An
Karl August Klein
Teilten nicht alles wir:
lose und träume und ziele und pfade?
Mischten wir nicht unser blut,
dass wir brüder uns seien?
War es der wille des sterns,
dass wir jetzt in der gleichen dekade
Uns für die hoffnung
verwandelten lebens befreien?
Stefan George
Der siebente Ring (Tafeln), 1907
„Schneiderleben“
- d. i. Manfred Schneider -
in Freundschaft zugeeignet
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Schlussbemerkung
Fast genüsslich ließ sich der alte Mann gegen die Rückenlehne der Bank zurückfallen. Zufrieden schaute Bernd Appelhans über seinen Garten, die späten, aber doch üppigen Sommerstauden, den plätschernden Brunnen und den sattgrünen Rasen. Alles war ordentlich, geharkt und gefügt, so wie alles in der Welt des ehemaligen Werkzeugmachers seine Präzision und Ordnung hatte. Ein sanftes Aufstoßen erinnerte ihn an das Abendessen. Lisbett hatte Apfelpfannkuchen gebacken mit Schnitzeln vom Boskop, dessen Zweige noch immer die rückwärtige Gartenmitte beherrschten und der Familie Appelhans wenigstens über weite Teile des Jahres Sichtschutz gegen die allzu neugierigen Nachbarn boten: Apfelpfannkuchen mit einer Prise Zimt. Nun würde noch ein kühles Bier den Abend einläuten, und dann würde der alte Herr auf der Terrasse das genehmigte Zigarillo schmauchen, bei dem Lisbett stets so kritisch guckte. Appelhans war’s zufrieden. Von den einst mehr als vierzig Zigaretten am Tag war nur dieses allwöchentliche Zigarillo übrig geblieben. Bernd Appelhans liebte es, die blauen Wölkchen in die Luft aufsteigen zu lassen.
Plötzlich kam eine gewisse Unruhe auf. Die Hausfrau erschien auf der Terrasse, klappte den mobilen Wäscheständer auseinander und hängte feuchte Tücher zum Trocknen auf. Offensichtlich war in der Küche schon wieder Ordnung geschaffen, denn Lisbett Appelhans stieg zügig die Stufen von der Terrasse herunter und setzte sich zu ihrem Gatten auf die Gartenbank. Natürlich hatte sie noch eigene Pläne für den Abend, denn wacker schlug sie ihrem Mann vor, angesichts der schönen seidigen Abendluft und der späten Sonne noch eine kleine Radtour zu unternehmen. Vielleicht am Kanal entlang und dann auf ein Bier zu Thiers hinterm Busch.
Die Traditionskneipe lockte auch Bernd Appelhans. Zwar wäre er eigentlich lieber auf seinem Erbe sitzen geblieben, wie er sich ausdrückte, aber Lisbett ermunterte ihren Gatten mit Nachdruck. Der seufzte tief, kontrollierte in der Garage bei den Rädern den Luftdruck der Reifen, verpasste einem von ihnen noch etwas Luft und schob beide Fahrräder auf den Garagenvorplatz. Bald ging es los, und schließlich fand sich das in Rentnerbeige recht einheitlich gekleidete Paar auf dem Leinpfad am Kanal wieder. Gemächlich radelten sie die Wasserstraße entlang, verfolgten das eine oder andere Schiff, wichen Joggern und Walkern aus und bestaunten die Sonnenlustigen, die auch den letzten Strahl der Spätsommersonne noch einzufangen versuchten. Bernd Appelhans musterte gelegentlich die eine oder andere junge Dame, die sich trotz der aufsteigenden Abendkühle noch freizügig zeigte, und empfing dafür mahnende Worte seiner Frau, er möge gefälligst auf den Weg achten und nicht auf die jungen Töppkes.
Sie passierten eines der noblen Wohngebiete in Münsters Osten, als ein Kinderruf Lisbetts Aufmerksamkeit erregte. Mehrfach schallte es im Chor von Kinderstimmen melodisch zwischen den Häusern her: „Kinder, kommt runter …!
„Meineh, es ist doch noch Licht. Rufen die schon zum Lambertus?“ Lisbett Appelhans’ Interesse war geweckt. Sie hielt kurz an, hielt ihre Nase in den Wind, lauschte und entschied dann, ohne ihren Bernd zu beteiligen, den Leinpfad zu verlassen und in das Wohngebiet zu fahren. „Kinder, kommt runter! Lambertus ist munter!“,war es jetzt deutlich zu hören. Zwischen Hecken führte ein Patt seitwärts ab. Ein großer gelber Mondlampion aus bedrucktem Papier hing einsam an der Ecke. Ein kopiertes Blatt, zum Schutz gegen den Regen in eine Plastikhülle gesteckt, verkündete, dass die Nachbarschaft Röttgerskamp alle Kinder der Gegend zum Lambertusfest einlade: „Und guck mal, Bernd, just heute Abend. Lass uns doch mal gucken, was das gibt!“ Zielstrebig steuerte die Rentnerin ihr Rad durch das enge Pättken und ließ ihrem Mann nur die Wahl, ihr zu folgen.
Die Straße Röttgerskamp lief hier am Kanal in einem Wendehammer aus. Am Übergang zur Straße hatte man eine Warnbake aufgestellt, wohl um Fremdparker abzuhalten und den fast runden Platz frei zu halten. In der Mitte stand eine Pyramide aus Dachlatten, mit Blumen und Ranken geschmückt. Erste Laternen hingen darin, weitere Kinder und Mütter standen herum und bemühten sich, zwischen den Blumen und Efeuranken die Bohrungen in den Latten zu finden, in die man die Laternenstiele einschieben konnte.
Mehr und mehr Kinder liefen zusammen. In Grüppchen kamen sie die Straße herauf, kleine an den Händen der Mütter, ganz kleine im Kinderwagen, größere mit dem schon überlegenen, leicht arroganten Lächeln der Vorpubertät. Letztere suchten sich Plätze am Rand und erkletterten die Pfeiler der Gartentore, von denen aus man einen besonders schönen Blick hatte. Am Rande des Geschehens standen mehrere ältere Nachbarn: Männer und Frauen, die sich untereinander absprachen, wie denn weiter vorzugehen sei. Ein alter Herr klappte ein hölzernes Futteral auf und hängte sich mit gekonnten Griffen ein großes Akkordeon um. Der junge Vater neben ihm beschränkte sich auf eine kleine Trommel.
Emsig lief die Nachbarschaftspräsidentin durch die Gegend; sie zeichnete seit vielen Jahren verantwortlich für die jährliche Veranstaltung des Lambertusspiels, dessen Liedtexte und Spielanweisungen, auf DIN-A3-Bögen kopiert, nun an potenzielle Sängerinnen und Sänger verteilt wurde. Das Ehepaar Appelhans wurde natürlich mit eingebunden. Längst standen die Fahrräder aufgebockt an einem Gartentor, und Lisbett summte beim Durchblättern der Lieder jene alten Melodien, die einem Kind in Münster bis auf den Tag sogar in der Schule noch beigebracht werden: „Guter Freund, ich frage dir.“ „Bester Freund, was fragst du mir?“ „Sag mir, was ist Eins!“
Die Nachbarschaftspräsidentin ließ nun per Akkordeon einen Tusch aufspielen, begrüßte mit wohlgesetzten Worten die Erschienenen, vor allem die Kinder, und erklärte das diesjährige Spiel für eröffnet. Mit pädagogischem Talent fragte die drahtige Dame die jungen Eltern nach den Spielwünschen ab, und schon ging der Schornsteinfeger spazieren, fing sich der Schneider eine Maus und schickte der Herr den Jäger aus. Die älteren Nachbarn kannten natürlich die teils endlosen Reihenlieder und fügten, ohne zu holpern, Strophe um Strophe aneinander. Die Kinder dagegen brauchten schon Unterstützung. In drei gegenläufigen Kreisen zogen sie um die Pyramide, deren Lampions im nun mehr und mehr sinkenden Abendlicht immer heller zu strahlen begannen. Junge Mütter trugen ihre Kleinkinder auf dem Arm durch den Kreis, die Kleinen an der Hand schoben sich manchmal nur langsam vorwärts, und Bernd Appelhans kommentierte, in seiner Jugend habe man auf dem Schulplatz sieben komplette Kreise gehabt, alle Kinder hätten singen können, und so kleine Blagen hätte man bei der wichtigen Übung des Lambertussingens gar nicht zugelassen.
Schließlich erklang „Guter Freund, ich frage dir“ mit seinen zwölf langen Strophen, in denen Glaubensgeheimnisse und Symbole aufgezählt werden. Flüssig ging dieses wohl wichtigste Lied der Lambertusfeier den Älteren von den Lippen: „Zehn Gebote Gottes, neun Chöre der Engel, acht Seligkeiten, sieben Sakramente, sechs Krüge mit rotem Wein, die schenkt der Herr zu Kana ein, Kana in Galiläa!“ Manch einer hörte die alten Zeilen wohl nicht ohne Rührung. Doch blieb am Ende nur wenig Zeit zum Atemholen.
„Nun wollen wir doch mal gucken, wo der Bauer bleibt! Seht ihr ihn schon?“, fragte die Leiterin des abendlichen Spiels laut in die Runde. Eltern und Großeltern sangen auf Plattdeutsch nach einer rhythmischen Melodie: „De Buer de kümp, de Buer de kümp, de Buer de kümp nao lange nich!“ Erwartungsvoll schaute alles die Straße hinauf.
Tatsächlich entstand auf einem der Garagenvorplätze Unruhe. Ein einzelner Mann setzte sich dort in Bewegung und schob eine altertümliche Schubkarre vor sich her. Auf der war ein Bund Stroh platziert, dahinter eingeklemmt am Seitenbrett ein geflochtener Weidenkorb.
Die Erscheinung kam näher und näher. Nun erkannte man, dass der Buer Holzschuhe an den Füßen trug und lederne Gamaschen an den Waden. Über seiner schwarzen Manchesterhose trug er einen blauen Kittel, der mit Blaudruck-Motiven am Saum und an den Manschetten verziert war. Eine schwarze Schirmmütze und ein rotes Halstuch rundeten die Tracht des Kiepenkerls ab. Merkwürdigerweise baumelte unter dem Mützenrand ein Pferdeschwanz aus dichten grauen Haaren hervor. Der Mann war groß, schlank, jenseits der sechzig und ließ eine kleine Mutz in seinem rechten Mundwinkel hängen. Mit wachen Augen überblickte er die Schar der Kinder und Erwachsenen: „Mein Guott, leiwe Lüde, wat roopet Ji nao den Buern?“
Spontan setzten einige der Sängerinnen und Sänger ein und begrüßten den Bauern melodisch: „Gueden Dagg, Buer, in de Stadt!“
Der schob seine Karre an die Seite, nahm den Korb, für den sich umgehend mehrere Kinder interessierten, und stellte sich neben die jetzt hell leuchtende Pyramide in die Mitte des Kreises.
„O Buer, wat kost dien Hei?“ – „Bauer, was kostet dein Heu?“ Der Höhepunkt des Lambertusspiels war erreicht.
Mit volltönender Stimme sang der Alte, während er langsam die Pyramide umschritt, dabei auch mal an seiner Pfeife zog und auf das eine oder andere Kind im dichten Ring deutete:
„Mien Hei, dat kost ’ne Kron,
mien Hei, dat kost ’ne Kiärmeskron,
juchheißa-vivat Kiärmeskron!
Mien Hei, dat kost ’ne Kron!“
Schon beeilten sich die Spieler, dem Bauern zuzusingen, dass dies doch viel zu teuer sei: eine Krone, und mochte es auch eine Kirmeskrone sein, nur für einen Bund Heu? Das Geschäft kam wohl nicht zustande, aber eifrig sangen und spielten sie nun weiter, wie der Bauer sich seine Hofgemeinschaft sammelt: Frau und Kinder, Knechte und Mägde, Hund und Katze und zum guten Schluss merkwürdigerweise einen Knochen. Die Schlange der Kinder, die dem Bauern und seiner Frau als Hofstaat folgte, wurde lang und länger. Oft musste dieser auch eine Mutter mit in die Reihe nehmen, da besonders kleinere Kinder dem merkwürdigen Mann nicht folgen wollten und ihm die Begleitung stumm verweigerten. Inzwischen aber hatte der Bauer seinen Korb geöffnet und verteilte Äpfel und Süßigkeiten an die Kinder; das lockte.
Dann jedoch geschah etwas Sonderbares: Der Bauer bekam einen Schubs! Er wurde aus dem Kreis der Spielerinnen und Spieler verjagt, man zerrte ihn hin und her, und auch manchen Tritt kleiner Füße hatte er zu ertragen. Damit war das Spiel jedoch vorbei, und die Reste aus dem Korb wurden verteilt. Man stimmte zum Ausklang ein Laternenlied an: „Mein Licht ist aus, wir gehen nach Haus! Rabimmel, rabammel, rabumm!“ Manche der jungen Eltern waren wohl froh, ihren Nachwuchs nun ins Bett stecken zu können. Man verabschiedete und verabredete sich auf den nächsten Abend, und recht schnell verlief sich die Festgemeinde der jüngeren Leute.
Tiefblau war der Himmel derweil geworden, und ein aufgehender Vollmond begann, sein mildes Licht über Stadt und Land zu streuen. Seltsamerweise hatte man, kaum dass die Kinder abgezogen waren, hinter einem Gartentor eine Kiste Bier entdeckt. Der Kirmesbauer, die Nachbarschaftsvorstände und die Sängerinnen und Sänger bekamen ein Fläschchen angeboten. Auch Bernd und Lisbett Appelhans ölten so ihre Kehlen und wurden als ordentliche Gesangsverstärkung für den nächsten Abend wieder hinzugebeten. Bald rappelten die geleerten Bierflaschen zurück in die Plastikkiste. Die Lambertuspyramide, sie hatte Räder unter ihren drei Eckstangen, wurde auf einen Garagenhof gefahren, und die Menschen gingen mit freundlichen Abendgrüßen auseinander. Die beiden Appelhans schoben ihre Räder über das schmale Pättken zurück zum Leinweg am Kanal und fuhren nach kurzer Überlegung zurück nach Hause: „Immerhin hast du dein Bier schon gehabt!“, konstatierte Lisbett: „Und auch noch umsonst. Das spart, das Lambertussingen aufm Röttgerskamp!“
Dass zwei scharfe Augen vom Rande des Geschehens, aus den Büschen des nahen Spielplatzes, das ganze Lambertusspiel mit brennendem Blick beobachtet hatten, war niemandem aufgefallen.
Kattenstroht tippte ungeduldig mit den Fingern seiner rechten Hand auf dem Lenkrad herum. Die Baustellenampel tat ihm dennoch nicht den Gefallen, zügig auf Grün umzuspringen. Da hatte er schon von seinem trauten Heim im Süden Münsters einen weiten Umweg sinnreich geplant, um dem sorgfältig und mit offensichtlichem Fleiß gespannten Netz der Baustellen im inneren Stadtgebiet der Provinzialhauptstadt zu entgehen; aber auch diesmal war es vergebens! Die jüngste Gelegenheit, die sich den Straßenbauern geboten hatte, ausgerechnet einen seiner liebsten Schleichwege aufzureißen, war dem Kommissar trotz sorgfältigster Planung und Beobachtung der Lokalpresse entgangen. So stand er denn reichlich angenervt mit anderen Autofahrern in einer Schlange und ließ seine Blicke in eine der Nebenstraßen schweifen.
Was er dort sah und über etwa zwei Minuten beobachten musste, missfiel ihm ganz offensichtlich. Entgegen allen Regeln zog er den Wagen rechts über den Radweg auf die nächste Garageneinfahrt, schaltete das Warnlicht ein und warf ein Polizeischild hinter die Frontscheibe. Schnell ging er die wenigen Meter zur Straßenecke zurück und lenkte seine Schritte in die schmale Sackgasse, in die er aus dem Auto heraus hatte hineinsehen können.
Nicht undramatisch zückte er seinen Dienstausweis und stellte sich in üblich knapper Manier als „Polizei!“ vor. Die beiden Streithähne hielten inne und verstummten. Der ältere Mann warf dem Beamten einen fast unterwürfigen Blick zu, der Junge schien erfreut zu sein und verhaspelte sich fast, als er in schnellen Worten erklärte, dass der da ihm seine Funde da habe klauen wollen.
Die Funde, das waren Bestandteile der Hardware eines Computers: Tower, Bildschirm, Tastatur und sogar ein alter Drucker war dabei. Der fixe Junge mit dem kleinen Handwagen war wohl als Erster auf die Schätze gestoßen, der grimmige Senior mit Schnurrbart und rundem Helm war aber wohl gleich zur Sache gegangen. In seinem vom Moped gezogenen Karren war schließlich noch reichlich Platz. Kattenstrohts Eintreffen wendete das Blatt: „Wir leben hier nicht nach Darwins Prinzipien des Überlebenskampfes: Wie sagt meine Betty immer: ‚First come – first serve.’ And the winner takes it all! Oder nach dem Sachsenspiegel: ‚Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!’ Lassen Sie den Jungen ziehen. Ich hab’s gesehen, dass er die Sachen schon auf seinem Wagen hatte!“
„Der Junge war wirklich zuerst hier!“, bestätigte ein älterer Herr, der sich das Scharmützel zwischen den beiden Kampfhähnen angeschaut und es sich dabei – gestützt auf ein schweres Gartentörchen – geradezu gemütlich gemacht hatte. „Wir stellen hier den Sperrmüll inzwischen alle erst am Morgen heraus. Man wird sonst in der Nacht von den Jägern und Sammlern ständig nur gestört. Das alte Ding läuft übrigens noch. Mein Sohn hat die Daten auf der Festplatte alle gelöscht, und der Speicherplatz ist trotzdem klein. Vielleicht kann der Knabe darauf ja noch tippen lernen.“
Wie der Blitz verschwand der jugendliche Sperrmüllfreak, und Kattenstroht positionierte sich so auf dem Weg, dass der rundbehelmte Schnauzbart nicht gleich nachsetzen konnte. Der Kommissar tat gemächlich so, als wolle er auch noch die Daten des Mannes aufnehmen, ließ es aber dann dabei bewenden und winkte den unterlegenen Sperrmüllsammler durch. Laut knatternd verließ der den Ort seiner Niederlage.
„So ist das mit diesen Leuten! Müssen sich alles unter den Nagel reißen! Ob sie’s gebrauchen können oder nicht!“, bemerkte der ältere Herr jenseits seiner Gartenpforte. Kattenstroht nickte nur stumm, verabschiedete sich knapp und machte sich auf den Rückweg zu seinem Auto. Er hatte die Straßenecke noch nicht erreicht, als sich sein Handy meldete. Austrup war dran und fragte ihn kurz, wo er denn stecke. Es sei gerade eine Meldung über eine Gewalttat in Münsters Osten eingetroffen. Wenn Kattenstroht noch auf dem Weg ins Präsidium sei, könne er ja unmittelbar dort am Röttgerskamp vorbeifahren. „Und Frau Eilers werde ich auch gleich umleiten. Wir haben sonst kein Team mehr frei. Termine haben Sie heute am Vormittag auch nicht.“
Der Kommissar ließ sich die genaue Adresse kurz erklären, erinnerte aufgrund seiner intimen Kenntnisse der Badestellen am Dortmund-Ems-Kanal den kürzesten Weg und erreichte schon bald die stille, mit Bäumen begrünte Straße, die jetzt von Einsatzkräften abgesperrt war. Da man ihn vor Ort kannte, wurde er durchgelassen und sah sich vor dem Gartentor eines Hauses aus den 1950er Jahren, an das ein kleineres Nebenhaus angesetzt war. Uli Wormstall, ein Kollege von der Schutzpolizei, begrüßte den Kriminalbeamten und führte ihn umgehend in den Tatort ein, an dem verschiedene Teams der Spurensicherung, der Fotograf und offensichtlich auch der Arzt bereits aktiv waren.
„Heute Morgen hat die Vermieterin, eine Frau Tekülve, gegen 7.15 Uhr ihre Zeitung hereinholen wollen. Dabei fiel ihr auf, dass ihr Untermieter, das ist unser Opfer, ein Dr. Paul Wilhelm Kathmann, sein Blättchen noch im Kasten am Tor hatte stecken lassen. Sie nimmt auch diese Zeitung heraus, geht zur Nebentür und findet die nur angelehnt. In der Wohnung ist aber niemand. Auf ihr Rufen antwortet keiner. Sie kommt wieder heraus und findet einen Lederschlappen des Dr. Kathmann auf dem Patt und entdeckt Schleifspuren durch das kleine Rosenbeet dort. Sie geht bis zur Hausecke und stößt auf das Opfer. Der Mann liegt noch immer dort. Der Ort ist nicht ungeschickt gewählt für ein erstes Versteck. An der Seite ist kein Fenster, und die hohe Hecke versperrt zur Straße und zum Nachbarn hin die Sicht.
„Sind die Spuren da gesichert?“, fragte der Kommissar und wies auf den Zuweg zum Haus und die Garten- und Wegflächen hin. Wormstall nickte. „Das ist so weit schon klar, denke ich!“
Kattenstroht stutzte: „Was sollen denn die Holschken da bedeuten?“ Tatsächlich standen rechts vom Torpfeiler des Gartentörchens zwei blank gescheuerte Holzschuhe, aus denen noch Strohwische lugten. Wormstall bemerkte, Kattenstroht solle sich nicht wundern, denn das Opfer dieser Gewalttat sei sowohl der Jahreszeit angemessen als auch dem Landesbrauch entsprechend gekleidet.
Dennoch verschlug es dem Kommissar fast die Sprache, als er einen leibhaftigen Kiepenkerl im Blaukittel, mit rotem Halstuch, in schwarzer Buxe und mit Ledergamaschen erschlagen hinter der Hausecke erblickte. Er schüttelte sich und wies dann auf den Knotenstock hin, den der Täter seinem Opfer in die Brust gerammt hatte: „Wenn ich nicht genau wüsste, dass es nicht passen kann, würde ich auf Professor Junkmann als Täter tippen! Tödlich so etwas!“
Der Polizeiarzt, der noch neben dem Opfer kniete, wandte sich irritiert um und meinte: „Junkmann, den kenne ich nicht. Originär tödlich scheint eine Verletzung am Hinterkopf zu sein. Aber das muss die Autopsie zeigen. Der Knotenstock im Brustkorb hier scheint mir eine Dreingabe zu sein. Der Täter dürfte von der Logik her auch erst hier zugestoßen haben. Wenn ich das richtig sehe, hat er schon einen Toten um diese Ecke gebracht und dann noch einmal zugestoßen.“
„Tatzeit?“, fragte der Kommissar nur knapp.
Der Arzt wiegte den Kopf leicht hin und her. „Wir müssen natürlich noch alle Temperaturtabellen vergleichen. Aber ich denke mal, vor Mitternacht war der gute Münsterländer schon im westfälischen Himmel. Wahrscheinlich noch etwas früher. Das Tatwerkzeug scheint dort in der Hecke zu stecken.“ Tatsächlich lugte aus dem seitlichen Grün ein gleichmäßig behobeltes Kantholz, an dessen Seiten rote verschmierte Flecken aufleuchteten.
„Machen Sie mal weiter, Dottore, ich sehe dann nach der Wohnung und der Vermieterin.“ Kattenstroht nickte seinem Kollegen Wormstall zu, der ihm zunächst folgte. Gemeinsam begrüßten sie am Gartentörchen Kathrin Eilers. Bald schellten Kommissar und Assistentin an der Haustür der Familie Tekülve. Die ältere Dame bat ins Wohnzimmer und offerierte Kaffee und Tee. Beides sei gerade frisch fertig geworden. Im weiteren Gespräch stellte sich die Vermieterin als durchaus lebenspraktisch, resolut und wortmächtig heraus. Sie sei ja immerhin schon seit 15 Jahren Witwe, betonte sie mehrfach. Dass aber ein so guter Mieter wie Dr. Kathmann auf diese Weise abspringe, sei doch erschütternd. Hierbei führte sie ein Spitzentaschentüchlein an die Augen. „Wissen Sie, ich bin doch noch ganz verwirrt. Ich mag gar nicht dran denken, wie ich ihn da habe liegen sehen. So ein netter Mann, unser Doktor, gestern war er noch der Buer beim Lambertusspiel – und jetzt liegt er uns tot im Garten.“
Kathrin Eilers registrierte innerlich lächelnd, dass die Vermieterin jedes anlautende „g“ westfälisch wie „ch“ aussprach. Dies gab ihrem Bericht bei aller Tragik eine ungewollt heitere Note. „Er war ja auch ein ganz gebildeter Mann, der Herr Doktor! So was kriegt man ganz bestimmt nicht wieder! Der konnte ja singen wie ’ne Nachtigall, war im Theaterchor mit dabei und spielte Klavier wie ein Meister.“ Und nach einer Pause des Entsetzens: „Jetzt kommen bestimmt Mietnomaden!“
Der Kommissar versuchte, die ängstliche Vermieterin zu beruhigen. Schließlich sei sie ja noch Herrin im eigenen Haus. Zunächst allerdings werde die Polizei die Wohnung untersuchen und dann vielleicht auch für einige Tage versiegeln müssen. „Hatte Herr Dr. Kathmann denn nähere Verwandte hier in der Gegend?“, wollte er von der Vermieterin wissen.
Frau Tekülve dachte einen Augenblick nach: „Er war irgendwie ein Einzelgänger. Er hatte weitläufige Verwandte hier in Münster. Ursprünglich kam er ja von hier, war aber ganz viele Jahre in Berlin. Erst vor so 17 oder 18 Jahren ist er wieder hergekommen. Mein verstorbener Mann, der lebte damals noch, der hatte einen Sangesbruder aus unserem Kirchenchor an der Oberfinanzdirektion. Dieser Kollege hatte eines Tages gehört, dass unser Nebenhäuschen frei würde. Und da hat er uns den Dr. Kathmann, der gerade nach Münster zurückgekommen war und was Solides suchte, empfohlen. Wir haben uns all die Jahre wirklich gut verstanden. Er war so eine Art Bereichsleiter in seinem Amt, glaube ich, war Doktor dabei und hatte als Beamter gutes Geld, jeden Monat.“ Die Vermieterin musste wieder zum Taschentuch greifen. „Schade, schade, schade!“
„Und die Verwandten?“, setzte Kathrin Eilers bestimmt nach.
„Er hat wohl noch Geschwister, aber kaum einen Kontakt dazu. Eine junge Frau kommt immer mal vorbei, eine Nina, ein hübsches Ding. Die ist seine Nichte, mit der hat sich Dr. Kathmann immer gut verstanden. Er hat gesagt, sie sei sein Patenkind.“ Und nach einer Pause: „Das mit dem Patenkind kann aber so nicht stimmen, denn man konnte von unserm Doktor sagen, was man wollte, aber mit der Kirche hatte er es nicht so!“
Kattenstroht setzte seine Kaffeetasse ab und meinte, dass das fürs Erste reiche. Gewiss werde Frau Tekülve in den nächsten Tagen noch eine vollständige Aussage machen müssen. Insbesondere müsse man wissen, was denn am gestrigen Abend eigentlich passiert sei. Denn dass ein Buer aus dem Lambertusspiel erschlagen würde, müsse jeder Münsteraner als erschütternden Skandal empfinden.
Frau Tekülve nickte ergriffen.
Vor der Tür fragte Kathrin Eilers ihren Chef: „Was hat es eigentlich mit diesem Lambertusspiel auf sich?“
Kattenstroht war entsetzt ob solcher Unkunde. Er wies mit kurzer Handbewegung über die Straße, wo auf einer Garageneinfahrt eine mit Blumen bunt geschmückte Pyramide stand: „Du typisches Kind des Osnabrücker Landes! Ihr wollt uns den Westfälischen Frieden und die älteste Schule Deutschlands abjagen, kennt aber nicht mal Lambertus!“ Nachdem er auf diese Weise seine Assistentin an ihre Heimatregion erinnert hatte, erläuterte er ihr kurz Tradition und Ablauf des Lambertusspiels, das ursprünglich von den Kindern und jungen Leuten in Münster in den Tagen vor dem 17. September, dem eigentlichen Lambertustag, organisiert wurde: „Irgendwie hat es wohl an den Zeitpunkt erinnert, zu dem im Haus die Lichter wieder angezündet wurden. Illuminationen sind ja sowieso ein klassischer Brauch. Die Leute gehen im Dunkeln gerne mit Licht herum. Laternenzüge gibt’s auch zu Martini, man widmet Geburtstagskindern einen Fackelzug, und die Bundeswehr tutet im Dunkeln einen Zapfenstreich. Das ist immer so eine tiefe Lichtsymbolik. Aber der Buer am Ende des Lambertussingens erinnert auch an den Gegensatz zwischen Stadt und Land. Denn er wird ja auch verspottet und mit einem Schubs wieder verjagt. Das geht manchmal ganz schön wild zu. Dieser Buer hier ist jedoch“, der Kommissar zögerte etwas, „meines Wissens der erste, den man über den Schubs hinaus auch noch totgeschlagen hat.“
Die Wohnung von Dr. Paul Wilhelm Kathmann erwies sich als ebenso klar wie praktisch eingerichtet: eine kleine Küche, ein Bad, ein größeres Wohn- und Arbeitszimmer im Erdgeschoss mit Blick zum Garten, sodann unter dem Spitzdach der große Schlafraum: Alles war prick und proper eingerichtet, wie Kattenstroht feststellte. Wohlgefällig ruhte sein Blick auf dem schönen Stutzflügel eines weltbekannten Herstellers. Eindruck machte auch der bequeme Ruhesessel mit dem dazu passenden Rauchtisch, auf dem etwas verloren ein benutztes Bierglas und eine geleerte Pilsflasche standen. Wie häufig bei solchen Erst-Inspektionen verhielt der Kommissar einige Minuten vor dem Bücherschrank. Seine Blicke gingen die Regalbretter durch. Gelegentlich konnte die Assistentin ein zustimmendes Nicken registrieren oder ein fragendes Grunzen hören. Irgendetwas schien Kattenstroht zu beschäftigen. Seine Blicke blieben auch an einer Wand hängen, auf der zahlreiche Bilder ohne erkennbare Struktur aufgehängt waren: Fotos, Zeichnungen, Kollagen und Kleinplakate. Fast schien es so, als wolle Kattenstroht eine gewisse Ordnung in dieses scheinbare Durcheinander bringen. Der Kommissar war bereits im Begriff zu gehen, als er bemerkte, dass die Musikanlage noch eingeschaltet und offensichtlich eine CD abgelaufen war. Er griff zum Kugelschreiber und bediente damit unter Umgehung der eigenen Fingerkuppen eines der Schaltelemente. Die Schublade mit der CD fuhr heraus, und Kattenstroht stellte fest, dass zuletzt offensichtlich Ouvertüren von Richard Wagner abgespielt worden waren.
Schließlich sprach er sich mit Austrup, der fürs Erste am Tatort bleiben sollte, ab, wie mit der Wohnung und ihrem Inventar weiter zu verfahren sei. Für 11.30 Uhr wolle er eine erste Besprechung im Präsidium ansetzen und sich seinerseits mit dem Arbeitgeber des Erschlagenen, dem Finanzamt für Steuerstraftaten, in Verbindung setzen.
Auf dem Gehweg fragte Kattenstroht seine Assistentin ganz unvermittelt, ob ihr bei der Bücherwand etwas aufgefallen sei. Kathrin Eilers meinte, sie habe nur sehr viele politische Bücher wahrgenommen.
„Das stimmt!“, bestätigte der Kommissar: „Viel Politik, aber auch viel Philosophie und dabei überwiegend theoretische Schriften aus den 1960er und 1970er Jahren: Adorno, Mitscherlich, Horkheimer, Marcuse. Dann die komplette Marx-Engels-Studienausgabe aus der ehemaligen DDR. Das sind allein über 20 dicke Bände, fast ’n Meter. Ich habe nur in der Nähe des Schreibtisches etwas Juristisches gesehen, wenig nur. Unter den Philosophen die ganzen linken Klassiker jener Zeit.“ Er schaute etwas nachdenklich auf seine junge Assistentin. „Wir beide haben die Zeiten damals nicht miterlebt. Ich war zu jung, du warst noch nicht auf der Welt, aber mein Vater hat an seiner Schule auch einiges erlebt. Es ist vieles krumm geworden damals. Und hier, hier passt mir was mit unserem Opfer nicht: Hochrangiger Finanzbeamter, promovierter Jurist, linker Philosoph, ausgezeichneter Klavierspieler und Chorsänger – und spielt dann zu Lambertus den Kirmesbauern auf dem Röttgerskamp, um sich anschließend ausgerechnet an Richard Wagner zu ergötzen. Die Spannbreite ist mir ein wenig zu groß. Da werden wir wohl noch genauer hinschauen müssen.“