen sein, hat da wahrscheinlich den Schampus geholt, denn auf dem Fest gab’s nur eine deutlich billigere Brause. Dann ist sie mit ihrem Auto ins Stockhemer Feld gefahren. Dort muss sie ausgerechnet im Kindergarten ihrer Schwester ihrem Mörder begegnet sein.“ Ritzmann schaute weiter auf seinen Block. „Wir machen natürlich noch ein ordentliches Verhör, aber das war das, was ich bisher schon herauskriegen konnte.“
„Wenn unser Opfer eine dorfbekannte Persönlichkeit war, dann weiß man doch, was sie für ein Typ war. Wie sah es denn aus mit Männergeschichten zum Beispiel? Abgesehen von dem schrecklichen Anblick heute Morgen – sie muss doch eine sehr attraktive Frau gewesen sein. Und dann mit gerade mal dreißig Lenzen schon in der Geschäftsführung der Genossenschaft?“ Kattenstroht warf einen schnellen Blick auf Kathrin Eilers und formulierte vorsichtig weiter: „So eine tolle Frau brennt auf so einem Dorf wie Stockhem doch eigentlich nicht an. Wenn ich es richtig verstanden habe, war sie ja noch ledig.“
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„Wie soll es nun weitergehen mit Ihrem Waldkindergarten?“, wollte Kathrin Eilers wissen.
Heidi Wessling richtete sich auf. Fast tonlos meinte sie: „Unsere Idylle im Stockhemer Feld können wir abhaken. Nach dieser Geschichte können wir mit den Kindern da nie wieder hin. Und die ersten Jahre können wir uns unser schönes Waldprogramm total abschminken. Ich habe eben schon mit dem Pastor telefoniert. Wir müssen schon am Montag ein Notprogramm im Dorfkindergarten fahren. Unsere Sachen können wir ja die ersten Tage gar nicht abholen, ist alles abgesperrt da. Und dann müssen wir mal zusehen.“
Kathrin Eilers wollte die Kindergärtnerin trösten: „Meinen Sie denn nicht, dass Sie mit einigem Abstand zu den Dingen den Platz doch wieder nutzen können?“
Heidi Wessling hob den Blick und meinte: „Sie klingen so, als wenn Sie aus der Gegend sind. Dann wissen Sie doch auch, dass solche Orte irgendwie, sagen wir mal, irgendwie verwunschen sind. Schauen Sie sich doch im Münsterland um. An vielen Stellen stehen Kreuze an Straßen und Wegen. Die erinnern an solche Geschehnisse wie Mord und Totschlag, Jagdunfälle, Unglücke. Noch in zweihundert Jahren werden die Leute in Stockhem wissen, was unserer Johanna Flinker da im Feld passiert ist. Und sie werden den Ort meiden.“