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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

„Wer Grenzbäume oder Marksteine aufstellt,
der soll denjenigen dabei haben,
dem das Land auf der anderen Seite gehört.

Wer einen Zaun zieht,
der soll die Äste zu seinem Hof wenden.“

(Eike von Repgow)

Der Sachsenspiegel,
2. Buch des Landrechts, Kap. 50
(um 1230)

Der Geographischen Gesellschaft
zur Erforschung des münsterländischen Tieflandbusens
zu Münster von 1884

in Freundschaft gewidmet

Johannes Lüer erwachte aus einem Schläfchen, zufrieden mit sich und der Welt. Er lupfte das große flauschige weiße Frotteetuch ein wenig, das er sich irgendwann über den Kopf gezogen hatte, und lugte vorsichtig in die Schwimmhalle. Geweckt hatten ihn wohl die Kinder, die mit einem enormen Lärm zurückgekehrt waren und einen „Arschbomben-Wettbewerb“ begonnen hatten. Die Wellen in dem Zwölfmeter-Becken, das aus bunten Scheinwerfern unter der Wasserlinie indirekt beleuchtet wurde, schlugen heftiger, spritzten und leuchteten auf, das Rufen und Quietschen der Kinder hallte durch die mit edlen Steinen und buntem Glas geschmückte Halle. Natürlich liefen alle Strudel, Gegenstromanlagen und Schwallduschen auf Hochtouren; der ein oder andere unter den Ruhe suchenden Gästen des Landhotels Gasthof Edelbroick war jetzt sicherlich verärgert. Selbst schuld! Warum mussten sie auch ihre Enkel in diese edle Oase der Entspannung mitnehmen!

Lüer war es egal. Er hatte seinen zweiten Saunagang hinter sich gebracht und sich dann gemächlich entspannt. Draußen pladderte, von kleinen Pausen unterbrochen, ein sanfter Frühsommerregen die Fensterscheiben hinab, Wolken schoben sich am Himmel entlang und ein leichter, kühler Wind ging durch das erste zarte Grün von Bäumen und Sträuchern des Hotelgartens. Irgendwo von weiter her aus dem Dorf hörte man das gedämpfte Heulen einer Kreissäge, die sich wie nach einem vorgegebenen Takt immer wieder in Klafterhölzer zu fressen schien und durch ihre Rhythmik schon fast beruhigend wirkte. Vor Wohlbehagen grunzend kuschelte sich der kurzgewachsene, wohlbeleibte Kleinunternehmer in seinen riesigen weißen Bademantel, den das Hotel seinen Gästen zur Verfügung zu stellen pflegte. Wie gut, dass man sich trockene Badetücher nehmen konnte, so viele man wollte. Der Service war eben eine Spur exquisiter, wie das Landhotel Edelbroick in seinen Prospekten und auf seiner Internetseite stets zu betonen pflegte. Der kostenlose Kaffee beim morgendlichen Frühschwimmen im edlen Ambiente war zum Beispiel solch eine Extraleistung der Sonderklasse. Aber all das konnte man bei dem Pensionspreis ja eigentlich auch erwarten.

Das zweite Badetuch war inzwischen von seinen Füßen geglitten. Lüer war einfach zu faul, es aufzuheben; er schaute völlig entspannt auf seine breiten Füße, die er in dicke Tennissocken gesteckt hatte. Marga hatte immer etwas gegen diese weißen Socken zu maulen, aber in der Ruhezeit nach einem Saunagang waren sie wirklich gut zu gebrauchen. Lüer wackelte ein wenig mit seinen Zehen und versuchte dann, trotz des schlechten Blickwinkels, die genaue Uhrzeit zu erkunden. Das Zifferblatt konnte er so eben hinter einem der Pfeiler aus Marmor erspähen, der mehrere Lampen mit antikisierten Schirmen aus buntem Glas trug. Unmittelbar davor erhob sich unmittelbar am Beckenrand eine der großen Schwallduschen, geformt wie ein Schwanenhals. Gerade sprangen wieder ein paar Kinder durch die tosenden Fluten. Es war gleich ein Viertel nach fünf Uhr.

Die Schwimmhalle fand man im Kreis der Stammgäste allgemein etwas zu protzig. Aber es war Edelbroicks ureigenste Idee gewesen, sich ausgerechnet einen Innenarchitekten aus Oberbayern kommen zu lassen. Dessen Lebenskatastrophe bestand nach Meinung seiner Kritiker wohl darin, nicht im 18. Jahrhundert und nicht in Venetien leben und arbeiten zu können. Das ganze Hotel hatte nämlich von der Rezeption über die große Hotelhalle bis zum Schwimmbad und dem Saunazentrum mit seinen drei Kabinen inklusive Dampfbad einen hochherrschaftlich italienischen Anstrich bekommen: bunt, malerisch, verspielt, wenn auch nicht ohne einen gewissen Charme und eine ebenso gewisse Eleganz.

Dieses Ambiente war eigentlich etwas für Jungvermählte; aber die Zimmer im Landhotel Gasthof Edelbroick waren ständig von wohlhabenden Rentnern und Pensionären belegt, die es sich mit einem Anflug von Selbstverständlichkeit leisten wollten, vom Morgen bis zum Abend vom Kopf bis zu den Füßen verwöhnt zu werden. Natürlich war der Wellness-Bereich eine Klasse für sich. Lüer seufzte vernehmlich: Die Masseurin am frühen Nachmittag war in der Tat in jeder Hinsicht exzellent gewesen. Das hatte er allerdings gegenüber Marga nicht verlauten lassen, sondern nur hervorgehoben, dass schon die erste Massage die Verspannung in seiner rechten Schulter behoben habe. Dieser formidable „Maus-Arm“ war wohl das Ergebnis der wochenlangen Vorbereitungen für die Steuerprüfung seines Unternehmens, einer Spezialfräserei für Maschinenbauteile. Immerhin 18 Arbeitnehmer hatte Lüer inzwischen sowie einen studierten und diplomierten Sohn als potenziellen Nachfolger; sein Betrieb hatte sich in 25 Jahren der Aufbauarbeit zum anerkannten Zulieferer für den Spezialmaschinenbau mit weltweiten Kontakten entwickelt. Die Zahlen stimmten.

Nachdem die Steuerprüfung inzwischen erfolgreich absolviert worden war, mussten jetzt aktuell weitere schwerwiegende Entscheidungen umgehend getroffen werden: Sollte Lüer nun sofort aufstehen und den dritten Saunagang starten mit dem Risiko, dem doch ziemlich schwatzhaften Gast aus Köln zu begegnen, mit dem man es bei 92 Grad Celsius bestimmt nicht lange aushielt? Lüer räkelte sich unschlüssig auf seiner Liege. Oder sollte er noch einige Minuten abwarten, bis der zungenfertige Rheinländer ebenfalls auf einer Liege hier am Pool oder im benachbarten, durch eine große Glastür abgeteilten Ruheraum auftauchte und somit die Gefahr einer unerwünschten Begegnung in der Saunakabine ausgeschlossen war?

Als suche er die Hilfe einer höheren Instanz, wandte Lüer seinen Blick gen Himmel, zur länglichen, sechseckigen Glaskuppel, die sich in etwa drei Meter Höhe ziemlich genau über seinem Ruheplatz aufwölbte. Der Architekt hatte den Ruhebereich der Schwimmhalle im Erdgeschoss um einige Meter aus dem eigentlichen Hotelkomplex in den Garten herausgezogen, so dass man, wenn bei warmer Witterung die großen Fenster versenkt wurden, fast den Eindruck eines Freibades gewinnen konnte. Den überwiegend in Glas gehaltenen Vorbau krönten eine größere und zwei kleinere Kuppeln. Mochten sie auch an der Oberseite in weiß ummantelten Stahlprofilen normale Doppelglasscheiben vorweisen, hatte der Architekt im Inneren doch eine bunte Bleiverglasung montieren lassen, die mit ebenfalls sechs Feldern der inneren Form der kleinen Kuppel folgte: Fantasieblumen waren dort zu sehen, Flamingos ähnliche Fabeltiere reckten erstaunlich lange Hälse und eine bunte Abfolge von kleinen Quadraten und Rauten bildete die Umrandung. Die Farben wirkten entspannend und der Hotelier ließ es sich auch nicht nehmen, die aufwendige Verglasung bei Dunkelheit sogar von außen anstrahlen zu lassen. Lüer fand den Himmel beruhigend und wandte sich in seiner wohligen Entspannung dem nächsten Problem zu, wie man die bevorstehende Zeit vom morgigen Himmelfahrtstag bis zum kommenden Sonntag am angenehmsten würde gestalten können. Natürlich müsste er mit Marga durch die benachbarten Forste wandern, aber nach körperlicher Ertüchtigung konnten Küche und Keller des Hauses Edelbroick auf schöne Aufträge der Familie Lüer hoffen.

Plötzlich barst der Himmel. Ein dumpfer Schlag erschütterte die Schwimmhalle, große Teile der bunten Glasgewölbeherrlichkeit lösten sich und stürzten herab, exakt auf den Ruheplatz des Johannes Lüer. Irgendetwas Schwarz-Weißes kam durch die Stahlträger herabgesaust und klatschte unmittelbar neben der Liege des Kleinunternehmers auf. Etwas Hartes knallte auf seinen Oberschenkel. Lüer indes hatte zunächst nichts Genaues gesehen, denn in einer reflexartigen Reaktion hatte er sich die Arme mit einem der dicken Frotteetücher vor das Gesicht gezogen. Rings um ihn herum prasselten Fragmente der Glaskuppel auf den Boden, zerschellten Scherben auf den harten Fliesen, spritzten gefährliche Splitter in alle Richtungen.

Für einen Augenblick herrschte in der Schwimmhalle fast Totenstille, nur das Rauschen der Wasserstrudel und Schwallduschen war zu hören, dann aber schrien alle durcheinander. Lüer zog Arme und Frotteetuch vom Gesicht weg, Scherben rieselten herab; er richtete sich leicht auf, bemerkte einen heftigen Schmerz in seinem linken Oberschenkel und schaute verblüfft in das Gesicht eines Menschen, der unmittelbar neben ihm auf dem Boden lag, jedoch den linken Arm auf seiner Liege platziert hatte und ihn mit starren Augen aus einem merkwürdig verdrehten Kopf anstarrte.

Johannes Lüer traf der Schock. Er schrie unkontrolliert los.

Von den Liegen sprangen die Menschen hoch, die Kinder krabbelten aus dem Wasser, aus dem benachbarten Ruheraum und der Sauna kamen Neugierige, teils nur mit einem Saunatuch bedeckt, um nach dem Herd der Unruhe zu suchen. Mehrere beherzte Männer näherten sich dem Ort des Geschehens, wobei sie trotz ihrer Saunalatschen sorgfältig darauf achteten, nicht in die Scherben zu treten, die sich überallhin verteilt hatten. Sie kümmerten sich nach einigen unsicheren Blicken auf den hereingestürzten Mann um den zitternden und fassungslosen Lüer, den man umgehend aus der Halle führen wollte. Eines der jungen Mädchen im Dress des Hauspersonals hatte derweil per Haustelefon die Geschäftsführung alarmiert. Sie und der für Schwimmbad und Sauna zuständige Techniker hielten nun die Neugierigen zurück, die sich nach anfänglicher Scheu in der Schwimmhalle zu sammeln begannen.

Fast zeitgleich erschienen der Hotelbesitzer Hans-Josef Edelbroick und sein Chefportier, Herr Alfons. Beide baten die Anwesenden nachdrücklich, die Schwimmhalle zu verlassen. Der Portier, bei dem nicht einmal die Stammgäste wussten, ob Alfons sein Vor- oder Nachname war – er war die eigentliche graue Eminenz des Hauses und Herr über die Verteilung der Zimmer und Termine –, hatte aus der aufgeregten Meldung seiner Mitarbeiterin sofort eine Notlage erkannt und bereits von der Portierloge aus per Haustelefon einen der Stammgäste, Professor Dr. Ahlers, in Bewegung gesetzt. Der pensionierte Mediziner reiste auch jetzt noch mit einem Arztkoffer und eilte aus seiner bequemen Ferienwohnung im Nebenhaus in die Schwimmhalle, um nach nur kurzer Untersuchung des Verunglückten seinen Tod zu konstatieren: „Mein lieber Edelbroick, das lassen wir jetzt mal alles so, wie es ist, das hier ist eine Sache für den Polizeiarzt und die Polizisten!“ Auf ein kurzes Handzeichen des Hotelbesitzers wandte sich Alfons ohne jede Verzögerung um, ging zu einem der Haustelefone, das an der Wand der Schwimmhalle angebracht war, und ließ sich aus der Zentrale die Notrufleitung geben.

„Wer ist denn der Unglückliche überhaupt?“, fragte der Mediziner und rollte sein Stethoskop wieder ein. „Ein Hausgast?“ Als wäre schon dies ein Verstoß gegen die Diskretion eines Hoteliers, musste Edelbroick sich räuspern: „Tja, das ist wohl Rechtsanwalt Weltermann junior aus Münster! Das ist ja was! Um Gottes willen! Ich muss sofort seinen Vater anrufen.“

„Und die ganze Situation hier rühren wir besser nicht an. Ich denke aber, wir dürfen das Gesicht des Toten bedecken.“ Ahlers ging wenige Schritte zu einem der Regale, die in der Schwimmhalle verteilt waren, und holte ein großes, blütenweißes Frotteetuch hervor, in dessen Flor Wappen und Name des Landhotels eingewebt waren. Er bedeckte Gesicht und Oberkörper des Toten und richtete dann seinen Blick durch die geborstene Kuppel nach oben. Die meisten Scheiben der sechs Flächen waren beim Aufprall zerbrochen und herausgefallen, Teile der Bleiverglasung hingen noch an den Seiten herunter, durch die Öffnungen wehte der Wind und stäubte einen feinen Nieselregen herein. Von weit her glaubte Ahlers ein Martinshorn zu hören.

„Wo hat denn der arme Mann logiert?“, wollte der Mediziner wissen, während sein Blick durch die derartig gewaltsam geöffnete Kuppel an der rückwärtigen Hotelfassade mit ihren drei Stockwerken hochwanderte.

„Herr Weltermann bevorzugte eine unserer Maisonnetten in der dritten Etage“, seufzte Edelbroick. „Und dabei ist er uns wohl über die Balkonbrüstung gegangen. So ein Ärger, ausgerechnet am Vorabend von Himmelfahrt!“

„Und noch dazu in der falschen Richtung!“, stellte Ahlers mit leicht ironischem Unterton fest. „Wir überlassen das Feld hier jetzt besser den Kollegen von der Polizei. Ich nehme an, dass Sie das Schwimmbad und den Saunabereich für heute schon mal schließen können. Und wie ich sehe, läuft der Freund und Helfer auch schon ein!“

Gerade wurde jenseits der Gartenhecke ein Polizeiauto mit zuckendem Blaulicht geparkt. Den beiden Beamten der Schutzpolizei folgte zwanzig Minuten später eine ganze Schar Uniformierter unter der Leitung von Kriminalhauptkommissar Schücking von der Kreispolizeibehörde. Der musste sich bereits nach einer weiteren Viertelstunde mit der Frage auseinandersetzen, ob der so jähe Tod des Münsteraner Rechtsanwalts Ralph Hubertus Weltermann nur ein Unfall war.

Zunächst schien Schücking alles im Griff zu haben. Jetzt kam es erst mal darauf an, auf den Polizeiarzt zu warten und den Ort des Geschehens abzusichern. Er ließ den Garten vor der Schwimmhalle weiträumig absperren und untersagte nach einem kurzen Besuch im Apartment des Verstorbenen das Betreten der gesamten 3. Etage sowie der Zimmer unterhalb des Balkons, von dem aus der junge Rechtsanwalt in die Tiefe gestürzt war. Dann erkundigte er sich nach den näheren Umständen dieses Gastes und seines Aufenthaltes. Als er gerade mit Portier Alfons die Daten Weltermanns an der Rezeption durchgehen wollte, kam der Hotelbesitzer mit einer gewissen Hast aus seiner angrenzenden Privatwohnung gestürzt und bat den Kommissar dringend um Gehör: „Kommen Sie mal ganz schnell mit, Bünickmanns Fritz hat was gesehen!“ Und ohne weitere Erläuterungen eilte er Schücking voraus durch die Hotelierswohnung in die Garage, die sich an Flur und Haushaltsraum unmittelbar anschloss. Einer der jungen Beamten aus Schückings Team folgte den beiden verdutzt nach.

Das große Tor war hochgefahren und Edelbroicks Kombi, versehen mit der fantasievollen Dekoration seines Landhotels, stand auf einem der Plätze dieser Doppelgarage, auf dem anderen standen zwei Männer, einer etwa 50 Jahre alt, der andere erheblich älter. Schücking fragte sich schon, womit er hier wohl konfrontiert werde, als der Hotelier ihm die beiden formvollendet vorstellte: „Hermann Bünickmann, unser Nachbar! Und hier Bünickmanns Fritz! Der hat uns was zu erzählen!“

Der Polizeibeamte musterte die beiden Männer: Der Jüngere groß, stattlich und in ordentlich ländliches Grün gekleidet, der andere klein, krumm und in Arbeitskleidung. Dessen Beine steckten in hohen Gummistiefeln, an denen Lehmspuren klebten. Eine dicke braune Kordhose schob sich aus den Stiefeln heraus. Dazu trug der Alte über einem Flanellhemd eine regenabweisende Weste. Sein Hut mochte vor dreißig oder vierzig Jahren eine sonntägliche Kopfbedeckung gewesen sein: Jetzt war er nur noch speckig anzusehen. Unter dem Hut lugten eisgraue Haarsträhnen hervor. Aus einem faltigen Gesicht mit Bartstoppeln blickten zwei etwas verträumt wirkende Augen durch die Gläser eines älteren Kassengestells. Schücking fiel auf, dass viele kleine Sägespäne auf der Kleidung des Mannes hafteten.

„Sie sind also Fritz Büninckmann?“, fragte der Kommissar. Fast ruckartig wandte sich der Alte seinem jüngeren Begleiter zu und schaute ihn vertrauensselig, fast demütig an. „Fällig? Watt will den?“ Der Jüngere räusperte sich, stellte sich selbst noch einmal als Hermann Büninckmann vor und antwortete: „Nein, das ist Fritz Weischer, der lebt seit 60 Jahren und mehr auf unserem Hof. Deswegen nennen ihn die Leute nur Büninckmanns Fritz. Er hat was gesehen heute Nachmittag und das hat er mir gleich erzählt. Deswegen kommen wir zu Ihnen.“

„Na dann mal los, Herr Weischer!“ Schücking begann, ungeduldig zu werden, und drängte: „Was haben Sie denn gesehen?“

Wieder drehte sich der Alte zu seinem Hofherrn und sprach ihn an, so als wären die Polizisten gar nicht anwesend: „Men, ick wass je bi’t Holtsaagen unner usser Affdack! Faots nao drei Uhr sin’k dao anfangen te saagen! Ick draff je nich fröher, wieldat de fienen Lüde in’t Hotel üöhre Unnerst haollen müett’t.“

Schücking lächelte, als er den lispelnd westfälischen Akzent vernahm und wies seinen Kollegen an: „Schreiben Sie mal mit!“ Der junge Mann reagierte fast panisch: „Ich verstehe doch gar kein Plattdeutsch! Und Platt schreiben?“

„Sie müssten eigentlich wissen, dass man im Leben mit Sprachkenntnissen weiterkommt, auch in unserem Beruf, zumal bei uns in Westfalen.“ Schücking gab sich gleichwohl gönnerhaft: „Ich will dann mal übersetzen!“

Bauer Büninckmann mischte sich ein: „Sie müssen verstehen, unser Fritz kann praktisch kein Hochdeutsch. Und wenn er es versucht, wird es ganz schwierig! Lassen Sie ihn Platt reden, dann erfahren Sie auch was. Das Protokoll kann er dann ja wenigstens unterschreiben!“

„Geht in Ordnung!“, entgegnete Schücking, jetzt wieder geduldig. „Er hat also kurz nach drei Uhr angefangen mit dem Holzsägen. Er darf nicht früher laut werden, weil die feinen Leute im Hotel ja ihren Mittagsschlaf halten müssen. Richtig?“ Weischer hörte intensiv zu, nickte und fuhr dann in seinem Plattdeutsch fort. Er erzählte ausführlich, präzise und gar nicht einfältig, wie Schücking beiläufig dachte: „… un dann staonnen de beiden up den Balkon un den Blaoen gaff den Schwatt-Witten ümmer so’n Staut vöer de Buorst und up eenmaol faong de an’t holstern un is stracks üöwer dat Stankett stuort’t nao unnen in’t Hallenbad!“ Der Alte unterstrich das, was er sagte, mit weit ausholenden Gesten.

Schücking, der mit wachsender Aufmerksamkeit zugehört hatte, diktierte dem Kollegen ins Notizbuch: „und dann standen die beiden auf dem Balkon und der Blaue gab dem Schwarz-Weißen immer so einen Stoß vor die Brust und auf einmal fing der an zu taumeln und ist direkt über die Brüstung nach unten ins Schwimmbad gestürzt! – Oh Mann, Herr Weischer, wissen Sie, was Sie da sagen?“

Der Alte schaute verständnislos auf den Beamten, dann wieder auf seinen Bauern und schwieg. Büninckmann mischte sich ein: „Lass mal gut sein, Onkel Fritz. Geh du schon mal mit dem anderen Polizisten zur Scheune, dass wir uns das mal angucken, ich spreche noch kurz mit dem Kommissar.“ Der Alte zog mit dem zweiten Beamten ab.

Büninckmann schaute ihnen nachdenklich hinterher: „Sie haben natürlich gemerkt, dass unser Onkel Fritz im Kopf nicht so stark ausgestattet ist. Er ist so eine Art Kalfaktor bei uns auf dem Hof, so nennen das die Leute hier. Wissen Sie, mein Vater war in angeblich großer Zeit hier mal Ortsbauernführer. Und Fritz war so ein Kind aus dem Dorf, das keinen Vater hatte, dazu war er noch Hilfsschüler. Die Nazis hätten Gott weiß was mit ihm gemacht. Mein Vater hat ihn bei uns auf dem Hof aufgenommen, auch auf Drängen unserer Mutter. Er gehört dazu. Und heute bin ich auch sein Vormund! Ich hab ihn gewissermaßen geerbt. Er war gut zu uns, als wir noch Kinder waren, und er war es auch zu meinen Kindern, als sie klein waren.“

„Tja Herr Büninckmann, dann wollen wir uns das mal draußen ansehen.“ Gemeinsam verließen Polizist und Bauer die Garage und machten sich längs der Hainbuchenhecke des Hotelgartens auf den Weg hinüber zum nachbarlichen Hof.

Schücking fragte: „Können wir uns denn auf die Aussage von Onkel Fritz, pardon: Herrn Weischer, überhaupt verlassen?“ Büninckmann wiegte seinen Kopf leicht hin und her: „Wenn es um komplizierte Sachverhalte geht, brauchen Sie Fritz nicht zu bemühen. Er ist eben ein ganz schlichtes Gemüt. Aber die Geschichte hier, dass ein Mann einen anderen vom Balkon geworfen hat, die glaube ich ihm. Was um ihn herum geschieht, beobachtet er aufmerksam und seine engere Umgebung kann er genau einordnen: Natur, Tiere, Menschen. Sie glauben gar nicht, wie sensibel so schlichte Menschen sein können! Allerdings muss alles für ihn überschaubar bleiben.“ Schücking signalisierte Verständnis.

Zum Glück hatte es aufgehört zu regnen. Der Wind blies noch immer leicht und der Himmel klarte auf. Späte Sonnenstrahlen ließen die Natur funkeln. Die Männer bogen um die Ecke des Hotelgartens in einen der kleineren Dorfwege ein und gelangten längs einer Apfelbaumwiese zur Auffahrt des Hofes Büninckmann. Rechts vom Hoftor stand eine große, alte Scheune, ein Schollenmauerwerk mit drei Einfahrtstoren für Erntewagen. An ihrer Rückseite war sie mit einem großen Schleppdach versehen. Darunter stand im Trockenen eine moderne Kreissäge, Stapel von gesägtem und ungesägtem Holz sowie ein Berg von Sägespänen zeugten von Onkel Fritzens Fleiß. Schücking schnupperte den angenehmen Duft frisch gesägten Holzes. Offensichtlich Eichen und Buchen. Der alte Weischer sägte sie auf Maß, um sie anschließend ordentlich in Gitterkästen zum Verkauf zu packen.

Schücking stellte sich hinter die Säge und ließ seinen Blick zum Landhotel schweifen. Das dreistöckige Gästehaus des Gasthofes mit seinem konturierten Fachwerk ragte hinter den im frischen Grün stehenden Apfelbäumen auf, aber just von Onkel Fritzens Arbeitsplatz konnte man wie durch eine Schneise einen Längsschnitt des Landhotels sehen, von der Dachwohnung in der 3. Etage bis hinunter auf das Hallenbad. Von dem sah man jedoch nur die Kuppeln, da die Hecke das Parterre und die Ruheflächen der Gäste bewusst den Blicken Neugieriger entzog.

„Das wäre also geklärt“, nickte Schücking dem alten Mann zu. „Sie konnten also tatsächlich den Vorgang beobachten. Prima, und mit der Brille haben Sie wahrscheinlich die beiden Männer gesehen und können Sie uns genau beschreiben!“

„Näh, näh!“ Der Alte wurde agil. „Ick draff doch miene rechte Brill bi’t Holtsaagen nich up de Niäse hebben. Drümm giww’t doch düsse!“ Er zog aus der Seitentasche seiner dicken Kordhose eine Augenschutzbrille, wie sie bei bestimmten Arbeiten vorgeschrieben ist. Einfaches Glas, dicke Bügel, Seitenschutz. Der Polizist ärgerte sich.

„Aber es hilft alles nichts. Der Mann hat genug gesehen. Dann melden wir mal unseren Verdacht auf ein Kapitalverbrechen nach Münster.“ Schücking wandte sich dem zweiten Beamten zu. „Rufen Sie bitte gleich die Kollegen von der Bereitschaft, dass sie alles in Gang setzen sollen. Auch die Spurensicherung, das ganze Tamtam. Mann, werden die sich freuen. So ein Job am Feierabend vorm Feiertag!“ Der Polizist zog ab.

Schücking überlegte laut: „Von hier bis zum Hotel sind es etwa 150 Meter Luftlinie. Es war wegen des Regens irgendwie dunkler, als es passierte. Und das Licht der Maisonnette war offensichtlich schon eingeschaltet. Müssen wir also vermessen. Der konnte das Geschehen tatsächlich beobachten!“

Büninckmann und sein Kalfaktor verabschiedeten sich von Schücking, der gemächlich zum Hotel zurückschlenderte. Aber auf halbem Weg beschleunigte er doch seine Schritte. Ihm war etwas eingefallen. Aus einem der Dienstwagen holte er eine Kamera und fuhr sofort mit dem Personalaufzug hoch ins dritte Stockwerk. Auf dem Flur ließ er sich von den Kollegen Plastiküberzüge für seine Schuhe geben und betrat vorsichtig das Apartment des toten Rechtsanwalts.

Auf dem Tisch stand ein Laptop, dessen Bildschirmschoner gleichmütig einen lateinischen Vers vor sich her schob. Daneben auf altsilbernem Tablett ein Kännchen Kaffee mit Tasse, Milch und Zucker. Schücking ignorierte das Ambiente und trat an die Balkontür. Tatsächlich, er hatte sich nicht geirrt. Der Boden des Balkons war zu etwa einem Drittel nass gewesen, als er vor mehr als 30 Minuten schon einmal hier oben gewesen war. In den trockenen Dritteln der gefliesten Balkonfläche waren eben noch deutliche Schuhspuren sichtbar gewesen, die jetzt, bei leichter Wetteränderung etwas getrocknet, nur noch in Andeutungen erkennbar waren. Der Polizist fotografierte dennoch aus allen möglichen Winkeln und achtete auch darauf, Bezugsgrößen mit aufs Foto zu bekommen.

Danach stürzte Schücking die Hoteliersfamilie in tiefe Verzweiflung, ließ er doch das Haupt-Treppenhaus, den großen Gästelift, die beiden kleineren Versorgungslifte und das Versorgungstreppenhaus an der Rückseite des Gästehauses schlicht sperren. Er könne es zwar nicht versprechen, dass noch am selben Abend die Zugänge alle wieder geöffnet werden könnten, meinte er, man wolle es aber wenigstens versuchen. So lange müssten sich die Gäste nach dem Abendessen eben in der Hotelhalle vergnügen.

Währenddessen lief der Polizeiapparat auf vollen Touren. Schon kurze Zeit nach dem Eintreffen des Polizeiarztes lief auch die Spurensicherung auf und stürzte sich mit sechs Mann auf den Fall. Schücking stand gerade im Garten und verfolgte, wie die Spurensucher in ihren weißen Plastik-Overalls auf den Balkonen und auf dem Dach der Schwimmhalle aktiv wurden. Da es trotz der Sommerzeit nun doch langsam dämmerte, zog der Kommissar in Betracht, einen Lichtwagen anzufordern. Als er gerade dabei war, die Vor- und Nachteile dieser Maßnahme abzuwägen, rollte der Wagen aus Münster vor das Hotel. Hauptkommissar Klaus Kattenstroht hatte es tatsächlich noch geschafft, seine Assistentin Kathrin Eilers zu aktivieren, und sah sich nun, in unübersehbar schlechter Stimmung, im Landhotel Gasthof Edelbroick um.

Schücking informierte seinen Münsteraner Kollegen über die ersten Erkenntnisse und die laufenden Maßnahmen. Kattenstroht hörte zu, stellte nur wenige Zwischenfragen und meinte, zuerst sei mal zu klären, was denn der Rechtsanwalt überhaupt im Hotel gewollt habe. Immerhin sei es der Vorabend des Feiertags und wenn der Jurist trotzdem ein Laptop mitgebracht und eingeschaltet habe – so jedenfalls besagte es Schückings Bericht –, röche das doch sehr nach Arbeit.

Nach einem kurzen Gespräch mit dem Hotelbesitzer und seinem Portier führte man Kattenstroht und Eilers in einen der kleinen Salons des Hotels, die die Familie Edelbroick bestimmten Gästen für stille Begegnungen und diskrete Verhandlungen bereithielt.