Für Kellas
Als Adam grub und Eva spann,
Wer war denn da der Edelmann?
John Ball
Die pralle Sonne trödelt bei den Telefonmasten. An den Schultoren und Laternenpfählen wird die Anti-Kletter-Farbe schwefelgelb. In Willesden laufen die Leute barfuß, es wird europäisch auf den Straßen, alle Welt will draußen essen. Sie bleibt im Schatten. Rothaarig. Im Radio: Ich allein verfasse das Lexikon, das mich definiert. Guter Spruch – gleich aufschreiben, hinten auf die Zeitschrift. In der Hängematte, im Garten der Souterrainwohnung. Eingezäunt, von allen Seiten.
In der Siedlung, vier Gärten weiter, brüllt eine finstere Frau vom dritten Stock Schimpftiraden ins Leere. Meilenweit zu hören von diesem Julia-Balkon. Stimmt nicht. Nee, stimmt nicht. Hör bloß auf. Kippe in der Hand. Fett, krebsrot.
Ich allein
Ich allein verfasse
Bleistift schreibt nicht auf Zeitschriftenpapier. Irgendwo hat sie gelesen, man kriegt Krebs von dem Hochglanzzeug. Weiß man doch, dass es jetzt noch nicht so heiß sein darf. Verschrumpelte Blüten und bittere kleine Äpfel. Vögel singen die falschen Lieder auf den falschen Bäumen, viel zu früh im Jahr. Mann, hör mir bloß auf! Blick nach oben: Die Sonnenbrandwampe der Frau liegt auf der Brüstung. Wie sagt Michel immer: Es kann eben nicht jeder vorne mit dabei sein. Nicht in der heutigen Zeit. Grausame Ansicht – sie teilt sie nicht. In einer Ehe teilt man nicht alles. Gelbe Sonne hoch oben am Himmel. Blaues Kreuz an weißer Stange, klar, eindeutig. Was tun? Michel ist arbeiten. Immer noch arbeiten.
Ich
allein
Asche weht in den Garten hinunter, dann folgt die Kippe, danach die Schachtel. Lauter als Vögel und U-Bahn und Verkehr. Alleiniges Anzeichen geistiger Gesundheit: ein kleiner Knopf, der ihr im Ohr steckt. Ich hab ihm gesagt, er soll sich nicht immer Freiheiten rausnehmen. Wo bleibt mein Scheck? Und dann kaut die mir ständig ein Ohr ab. Scheiß Freiheiten.
Ich allein. Allein. Allein
Sie öffnet die Faust, lässt den Bleistift fortrollen. Nimmt sich die Freiheit. Nichts anderes zu hören als diese verdammte Frau. Zumindest gibt es mit geschlossenen Augen was anderes zu sehen. Zähe schwarze Flecken. Wasserbienen, die im Zickzack hin und her schießen. Zick. Zack. Roter Fluss? Geschmolzener Höllensee? Die Hängematte kippt. Die Zeitung segelt zu Boden. Weltspiegel, Immobilien, Film und Musik liegen im Gras. Dazu der Sport und die Kurzbeschreibungen der Toten.
Die Klingel! Barfuß stolpert sie durchs Gras, sonnenwirr, schläfrig. Die Hintertür führt in eine klitzekleine Küche, bunt gekachelt nach den Vorlieben eines Vormieters. Da wird nicht nur geklingelt. Da hält wer den Finger drauf.
Ein verschwommener Umriss hinter der strukturierten Scheibe. Falsche Pixelanordnung für Michel. Zwischen ihr und der Tür die Flurdielen, golden im Sonnenlicht. So ein Flur kann nur zum Guten führen. Aber da draußen brüllt eine Frau BITTE und weint. Da draußen schlägt eine Frau mit der Faust an die Tür. Als sie den Riegel öffnen will, klemmt er auf der Hälfte, die Kette spannt sich, und eine kleine Hand schießt durch den Spalt.
– BITTE – o Gott, helfen Sie mir – bitte Miss, ich wohn hier – ich wohn gleich hier, o Gott, bitte – schauen Sie, bitte –
Dreckige Nägel. Und eine Gasrechnung? Eine Telefonrechnung? Durch die Öffnung geschoben, vorbei an der Kette, so nah, dass sie ein Stück zurückgehen muss, um zu erkennen, was ihr da gezeigt wird. Ridley Avenue 37 – gleich um die Ecke. Mehr liest sie nicht. Kurz sieht sie Michel vor sich, wie er wäre, wenn er hier wäre, wie er das Plastikfenster des Umschlags prüfen, nach Echtheitsnachweisen suchen würde. Michel ist arbeiten. Sie macht die Kette los.
Die Knie der Fremden geben nach, sie fällt vornüber, sackt zusammen. Mädchen oder Frau? Sie sind gleich alt: Mitte dreißig, so in etwa. Tränen schütteln den schmalen Körper der Fremden. Sie zerrt sich an den Kleidern und heult. Die Frau, die die Welt als Zeugin anruft. Die Frau im Kriegsgebiet, in den Trümmern ihres Heims.
– Sind Sie verletzt?
Sie hat die Hände im Haar. Ihr Kopf stößt an den Türrahmen.
– Nein, ich nicht, meine Mutter – ich brauch Hilfe. Ich war schon an jeder scheiß Tür – bitte. Shar – Shar heiß ich. Ich bin von hier. Ich wohn hier. Schauen Sie!
– Kommen Sie rein. Bitte. Ich heiße Leah.
Leah ist diesen fünf Quadratkilometern der Stadt so treu verbunden wie andere Leute ihrer Familie oder ihrem Vaterland. Sie weiß, wie die Leute hier reden, dass scheiß in dieser Gegend einem Satz einfach Rhythmus gibt. Sie ordnet ihre Miene so, dass sie Mitleid ausdrückt. Shar schließt die Augen, nickt. Sie macht rasche Bewegungen mit dem Mund, spricht mit sich selbst, unhörbar. Zu Leah sagt sie
– Sie sind ’n guter Mensch.
Shars Zwerchfell hebt und senkt sich jetzt langsamer. Das Tränenzittern lässt nach.
– Danke, ja? Sie sind ’n guter Mensch.
Shars kleine Hände umklammern die Hände, die sie halten. Shar ist winzig. Ihre Haut wirkt trocken, wie Pergament, Spuren von Schuppenflechte an Stirn und Kinn. Das Gesicht vertraut. Leah hat es schon oft auf der Straße gesehen. Eine Eigenheit der Londoner Dörfer: Gesichter ohne Namen. Die Augen einprägsam, rund um das dunkle Braun sieht man helles Weiß, oben wie unten. Ein gieriger Ausdruck, als wollte sie alles verschlingen, was sie sieht. Lange Wimpern. So sehen Babys aus. Leah lächelt. Das Lächeln, das zurückkommt, ist ausdruckslos, zeigt kein Erkennen. Niedlich schief. Leah ist nur die gute Fremde, die die Tür geöffnet und nicht wieder zugeschlagen hat. Immer wieder sagt Shar: Sie sind’n guter Mensch, ’n guter Mensch – so lange, bis der Genussfaden reißt, der sich durch den Satz zieht (natürlich liegt für Leah ein gewisser Genuss darin). Leah schüttelt den Kopf. Nein, nein, nein, nein.
Leah dirigiert Shar in die Küche. Große Hände auf den schmalen Mädchenschultern. Sie betrachtet Shars Pobacken, die sich über den Bund der runtergerollten Jogginghose wölben, die kleine, flaumige Kuhle unten am Rücken, stark ausgeprägt und verschwitzt von der Hitze. Die schmale Taille, die in Kurven übergeht. Leah, schlaksig wie ein Junge, hat kaum Hüften. Vielleicht braucht Shar ja Geld. Sauber sind die Klamotten nicht. An der rechten Kniekehle hat der schäbige Stoff einen langen Riss. Dreckige Fersen schauen aus halb kaputten Flip-Flops. Sie riecht.
– Herzinfarkt! Ich frag die ganze Zeit: Stirbt sie? Stirbt sie? Stirbt sie? Die fahren sie im Krankenwagen weg – aber krieg ich vielleicht ’ne Antwort? Ich hab drei Kinder daheim, die sind jetzt allein, ja – ich muss zum Krankenhaus – und die labern nur was von Auto. Ich hab kein Auto! Ich so: Helfen Sie mir – aber kein Mensch rührt ’nen scheiß Finger, um mir zu helfen.
Leah fasst Shar am Handgelenk, setzt sie auf einen Stuhl an den Küchentisch und drückt ihr die Küchenrolle in die Hand. Wieder legt sie ihr die Hände auf die Schultern. Ihre Stirnen berühren sich beinahe.
– Schon gut, ich versteh’s ja. Welches Krankenhaus?
– Das … ich hab’s nicht aufgeschrieben … In Middlesex oder so – jedenfalls weit weg. Weiß nicht genau.
Leah drückt Shar die Hände.
– Also, ich habe kein Auto – aber …
Blick auf die Uhr. Zehn vor fünf.
– Wenn Sie vielleicht noch so zwanzig Minuten warten? Wenn ich ihn gleich anrufe, dann ist er … Oder vielleicht ein Taxi …
Shar löst die Hände aus Leahs Griff. Sie presst die Fingerknöchel an die Augen, atmet tief aus: Die Panik ist vorbei.
– Ich muss da hin … Aber ich hab keine Nummer – nix – kein Geld …
Shar rupft sich mit den Zähnen ein Stückchen Haut vom rechten Daumen. Etwas Blut quillt hervor und verharrt. Leah fasst Shar wieder am Handgelenk. Zieht ihr die Finger aus dem Mund.
– Vielleicht das Middlesex? So heißt das Krankenhaus, nicht der Ort. Richtung Acton, oder?
Die Miene des Mädchens ist verträumt, verlangsamt. Touched, sagt man in Irland. Wunderlich. Möglich, dass sie ein wenig wunderlich ist.
– Ja … kann sein … doch, nein, doch, stimmt. Das Middlesex. Stimmt.
Leah richtet sich auf, zieht das Handy aus der Gesäßtasche und wählt.
– ICH KOMM MORGEN VORBEI.
Leah nickt, und Shar redet weiter, ohne Rücksicht auf das Telefonat.
– ICH ZAHL’S ZURÜCK. MORGEN KRIEG ICH MEINEN SCHECK, JA?
Leah lässt das Telefon am Ohr, lächelt, nickt, gibt ihre Adresse durch. Sie mimt Teetrinken. Doch Shar schaut auf die Apfelblüten. Mit dem Saum ihres schmuddeligen T-Shirts wischt sie sich Tränen aus dem Gesicht. Ihr Nabel ist ein fester Knoten, bündig mit der Bauchdecke, ein auf einen Diwan genähter Knopf. Leah gibt ihre eigene Nummer an.
– Das wär’s.
Sie wendet sich zur Anrichte, greift mit der freien Hand nach dem Wasserkocher und lässt ihn fast fallen, weil sie dachte, er wäre leer. Etwas Wasser schwappt heraus. Sie stellt den Kocher wieder auf seinen Sockel und bleibt, wo sie ist, mit dem Rücken zu ihrem Gast. Einen anderen Platz, an dem sie ganz selbstverständlich sitzen oder stehen könnte, gibt es nicht. Vor ihr, auf der langen Fensterbank, die sich durch den ganzen Raum zieht, ein paar Dinge aus ihrem Leben: Fotos, Schnickschnack, ein wenig Asche ihres Vaters, Vasen, Pflanzen, Kräuter. In der Spiegelung der Scheibe zieht Shar die kleinen Füße auf die Sitzfläche, umfasst die Knöchel. Die Notsituation war weniger peinlich, viel natürlicher als das jetzt. In diesem Land macht man Fremden keinen Tee. Sie lächeln sich in der Scheibe an. Der gute Wille ist da. Es gibt nur nichts zu sagen.
– Ich hol mal Tassen.
Leah benennt jede ihrer Handlungen. Sie macht den Schrank auf. Er ist voller Tassen – Tassen über Tassen.
– Schönes Haus.
Leah dreht sich zu schnell um, macht fahrige Bewegungen mit den Händen.
– Gehört uns nicht – wir wohnen zur Miete – nur diese Wohnung hier, drüber sind noch zwei. Der Garten ist für alle. Es sind Sozialwohnungen, also …
Während Leah den Tee aufgießt, sieht Shar sich um. Mit hängender Unterlippe und leichtem Nicken. Anerkennend, wie eine Immobilienmaklerin. Dann ist Leah dran. Was gibt es da zu sehen? Knittriges kariertes Flanellhemd, verschlissene Jeans-Shorts, sommersprossige Beine, nackte Füße – eine lächerliche Person womöglich, eine, die auf der faulen Haut liegt, ein Luxusweibchen. Leah verschränkt die Arme vor dem Bauch.
– Nich schlecht für sozial. Viele Zimmer und so?
Die Lippe hängt immer noch. Dadurch nuschelt sie ein bisschen. Irgendwas stimmt nicht mit Shars Gesicht, bemerkt Leah, dann schämt sie sich, weil sie es bemerkt, und schaut weg.
– Drei. Das dritte ist nur eine Kammer. Das nehmen wir als …
Shar grübelt schon wieder über etwas ganz anderem; sie ist nicht so schnell wie Leah, aber jetzt ist sie da, jetzt sind sie beide gleichauf. Sie hält Leah den ausgestreckten Zeigefinger ins Gesicht.
– Moment mal … du warst auf der Brayton?
Sie hüpft auf dem Stuhl herum. Euphorisch? Das kann ja nicht sein.
– Ich schwör, als du eben telefoniert hast, dacht ich mir: Ich kenn die. Du warst auf der Brayton!
Leah lehnt sich mit einer Pobacke an die Anrichte und nennt ein paar Daten. Shar interessiert sich nicht für Jahreszahlen. Sie will wissen, ob Leah sich erinnert, wie der Naturwissenschaftsflügel unter Wasser stand und wie sie Jake Fowler damals mit dem Kopf in die Schraubzwinge gesteckt haben. Als wären es Mondlandungen und verstorbene Präsidenten, bestimmen sie anhand dieser Koordinaten ihre jeweilige Schulzeit.
– Zwei Jahre unter dir, ja? Wie heißt du noch?
Leah kämpft mit dem klemmenden Deckel einer Keksdose.
– Leah. Hanwell.
– Leah. Du warst auf der Brayton. Siehst du noch wen?
Leah zählt Namen auf, nebst Kurzbiografie. Shar trommelt rhythmisch mit den Fingern auf die Tischplatte.
– Bist du schon lange verheiratet?
– Viel zu lang.
– Soll ich jemanden für dich anrufen? Deinen Mann vielleicht?
– Nee … nee … der ist weg. Hab ihn zwei Jahre nicht gesehen. Hat gebrüllt. Und geprügelt. Und Probleme hatte der. Jede Menge Probleme, im Kopf und so. Hat mir den Arm zerdeppert, das Schlüsselbein, die Kniescheibe, mein ganzes scheiß Gesicht. Ich sag dir was …
Das Nächste wird leichthin zur Seite gesprochen, mit einem kleinen, glucksenden Lachen, und ist unfassbar.
– Vergewaltigt hat er mich und alles … voll der Irrsinn. Aber na ja.
Shar rutscht vom Stuhl und geht zur Hintertür. Schaut in den Garten, auf den verdorrten gelben Rasen.
– Das tut mir wirklich leid.
– Kannst du doch nichts dafür! Ist halt so.
Dieses Gefühl, sich lächerlich zu fühlen. Leah schiebt die Hände in die Hosentaschen. Der Wasserkocher klickt.
– Im Ernst, Lieja, ich würd lügen, wenn ich sage, es war leicht. Es war echt hart. Aber. Ich hab’s geschafft. Ich leb noch. Und ich hab drei Kinder! Sieben ist das Jüngste. Ist also doch was Gutes bei rumgekommen, verstehst du?
Leah nickt zum Wasserkocher hin.
– Hast du Kinder?
– Nein. Nur einen Hund, Olive. Der ist gerade bei meiner Freundin Nat. Natalie Blake? Wobei, in der Schule hieß sie noch Keisha. Jetzt heißt sie Natalie De Angelis. Aus meinem Jahrgang. So ein Riesen-Afro …
Leah formt einen Atompilz um ihren Kopf. Shar runzelt die Stirn.
– Ja. Voll arrogant. So ’ne Kokosnuss. Außen braun, innen weiß. Hat sich für sonst was gehalten.
Ein Ausdruck nackter Abscheu tritt auf Shars Gesicht. Leah redet mitten hinein.
– Sie hat jetzt Kinder. Wohnt gleich da drüben, im schickeren Teil, am Park. Sie ist Anwältin. Barrister. Ist das eigentlich das Gleiche? Wahrscheinlich schon. Ach ja, sie haben zwei Kinder. Und die Kinder lieben Olive, so heißt mein Hund, Olive.
Sie sagt einfach einen Satz nach dem anderen, es hört nicht mehr auf.
– Ach ja, ich bin übrigens schwanger.
Shar lehnt sich an die Türscheibe. Kneift ein Auge zu, fixiert Leahs Bauch.
– Oh, noch ganz am Anfang. Ganz am Anfang. Ach ja, eigentlich weiß ich es erst seit heute Morgen.
Ach ja ach ja ach ja. Shar nimmt die Offenbarung gelassen.
– ’n Junge?
– Nein, ich meine … so weit bin ich doch noch gar nicht.
Leah wird rot, sie hat nicht vorgehabt, von dieser heiklen, unvollendeten Sache zu erzählen.
– Weiß es dein Mann schon?
– Ich habe heute früh den Test gemacht. Dann bist du gekommen.
– Wünsch dir ’n Mädchen. Jungs sind die Hölle.
Shars Miene ist finster. Sie grinst teuflisch. Rund um ihre Zähne ist das Zahnfleisch schwarz. Sie kommt zurück zu Leah und legt ihr beide Hände flach auf den Bauch.
– Lass mal fühlen. Ich kann so was vorhersagen. Egal, wie früh. Na komm. Ich tu dir schon nichts. Ist wie ’ne Gabe. Hab ich von meiner Mutter. Na komm.
Sie greift nach Leah und zieht sie zu sich. Leah lässt sie. Shar legt die Hände wieder auf ihren Bauch.
– Das wird ’n Mädchen, das ist sicher. Und Skorpion noch dazu, na, viel Spaß. ’ne kleine Kanone.
Leah lacht. Zwischen den verschwitzten Händen der anderen und ihrem eigenen klammen Bauch spürt sie Hitze aufsteigen.
– Eine Sportskanone, meinst du?
– Nee … eine, die schnell explodiert. Wirst du ständig im Auge behalten müssen.
Shar lässt die Hände sinken, und wieder überzieht Langeweile ihr Gesicht. Jetzt redet sie. Alles ist gleichwertig: Leah, Tee, Vergewaltigung, Zimmerzahl, Herzinfarkt, Schule, wer jetzt Kinder hat.
– Diese Schule … Die war ja echt Mist, aber die Leute, die da waren … ein paar von denen haben’s echt zu was gebracht, oder? Calvin zum Beispiel – sagt dir Calvin noch was?
Leah schenkt Tee ein, nickt eifrig. Calvin sagt ihr gar nichts.
– Der hat jetzt so ’n Fitnessstudio an der Finchley Road.
Leah rührt mit dem Löffel im Tee, den sie sonst nie trinkt, erst recht nicht bei so einem Wetter. Sie hat den Teebeutel zu fest ausgedrückt. Die Blätter verlassen die Festung, schwärmen aus.
– Und das gehört ihm richtig! Ich komm da manchmal vorbei. Hätt ich nie gedacht, dass der kleine Calvin mal den Arsch hochkriegt – der hing doch immer mit Jermaine und Louie und Michael rum. War ’n übler Haufen … Von denen treff ich keinen mehr. So viel Drama brauch ich nicht. Aber Nathan Bogle seh ich noch. Und früher Tommy und James Haven, aber die hab ich in letzter Zeit nicht mehr gesehen. Ewig nicht.
Shar redet weiter. Die Küche kippt, und Leah hält sich mit einer Hand an der Anrichte fest.
– Entschuldige, was?
Shar runzelt die Stirn, spricht an der Zigarette vorbei, die sie im Mund hat.
– Ich hab gesagt, gibst du mir mal den Tee?
Wie alte Freundinnen an einem Winterabend sehen sie aus, beide Hände um die Becher gelegt. Die Tür ist offen, alle Fenster sind auf. Die Luft steht. Leah zieht an ihrem Hemd und löst es mit einem Schütteln von der Haut. Eine Öffnung entsteht, Luft schießt hindurch. Der Schweiß, der sich unter den Brüsten gesammelt hat, hinterlässt beschämende Spuren auf dem Baumwollstoff.
– Früher war ich mal … also …
Leah tastet sich mit künstlichem Zögern voran und schaut dabei tief in ihren Becher, doch Shar hat kein Interesse, sie trommelt an den Glaseinsatz der Tür, redet einfach über sie hinweg.
– Aber in der Schule hast du echt anders ausgesehen. Jetzt gefällst du mir besser. Du warst immer so rothaarig und knochig. Voll die Bohnenstange.
Das ist Leah alles immer noch. Geändert haben müssen sich wohl die anderen – oder die Zeiten.
– Hast es aber weit gebracht. Warum bist du nicht auf Arbeit? Was machst du noch gleich?
Shar nickt bereits, bevor Leah antwortet.
– Ich hab mich krankgemeldet. Mir ging’s nicht gut. Ich arbeite sozusagen in der Verwaltung. Für einen guten Zweck. Wir verteilen Geld. Lotterieeinnahmen, die gehen dann an karitative und gemeinnützige Einrichtungen – an kleine kommunale Unternehmen, die Unterstützung brauchen …
Sie hören ihrem eigenen Gespräch nicht zu. Die Frau aus der Siedlung steht immer noch auf dem Balkon und brüllt. Shar schüttelt den Kopf, pfeift. Schenkt Leah einen Blick nachbarschaftlichen Mitleids.
– Blöde fette Kuh.
Von der Frau aus zeichnet Leah mit den Fingern einen Springerzug in die Luft. Zwei Stockwerke hoch, ein Fenster weiter.
– Da bin ich geboren.
Von dort hierher, ein weiterer Weg, als man denkt. Eine Sekunde lang fesselt dieses regionale Detail Shars Aufmerksamkeit. Dann schaut sie weg, ascht auf den Küchenboden, obwohl die Tür offen ist und der Rasen keinen Meter entfernt. Vielleicht ist sie etwas beschränkt, bestimmt auch unbeholfen, oder aber einfach traumatisiert oder zerstreut.
– Ganz schön weit gebracht. Gute Wohnung. Wahrscheinlich auch massig Freunde, Freitagabend auf die Piste und so.
– Nicht direkt.
Shar stößt eine kleine Rauchwolke aus und macht einen irgendwie wehmütigen Laut, nickt dabei immer wieder mit dem Kopf.
– Voll vornehm, die Straße hier. Du bist die Einzige, die mich reingelassen hat. Der Rest würd einen nicht mal mit dem Arsch angucken.
– Ich muss nach oben. Geld holen fürs Taxi.
Leah hat Geld in der Hosentasche. Oben geht sie ins nächstbeste Zimmer, das Klo, schließt die Tür, setzt sich auf den Boden und heult. Sie streckt das Bein aus und schubst mit dem Fuß die Klopapierrolle aus der Halterung. Als sie sie gerade zu sich herrollt, klingelt es.
– SKLINGELT! SKLINGELT! SOLL ICH?
Leah steht auf, versucht, sich an dem kleinen Handwaschbecken die Röte wegzuspülen. Sie findet Shar im Flur, vor einem Regal mit Büchern aus der Uni. Shar fährt mit dem Finger die Buchrücken entlang.
– Hast du die alle gelesen?
– Nein, nicht alle. Inzwischen hab ich gar nicht mehr die Zeit.
Leah nimmt den Schlüssel von seinem Platz im mittleren Regalfach und öffnet die Haustür.
Sie versteht gar nichts mehr. Der Fahrer, der am Törchen steht, macht eine Handbewegung, die sie nicht kapiert, zeigt zum anderen Ende der Straße und geht los. Shar folgt ihm. Leah folgt ihr. Sie entwickelt eine völlig neue Ergebenheit.
– Wie viel brauchst du?
Ein Schatten von Bedauern fällt auf Shars Gesicht.
– Zwanzig? Dreißig … zur Sicherheit.
Sie raucht ohne Hände, presst den Qualm aus einem Mundwinkel.
Das unbändige Schäumen der Kirschblüten. In einem Korridor aus Rosa taucht Michel auf, er kommt auf der anderen Seite die Straße entlang. Zu heiß für ihn – sein Gesicht ist patschnass. Das kleine Handtuch, das er an solchen Tagen immer bei sich hat, schaut aus seiner Tasche hervor. Leah reckt einen Finger in die Luft, bittet ihn damit, zu bleiben, wo er ist. Sie deutet auf Shar, die hinter dem Wagen nicht zu sehen ist. Michel ist kurzsichtig; er blinzelt in ihre Richtung, bleibt stehen, grinst unbehaglich, zieht sein Sakko aus, legt es sich über den Arm. Leah sieht ihn an seinem T-Shirt herumzupfen, die letzten Reste des Arbeitstags abschütteln: zahllose winzige Härchen, Schnipsel von Fremden, manche blond, manche braun.
– Wer ist das?
– Michel, mein Mann.
– Der heißt wie ’ne Frau?
– Er ist Franzose.
– Aber hübsch – das gibt hübsche Babys!
Shar zwinkert: die eine Gesichtshälfte grotesk verzerrt.
Shar wirft die Zigarette weg und steigt in den Wagen, lässt die Tür offen. Das Geld verbleibt in Leahs Hand.
– Ist er auch von hier? Kommt mir bekannt vor.
– Er arbeitet in dem Friseursalon, an der Station. Er ist Franzose – aus Marseille. Aber schon ewig hier.
– Und Afrikaner.
– Ursprünglich, ja. Hör mal – willst du, dass ich mitkomme?
Shar schweigt einen Moment. Dann steigt sie wieder aus und umfasst Leahs Gesicht mit beiden Händen.
– Du bist echt ’n guter Mensch. Das war Schicksal, dass ich bei dir gelandet bin. Im Ernst! Du bist spirituell. Du hast was Spirituelles in dir.
Leah umfasst Shars kleine Hand und überlässt sich einem Kuss. Shars Mund an ihrer Wange ist leicht geöffnet beim Dan- und schließt sich dann wieder im -ke. Und Leah antwortet etwas, was sie noch nie im Leben gesagt hat: Gott schütze dich. Sie lösen sich voneinander – Shar weicht verlegen zurück und dreht sich zum Wagen, ist schon halb fort. Fast trotzig drückt Leah ihr das Geld in die Hand. Doch schon jetzt droht das Erhabene des Erlebens zum Konventionellen, Anekdotischen zu verflachen: nur dreißig Pfund, nur eine kranke Mutter, kein Mord, auch keine Vergewaltigung. Nichts überlebt im Erzählen.
– Wahnsinnswetter.
Shar nimmt ihren Schal, um sich den Schweiß vom Gesicht zu tupfen, und sieht Leah nicht mehr an.
– Morgen komm ich vorbei. Ich zahl’s zurück. Ich schwör bei Gott, ja? Danke, im Ernst. Du hast mich echt gerettet heute.
Leah zuckt die Achseln.
– Na komm, jetzt sei nicht so, ich schwör’s – ich komm vorbei, im Ernst.
– Ich hoffe nur, sie wird wieder gesund. Deine Mutter.
– Morgen, ja? Danke!
Die Tür geht zu. Der Wagen fährt ab.
Für alle liegt es auf der Hand, nur nicht für Leah. Für ihre Mutter liegt es auf der Hand.
– Seit wann bist du bloß so naiv?
– Sie war verzweifelt. Ehrlich.
– Ich war auch verzweifelt, damals in der Grafton Street, und in der Buckley Road war ich verzweifelt, wir waren alle verzweifelt. Aber deswegen haben wir noch lange keinen bestohlen.
Knisternde Wolken aus Seufzern. Leah sieht sie praktisch vor sich: der flatternde schneeweiße Pony, der wogende geblümte Busen. Ihre Mutter ist zu einer gut gefiederten irischen Eule geworden. So hockt sie hier in Willesden, immer noch, lebenslang.
– Dreißig Pfund! Dreißig Pfund für eine Taxifahrt ins Middlesex. Das ist doch nicht Heathrow. Wenn du schon Geld zum Fenster rauswirfst, sorg mal dafür, dass es in meine Richtung fliegt.
– Vielleicht kommt sie ja doch noch wieder.
– Eher kommt der Heiland höchstpersönlich als die! Erst am Wochenende hatte ich wieder zwei von denen hier, seh sie schon die Straße hochkommen und überall klingeln. Crack. Sah man meilenweit. Scheußliche Angewohnheit! Jeden Tag seh ich die hier, an der Station. Jenny Fowler vorn an der Ecke hat mal einer aufgemacht – zugedröhnt bis dorthinaus, hat sie erzählt. Dreißig Pfund! Das hast du von deinem Vater. Kein Mensch mit meinem Blut in den Adern würde auf so was Idiotisches reinfallen. Was sagt überhaupt dein Michael dazu?
Letztendlich leichter, Michael durchgehen zu lassen, als sich anzuhören, wie Mieh-schell ihren Mundraum füllt wie ein schlechter Geschmack auf der Zunge.
– Dass es idiotisch war.
– Und genau das war es auch. Seinesgleichen führt man nicht so leicht hinters Licht.
Alles Nigerianer, alle; auch wenn es sich um Franzosen oder Algerier handelt, sind sie Nigerianer, weil sich für Pauline im Grunde ganz Afrika auf Nigeria beschränkt, und der Nigerianer an sich ist ein Schlitzohr, ihm gehört in Kilburn alles, was früher einmal irisch war, sogar fünf der Pflegekräfte aus Paulines Team sind Nigerianer, obwohl das früher alles Iren waren, zumindest hält Pauline sie für Nigerianer, und man kommt ja auch bestens mit ihnen aus, man darf sie nur keine Sekunde aus den Augen lassen. Leah legt den Daumennagel an ihren Ehering. Drückt fest dagegen.
– Er will da vorbeigehen.
– Das ist ja auch sein gutes Recht! Du hast dich schließlich vor der eigenen Haustür von einer Zigeunerin ausrauben lassen!
Alles wird in brauchbare Begriffe übersetzt.
– Falsch. Vorderasiatin.
– Also Inderin.
– Grob die Gegend. Zweite Einwanderergeneration. Angehört hat sie sich aber original englisch.
– Aha.
– Sie war auf meiner Schule! Stand heulend vor meiner Tür!
Noch eine knisternde Wolke.
– Manchmal glaube ich ja, das ist alles nur, weil du allein warst. Wenn wir mehr Kinder gehabt hätten, hättest du auch mehr darüber gelernt, wie die Menschen wirklich sind.
Egal, wo Leah ansetzt, Pauline kommt immer wieder an diesen Punkt. Die ganze Geschichte wird durchgekaut: von Dublin nach Kilburn, eine der wenigen protestantischen Auswanderer, damals gehörten die meisten ja zum anderen Lager. Im Krankenhaus gearbeitet, klar, so wie all die jungen Frauen. Mit den O’Rourke-Brüdern hat sie geflirtet, den Maurern, aber sie wollte höher hinaus, mit ihrem kastanienbraunen Haar und den zarten Zügen, und Hebamme war sie ja auch schon. Zu lang gewartet. Schließlich ein spätes Nest mit einem ruhigen Witwer, einem Engländer, der keinen Alkohol anrührte. Die O’Rourkes inzwischen Baustoffhändler, die halbe Kilburn High Road gehörte ihnen. Da hätte sie ein bisschen Saufen schon in Kauf genommen. Zum Glück hat sie sich umschulen lassen (Röntgenassistentin). Wo wäre sie sonst heute? Die Geschichte, früher streng rationiert, ein paarmal im Jahr zum Besten gegeben, sprengt heute jedes Telefonat, auch dieses, bei dem es eigentlich gar nicht um Pauline geht. Die Zeit wird der Mutter knapp, sie hat nur noch einen kurzen Weg vor sich. Sie will die Vergangenheit zusammenpressen, klein genug, um sie mitzunehmen. Die Tochter hat die Aufgabe, zuzuhören. Darin ist sie gar nicht gut.
– Waren wir zu alt? Warst du einsam?
– Ich bitte dich, Mum.
– Ich meine ja nur, du hättest das Wesen des Menschen vielleicht besser durchschaut. Gibt es denn was Neues an der Front?
– Welcher Front?
– An der Oma-Front. Da, wo die biologische Uhr tickt.
– Die tickt weiter.
– Na ja. Mach dir nicht zu viele Sorgen, Schatz. Es kommt, wenn es kommen soll. Ist Michael da? Gibst du ihn mir mal?
Zwischen Pauline und Michel herrscht nichts als Misstrauen und Unverständnis, bis auf jene seligen Situationen, früher selten, inzwischen aber immer häufiger, wenn Leah sich idiotisch verhalten hat und dieser Umstand aus Erzfeinden Verbündete macht. Pauline aufgebracht, knallrot und laut. Michel bewaffnet mit seiner kleinen Sammlung hart erkämpfter Redewendungen, dem kostbarsten Besitz eines jeden Einwanderers: unterm Strich, du weißt schon, als wär das noch nicht genug, und ich sag noch, und ich so, der war gut, den muss ich mir merken.
– Unfassbar. Ich sag dir, Pauline, ich wünschte, ich wäre da gewesen. Ich wünschte wirklich, ich wäre da gewesen.
Um der Unterhaltung zu entfliehen, geht Leah in den Garten. Ned von oben liegt in Leahs Hängematte, die der Allgemeinheit gehört und folglich gar nicht Leahs Hängematte ist. Ned raucht sein Gras unter dem Apfelbaum. Die bereits ergrauende Löwenmähne, gezähmt von einem gewöhnlichen Gummiband. Auf seinem Bauch liegt eine alte Leica und wartet darauf, dass über London NW die Sonne untergeht, denn die Sonnenuntergänge sind in diesem Teil der Welt von seltsamer Intensität. Leah nähert sich dem gemeinsamen Baum und macht das Victoryzeichen.
– Kauf dir selber was.
– Ich kiff nicht mehr.
– So siehst du aus.
Ned steckt ihr den Joint zwischen die gespreizten Finger. Sie zieht kräftig daran, es kratzt in der Kehle.
– Langsam. Das ist aus Afghanistan. Psychoaktiv!
– Ich bin auch schon groß.
– Achtzehn Uhr dreiundzwanzig heute. Wird immer länger.
– Bis es wieder kürzer wird.
– Wow!
Fast alles, was Leah zu ihm sagt, findet Ned irgendwie philosophisch, so sachlich oder banal es auch sein mag. Als ernsthafter Kiffer erstarrt die Zeit um ihn. Die einfachsten Dinge nehmen eine unermessliche Bedeutung an. Leah hat das Gefühl, als wäre er achtundzwanzig geblieben, seit sie sich vor zehn Jahren kennengelernt haben.
– Hey, ist dein Besuch noch mal aufgetaucht?
– Nein.
Das geht Ned gegen die optimistische Natur. Leah sieht ihm dabei zu, wie er vergeblich nach einer passenden Erklärung sucht.
– Pünktlich auf die Minute. Und was für ’ne Schönheit!
Leah sieht nach oben. Der Himmel hat sich rosa verfärbt. Die Einflugschneisen von Heathrow malen weiße Streifen hinein. In der Küche hat Michel seinen Spaß.
– Der ist gut. Den muss ich mir merken. Du liebe Zeit!
Der junge Sikh langweilt sich. Schweiß läuft ihm aus dem Turban. Er schaut auf den Ladentisch seines Vaters, wo eine Taschenladung Kleingeld versucht, auf den Preis von zehn Rothmans zu kommen. Ein billiger Ventilator surrt ohne Sinn. Leah langweilt sich ebenfalls, sieht Michel dabei zu, wie er Backwaren betastet, die ihm ohnehin nicht schmecken werden, die niemals so gut sein werden wie in Frankreich. Das liegt daran, dass sie im Hinterzimmer eines Kiosks gleich an der Willesden Lane aufgebacken wurden. Richtige Croissants kriegt man sonntags auf dem Biomarkt, auf dem Hof von Leahs alter Grundschule. Heute ist Dienstag. Von ihren neuen Nachbarn weiß Leah, dass die Quinton Primary zwar gut genug ist, um dort Croissants zu kaufen, aber keineswegs gut genug, um seine Kinder dorthin zu schicken. Olive staubsaugt die Krümel vom Ladenboden. Auch sie ist im Ansatz französisch, so wie Michel. Ihr Großvater hat mal einen Preis in Paris gewonnen. Anders als Michel ist sie bei Croissants aber nicht pingelig. Weiß-orange, mit seidigen Renaissanceohren. Albern und angebetet.
– müssen endlich zu einem richtigen Arzt gehen. In eine Klinik. Wir versuchen es doch ständig. Aber nichts. Du wirst dieses Jahr fünfunddreißig.
Französisch ausgesprochen: nischts. Früher waren sie gleich alt. Jetzt altert Leah in Hundejahren. Ihre Fünfunddreißig zählen siebenmal mehr als seine und sind siebenmal wichtiger, so wichtig, dass er ihr die Zahl ständig in Erinnerung rufen muss, falls sie sie vergessen sollte.
– Wir können uns keine Klinik leisten. Was denn überhaupt für eine Klinik?
Die kleine Gestalt an der Theke dreht sich um. Zuerst, vor allen anderen, lächelt sie Leah an, aus dem Impuls heraus, der Erkennen mit Freude verbindet, doch gleich darauf, als es ihr wieder einfällt, beißt sie sich auf die Lippe, streckt die Hand nach der Tür, lässt die kleine Glocke klingeln.
– Das ist sie. Das war sie. Die gerade Zigaretten gekauft hat.
Leah rechnet mit einer gelungenen Flucht. Aber Shar hat kein Glück. Sie haben beide keines. Eine ältere Frau von beträchtlichen Ausmaßen kommt gerade herein, als Shar verschwinden will. Sie vollführen ein peinliches Tänzchen im Türrahmen. Michel ist schnell und unerschrocken und lässt sich nicht aufhalten.
– Diebin! Du Diebin! Wo ist unser Geld?
Leah greift nach dem anklagend ausgestreckten Finger und zieht ihn nach unten. Jede einzelne Sommersprosse glüht, und die Röte arbeitet sich den Hals hoch, überflutet ihr Gesicht. Shar beendet das Tänzchen. Rempelt die nette Dame aus dem Weg. Und rennt.
Leah glaubt an Sachlichkeit im Schlafzimmer.
Hier liegen ein Mann und eine Frau. Der Mann ist schöner als die Frau. Aus diesem Grund gab es Zeiten, da befürchtete die Frau, den Mann mehr zu lieben als er sie. Er hat das immer bestritten. Er kann allerdings nicht bestreiten, dass er schöner ist. Für ihn ist es leichter, schön zu sein. Er hat sehr dunkle Haut, die langsamer altert. Er hat die solide westafrikanische Knochenstruktur. Hier liegt ein Mann nackt auf einem Bett. In Die Verachtung liegt Brigitte Bardot nackt auf einem Bett. Wäre dieser Mann bloß wie Brigitte Bardot, die nie Kinder bekommen hat und Tiere vorzieht. Dafür ist sie allerdings in anderen Punkten unflexibel. Die Frau versucht, mit dem Mann, mit dem sie verheiratet ist, über die verzweifelte junge Frau zu reden, die bei ihr geklingelt hat. Was soll das heißen, sie hat gelogen? War es denn gelogen, dass sie verzweifelt war? Sie war schließlich verzweifelt genug, um zu klingeln. Ihr Mann begreift nicht, warum das die Frau so beschäftigt. Aber ihm fehlt ja auch eine entscheidende Information. Er kann der verborgenen weiblichen Logik unmöglich folgen. Er kann nur versuchen, ihr zuzuhören. Ich will einfach wissen, ob ich das Richtige getan habe, sagt die Frau, ich weiß einfach nicht, ob ich
Da unterbricht sie der Mann und sagt
– Hast du noch den Stecker für das Dings bei dir drüben? Meiner ist weg. Was willst du denn tun? Das ist eben so. Eine Cracksüchtige, die klaut. So spannend ist das auch wieder nicht. Komm her, dann
Als sie sich kennenlernten, der Mann und die Frau, da war die körperliche Anziehung unmittelbar und überwältigend. Das ist immer noch so. Wegen dieser ungewöhnlich heftigen Anziehung haben sie eine komische Chronologie. Erst kam immer das Körperliche.
Bevor er sie ansprach, hatte er ihr schon zweimal die Haare gewaschen.
Bevor sie den Nachnamen des anderen wussten, hatten sie schon Sex.
Bevor sie vaginalen Sex hatten, hatten sie schon Analsex.
Bevor sie einander heirateten, hatten beide mehrere Dutzend Sexualpartner. Klubromanzen, Quickies auf Ibiza. Die Neunziger, dieses rauschhafte Jahrzehnt! Sie hatten geheiratet, obwohl sie nicht zu heiraten brauchten und obwohl sie sich beide geschworen hatten, das nie zu tun. Schwer zu sagen, warum sie bei dieser ganz speziellen Variante der »Reise nach Jerusalem« schließlich beieinandergeblieben waren. Es hatte etwas mit Gutmütigkeit zu tun. Auf der Tanzfläche der Klubs fand man vieles, aber Gutmütigkeit war selten dabei. Ihr Mann war gutmütiger als jeder andere, den Leah Hanwell kannte, mit Ausnahme ihres Vaters. Und dann waren sie selbst ganz überrascht, wie konventionell sie eigentlich waren. Die Hochzeit machte Pauline Freude. Sie beruhigte Michels besorgte Eltern. Und sie freuten sich, dass ihre Familien sich freuten. Darüber hinaus besaßen die Eigennamen »Mann« und »Frau« eine Macht, mit der keiner der Beteiligten gerechnet hätte. Falls das ein Voodoo-Zauber war, kam er ihnen gerade recht. Er sorgte dafür, dass sie nicht mehr im Kreis um leere Stühle herumtanzen mussten, dabei aber nie zuzugeben brauchten, dass sie das leid waren.
Es ging alles rasend schnell.
Sie waren einmal schwanger gewesen, vor ihrer Hochzeit, als sie gerade zwei Monate zusammen waren, und hatten abgetrieben.
Sie hatten geheiratet, bevor sie Freunde geworden waren, oder anders gesagt:
Ihre Hochzeit war der Auslöser ihrer Freundschaft.
Sie hatten geheiratet, bevor sie die vielen kleinen Unterschiedlichkeiten hinsichtlich Herkunft, Träumen, Bildung, Zielen bemerkten. Beispielsweise gibt es einen Unterschied zwischen den Zielen armer Leute aus der Stadt und den Zielen armer Leute vom Land.
Als ihr diese Unterschiede auffielen, war Leah in gewisser Weise von sich selbst enttäuscht, weil dadurch keine echten Konflikte zwischen ihnen entstanden. Es war nicht leicht, sich damit abzufinden, dass der körperliche Genuss, den sie bei ihm fand und er bei ihr, so einfach die vielen anderen Vorbehalte aushebelte, die sie hatte oder hätte haben sollen oder glaubte, haben zu sollen.
– Vielleicht ist ihre Mutter ja gestorben. Dann war sie damit beschäftigt und hat es einfach nur vergessen. Oder sie hat es unter der Tür durchgeschoben, und es ist zwischen die ganze Werbung geraten, und Ned hat es weggeschmissen. Oder sie kriegt gerade einfach nicht so viel Geld zusammen.
– Na klar, Leah.
– Lass das.
– Was soll ich denn sonst sagen? Die Welt ist eben, wie sie ist.
– Wieso versuchen wir’s dann überhaupt?
Ganz sachlich gesehen ist eigentlich die Frau daran schuld, dass sie nie über Kinder gesprochen haben. Aus irgendeinem Grund ist sie nie auf den Gedanken gekommen, diese ganze Wahnsinnsvögelei könnte auf ein ganz bestimmtes, völlig offensichtliches Ziel zusteuern. Sie fürchtet sich vor diesem Ziel. Sachlich bleiben! Was ist das für eine Furcht? Sie hat mit Tod und Zeit und Altern zu tun. Ganz einfach: Ich bin achtzehn in meinem Kopf bin ich achtzehn und wenn ich nichts mache wenn ich mich einfach nur ganz ruhig verhalte dann ändert sich daran auch nichts und ich bleibe immer achtzehn. Für immer. Die Zeit steht still. Ich werde niemals sterben. Eine sehr banale Furcht. Die hat doch heutzutage jeder. Was noch? Sie ist einfach glücklich in dem Augenblick, in dem sie sich befinden. Sie hat das Gefühl, genau das zu verdienen, was sie hat, nicht mehr und nicht weniger. Mit jeder Veränderung riskiert sie, das Gleichgewicht gefährlich ins Wanken zu bringen. Warum muss sich dieser Augenblick denn verändern? Manchmal schneidet der Mann eine rote Paprika in der Mitte durch und leert die Samen in eine Plastikschüssel und gibt seiner Frau eine Zucchini zum Würfeln und sagt:
Hund.
Auto.
Wohnung.
So zusammen kochen.
Vor sieben Jahren hast du von Stütze gelebt. Ich habe Haare gewaschen.
Die Dinge ändern sich! Wir kommen voran, stimmt’s?
Die Frau weiß nicht, wo »voran« ist. Sie wusste gar nicht, dass sie aufgebrochen sind, und auch nicht, woher der Wind weht. Sie will nicht vorankommen. Wenn sie ehrlich ist, hat sie geglaubt, sie würden für immer nackt zwischen den Laken liegen und nie etwas anderes erreichen als Befriedigung. Wozu muss Liebe sich denn »weiterentwickeln«? Wo ist »weiter«? Kein Mensch kann behaupten, sie wäre nicht gewarnt worden. Das kann wirklich keiner behaupten. Eine Fünfunddreißigjährige, die mit dem Mann verheiratet ist, den sie liebt, ist nun wirklich gewarnt, sie sollte aufpassen, zuhören und nicht aus allen Wolken fallen, wenn ihr Mann sagt
– so viele Tage, an denen eine Frau fruchtbar ist. Nur drei, glaube ich. Es bringt also nichts, einfach zu sagen: ›Es kommt, wenn es kommen soll.‹ So jung sind wir nicht mehr. Wir müssen das ein bisschen, also, militärischer angehen, einen Plan machen und so.
Sachlich gesehen hat er recht.
Samstagmorgen. NUR KINKS DEN GANZEN TAG. Am Samstagmorgen verpasst Michel den Damen und Herren aus NW ihren Chic für den Samstagabendkick, damit sie frisch und ordentlich aussehen, und dort, im Salon, kann er seinen schwülstigen R&B voll aufdrehen, sein ganzes Oh baby oh shorty till six in the mawnin’ till the break a’dawn. Am Samstagmorgen ist sie frei! In der Schlafanzughose herumspringen, falsch mitsingen. Ned ist im Garten. Ned weiß laute Musik weißen Ursprungs zu schätzen. Er singt mit.