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Hans-Peter Boer
Kuchentage
Kommissar Kattenstrohts dritter Fall

PAVLO

SOCIO

MEDICO

AMICO

GRATIAS AGO

Unstern

Der Stern erstrahlte so munter,
Da fiel er vom Himmel herunter.
Du fragst mich, Kind, was Liebe ist?
Ein Stern in einem Haufen Mist.

Wie ‚n räudiger Hund, der verrecket,

So liegt er mit Unrat bedecket.

Es kräht der Hahn, die Sau, sie grunzt,

Im Kote wälzt sich ihre Brunst.

Oh, fiel‘ ich doch in den Garten,

Wo die Blumen meiner harrten,

Wo ich mir oft gewünschet hab

Ein reinliches Sterben, ein duftiges Grab!

Heinrich Heine (1797 – 1856)

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Impressum

Bereits in der Luft war Stellmacher klar, dass das danebengehen musste. Unter sich sah er im Sekundenbruchteil das dunkel blinkende Wasser des Grabens, als er schon auf dem anderen Steil-ufer landete, seine Stiefelspitzen sich in die braunen Grassoden bohrten und diese augenblicklich nachgaben. Die Knie tauchten ins Feuchte, das sofort durch den Hosenstoff drang. Mit ruckartigen Bewegungen seiner Füße versuchte Stellmacher, Halt zu finden, wo es kein Halten mehr gab: Mit verzweifelt anmutenden Bewegungen grabschte der Leitende Oberstaatsanwalt aus Münster nach einem verloren dastehenden Ginsterstrauch und erwischte tatsächlich noch einen der harten, dünnen grünen Zweige. Aber der gab nach, wenn auch erst, nachdem er eine kleine Schrunde in seine Hand gerissen hatte. Der Uferrand indes war unter Stellmachers Gewicht längst weggedrückt worden, so dass der sich mit seinen Füßen teilweise bereits im Wasser, teilweise am verschlammten Ufer wiederfand. Mit den Knien steckte er im feuchten Wintergras, und ans Aufstehen war kaum zu denken, denn der Modder des Grabenrandes hatte fast magisch die Stiefel eingezogen. Gequält schaute sich Stellmacher um und meinte schon zu spüren, wie das kalte Wasser in seine Stiefel schwappte.

Über dem Rand des tief eingeschnittenen Vorfluters kam einer seiner Treibergenossen in Sicht, ein älterer, aber drahtiger Bauer, der sich das Grinsen nicht verkneifen konnte, als er die Situation des Stadtfracks erfasste. Er schüttelte nachsichtig den Kopf und stieg dann, die Füße vorsichtig seitlich aufsetzend, den Grabenrand so weit herunter, dass er Stellmacher seine kräftige Hand reichen konnte: „Nun man to, Herr Doktor! Packen Se feste zu, dat wir Sie aus der Driete rauskriegen!“ Zweifellos schwang da ein wenig Schadenfreude mit.

Dankbar packte der Münsteraner zu und sah sich schon bald wieder am oberen Grabenrand auf festem Boden. Reichlich selbstmitleidig schaute er an sich herunter: die Stiefel total verdreckt, die Hose an beiden Knien feucht, eine Hand aufgerissen und die andere mit Schlamm verschmiert. Schlagartig wurde Stellmacher klar, dass Abenteuer wie
diese Treibjagd in seinem Leben eine Ausnahme bleiben würden. Seine ausgeprägte Affinität zu einem sauberen Schreibtisch, seine Freude an einer gepflegten Umgebung und sein – zugegebenermaßen etwas eitler – Hang zu einer gekonnten Selbstdarstellung waren zweifelsfrei stärker als der urtümliche Trieb, sich in freier Natur als ganzer Mann zu erweisen und dem Wilde nachzustellen.

So ein Unfug aber auch, zwei Tage nach Weihnachten bei nasskaltem Wetter an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen. Stellmachers Jagdeifer hatte sich bisher auf Übeltäter im Landgerichtsbezirk Münster beschränkt, aber dessen Präsident, der sich jeden Tag über sein schönes Amt in der früheren Provinzialhauptstadt zu freuen schien, hatte über Monate gedrängt und getrieben, Stellmacher möge doch wenigstens einmal als Gast an einer der großen Veranstaltungen der Wodansjäger teilnehmen. Immerhin sei das eine der ältesten, ehrwürdigsten und angesehensten Jagdgesellschaften in ganz Norddeutschland, schon eine Einladung sei eine Ehre, von dauernder Mitgliedschaft ganz zu schweigen; aber in etwa sieben, acht Jahren würde ein Platz für einen aktiven Jäger frei werden, und als jüngerer Jurist in Münster müsse sich der Leitende Oberstaatsanwalt doch rechtzeitig bei dieser noblen Gesellschaft in Erinnerung bringen und auf die Liste setzen lassen. Den Jagdschein könne er bis dahin ganz nebenbei auch noch machen.

Zugegeben, schlecht war der Tag bisher nicht verlaufen. Bereits am frühen Morgen waren die Jäger in Münster aufgebrochen und hatten sich am Kirchplatz in Rechterfeld getroffen. In der kleinen Dorfkirche wurde dann ein Gottesdienst gefeiert, in dem man der Verstorbenen der fast 125 Jahre alten Jagdgesellschaft gedachte. An der Messe nahmen die etwa 25 Jäger, aber auch die Treiber und viele Neugierige aus dem Dorf teil, denn die Weihnachtsjagd der Wodansjäger war für Rechterfeld immer ein großes Ereignis. Autark und stolz, wie diese Gesellschaft nun einmal war, brachte sie auch einen eigenen Priester mit: Hochwürden Prälat Lieftüchter, im Zivilberuf ein gelehrter Domherr, stammte selbst von einem münsterländischen Bauernhof, sprach neben Latein und Italienisch auch die Sprache des Landes; der hochwürdige Herr konnte und wollte seinen Jagdtrieb nie verleugnen.

Nach dem Gottesdienst versammelten sich alle in einem kleinen Gasthaus nahe der Kirche, wo ein deftiges Frühstück mit Schinken und Rühreiern vorbereitet war, das Jäger und Treiber gemeinsam einnahmen. Die meisten Teilnehmer der Weihnachtsjagd kannten sich schon über viele Jahre, die Teilnahme an diesem Ereignis war für viele Familien in Rechterfeld ein fester Termin im Jahreslauf.

Nachdem sich alle gestärkt und im Gespräch auf den Tag eingestimmt hatten, stellte sich die Gesellschaft malerisch auf dem Kirchplatz auf, auf der einen Seite die Jäger, auf der anderen die Treiber, und die Jagd wurde festlich angeblasen. Hell klangen die Jagdhörner durch das Dorf, und die Hunde, die man aus den Anhängern dazugeholt hatte, vervollständigten mit frohem und erwartungsvollem Gebell und Gejaule die malerische Szenerie. Der Jagdherr, im Zivilberuf eben wohlbestallter Präsident des Landgerichtes, begrüßte die Teilnehmer nun auch offiziell und erläuterte noch einmal kurz den Plan des Tages, der mit dem Berufsjäger, den die Gesellschaft in Rechterfeld angestellt hatte, vorbereitet war. Vom Landgasthof „Im halben Mond“, wo die Gesellschaft seit Jahrzehnten ihre feste Station hatte, würde man der Reihe nach die Reviere rund um Rechterfeld durchstreifen und nach Plan das Wild auftreiben. Mit Ermahnungen zur Sicherheit auf der Jagd und mit einem kräftigen „Waidmanns Heil“ schloss der Präsident. Die Hörner bliesen zur Jagd, und Jäger wie Treiber und Hunde eilten ungeduldig zu ihren Wagen.

Treckerbespannte Anhänger, auf denen man grobe Bänke montiert hatte, fuhren die Jagdgesellschaft hinaus in die Reviere. Treiber und Jäger nahmen an den festgelegten Punkten Aufstellung, und bald begannen die Büchsen, rund um Rechterfeld zu knallen. War ein Jagdbereich durchkämmt, sammelte man sich bei den Wagen, hängte die Beute auf die Streckenständer und machte sich auf den Weg in das nächste Revier. Die Wodansjäger, so musste Stellmacher feststellen, schossen gut; einer Reihe von Rehen, Hasen und Fasanen war schon gegen Mittag das Lebenslicht ausgeblasen, und die Stimmung der Männer war trotz des Wetters mit seinen nasskalten Nebeln prächtig. Auch eine kleine Rotte von Wildschweinen hatte man aufgestöbert und ihr den Garaus gemacht.

An einem Waldrand loderte ein großes Feuer; die Wirtin des „Halben Mondes“ hatte eine kräftige Fleischsuppe gekocht und herausgefahren, allen mundete es gut, und auf den groben Bänken an der wärmenden Glut wurde eine erste Bilanz dieser Weihnachtsjagd gezogen.

Oberstaatsanwalt Stellmacher war schon zu dieser Stunde absolut klar, dass das mit der Jägerei nichts für ihn sein würde. Er musste für sich feststellen, dass er einfach „schussbange“ war und bei jedem Knall erschrak. Zudem hatte er, der im Restaurant ein Wildragout oder einen Rehrücken durchaus zu schätzen wusste, erstmals an einer Treibjagd teilgenommen. Die Spannung und Freude der Jäger, die ersten Berichte über die Taten des Morgens blieben ihm etwas fremd. Er grübelte ein wenig herum, bis er das Urteil Otto von Bismarcks wieder komplett auf seinem Schirm hatte: „Es wird nie so viel gelogen wie vor der Wahl, im Kriege und nach der Jagd!“ Allerdings musste er zugeben, dass trotz seiner Erlebnisse im nassen Vorfluter die Bewegung an frischer Luft und die Arbeit mit den kernigen und humorvollen Treibern ihm irgendwie Spaß machten. Lange auch hatte er nicht so ein schönes Plattdeutsch gehört wie hier.

Bis zum späten Nachmittag durchkämmten die Wodansjäger ihre Reviere. Gegen drei Uhr klarte es langsam auf, so dass das Büchsenlicht länger als erwartet anhielt. Am Waldrand nahe dem Gasthaus wurde bei schon einbrechender Dunkelheit die Strecke gelegt, und Stellmacher musterte neugierig die Reihe der erjagten und teilweise schon ausgenommenen Tiere, die im Lichte eines Feuers und mehrerer Fackeln auf Tannenzweigen angeordnet worden waren. Der Präsident der Wodansjäger ließ die für die einzelnen Tiere festgelegten Totsignale blasen, dankte in einer kurzen Ansprache allen Beteiligten für das waidgerechte Verhalten und erklärte die Weihnachtsjagd für geschlossen. Ein letztes Mal erklangen die Hörner, festlich wurde die Jagd abgeblasen, und die Männer richteten sich auf das Schüsseltreiben ein, das wie seit unvordenklichen Tagen im Kaminzimmer des „Halben Mondes“ abgehalten werden sollte.

Man wechselte an den Autos Mäntel, Jacken und Schuhe, verstaute die Waffen und versorgte die Hunde. Ein Teil der Treiber rückte zwischendurch ab, da man auf den Höfen rund um Rechterfeld auch Vieh zu versorgen hatte, die anderen fanden sich mit den Jägern am flackernden Herdfeuer zusammen und warteten auf das gemeinsame Essen. Ein erster Umtrunk lockerte Stimmung und Zungen, und auch die Mittel und Wege wurden diskutiert, wie man denn am Abend nach Hause kommen wollte. Praktischerweise hatten sich die Damen der Wodansjäger dahin verabredet, mit mehreren Wagen von Münster aus nach Rechterfeld zu kommen, um am späten Abend dort ihre Nimrode wieder einzusammeln. Stellmacher hatte derartige Vorsichtsmaßnahmen nicht geregelt gekriegt, guckte ziemlich leidend in sein Glas alkoholfreien Biers und war sich sicher, baldmöglichst aufbrechen zu wollen, obwohl die Unterhaltung nicht schlecht war. Der Leitende Oberstaatsanwalt saß nämlich zwischen einem Kieferorthopäden und einem bekannten Rechtsanwalt, die ihn in die Regeln des Abends einweihten.

Besonders wichtig sei das Jagdgericht, das kleinere Verstöße gegen das Brauchtum und die Sicherheit auf der Jagd zu ahnden habe. Vorsitzender Richter sei natürlich der Präsident selbst, der noch zwei Beisitzer habe. Es gebe den Ankläger wie auch einen Büttel, der den Täter vor das Gericht zu zerren habe. Übrigens könnten auch Gäste vergattert werden, wenn sie sich besonders tölpelhaft angestellt hätten, zum Beispiel ihre rote Warnweste abgelegt hätten oder die Jagdsprache besonders offenkundig ignorierten.

Ob es denn auch einen Verteidiger gebe, wollte Stellmacher wissen, der sich finster erinnerte, am Mittag eine erlegte Bache als erschossene Wildsau bezeichnet zu haben. Da wurde der Oberstaatsanwalt getröstet: Er könne sich ja mit einem guten Witz, ordentlichem Jägerlatein oder einer Runde für die ganze Corona aus der Affäre ziehen. Früher allerdings, das bemerkte ein älterer Jäger schwermütig, habe er noch erlebt, wie er als Sünder im Jagdgericht richtig mit der breiten Schneide eines Waidmessers auf den nackten Allerwertesten verkloppt worden sei. Da sei die heutige Jugend doch sehr verweichlicht. „Da geht es nur darum, dass einer mal wieder vergessen hat, sein Handy abzustellen, oder bei einer Rede des Präsidenten nicht richtig zuhört. Früher, … Leute, …!“ Der Mann seufzte und guckte trübsinnig in sein Bierglas.

Später rief man die Wodansjäger an die festlich gedeckte Tafel, und das Essen wurde aufgetragen: Westfälischer Pfefferpotthast mit Kartoffeln, Gemüsen und diversen Salaten. Es dampfte bei Tisch, und Stille kehrte ein. Eilfertig trug die Bedienung weitere Getränke auf, reichte bei Bedarf auch Schüsseln nach.

Plötzlich entstand eine gewisse Unruhe: Stellmacher hatte aus den Augenwinkeln bemerkt, dass die Wirtin sich an den quer gestellten Präsidententisch begeben und dem Jagdherrn etwas mitgeteilt hatte; der war daraufhin auffallend zügig aufgestanden, hatte sich die Nachricht wiederholen lassen und dann mit der Wirtin des „Halben Mondes“ den Raum verlassen. Offensichtlich hatte man den Präsidenten ans Telefon gerufen.

Als der Mann einige Minuten später wieder an seinen Tisch zurückkehrte, war er sichtlich betroffen und um Fassung bemüht. Er bat zwei seiner älteren Jagdgenossen, die offenkundig schon als Beisitzer des geplanten Jagdgerichtes vorn Platz genommen hatten, zu sich und diskutierte mit ihnen.

Stellmacher dachte gerade bei sich, dass irgendetwas den Herren schwer die Stimmung verhagelt haben müsse, als der Präsident der Wodansjäger schon zum Messer griff, mehrfach entschieden an sein Bierglas klopfte und um Ruhe bat.

„Liebe Wodansjäger, liebe Jagdgenossen, uns ereilt nach dieser wunderbaren Weihnachtsjagd eine schlimme Botschaft. Ich erfahre eben, dass unser Freund Theo Lütke Dreischkamp, der uns heute den ganzen Tag begleitet hat, nicht mehr unter den Lebenden weilt!“ Der Redner rang offensichtlich um Worte, im Kaminzimmer herrschte betroffenes Schweigen. „Ich muss euch mitteilen, dass unser Freund anscheinend einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist. Er wollte ja nur eben zum Füttern auf den Hof. Und dort muss etwas passiert sein. Zweifelsfrei ist er tot. Die Nachricht wurde mir soeben bestätigt.“

Im Raum regte sich dumpfes Gemurmel. „Ich weiß nun nicht, wie wir den heutigen Abend über die Runden bringen“, fuhr der Präsident fort. „Ich bitte euch zunächst, euch zu Ehren des Verstorbenen von den Plätzen zu erheben.“

Servietten flogen zur Seite, Stühle wurden gerückt. Irgendwo fiel ein Bier um. Dicht gedrängt standen die Männer längs der beiden Tischreihen wie Mauern. Der Präsident, er hatte sich ein wenig gefasst, sprach einige ehrende Worte: „Theo Lütke Dreischkamp ist nach meiner Erinnerung unser ältester Treiber gewesen, so lange, wie ich als Wodansjäger denken kann, war er immer bei den Jagden dabei. Er hat für uns Jagdaufsichten gemacht und im Revier immer wieder ausgeholfen. Er war ein Jagdgenosse von altem Schrot und Korn.“ Nach diesen Worten schwieg der Präsident.

Dann räusperte er sich und schlug vor, das Schüsseltreiben in Ruhe zu beenden. Auf das Jagdgericht wolle man verzichten und den Abend zügig und in Würde ausklingen lassen. „Das sind wir Theo Lütke Dreischkamp schuldig.“ Die Männer setzten sich wieder und widmeten sich noch stiller ihrer Mahlzeit.

„Übrigens hat der Theo noch heute an Ihnen ein gutes Werk verrichtet“, meinte der Kieferorthopäde zu Stellmacher und zerschnitt dabei mit gewissem Genuss ein größeres Fleischstück in der Sauce. „Das war nämlich er, der Sie heute Morgen aus dem Graben gezogen hat.“

Stellmacher, schon leicht abwesend, nickte. Er aß schnell zu Ende und verabschiedete sich von den Wodansjägern. Im Thekenraum der Gaststätte griff er zum Handy und führte einige Telefonate, um erste Informationen über den Fall zu bekommen. Aus der Leitstelle der Kripo Münster erfuhr er, dass mehrere Fachteams unterwegs oder schon in der Rechterfelder Bauerschaft Uppenbiärg vor Ort seien. Sie hätten die Untersuchung des Falles, der gegen 18.45 Uhr gemeldet worden sei, zügig aufgenommen. „Die Leitung hat übrigens Hauptkommissar Kattenstroht! Und Frau Eilers ist mit draußen!“

Jochen Stellmacher war’s zufrieden: „Das gönne ich den beiden, nach den Weihnachtstagen mal wieder auf Trab zu kommen. Ich bin ja schließlich auch hier draußen.“ Die Leitstelle rätselte ein wenig über die Verortung des Leitenden Oberstaatsanwaltes, natürlich hatte sie keine Ahnung von der Einladung zur Jagd, rückte dann aber die genaue Adresse des Tatortes ein, die Stellmacher in sein Navi einspeisen wollte.

Nachdem er sich von der Wirtin vor der Tür noch einmal die Generalrichtung zur Bauerschaft Uppenbiärg hatte zeigen lassen, fuhr Jochen Stellmacher vorsichtig los und erreichte nach 20 Minuten und mehrmaligem falschen Abbiegen den Hof Lütke Dreischkamp, der inzwischen von einer ganzen Reihe von Polizeiautos wie belagert schien. Auch ein Parkplatz war schwer zu bekommen, die Bankette der kleinen Straße waren unbefestigt, und fast hätte der Staatsanwalt sein Graben-erlebnis vom Morgen wiederholt.

Nach Vorzeigen seines Dienstausweises konnte Stellmacher dann den Hofplatz betreten, wo er auf seinen Freund Kattenstroht traf, der, lässig an seinen Dienstwagen gelehnt, untätig herumstand und reichlich missgestimmt wirkte.

Was machst du denn hier?“, entfuhr es dem erstaunten Kattenstroht, der den Freund offenbar erst auf den letzten Schritten erkannt hatte und nun den Leitenden Oberstaatsanwalt geradezu indigniert von Kopf bis zu den Füßen musterte: „Und dann diese Verkleidung! Gehe ich recht in der Annahme, dass der wichtigste Vertreter der Staatsanwaltschaft Münster vor mir steht?“

„Lass gut sein, Klaus! Wer den Schaden hat, spottet jeder Beschreibung. Ich war heute mit den Wodansjägern in den Rechterfelder Revieren unterwegs. Das ist alles. Und dein Opfer hier hat mich angeblich noch heute Morgen aus einem Wassergraben gezogen.“

Kattenstroht erwiderte etwas bissig: „Sieh ja zu, dass du bei dem Umgang mit den hohen Herren Behördenspitzen und dem Präsidenten-Stammtisch keinen Schaden nimmst. Das ist doch die reinste Diplomatenjagd wie mit Vater Heinrich Lübke im Geister Holz, oder? Am Ende verwechseln die dich mit einem Keiler.“

Stellmacher beschloss, sich nicht ärgern zu lassen, und meinte nur, nach seiner Kenntnis sei alles waidgerecht abgegangen. Ob Kattenstroht ihn denn nun in den Tatort einweisen könne?

Der Hauptkommissar war bereit, wies aber gleich auf seine Grenzen hin: „Hast du den Auftrieb hier gesehen? Guck dich doch erst mal um.“ Mit großer Geste wies er über den Hofraum zu den zahlreichen geparkten Wagen: „Alles Spurensicherung, von wegen strategische oder gar taktische Aufklärungsarbeit. Wir sind nicht mehr gefragt am Tatort, jedenfalls nicht mehr sofort! Das ist der Geist der neuen Zeit!“

Stellmacher schaute sich um. Der recht große Hof wurde von zwei Scheinwerfern erleuchtet, die an der Giebelwand des alten Haupthauses angebracht waren. Zusätzliche Lichtmasten waren offensichtlich von den Beamten aufgestellt worden. Die einzelnen Dienstwagen hatten tatsächlich schon die Hofzufahrt geradezu belagert. Auf dem Hof standen unter einer Remise hintereinander drei große Bullis, die mit Technik vollgestopft zu sein schienen, denn durch die matten Scheiben konnte man mehrere Bildschirme leuchten sehen. Hin und wieder kam einer der Mitarbeiter von der Spurensicherung in weißem Overall und brachte oder holte etwas aus dem Bestand. Dabei wurden unentwegt Einmalhandschuhe gewechselt und umsichtig in eine Deckeltonne geworfen.

„Das ist es, mein lieber Jochen. Kein Tatort-Tourismus bitte. Bevor ich mein Opfer und den Tatort sehe, hat erst Beucking das Wort, der neue Chef der Spurensicherung. Und unsere reizvollen Besuche in der Gerichtsmedizin können wir uns ersparen, denn in ein paar Tagen geht der alte Rollmann endgültig in Pension. Damit sind die schönen alten Zeiten wie im Fernsehen-Tatort völlig vorbei.“ Kattenstroht verzog sich ein wenig in seine warme grüne Winterjacke, aus der ein rotgemusterter Kaschmirschal leuchtete.

Der Oberstaatsanwalt kannte das Spiel, den knurrigen Kommissar zu beruhigen: „Mal nicht so plein carrier, mein Lieber. Ich muss dir doch keinen Vortrag über die Verdienste und Erfolge der neuen Rechtsmedizin halten. Aber klar, das verändert unseren Job, auch wenn wir als Ermittler die Leiche quasi fast als Drittletzte vorm Professor und vorm Bestatter sehen.“ Stellmacher sah sich noch einmal um: „Aber nun weih mich mal ein. Was weißt du bis jetzt? Allmählich werde ich ja doch neugierig. Wo sind wir hier eigentlich?“

Kattenstroht schien sich irgendwie zu freuen, dass er endlich zumindest in bescheidenem Maße gefragt war. Zügig legte er los. „Wir sind hier in der Bauerschaft Uppenbiärg, und das hier ist der Hof Lütke Dreischkamp, wohl der wichtigste und größte der Höfe.“ Er zog den Freund langsam zum Hoftor hinüber. „Auf der anderen Seite des Weges, weiter unten, liegt der Hof Röing. Da musst du dran vorbeigefahren sein, als du durch den Hohlweg kamst. Die Hofgruppe liegt hier ja ‚uppen Biärg’, also etwas erhöht.“ Der Kommissar zückte an dieser Stelle einen kleinen Block aus der Jackentasche. „Mal weiter: Die Straße führt von hier aus rechts in die Bauerschaft. Dann kommen noch drei Höfe: Das Licht dahinten links gehört schon zum Hof Ross. Der Weg, das ist eigentlich nur eine ausgebaute Verkoppelungsstraße, führt dann den Hügel hoch, und unmittelbar hinter der Kurve liegt rechts der Hof Herpert. Stünde das Haus hier nicht vor unserer Nase, könnten wir dessen Lampen sehen. Der dritte Hof, Bartling, liegt jenseits des Hügels. Wir können uns das, wenn du willst, gleich noch mal auf der Karte ansehen. Wichtig ist eines: Wer in die Bauerschaft Uppenbiärg will, muss entweder hier oben zwischen diesen beiden Höfen Lütke Dreischkamp und Röing durchfahren oder auf der andern Seite des Hügels bei Bartling vorbei. Schücking von der Kreispolizei klappert gerade die Nachbarn ab.“

„Und wo steckt deine reizende Assistentin, Frau Eilers? Die habe ich ja noch gar nicht verortet.“ Stellmacher lächelte interessiert.

„Ich bin froh, dass die nicht auch noch zwischen den Jahren verreist ist. Wir haben ja in diesem Jahr das Glück, dass immerhin unser Präsident bis Dreikönige die schwarzen Pisten in Zermatt unsicher macht. Ist auch gut für unsere Zusammenarbeit, Jochen. Kathrin ist eben dabei, die Familie vom Hof zu verhören. Die Eheleute Lütke Dreischkamp haben wir bei den Röings für einige Stunden warm und trocken untergebracht. Das sind natürlich die Notnachbarn dieses Hofes. Das kann ja noch Stunden dauern, bis unsere Spurensicherung ihre Bakterietten überall geschwungen hat.“

„Und nun mal weiter!“, drängte der Staatsanwalt. „Was genau haben die Hofleute denn vorgefunden?“

Der Kommissar spulte mit gelegentlichem Blick auf seinen Block seine ersten Erkenntnisse zügig herunter, während Stellmacher konzentriert zuhörte: „Der Bauer und seine Frau, das sind Ferdinand und Irmgard Lütke Dreischkamp, waren heute Nachmittag auf Visite bei Verwandten unterwegs. Sie sind gegen 18.20 Uhr hier wieder aufgelaufen. Die Hofbeleuchtung war eingeschaltet, und der kleine Corsa vom Öhm Theddo stand neben der kleinen Tür am Giebel. Da steht er auch jetzt noch! Der Onkel hatte nämlich versprochen, nach der Jagd das Vieh zu füttern.“

Kattenstroht zeigte zum Haus hinüber. „Auffallend war für die
Dreischkamps nur, dass auch die Lampen am Weg durch den Vorgarten und über der Eingangstür an der Südseite eingeschaltet waren. Die Familie kommt entweder hier über den Hof und durch die kleine Tür neben der großen Niendüör rein oder rechts am Haus vorbei durch die so genannte Gartentür an der Nordseite. Die Eingangstür nach vorne zur Straße benutzen sie selten, eigentlich nur, wenn’s offiziell ist, wenn Besucher oder Fremde kommen. Und da hatten die beiden Dreischkamps irgendwie das Gefühl, dass doch noch Besuch gekommen sei, in diesen Tagen ja nichts Ungewöhnliches, und sind deshalb entgegen ihren Gewohnheiten vorne rumgegangen. Komischerweise fanden sie die Haustür nur angelehnt; sie gehen durch den kleinen Flur in die große Deele des Hauses und finden den Öhm tot in seinem Blute liegend, offensichtlich erschlagen. Es muss eine dramatische Szenerie sein, jedenfalls nach dem, was ich durch Tür und Fenster überhaupt schon sehen konnte! Mehr Gelegenheit zum Gucken haben mir die Schneemänner bis jetzt ja noch nicht gegeben.“

Den letzten Satz hatte die Eilers mitgehört, die gerade durch das Hoftor gekommen war, zunächst den Oberstaatsanwalt freundlich begrüßte und dann meinte, ihren Chef einnorden zu müssen: „Klaus, lass das Knurren, wir kriegen ja gleich einen ersten Foto-Chip, und dann hast du wenigstens eine Diaschau vom Tatort. Beucking hat mir versprochen, die Bildsätze umgehend herauszugeben und dass wir seinen Computer drüben im Wagen benutzen können.“

„Ich weiß ja einiges über die Gefahr von Mischspuren bei der DNA-Analyse, aber muss man denn wirklich so pingelig sein dabei? Ich vermisse die unmittelbare Inaugenscheinnahme doch etwas!“, hielt Kattenstroht in Amtssprache dagegen.

Stellmacher kommentierte trocken: „Wissen Sie, Kathrin, ich war heute schon zur Jagd. Meine Lust am Blutgeruch ist längst gestillt, bei Ihrem Chef ist es noch nicht so weit!“

Mit derlei Geplänkel hielten sich die drei noch ein wenig auf, bis einer der Fotografen der Spurengruppe dazukam und Kathrin Eilers einen Chip übergab. Da seien die ersten 120 Bilder vom Tatort drauf. Man könne sich schon mal ein wenig umsehen. Der Oberstaatsanwalt, der Kommissar und seine Assistentin drängten sich alsbald in einen der Bullis, wo Kathrin Eilers erfreulich fix den Computer in Gang setzte und bald Bild um Bild des Tatortes auf einem großen Bildschirm erschien. Die Situation war eindeutig.

Lütke Dreischkamps Diele stellte sich auf den vielen Bildern als typische große Flettküche eines westfälischen Hallenhauses dar. Der Fußboden aus Sandstein, darüber die Decke, getragen von schweren Eichenbalken. Die Gartentür, die Brunnentür, die Tür zur Tenne, die Türen in die Wohnräume des Kammerfaches zeigten die zentrale Stellung des Raumes im ganzen Haus. Eine steile Treppe in der Nähe der Gartentür führte hinauf in die erste Etage, die offensichtlich später ausgebaut worden war. An der Stirnseite lag der Kamin, in dem ein dicker Holzklotz glühte.

„Na, das ist ja was“, knurrte Kattenstroht, „so was geht doch gar nicht!“, und ließ das bis ins kleinste Detail scharfe Bild immer mal wieder auf Bildausschnitte zoomen: „Da liegt der Mann zum Fest der Unschuldigen Kinder am Fuß des Weihnachtsbaumes erschlagen inmitten einer Weihnachtskrippe!“

Auch Stellmacher empfand das Bild mehr als surreal. Kathrin Eilers schwieg und ließ die Tastatur weiter klappern.

Der mit älteren Glaselementen durchaus geschmackvoll geschmückte Weihnachtsbaum ragte fast bis an die Decke des hohen Raums. Zu seinen Füßen hatte man eine mehr als zwei Meter breite, hügelige Krippenlandschaft angelegt, die in einem aus Holz liebevoll gebauten Stall gipfelte. Von rechts und links kamen Hirten, Könige und allerlei Getier heran. Die Figuren, offensichtlich aus Gips, weckten das Interesse des Kommissars: „Für ein Privathaus reichlich großer Gipskram!“, knurrte er vor sich hin. „Aber sonst: Respekt, eine schöne Weihnachtskrippe.“

Aber die Ordnung des himmlischen Geschehens war gestört, denn in die so westfälisch wirkende Landschaft Bethlehems war das Opfer rücklings hineingefallen. Der blutverschmierte Kopf war unweit des Krippenstalls auf einen dort angelegten Sandweg geschlagen, so dass die etwa 70 Zentimeter großen Figuren Maria und Josef nicht nur verwundert auf das Kind in der Krippe schauten, sondern auch auf das zerschmetterte Haupt des Theodor Lütke Dreischkamp.

„Beachtliche Verletzung!“, kommentierte Stellmacher. „Und das Tatwerkzeug?“

Die Eilers klapperte weiter auf der Tastatur: „Hier bitte!“ Sie beugte sich etwas vor. „Wirklich erstaunlich!“

Kattenstroht geriet völlig aus dem Häuschen: „Ich glaube, ich spinne. Da liegt einer erschlagen in der Krippe, just zwei Tage nach Weihnachten, am Festtag der Unschuldigen Kinder. Und das Tatwerkzeug ist eine antike Eiserkuchenzange. Du lieber Himmel! Absurd, so was!“ Und nach einer kurzen Pause: „Traditioneller kann man in den Kuchentagen wohl niemanden um die Ecke bringen.“

Zu den Füßen des Opfers lag auf den Sandsteinplatten tatsächlich eine etwa einen Meter lange, offensichtlich handgeschmiedete eiserne Zange mit runden, flachen Backen.

„Die Dinger kenne ich“, meinte die Eilers, „bei meiner Oma in Lahsum hängen mehrere noch am Herdfeuer. Eine davon ist, wenn ich mich richtig erinnere, mehr als 250 Jahre alt. Wenn man damit zuschlägt ...“

„ … wird alles zu Brei!“, vollendete Kattenstroht ihren Satz. „Dabei wird ja die Teigmasse auf die Platten der Zange gestrichen, nachdem sie vorher im Herdfeuer angeglüht worden ist. Schmeckt übrigens prima. Ich habe da noch ein Rezept von meiner Mutter im Kopf: Wie war das noch gleich? Eier, Milch, Mehl, Zucker, Zimt …!“ Er zögerte etwas. „Ich habe es komplett zu Hause im Backbuch. Und ausgerechnet mit einem solchen Hausgerät, das den Menschen zwischen Weihnachten und Dreikönige so viel Freude gemacht hat, wird dieser Mensch ausgeknipst.“ Er seufzte. „Das Münsterland ist auch nicht mehr das, was es mal war.“

Der Kommissar schob sich aus dem Bulli heraus und reckte sich. Stellmacher folgte, während die Eilers sich mit der Speicherung und Sicherung der Bilddateien beschäftigte. In Absprache mit der Spurensicherung konnte sie die Bilder vom Tatort nach und nach auf eine externe Festplatte überspielen.

„Eigentlich bin ich richtig froh, dass die Kathrin den ganzen modernen Kram beherrscht und ich mich nicht auch noch damit beschäftigen muss“, bemerkte Kattenstroht zu Stellmacher.

Sie mussten noch fast zwei geschlagene Stunden warten, bis die Spurensicherung den Tatort endgültig freigeben konnte. Die Zeit wurde indes nicht lang, weil inzwischen praktisch alle Nachbarn von den Höfen der Bauerschaft erschienen waren und trotz der späten Abendstunde den Ermittlern zur Verfügung standen, sie sogar wegen des kalten Wetters in ihre nahe gelegenen Häuser einluden.

Das Verbrechen an einem Nachbarn erregte die Menschen in Uppenbiärg, zumal, und dies wurde aus den Gesprächen und vor allem aus den Berichten Schückings sehr bald klar, Theo Lütke Dreischkamp hier wie in ganz Rechterfeld offensichtlich eine sehr bekannte und angesehene Person gewesen war.

Auf den Nachbarhöfen ging es lebhaft zu, hier wie dort wurden den Polizisten warme Getränke und Schnittchen angeboten, und wäre nicht das Wissen um den Erschlagenen in der Krippe gewesen, hätte die erste Ermittlung fast den Charakter eines Nachbarschaftsfestes bekommen. „Grauen und Lust liegen manchmal dicht nebeneinander!“, hatte Kattenstroht mit Blick auf die heißen Diskussionen in der Küche des Nachbarn Herpert resümiert. Immerhin hatten sie bei diesem Umgang durch Uppenbiärg keine kalten Füße bekommen

Inzwischen zog die Labormannschaft ab. Die zahlreichen Spurenträger, auf die Beucking und seine Leute ihre Hoffnung setzten, waren ordentlich und sicher zum Abtransport verpackt. Alle Fotos waren gemacht, die Tatortvermessungen abgeschlossen. Der oberste Spurensicherer verabschiedete sich von Kattenstroht, Stellmacher und Schücking, die nun selbst den Tatort in Augenschein nehmen konnten: „Ergebnisse, meine Herren, werden etwas auf sich warten lassen. Wir haben den Selbstmörder-Berg von Weihnachten noch nicht abgearbeitet, und noch dazu ist meine Mannschaft urlaubsgeschwächt.“ Beucking überlegte: „Heute ist Dienstag, ich hoffe, dass wir bis zum Wochenende Ergebnisse haben. So viel aber schon jetzt: Wir haben viele frische Spuren, aus denen man gute Hinweise erwarten kann. Aber die eine oder andere muss auch noch sicher abtrocknen. Wir werden sehen.“

Ein Bestatter kam, um die dramatische Szene aufzulösen und den Leichnam des Erschlagenen nach Münster in die Gerichtsmedizin zu fahren.

„Und so geht uns der Öhm aus dem Haus!“, hatte Irmgard Lütke
Dreischkamp bemerkt, als die beiden Träger mit dem Sarg das Haus verließen. Das war eine nüchterne Feststellung. Die Frau schaute dem Sarg nicht hinterher, sie stellte vielmehr die umgeworfenen Figuren der Krippe wieder auf. Sand, Moos und Steine hatte man, soweit sie blutgetränkt waren, inzwischen entfernt. „Das will ich morgen mal wieder herrichten!“, hatte sie gemurmelt und oberflächlich Ordnung in der weihnachtlichen Szenerie geschaffen. Sie kniete sich hin, harkte mit gespreizten Fingern den kleinen Weg, der zum Krippenstall führte, und verteilte den sauber gebliebenen weißen Sand neu.

Spät erst kam Kattenstroht zu Hause in Münster an. Im Wohnzimmer brannten die elektrischen Kerzen des Weihnachtsbaumes, der Fernseher lief, Betty lag in eine grüne Decke eingekuschelt auf dem Sofa und schlief; Snoopy hatte es sich zu ihren Füßen gemütlich gemacht. Der kleine Terrier hob fast gleichmütig den Kopf, fiepte leise und rollte sich wieder ein, ohne sich um sein Herrchen zu kümmern.

Immerhin hatte Betty eine vorzügliche Flasche Côte du Rhône entkorkt und etwas davon getrunken. Kattenstroht füllte das bereitstehende zweite Glas und hing noch seinen Gedanken nach. Irgendetwas in den Worten und im Verhalten der Bäuerin hatte ihn merkwürdig berührt. Obwohl er noch darüber nachgrübelte, fand der Kommissar an diesem Abend keine Erklärung für sein stilles Unbehagen.