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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Schlussbemerkung

Für Kathrin A. M. T. & Nina J. E. T.

Als Freundinnen gab es Euch

nur im „Dreierpack“,

Paramnesien und

duodenale Duplikatur

inklusive.

„Warum der Mensch tötet?

Er tötet aus Hunger.

Aber nicht nur aus Hunger,

manchmal auch aus Durst.“

Allan Stewart Konigsberg d.i. Woody Allen

1935, amerikanischer Regisseur und Schauspieler

„Und wenn ich einst gestorben bin,

dann sollt ihr mich begraben

in einem Fass voll Branntewein,

daran will ich mich laben.

In 66 Litern Branntewein

schlaf ich selig ein, schlaf ich ein.“

Aus dem Trinklied eines unbekannten Autors

Der Sonntagmorgen hatte bei Familie Büscher wie immer früh begonnen. Mochte die vierjährige Lisa auch endlich mal etwas länger schlafen, so erforderten doch die zweijährigen Zwillinge Nele und Lena früh die Aufmerksamkeit ihrer Eltern. Dabei war Petra Büscher angesichts der vielen Arbeit froh darüber, dass ihr Mann Heinz sich so selbstverständlich und offensichtlich auch gern in allen Bereichen in die Betreuung der Kinder einband und keine Arbeit übersah. Während die Kleinen versorgt wurden, schlief Lisa noch. Als sie erst gegen acht Uhr aus den Federn krabbelte, war sie noch etwas quengelig und hatte gleich ein großes Ziel vor Augen: Der neue Fahrradanhänger für Nele und Lena sollte unbedingt mit einer richtigen Radtour eingeweiht werden.

Am Freitag waren die Zwillinge zwei Jahre alt geworden. Zur Feier des Tages waren Opa und Oma Bomert, Petras Eltern, aus den Emsland angereist und hatten das mit den Großeltern Büscher abgesprochene und und das jeweils hälftig finanzierte Geschenk mitgebracht: Einen zweisitzigen holländischen Fahrradanhänger für Kleinkinder, ausgestattet mit allem Komfort und technischen Schnickschnack, der einem solchen Gefährt in modernen Zeiten eigen ist. Die Kinder hatten gejubelt, die Eltern hatten sich gefreut, die Großväter und Vater Heinz hatten zwei Stunden über der Montageanleitung geflucht, mit der man die aufwändige Halterung am Fahrradrahmen des Vaters anbringen musste. Eines war natürlich klar: Heinz Büscher wurde für die überschaubare Zukunft das Zugpferd der Familie. Über Kaffeetrinken, Montagemühen und Abendessen war man nicht mehr zu einer längeren Radtour gekommen, und hier sah Lisa natürlich ihre Hauptaufgabe. Schließlich war es Sonntag, und das Wetter war schön: „Nele und Lena wollen das ganz bestimmt auch!“, hatte die Vierjährige immer wieder mit Nachdruck gebohrt und gebettelt. „Und die Sonne scheint!“

„Aber es ist noch kalt!“, hatte Petra Büscher Widerstand geleistet, doch gegen 9.30 Uhr wurde auch ihr Mann weich. Der hatte wohl selbst große Lust, das neue Gespann auszuprobieren. Also packte man alle Ausrüstung für einen mehrstündigen Familienausflug mit Kleinkindern zusammen, stieg von der Etagenwohnung herunter auf den Hof, holte die Räder aus der Garage und stellte nun erstmals unter neugierigen Blicken der Nachbarn das elegante Alu-Gespann der Büschers zur Abfahrt auf. Die Zwillinge wurden im Anhänger warm verstaut; auf den durchsichtigen Regen- und Windschutz konnten sie sogar verzichten. Lisa kam in ihren Sitz auf Mutter Petras Rad, in die vorderen Fahrradkörbe wurde alles Übrige verstaut. Dann ging es endlich los.

Der Weg führte nach Osten hinaus ins frühlingshafte Münsterland. Als sie auf einer Seitenstraße einmal nebeneinander herfahren konnten, bemerkte Petra Büscher: „Kaum zu glauben, dass wir erst in zwei Wochen Ostern haben! Schau dir das an! Alles wie geputzt!“

Tatsächlich erstrahlte das Land im hellen Sonnenlicht wie zu einem Aufbruch. Schon seit zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Der harte Winter hatte jedoch mit der späten Schneeschmelze viel Feuchtigkeit im Land gelassen. Nun protzte in der frühen Wärme auf den Wiesen der erste gelbe Löwenzahn, und auch das Wiesenschaumkraut erhob sich langsam. Die Felder selbst waren noch vielfach schwarz, aber die Wallhecken, die die Triften rahmten, zeigten überall den blühenden Weißdorn. Auf den Feldrainen präsentierten sich die Frühblüher, in den Waldstücken, die von einem grünen Schimmer überzogen waren, leuchteten Buschwindröschen und Blaustern. Die Vögel waren putzmunter, und Büschers mussten feststellen, dass sie nicht die einzige Familie waren, die sich zu einer vorgezogenen Ostertour aufgemacht hatte. Schon herrschte ein reger Verkehr von Wanderern und Radfahrern auf den kleinen Wegen, und an den Gasthäusern stellten die Wirte eilfertig Stühle und Tische in die Sonne. Dass sie noch Fleece-Decken als Zugabe bereithielten, mochte den einen oder anderen Gast zusätzlich locken.

Familie Büscher wählte den Radweg längs der Werse, was den neuen Anhänger immer mal wieder ins Schaukeln brachte. Aber Nele und Lena hatten Spaß an der Tour und quiekten ein ums andere Mal, wenn der Vater einer stärkeren Bodenwelle nicht ausweichen konnte. Im Sonnenschein an einer Werse-Mühle machten sie Rast. Man aß und trank aus den mitgenommenen Vorräten, und hätte man nicht allmählich an die Mittagsschlafenszeit der Kleinen denken müssen, so hätten die Büschers die schöne Tour mit dem neuen Anhänger bestimmt noch verlängert.

So brach man denn wieder auf in Richtung Stadt, wobei Lisa unbedingt noch Schiffe sehen wollte. Die Strecke über die Schleuse Münster war kein Umweg, und Lisa wurde auch schon ganz unruhig, als sie hinter Mutters Rücken erspähen konnte, dass gerade zwei Schiffe aus dem Oberwasser in die Schleusenkammer eingefahren waren. Die Kleine war immer wieder begeistert von den Schiffen, den Menschen darauf, den Kindern in den eingegitterten Spielplätzen und natürlich auch von den Bordhunden. Die Schiffer zeigten sich stets freundlich, sie winkten zurück und ließen manchmal auch das Schiffshorn für die Kinder blasen. Beeindruckend fand Lisa das gemächliche Herabsinken der großen Pötte auf die Höhe des Unterwassers, und sie hatte Spaß an der Einfahrt neuer Schiffe auf ihrer Bergfahrt und ihrem Aufstieg; inzwischen tauchten nach den ersten Sonnentagen auch die Boote der Freizeitskipper wieder auf. Natürlich wollte Lisa aus dem Kindersitz befreit werden. Auf der auch von Autos und Motorrädern befahrenen Brücke vor den großen Schleusentoren ging das natürlich nicht.

Heinz und Petra Büscher schoben also ihre Räder und den Anhänger auf den kleinen freien Platz an der Schleusenlängsseite. Hier hatte eine einsichtige Kanalverwaltung zwischen zwei Schleusenkammern einen Teil des Kais für etwa 20 Meter freigegeben, so dass Interessierte den Schleusenvorgang aus einer sicheren Position verfolgen konnten. Die Gitter waren sogar kindersicher gemacht worden. Natürlich sprang Lisa herum, erklärte und kommentierte alles und bestätigte wieder einmal das Urteil ihrer Kindergärtnerin, wonach die große Büscher eine Quasseltante sei. Leider fand sie außerhalb ihrer Familie keine Zuhörer. Die Büschers waren zufällig die einzigen Zaungäste an der Schleuse.

Mittlerweile waren die Schleusentore zum Oberwasser geschlossen worden. Ein gleichmäßiges Brausen und deutliche Wasserbewegungen zeigten an, dass die beiden Schiffe ihren Weg zum Unterwasser angetreten hatten. Zügig sanken sie herab. Die Kapitäne und ihre Leute wachten mit Argusaugen über den Schleusenvorgang, und an den schnell trocken fallenden Wänden mit ihren eingebauten Haken für die Schiffstaue konnte man sehen, dass in kurzer Zeit beide Schiffe ihren Weg in Richtung Norden würden fortsetzen können.

Schon brodelte es vor den riesigen Toren in Richtung Unterwasser auf, und man sah, wie sich die gewaltigen hydraulischen Arme bewegten. Die Schiffer warfen die Motoren an, und blauer Dieseldunst wehte durch die tiefe Schleusenkammer.

„Das war’s mal wieder!“, gab Vater Büscher das Signal zum Aufbruch. Lisa wollte aber unbedingt noch die Ausfahrt der Schiffe begucken. So bemühten sich die Eltern erst einmal um die Zwillinge. Lena war inzwischen eingeschlafen und nuckelte an ihrem Daumen. Lisa war auch schon sehr müde, zeigte sich aber durstig. „Setz du doch schon mal die Große aufs Fahrrad!“, bat Petra Büscher ihren Mann, und der griff seine sich etwas sträubende Älteste und praktizierte sie in den Kindersitz des Rades, das an das Geländer zur Schleusenkammer angelehnt stand. Lisa wurde ordentlich verstaut und mit Gurten gesichert. Da sie hoch saß, konnte sie die Ausfahrt der beiden Schiffe gut verfolgen. Das fand sie einfach toll. Zuerst kam ein Schiff, dessen Luken geschlossen waren. Das Kind winkte eifrig herunter, und der freundliche Kapitän drückte einmal kurz auf das Signalhorn. Der Bordhund aber, eine hübsche Promenadenmischung, bellte tüchtig hinauf.

Das zweite Schiff hatte Schrott geladen, der in hohen Bergen aufgeschüttet war und für einen ordentlichen Tiefgang sorgte. Während in der Tiefe der Schleusenkammer das Schiff langsam Fahrt aufnahm, stellte sich Lisa in den Fußhalterungen des Kindersitzes auf, obwohl ihr Vater gerade dabei war, die Fußgurte zu befestigen. Das Kind guckte neugierig herunter, tippte dem Vater auf den Rücken und meinte: „Guck mal Papa, die Tante schläft da!“

Heinz Büscher richtete sich auf; sein Blick folgte dem weisenden Arm seiner kleinen Tochter; der Mann erschrak. „He, Petra, halte du mal die Große! Da ist was faul!“, rief er. Dann zog er das Rad mit Lisa im Kindersitz vom Gitter weg auf das seitlich stehende Gespann zu und versuchte, seiner Frau den Lenker in die Hand zu drücken. Kaum war das gelungen, spurtete Büscher wie von einer Tarantel gestochen los über den Kai die Schleusenkammer entlang zur Brücke, unter der gerade das zweite Schiff mit seinen Schrottbergen bei zunehmender Geschwindigkeit seine Talfahrt nach Norden fortsetzte. Der Mann lehnte sich auf der Brücke weit über das Geländer und starrte in den offenen Laderaum hinunter. Nachdem er sich vergewissert hatte, keinem Irrtum erlegen zu sein, winkte er dem Skipper heftig zu und wies mit seinem Arm entschieden nach unten in den Schiffsraum. Dabei brüllte Büscher auch etwas herunter, wurde aber wegen des Dröhnens der Schiffsdiesel in der engen Schleusenkammer nicht verstanden. Der Skipper auf der Brücke winkte ebenso verständnislos wie freundlich zurück und gab seinem Kahn offensichtlich volle Fahrt voraus. Büscher wechselte die Straßenseite und sah dem Schiff hinterher, das mit schäumender Bugwelle und aufbrausendem Kielwasser den Schleusenbereich Münster verließ.

Zunächst rannte der junge Familienvater zum Dienstbereich der Schleuse und versuchte, über die Gegensprechanlage am gesicherten Tor einen Mitarbeiter zu erreichen. Als sich eine blecherne Stimme meldete, sprudelte Heinz Büscher seine Meldung nur so heraus, dass sein Gegenüber ihn zunächst nicht verstand: „Wie bitte, eine Leiche auf einem Schiff? Sind Sie sich sicher?“ Einen Augenblick später stand einer der Schleusenmeister hinter dem Gittertor und hörte sich den Bericht des jungen Vaters an.

„Ich hoffe ja nur, Sie haben sich getäuscht und einer der Schiffsjungs hat vergessen, seine Liebespuppe zu entsorgen! Wir machen jetzt Folgendes. Ich rufe umgehend die Polizei hierher, und Sie machen dann Meldung. Ich sehe zu, dass ich das Schiff auf dem Handy erreiche. Die Nummer habe ich ja. Der soll am nächsten Liegeplatz festmachen. Übrigens war das ein Pole. Na, hoffentlich spricht der deutsch!“

Nur wenige Minuten später hörte man das Signalhorn eines Dienstwagens der Schutzpolizei. Die Maschinerie setzte sich langsam in Gang.

Lisa fand das alles sehr aufregend; dabei hatte sie nicht einmal verstanden, was sie gesehen hatte. Nele und Lena waren in ihrem gemütlichen Gefährt längst eingeschlafen. Der Kinderanhänger war inzwischen etwas an die Seite geschoben worden, und die zugehörigen Abdeckplanen sorgten auch für etwas mehr Ruhe. Petra Büscher war ob der Verzögerungen des Familienausfluges verstimmt und hoffte außerdem inständig, ihr Mann habe sich bei seiner Beobachtung nicht total ins Bockshorn jagen lassen. Allerdings räumte sie ein: „Lisa hat schon einen scharfen Blick! Bin mal wirklich gespannt, was ihr gesehen habt!“

An diesem frühen Sonntagmorgen stand Klaus Kattenstroht im Badezimmer vor dem Waschbecken und studierte einen demonstrativ mittig auf den Spiegelschrank befestigten leuchtend gelben Klebezettel. Irgendwie schien ihn die Botschaft sowohl inhaltlich als auch in punkto etwaiger Konsequenzen zu bewegen; er las sie mehrfach, brummte die Nachricht vor sich hin, schob seine Pyjamajacke hoch und kratzte sich am Rücken. Dann schlurfte er in seinen Pantoffeln die Treppe herunter, nicht ohne vorher einen unsicheren Blick auf die Zimmertür seines ältesten Sohnes Sebastian geworfen zu haben.

Seine Frau Betty fand er in der Küche. Sie hatte den Küchentisch ausgezogen und die Tischplatte mit Arbeit zugepflastert: Klausuren aus der Jahrgangsstufe 11 fanden sich hier mit Themenblättern, Erläuterungen, Erwartungshorizonten und Punktelisten. Wie so häufig hatte die engagierte Oberstudienrätin im Fach Englisch den frühen Sonntagmorgen für Korrekturarbeiten genutzt, die man nur in wirklicher Ruhe erledigen kann.

Betty Kattenstroht schaute kurz auf und über ihre Lesebrille hinweg: „Gib mir noch fünf Minuten, dann habe ich diesen Flegel hier auch verwurstet. Kaffee ist in der Kanne!“

Der Kommissar im Schlafanzug nickte gottergeben, holte sich seine Lieblingstasse aus dem Geschirrschrank, goss sich Kaffee ein, setzte sich auf die Küchenbank und beobachtete seine Frau, die gerade Punkte addierte und kopfschüttelnd zu dem Ergebnis kam, dass es für einen gewissen Kevin mal wieder nicht gereicht habe.

„Pass ja mit deinen Vorurteilen auf, beste Ehefrau!“, knurrte Kattenstroht. „Es gibt doch eine Untersuchung, wonach die Objektivität von korrigierenden Lehrkräften leidet, wenn Arbeiten mit einem als belastet empfundenen Vornamen eingereicht wurden. Wenn ich die Meldung in den Medien richtig verstanden habe, waren mehr als 200 Lehrkräfte damit beschäftigt, Annas und Maximilians in den Himmel zu heben und alle Kevins und Kimberleys zu verdammen. Jedenfalls haben die armen Bälger die signifikant schlechteren Noten bekommen.“

Betty Kattenstroht lächelte, schlug die Klausurbögen zu, setzte die Brille ab und rieb sich einmal durchs Gesicht: „Man wird manchmal aber auch ganz schön sauer, wenn man liest, was sich die Blagen so zusammenschreiben. Und was die Vornamen angeht: Das Kind einer neumodernen Kollegin soll Daytona heißen, weil das junge Glück im Florida-Urlaub just am Daytona Beach gezeugt wurde! Das arme Würmchen. Es läuft sein Leben lang mit so einem Namen herum und gerät auch noch an Lehrkräfte ohne Verständnis wie mich – oder an Kommissare wie dich!“ Sie stand auf und packte die Papierstapel zusammen. „Ich war seit halb sechs hier beschäftigt!“

„Hast du die Botschaft im Bad gesehen?“, wollte Kattenstroht wissen. „Weißt du, was das soll? Und wer um Himmels willen ist Itzi?“

Betty Kattenstroht lächelte und setzte sich wieder. „Die Botschaft war, wenn ich mich richtig erinnere, eine vierfache. A. bedeutete, wir sollten uns bitte nicht erschrecken! B trug dir ganz allein auf, zum Frühstück ein Croissant und ein Vollkornbrötchen mehr mitzubringen. C. zeigte an, dass heute Nacht Itzi bei uns, besser bei deinem Sohn Sebastian übernachtet hat. Und D – der vierte Teil der Botschaft – ist zwar nicht expressis verbis formuliert, aber zwischen den Zeilen zu lesen bzw. mitzudenken: Speziell du solltest nicht peinlich sein heute Morgen.“

Kattenstroht hatte die Situation in ihrer tiefen Dimension noch nicht voll und ganz begriffen: „Itzi! Wer ist denn nun Itzi? Sollte ich als Hausherr nicht wissen, wer bei uns ein und aus geht?“

„Als Hausherr und vor allem aber auch als Vater. Du hast anscheinend übersehen, dass deine Söhne große Fortschritte gemacht haben. Sebastian hat mehr geleistet als den ‚Führerschein mit Siebzehn’! Wir sind im letzten Jahr erstmals wieder allein in Urlaub gefahren. Wir waren in der Toskana, die Jungs in Portugal im Ferienlager. Itzi aus Ibbenbüren ist das langfristige Ergebnis dieser Sommerwochen, auch wenn sie erst zu Silvester wieder richtig aufschlug. Sebastians erste ganz große Liebe!“

„Und was ist nun mit Bettina und Sandra? Die sind doch ganz nett und kommen wenigstens aus der Nachbarschaft; da weiß man doch, was man hat!“, warf Kattenstroht unsicher ein.

„Ja, ja, ja! Kauf Nachbars Rind, frei Nachbars Kind! Du alter bärbeißiger Münsterländer.“ Betty Kattenstroht feixte jetzt über das ganze Gesicht. „Welcher Abiturient von Deutschlands ältestem Gymnasium hat eigentlich vor knapp 30 Jahren einer Untersekundanerin aus dem fernen Paderborn den Kopf verdreht? Welcher junge Polizist ist damals eigentlich als Backpacker mit einer Anglistikstudentin wochenlang durch Schottland gezogen, durchs Heidekraut, durch die Whisky-Destillen und die B & B’s, und das dazu noch unverheiratet? Wenn ich mich nicht irre, war das ein gewisser Herr Kattenstroht. Bitte wach werden, Klausi-Mausi: Wir sind fast drei Jahrzehnte weiter, die Zeiten haben sich geändert, und die jungen Leute gehen heute eben früher und anders ran! Und vergiss bitte nicht, mein Lieber: Im nächsten Jahr macht der Große Abitur, und dann geht er möglicherweise direkt im Herbst aus dem Haus. Zwei Jahre weiter, wenn Benedikt gehen sollte, sind wir sowieso ‚empty nesters’, wie die Engländer sagen: Besitzer eines leeren Nestes!“

Kattenstroht fühlte sich ertappt und versuchte, die Kurve zu kriegen: „Muss ich mir denn sonst irgendwelche Gedanken dazu machen?“, fragte er unsicher.

„Typisch Mann!“, konterte seine Frau trocken. „Mach dir mal keine Sorgen, ich habe noch gestern mit Itzis Mutter telefoniert und mit den beiden jungen Leuten ausführlich gesprochen. Unterschätze mir bitte unsere Söhne nicht.“

Zwanzig Minuten später brachen Kattenstroht und seine kleine Jack-Russell-Hündin Snoopy zum Brötchenholen auf. Zuvor allerdings bestaunte der Kommissar in der Garderobe ein sorgfältig aufgestelltes Paar niedlicher Damenschühchen. Auf dem Weg zum Bäcker philosophierte er dann im Stillen über die Fortschritte der Zeit und seine Unzulänglichkeit, Leben wie Entwicklung seines Sohnes Sebastian sorgfältig und emphatisch beobachtet zu haben. Er gelobte sich hoch und heilig, sein Arbeitsmaß zu begrenzen, mehr auf Freizeit und Familie zu achten und vor allem beim bevorstehenden Frühstück nicht peinlich zu sein.

Tatsächlich lief alles glatt. Itzi brauchte nur wenige Minuten, den Vater ihres Freundes um den Finger zu wickeln und – was doch etwas schwieriger war – die Eifersucht der kleinen Hündin zu überwinden. Es wurde ein entspannter Morgen, bis gegen 11.30 Uhr das Diensthandy bimmelte und Kommissar Klaus Kattenstroht mit einer Einsatzmeldung überrascht wurde. Es habe an Bord eines Binnenschiffes auf dem Kanal einen Leichenfund gegeben. Der Kahn liege nun vor einer Brücke im Norden Münsters. Alle notwendigen Kräfte seien in Bewegung gesetzt worden, die Abstimmung mit der Wasserschutzpolizei sei erfolgt, aber die Anwesenheit des Diensthabenden nun doch vonnöten. Da Kattenstroht wegen der Rufbereitschaft einen Dienstwagen vor der Tür stehen hatte, machte er sich sofort auf den Weg, nicht ohne sich vorher mit einem gewissen Bedauern von der kleinen Itzi verabschiedet zu haben.

Wegen der deutlich spürbaren Sonntagsruhe auf Münsters Straßen gelangte der Kommissar ziemlich zügig an den nördlichen Stadtrand Münsters und zur genannten Kanalbrücke. Dort konnte er schon von weitem ein Aufgebot an Kollegen, Dienstwagen und Sperrbändern ausmachen. Aus dem zuständigen Revier war der Kollege Uli Wormstall aufgelaufen, der Kattenstroht jetzt an der Absperrung in Empfang nahm und in die näheren Umstände einwies. „Die Leiche ist tatsächlich erst im Draufgucken einer Familie aufgefallen, die an der Schleuse den Pott bei der Ausfahrt talwärts beobachtete. Der Vater hat da Alarm geschlagen. Der Schleusenwärter hat dann einmal den Kapitän hier sofort angerufen und ihn mehr oder minder an die Kette gelegt, zeitgleich hat er uns alarmiert und die Kollegen von der Wasserschutzpolizei. Die laufen gerade erst auf, weil die ja auch durch die Schleuse mussten.“ Wormstall zeigte auf ein blauweißes Boot, das mit ziemlicher Geschwindigkeit und schäumender Bugwelle aus Richtung der Schleuse angebraust kam und erkennbar mit mehreren Beamten besetzt war.

„Schneidige Jungs“, brummte Kattenstroht. „Gibt’s irgendwelche Probleme mit der Zuständigkeit?“ Wormstall schüttelte den Kopf: „Das kriegen wir immer geschmeidig hin. Die kümmern sich um Schiff und Mannschaft und das ganze Drumherum, wir kümmern uns um den Leichenfund. Wir haben hier am Kanal so viele Kontakte mit den Kollegen, da ist viel Routine im Geschäft. Gut ist, dass der Schleusenwärter und der Binnenschiffer so schnell und richtig reagiert haben. Der Kai hier gehört zu einem aufgelassenen Holzgroßhandel. So konnte der Kahn zügig anlegen und wir den Betriebshof ruck, zuck sperren. Die Zufahrt an der Straße ist jetzt nur für uns und behindert niemanden.“ Kattenstroht schaute hoch auf die neue Brücke, die in Blau und Gelb über dem erst vor kurzem verbreiterten Kanal aufleuchtete. Am Geländer auf dem Fußgängerweg sammelten sich schon die Schaulustigen in Reihe, und auf dem gegenüberliegenden Leinpfad standen sie in Gruppen zusammen. Die Polizeiaktion weckte natürlich die Neugier der Sonntagsspaziergänger und der Sportreibenden zu Lande wie zu Wasser.

Aus Kattenstrohts Gruppe war Pötter erschienen. Kathrin Eilers hatte sich in den letzten Tagen krankgemeldet, und Austrup hatte dienstfrei. Zunächst stimmte man sich mit den Kollegen der Wasserschutzpolizei ab. Die übernahmen die Befragung des Kapitäns und der Schiffsbesatzung. Zwar sprach man an Bord der Jan Sobieski auch deutsch, aber sicherheitshalber ließ Kattenstroht noch einen vereidigten Dolmetscher dazurufen. Das benötigte alles seine Zeit, in der die Beamten der WSP sich zunächst das Logbuch und die Papiere des Schiffes, das in Wroclaw beheimatet war, vorlegen ließen.

„Wir kümmern uns dann mal um den Fund“, meinte Wormstall und zeigte den Kollegen der Kripo den Weg über den Kai, an dem das Schiff dicht angelegt hatte und inzwischen fest vertäut war.

Die Ladeluken des Schiffes aus Leichtmetall, die auf Rollen bewegt werden konnten, waren in Gruppen untereinandergeschoben worden. In sechs Abschnitten des großen Schiffsraumes hatte man hohe Berge von Metallschrott aufgeschüttet, die zur Verhüttung gebracht werden sollten und die die Bordkante deutlich überragten. Eisen jeglicher Art und Form war zu erkennen: Kanteisen, Flacheisen, Gussstücke, gebogen, gebrochen, bemalt oder unbemalt, rostig oder glänzend, waren in einem wilden Durcheinander vereint. Wegen des Gewichtes dieser Ladung hatte das Schiff einen enormen Tiefgang, und offensichtlich hatte das Kanalwasser bei hoher Fahrt schon die Laufgänge überflutet. Ungefähr auf der Hälfte der Schiffslänge hatte man mit Alu-Leitern die Möglichkeit geschaffen, über die Laderaumkante in den Schiffsraum herunterzuklettern. Kattenstroht betrachtete nachdenklich seinen feinen Sonntagszwirn und die neuen Frühlingsschuhe und verzichtete darauf, nicht zuletzt wegen falscher Ausstattung, unmittelbar zum Fundort herunterzusteigen. Vielmehr wollte er die Situation aus sicherer Warte vom Laufgang her betrachten und die Kollegen der Spurensicherung ihre Arbeit unten machen lassen. Er stieg also mit Wormstall auf den Laufgang herab, hielt also nicht nur wegen möglicher Spuren Distanz zur Laderaumkante und den Schienen, auf denen die Luken zu rollen pflegten. Hier war – wie überall auf dem Schiff – mit Ölen und Fetten zu rechnen. Mit leicht verschränkter Haltung schaute er schließlich in den Schiffsraum hinunter, dessen Größe ihn auch dieses Mal wieder überraschte. Schließlich kletterte er doch auf eine der Leitern und konnte nun in fast vier Metern Tiefe am Fuß des Schrottberges die gemeldete Leiche ausmachen. Die junge Frau lag hingestreckt auf dem Rücken. Sie trug ein geblümtes Kleid, eine weiße Strickjacke und offensichtlich nur einen hellen Schuh. Das blonde Haar war straff nach hinten gekämmt und in einem kleinen Zopf gebunden, wie Kattenstroht aufgrund der Seitenlage des Kopfes erkennen konnte. Um die Leiche herum war die Spurensicherung tätig. Beucking und Kottmann in ihren weißen Schutzanzügen fotografierten, maßen ab und diktierten ihre Ergebnisse in ihre Aufnahmegeräte.

„Hallo, Dr. Geertsma, wie kommen wir zu der Ehre?“, grüßte Kattenstroht den Mitarbeiter der Rechtsmedizin, der sich an der Seite der Leiche hingehockt hatte und bereits einige Eingaben in sein Notebook tippte.

„Lieber Herr Kommissar“, rief der Angesprochene hoch, „es ist Sonntag, und Kollege Johannsmann ist soviel ich weiß in Urlaub. Da kommen wir besser selbst gleich raus, bevor hier ein Unglück passiert!“

„Meinen Sie denn, das hier reicht als Unglück noch nicht?“, rief Kattenstroht in den trotz der Ladung hallenden Schiffsbauch hinunter und deutete fast theatralisch auf den traurigen Fund: „Unfall oder Verbrechen?“ Dr. Geertsma winkte ab und beschäftigte sich weiter mit seiner ersten Untersuchung. Der Kommissar sah ein, dass er hier erst mal nichts ausrichten konnte und auch nicht wirklich gebraucht wurde. Er stieg zurück auf den Kai und ging einmal die Schiffslänge entlang bis zum Heck herunter. Hier grüßte er freundlich die junge Frau des Partikuliers, die mit ihren Kindern beschäftigt war, und warf durchs Fenster einen Blick in die blitzblank gehaltene gemütliche Schifferwohnung. Am Heckbaum hing die rotweiße Flagge Polens und bewegte sich im frischen Frühlingswind nur träge. Auf der Brücke sah Kattenstroht drei der Beamten von der Wasserschutzpolizei im intensiven Gespräch mit dem Kapitän. Auf dem Rückweg stieß er ungefähr auf der Höhe des Leichenfundortes auf Wormstall, und kurz darauf kam Lindenbaum, der Einsatzleiter der Wasserschutzpolizei, hinzu. Gemeinsam überlegte man das weitere Vorgehen. Die Situation war ja nicht ohne Tücke. Wormstall holte mit ersten, wenigen Erkenntnissen aus.

„Das ist ein ziemliches Durcheinander. Wenn ich es bisher richtig verstanden habe, gehört die tote Frau bestimmt nicht zur Besatzung des Schiffes. Sie ist dem Kapitän und seiner Familie angeblich völlig unbekannt. Auch der Matrose vor dem Mast behauptet, sie nicht zu kennen.“

Lindenbaum berichtete von seinem ersten Gespräch mit dem Partikulier: „Die Jan Sobieski hat gestern in Ruhrort den Schrott geladen. Sie sind dann am Nachmittag losgefahren, über den Rhein-Herne-Kanal, über die Schleuse Henrichenburg in unsere Richtung. Wegen der fortgeschrittenen Tageszeit und der eintretenden Dunkelheit hat der Kapitän dann an einem Liegeplatz nicht weit von Henrichenburg angelegt und genächtigt. Es ist denkbar und nicht unmöglich, dass man ihm eventuell da die Leiche aufs Schiff gebracht hat.“

„Könnte sie nicht von einer Brücke gesprungen oder heruntergeworfen worden sein?“, fragte der Kommissar. Der Wasserschutzpolizist schüttelte abwägend den Kopf: „Eher unwahrscheinlich. Der Kapitän hat auf Fahrt eigentlich immer fast das ganze Schiff vor sich und muss es von der Brücke auch überblicken können. Im Dunkeln fährt er zwar mit Radar, aber auch mit einem starken Scheinwerfer. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass da jemand unbemerkt aufs Schiff oder in den Laderaum fällt. Aber völlig ausschließen will ich es natürlich auch nicht.“

Kattenstroht schaute über die Länge des Schiffes hinweg: „Dort hinten Brücke und Wohnung des Kapitäns, vorne der Schiffsjunge. Das ist eine ordentliche Strecke, über die man nicht immer alles hört. Hat die Jan Sobieski einen Schiffshund an Bord? Der hätte doch was mitbekommen können.“

Der Wasserschutzpolizist machte sich eine Notiz. „Das werden wir alles in Ruhe klären, wenn der Dolmetscher eingetroffen ist. Das braucht aber Zeit. Mir tut das leid für den Partikulier. Selbst wenn er mit der ganzen Sache nichts zu tun hat, kostet ihn das hier einiges an Zeit und Geld. Natürlich legen wir ihn erst mal mindestens bis morgen an die Kette. Wir überlegen, die Verhöre in unsere Dienststelle oben an der Schleuse zu verlegen. Da haben wir einfach eine bessere Übersicht und können die Leute auch leichter voneinander trennen.“

Die Leiter bewegte sich, und Dr. Geertsma erschien aus der Tiefe des Schiffsbauches. Er hatte sein Notebook wieder eingepackt, schwang sich recht sportlich über die Brüstung und erstattete seinen ersten Bericht. „Sie fragten nach Unfall oder Verbrechen, Herr Kommissar. Das ist mal eine klare Leichensache. Eindeutig ein Verbrechen. Die Frau wurde offensichtlich mit einem dünnen Strick erdrosselt. Details gerne nach der Obduktion. Die schaffen wir aber frühestens am Montagmittag. Ich veranlasse schon mal den Transport. Die Herren Beucking und Kottmann unten sagen, sie brauchen noch Zeit für ihre Erfassung des Fundortes.“

Kattenstroht holte tief Luft und schaute seine Kollegen nachdenklich an. „Das ist noch ein ziemliches Tohuwabohu! Wenn die Schiffer-Familie wirklich nichts mit der ganzen Sache zu tun hat, können wir jeden Kanalkilometer zwischen Ruhrort und Münster absuchen. Eines ist ja mal klar: Ein mobiler Fundort ist bestimmt nicht gleichzeitig der Tatort.“

Tatsächlich wurde es später Nachmittag, bis Kattenstroht wieder bei seinen heimischen Penaten eintraf. Er hatte sich schon auf einen Plausch mit dem jungen Glück gefreut, wie er Betty am Telefon angekündigt hatte, aber Itzi hatte sich schon wieder auf den Weg nach Hause gemacht und war von Sebastian zum Busbahnhof gebracht worden.

Ein abendlicher Spaziergang von Vater, Sohn und Hündin sowie ein dabei geführtes ausführliches „Gespräch unter Männern“, wie Kattenstroht es bezeichnete, rundeten den Sonntag gleichwohl friedlich ab.