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Buffy, Charmeur und Gentleman der alten Schule, muss sich eingestehen, dass seine wilden Zeiten vorbei sind. Seine Ehen haben nicht gehalten, die Kinder sind längst aus dem Haus, und eine neue Liebe ist auch nicht in Sicht. Als er überraschend eine Frühstückspension im ländlichen Wales erbt, beschließt er, noch einmal von vorne anzufangen. Das allerdings ist leichter gesagt als getan: Um das heruntergekommene Myrtle House am Laufen zu halten, bedarf es einer kreativen Idee. Kurzerhand verwandelt Buffy es in einen »Club der gebrochenen Herzen«, einen Ort, der frisch Getrennten, Geschiedenen und Singles eine Auszeit unter Leidensgenossen und Nachhilfe in praktischer Lebensführung verspricht. In kürzester Zeit lockt Buffys Angebot die verschiedensten Gäste an: den schüchternen Harold, der von seiner Angetrauten für eine andere Frau verlassen wurde, die Maskenbildnerin Amy, die von ihrem Ökofreund sitzengelassen wurde, Andy, den hypochondrischen Postbeamten, dessen Freundin ihn heillos überforderte – und Monica, die sich nach Jahren als heimliche Geliebte fragt, ob sie für die Liebe überhaupt gemacht ist …

 Ein charmanter, frischer und überaus amüsanter Roman über Menschen, die – egal, ob jung oder alt – alle mit den Irrungen und Wirrungen des Herzens zu kämpfen haben und sich doch nur danach sehnen, glücklich zu sein …

 

Deborah Moggach, geboren 1948, lebt in London. Sie ist Autorin zahlreicher Romane, u. a. von Best Exotic Marigold Hotel, der auch als Kinofilm das Publikum begeisterte. Zudem schreibt sie Drehbücher; für das Skript der BBC-Verfilmung von Jane Austens Stolz und Vorurteil wurde sie mit einem BAFTA ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Society of Authors und des PEN. 2005 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der University of Bristol verliehen.

 

 

DEBORAH MOGGACH

CLUB DER

GEBROCHENEN

HERZEN

ROMAN

Aus dem Englischen

von Adelheid Dormagen

Insel Verlag

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2013

Deutsche Erstausgabe

© Insel Verlag Berlin 2013

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel

Heartbreak Hotel bei Chatto & Windus, London.

Copyright © Deborah Moggach, 2013

Umschlagfoto: Narratives/plainpicture

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen

Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk

und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Cornelia Niere, München

Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

 

eISBN 978-3-458-73127-6

www.insel-verlag.de

CLUB DER
GEBROCHENEN HERZEN

 

 

 

Für Mark, und für seine Stadt.

PERSONENÜBERSICHT

 

 

Russell Buffy Buffery war drei Mal verheiratet:

 

Zuerst mit Popsi (gestorben), mit der er einen Sohn hat: Quentin.

 

Dann mit Jacquetta (jetzt mit ihrem Psychoanalytiker Leon verheiratet), mit der er zwei Söhne hat: Bruno und Tobias. Jacquetta hatte schon eine Tochter: India.

 

Seine dritte Frau war Penny, die mit einem Fotografen weglief. Sie blieben kinderlos.

 

Buffy hat aber mit der Schauspielerin Lorna eine Tochter: Celeste.

 

Und noch eine zweite Tochter: Nyange, mit der Tänzerin Carmella.

ERSTES KAPITEL

Buffy

Alles kam wieder zurück. Buffy legte den Brief auf den Tisch und setzte sich schwerfällig. Bridies Lachen; ihr heiserer Raucherhusten. Sie könnte jetzt in ihrem fleckigen kimonoartigen Morgenrock um ihn herumwuseln. Er erinnerte sich an ihre geäderten Fesseln in den Pantoffeln; an die fröhliche Körperfülle, wie sie da stand und Speck brutzelte. Die Vergangenheit stieg ihm in die Nase; er konnte das Linoleum und die Katzen riechen, die benebelnden Düfte des Ascot-Badeöls über der Badewanne. Es war die Zeit der Eiderdaunendecken, des bullernden Gasofens und ihrer auf dem Kamingitter trocknenden Strümpfe.

Bridie führte eine Pension für Schauspieler in Edgbaston. Buffy hatte dort gewohnt, jahrein, jahraus, und war während eines Engagements am Birminghamer Repertoiretheater von einem geschmeidigen Heißsporn zu einem beleibten Falstaff mutiert. Bridie allerdings konnte das Alter nichts anhaben. Wie die meisten Dicken blieb sie dieselbe, Jahr für Jahr. Der Ansatz ihres hennagefärbten Haars war grau, sie hatte zwei neue Kniegelenke, aber sie glich weiterhin dem Mädchen, das er gekannt hatte, als er in Strumpfhose noch fesch aussah.

Einmal, er war betrunken, hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht.

»Liebling, nicht nur, dass du schon verheiratet bist, ich habe hier meine eigene Familie, schönsten Dank.« Sie schenkte ihm noch einen Whisky ein. »Pensionsgäste machen viel weniger Mühe als Kinder, selbst wenn es Schauspieler sind. Und außerdem bezahlen sie mich.«

»Spricht aber doch einiges dafür. Der himmlische Frieden eines Ehebetts, tralala, nach all dem Tumult der Chaiselongue.«

»Himmlischer Frieden, so ein Quatsch. Wir würden uns über die Regenrinne in die Haare kriegen.«

»Wo du es gerade erwähnst: Du solltest dich tatsächlich darum –«

»Halt die Klappe, du Blödian.«

Sie hatte natürlich Recht. Sie waren glücklich, so wie es war. Wer wusste schon, was sie anstellte, wenn er nicht da war? Er erinnerte sich an das Kästchen aus Krokodilleder, in dem sie ihr Diaphragma aufbewahrte, das Geschenk eines Gentleman-Verehrers. Sie war eine heißblütige Frau und von Natur aus entgegenkommend, und Schauspieler auf Tournee waren ziemlich gut im Flachlegen. Was gab es auch anderes zu tun, wenn man den ausgestopften Dachs im Heimatmuseum gesehen hatte?

Und jetzt war Bridie tot. Buffy war nach Weinen zumute. Er war Schauspieler, er konnte es auf ein Stichwort hin abrufen. Und bei Gott!, er hatte reichlich weinen müssen. Aber Schmerz ist am heftigsten, wenn widersprüchliche Gefühle ihn trüben – Missfallen, Schuld, Groll. Bridie war eine der wenigen Frauen, denen gegenüber er keinerlei Schuld fühlte. Um ehrlich zu sein, seit sie nach Wales gezogen war, hatten sie den Kontakt verloren. Dass er in all den Jahren in ihren Gedanken geblieben war – daher wohl der Brief von einem Rechtsanwalt in Builth Wells, sie musste ihm eine Kleinigkeit in ihrem Testament vermacht haben –, dass er in Bridies Gedanken geblieben war, weckte zum ersten und letzten Mal Schuldgefühle in ihm. Auch Dankbarkeit. Wegen seines fortgeschrittenen Alters hatte er viele Freunde verloren, und seine Exfrau. Dass sie alle so sang- und klanglos abgetreten waren, hatte ihm klargemacht – wenn es noch eines Beweises bedurft hätte –, dass Sterben eine reine Ich-Angelegenheit war. Das Letzte, woran man dachte, waren scheinbar die Zurückbleibenden. Ein kleines Gedenken, egal, was, wäre willkommen. Sogar etwas so Scheußliches wie ein Toby-Krug.

Buffy hievte sich hoch und tappte in die Küche. Er hatte dummerweise das Fenster offen gelassen, und die Luft war voller Gipsstaub. Vor zwei Jahren hatte ein russischer Oligarch das Haus nebenan gekauft. Seitdem war es von Plastikbahnen umhüllt; dahinter bebte und rumpelte das Gebäude, während sein Inneres entkernt wurde, um ein Fitnessstudio einzubauen samt Swimmingpool und Kino, in dem der Magnat sich in Ruhe seine Pornos anschauen konnte.

Überall das Gleiche in der Nachbarschaft. Buffy wohnte in Blomfield Mansions, einem Wohnblock in der Edgware Road. Dahinter lag Little Venice; in die andere Richtung St John's Wood. Beide Bezirke beherbergten die Superreichen und Dauerabwesenden. Die überließen es ihren Nachbarn, all die Renovierungsarbeiten ihrer erworbenen Immobilien zu ertragen, während sie selbst auf ihren Yachten schaukelten oder Löcher in die Arktis bohrten oder sonst was trieben. Buffy führte seinen Hund durch ein Gewirr osteuropäischer Stimmen Gassi, vorbei an Gehämmer und Gedröhne und in zweiter Reihe geparkten Betonmischern, vorbei an Schildern mit dem Warnhinweis Schutzhelme tragen! Die alte Nachbarschaft war verschwunden, und selbst seine hiesige Stammkneipe, noch ziemlich unversehrt, bot nun irgendwelche Thai-Kost an, zusammengestellt in einem Industriegebiet des Park Royal und im Beutel aufgewärmt. Das Schottische Ei war endgültig ausgestorben. War auch höchste Zeit, würden manche sagen.

Buffy riss eine Packung Kekse auf. Seine Tochter Nyange kam zum Tee. Bestimmt zu spät. Sie hatte das von ihrer Mutter geerbt, einer ghanaischen Tänzerin, mit der Buffy eine kurze Affäre hatte, als er sich noch in Hosengröße 32 zwängen konnte. Immer wenn er es schon nicht mehr zu hoffen wagte, kam Nyange herangeschlendert und begründete ihr Verspäten mit MAZ, Mittelafrikanische Zeit. War ja wohl sein Problem, gab sie ihm mit ihrem kecken Ton dann zu verstehen, Pünktlichkeit sei ein ungutes Überbleibsel von kolonialer Unterdrückung und Ausplünderung. Dass es seine Stunde war, die sie gestohlen hatte, brachte Buffy nicht über die Lippen.

Nyange kam tatsächlich eine Stunde zu spät, doch diesmal hatte sie eine Entschuldigung.

»Ich finde keinen verfluchten Parkplatz!«, rauschte ihre Stimme durch die Sprechanlage. Dann hörte er, wie sie einen Mitarbeiter vom Ordnungsamt anbrüllte: »Hau ab! Ich komme ja schon!«

Zuguterletzt musste Buffy sich geschlagen geben und den Tee seiner Tochter ans Auto bringen. Da saßen sie, das Tablett auf seinem Knie, den Teller mit den Keksen auf dem Armaturenbrett. Es war nicht das erste Mal, dass er seinen Besuch draußen in einem eiskalten Honda Civic bewirten musste.

»Das Ganze tut mir leid«, sagte er. »Ich habe zu deinen Ehren sogar aufgeräumt und den Tisch gedeckt. Verfluchte Aasgeier, die vom Ordnungsamt.«

»London ist zum Kotzen«, sagte Nyange. »Letzte Woche wurde in meinem Wein- und Spirituosenladen ein Kind erschossen.«

Sie parkten auf einer gelben Doppellinie, eingequetscht zwischen einem Laster und einem riesigen Allrad-Geländewagen mit getönten Scheiben. Eines der Fenster schob sich auf, und eine Hand warf eine leere Badoit-Wasserflasche hinaus.

Buffy seufzte. »Da waren mal richtige Geschäfte. Metzger. Gemüsehändler.« Er zeigte zu einem Snappy-Snaps-Photostudio und einem Foxton Immobilienbüro (ha, erfreulich leer). »Ja, die gute Zeit. Nimm noch einen Hobnob.«

Das Ordnungsamt tauchte auf. Nyange fluchte. Sie legte einen Blitzstart hin – der Tee ergoss sich über seine Hosen – und fuhr um den Block, vorbei an Bauschuttmulden und in zweiter Reihe geparkten Lastwagen.

»Und doch«, sagte Buffy, »wenn man Londons überdrüssig ist, ist man des Lebens über –« Er hielt inne. Dr. Johnson war ihr wohl kein Begriff. Außerdem war er sich nicht mehr ganz sicher, ob es überhaupt stimmte. Warum sollte man Londons nicht überdrüssig sein? Alles hier hatte sich verschworen, ihm auf die Nerven zu gehen. Er hatte eine Vision, wie er in einem Bauerngarten saß, ein grauhaariger Patriarch mit Panamahut, und seine Enkelkinder ihm Kaulquappen in Marmeladengläsern brachten.

Nyange stoppte mit einem Rums an einer Bushaltestelle, der einzig verfügbaren Parklücke. Die Kekse rutschten vom Armaturenbrett.

»Einfach lächerlich!«, blaffte sie. Nyange war eine temperamentvolle junge Frau – nur, so jung auch nicht, mittleren Alters fast. Er hatte Kinder mittleren Alters. Dieser Gedanke schockierte ihn immer wieder aufs Neue. Heute sah sie überraschend sachlich aus. Bei ihrem letzten Treffen hatte sie das Haar noch zu unzähligen Zöpfen geflochten, in die winzige Perlen und Kügelchen eingearbeitet waren. Heute war es zu einem Bubikopf à la Louise Brooks geschnitten und glänzte lackartig. Vielleicht eine Perücke. Er widerstand dem Drang, ihr Haar zu berühren wie so ein ältlicher Perversling.

Andererseits war er ihr Vater. Das Dumme war nur, dass der Kontakt in der Vergangenheit etwas unregelmäßig gewesen war. Er erinnerte sich an ein gedämpftes Weihnachten mit Nyange und ihrer Mutter, zwei schicken Fast-Fremden, in einem mit Tüchern dekorierten Raum in Deptford. Sie hatten ihm widerwillig ein Fasanenschenkelchen gebraten – beide waren Vegetarierinnen –, und er hatte sich auf einer Schrotkugel einen Zahn abgebrochen.

»Und wie geht es dir so?«, fragte sie. »Eine Ewigkeit her, dass ich in der Gegend war.«

»Um ehrlich zu sein, eine gute Freundin ist gerade gestorben.«

»Tun die das nicht alle?«

»Jetzt mal langsam. Ich bin erst siebzig. Wir sind die neuen Vierzigjährigen.«

Hinter ihnen hupte ein Bus. Leute, die einsteigen wollten, schoben sich vorbei und starrten ins Auto. Nyange fuhr davon, bog um die Ecke und parkte in zweiter Reihe hinter einem Tesco-Lieferwagen – Beim Shoppen kann uns keiner toppen!

»Eine deiner alten Schauspielerinnen?«

»Eine Vermieterin für Bühnenleute«, sagte Buffy. »In den glorreichen Zeiten des Repertoiretheaters habe ich bei ihr gewohnt. Sie ist vor einigen Jahren nach Wales gezogen und hat eine Frühstückspension aufgemacht.«

So ausgedrückt, klang alles recht trocken. Aber warum sollte es Nyange auch interessieren? Er fühlte sich plötzlich einsam in dem total vollgestopften Auto, in einer Welt ohne Bridie. Nie mehr Post von ihr im Briefkasten. Niemand mehr, der Bescheid wusste, über wen er redete, außer einigen abgeschlafften Schauspielern, die vielleicht zu ihrem Begräbnis herangewankt kamen.

»Sie war meine älteste Freundin«, sagte er, und plötzlich – endlich – schossen ihm die Tränen in die Augen. »Durch dick und dünn.« Er schaute auf das Tablett hinunter mit dem verschütteten Tee.

»Armer Dad.« Sie streichelte seine Hand. »Du musst am Boden zerstört sein. Ach, scheiß drauf.«

Der Tesco-Lieferwagen fuhr los und gab einen weiteren Mitarbeiter vom Ordnungsamt frei. Er hatte gerade ihr Nummernschild im Visier.

Nyange lehnte sich aus dem Fenster. »Hau ab!«, schrie sie. »Der Mann hier ist ein Krüppel. Er hat gerade einen Anfall!«

Der Mensch vom Ordnungsamt ignorierte sie und zückte sein Notizbuch. Nyange schnaubte und ließ den Motor an. Sie fuhr die Straße entlang, beschleunigte bei Gelb und bog rechts in die Edgware Road. Es war Hauptverkehrszeit. Sie hielt auf einer roten Linie.

»Es ist hoffnungslos. Ich lasse dich besser hier raus.« Sie stellte den Teller mit den Keksen aufs Tablett. »Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass ich meine Prüfung bestanden habe. Ich bin jetzt voll qualifizierte Buchhalterin.«

Buffy, der mit seinem Tablett eingeklemmt dasaß, konnte sie nicht umarmen. Ungeschickt machte er eine Drehung und erwischte sich dabei, wie er ihren spröden Haarhelm küsste. Moschusgeruch, der proustsche Duft der Sechziger. »Genial das Mädchen … die Frau.«

Nyange passte schon optisch zu der neuen Rolle. Verschwunden waren die Cornrows und die Leggings; sie trug einen schwarzen Hosenanzug und was man Pumps nannte. Buffy schaute sie ehrfürchtig an. Noch überraschender, als eine schwarze Tochter in die Welt gesetzt zu haben, war es, eine Buchhalterin in die Welt gesetzt zu haben. Jede andere ihm bekannte Frau war, wenn sie ihren Beruf gewechselt hatte, Therapeutin für irgendwas geworden. Weiß der Kuckuck, wer zu ihnen ging, wo sie doch alle selbst Therapeuten waren.

»Wie nützlich, eine Buchhalterin in der Familie zu haben«, sagte er und ahnte nicht, wie Recht er damit haben sollte.

 

Es war kein Toby-Krug. Und auch nicht die gerahmte Reproduktion von Hochlandrinder im Schnee, die neben dem Fernsprecher hing und für die Buffy eine Schwäche gehabt hatte. Nein, Bridie hatte ihm ihr Haus vererbt: ihre Frühstückspension in Wales.

Er war noch benommen vom Schock. Da er sich nicht beruhigen konnte, wanderte er in der Wohnung herum, nahm irgendwelche Dinge in die Hand und legte sie wieder weg. Er verkramte sein Portemonnaie und entdeckte es im Kühlschrank. Nachts träumte er davon, wie er sich splitternackt durch den Regen zurück nach Blomfield Mansions kämpfte, nur um es abgerissen vorzufinden, ersetzt durch die Grabstätte ›Garten der Erinnerung‹. Er wachte auf, schweißgebadet, mit pochendem Herzen.

Er war Bridie dankbar, aus ganzem Herzen dankbar. Dass sie einander ein Leben lang verbunden waren, hatte sie mit ihrem Testament über den Tod hinaus besiegelt, und das berührte ihn tief. Es schmerzte ihn körperlich, dass er sie nicht mehr voller Dank umarmen konnte.

»Warum nicht du, du alter Mistkerl?«, würde sie kichern. »Würde ja zu gerne sein Gesicht sehen, wenn er das liest.« Er war ihr Bruder und somit der naheliegende Erbe. Er lebte irgendwo in Irland, ein treuer Katholik, der den turbulenten Lebensstil seiner Schwester immer missbilligt hatte. Aber ihr Bruder brauchte das Geld nicht, denn er hatte während des Immobilienbooms spekuliert und die Grafschaft Limerick mit abscheulichen Countryhäusern überzogen, komplett mit Säulenvorhalle und Marmorbad; jetzt fegte der Wind einsames Tumbleweed durch sie hindurch, aber das konnte ihm egal sein, weil er vor dem Crash ausgestiegen war.

Dass Bridie keine weitere Familie hatte, niemand Vertrauteren als ihn, empfand Buffy als seltsam, sein eigenes Leben hatte ihn an der Familienfront ziemlich in Beschlag genommen. Unterschiedlicher hätten ihre Verhältnisse nicht sein können. Sie jedenfalls hatte sich entschieden, so zu leben, ein Freigeist, niemandem verpflichtet.

 

»Ich habe nicht mal gewusst, dass sie krank war«, erzählte Buffy seinem Sohn Quentin. »Sie hat es in ihren Briefen nie erwähnt.«

»Ich habe nicht mal gewusst, dass es sie gab.«

»Ich weiß nicht, was ich machen soll.« Sie aßen in einem Restaurant in der Frith Street zu Mittag.

»Deine Geldsorgen bist du los. So viel ist sicher«, sagte Quentin.

»Du meinst, ich sollte es verkaufen?«

Quentin lächelte. »Ich kann mir dich genau vorstellen, wie du im strömenden Regen dort festsitzt, zweihundertfünfzig Kilometer von Soho entfernt.«

Es war kein Lächeln, es war ein herablassendes Grinsen. »Warum um Himmelswillen denn nicht?«, fragte Buffy gereizt.

»Dad

Und das war's. Der Wendepunkt, so sah Buffy es später. Ich werd's ihm zeigen. Männer waren schon wegen weniger in den Krieg gezogen. Natürlich war er die liebevolle Verachtung seiner Kinder gewöhnt. Na ja, ihre Verachtung. Ein Mordsspaß, sie zu überraschen.

»Ich habe London satt«, sagte er. »Ich habe meine schrecklichen Nachbarn satt und dass ich nie einen Parkplatz finde. Nyange und ich mussten letzte Woche in ihrem Auto Tee trinken. Ich habe es satt, dass die Fahrradfahrer mich auf dem Bürgersteig umrempeln.«

»Wir fahren nicht auf dem Bürgersteig«, sagte Quentin. Er und sein Partner James waren brave Bürger, die mit ihren Jute-Einkaufstaschen zu Bauernmärkten radelten.

»Ich habe es satt, dass alle Leute so rüpelhaft sind, es sei denn, es sind Ausländer«, sagte Buffy und kam so richtig in Fahrt. »Ich habe es satt, die ganze Zeit verdrossen zu sein, da fühle ich mich so ältlich – ich bin ältlich. Aber ich fühle mich nur so, weil London mich verdrießlich macht. Hier gibt es zu viele Erinnerungen, und zu viele meiner Freunde sind tot.«

»Du hast ernsthaft vor, dort zu leben?« Quentin runzelte die Stirn. Waren seine Augenbrauen gezupft? Quentin war homosexuell; da war ihm das glatt zuzutrauen.

»Ich brauche einen Tapetenwechsel.« Noch während Buffy das sagte, erkannte er, dass es stimmte.

Ihr Mittagessen wurde serviert. Quentin entfernte die Selleriestückchen aus seinem Salat und legte sie neben seinen Teller. Sie hatten beide irgendwann übereinstimmend festgestellt, dass Sellerie ein witzloses Gemüse war. Es war eines der Dinge, die sie gemeinsam entdeckt hatten.

»Also, wo genau ist die Hütte?«, fragte Quentin.

»In Knockton. Offenbar in den Welsh Marches.« Und er fügte defensiv hinzu, »fast in England«, als wäre es kein großes Unterfangen, dorthin zu ziehen. Er fühlte schon Loyalität gegenüber dieser unbekannten Stadt aufkeimen.

»Du hast das Haus nicht mal gesehen?«

Buffy schüttelte den Kopf. »Ich fahre nächste Woche hin.«

Quentin runzelte erneut die Stirn. Eine Sardelle hing wie ein Lederriemchen von seiner Gabel. Seit er mit James zusammengezogen war, war er dicker geworden. Das machte die Zufriedenheit. Die beiden hatten sich beim Dekorieren der Harrods-Schaufenster kennengelernt, aber es hatte Sturm-und-Drang-Jahre gegeben, bis sie ihren häuslichen Frieden in Crouch End gefunden hatten.

Was hatten sie alles durchgemacht, er und sein fünfundvierzigjähriger Sohn, und da saßen sie und mampften irgendwelche obskuren und überwürzten Salatblättchen, angerichtet von einem Spitzenkoch. Quentins ergrauendes Haar (ergrauend!) war zu einem Bürstenhaarschnitt gestutzt, wie ihn die Schwulengemeinde in der Old Compton Street zur Schau trug.

Buffy erinnerte sich an eines der seltenen Familientreffen, Nyange und Quentin saßen nebeneinander, die Schwarze und der Homosexuelle. Penny, seine damalige Frau, hatte sie angestarrt. »Genau wie im vierten Programm«, hatte sie sinniert. »Was noch fehlt, ist der Körperbehinderte.« Sie schaute auf Buffy hinunter, der sich den Rücken verknackst hatte und auf dem Boden lag, von Kissen gestützt. »Ach, da haben wir ihn ja.«

»Vielleicht täte dir ein Tapetenwechsel tatsächlich gut«, sagte Quentin.

Buffy schaute seinen Sohn scharf an. Der wollte ihn loswerden! Aus dem Auge, aus dem Sinn. Womöglich fiel er seinen Kindern schon zur Last und wurde nur noch aus Pflichtgefühl besucht, und alle wären erleichtert, wenn er weit weg wäre, in einem anderen Land, was Wales ja praktisch war. Ein mürrischer, tattriger König Lear, die Rolle, auf die er sich jahrelang heimlich vorbereitet hatte und die ihm nie angeboten worden war. Was kaum überraschend war, da er keinen Agenten mehr hatte. Vielmehr keine Karriere.

Allerdings winkte eine neue Karriere. »Verehrter Herr Wirt!« Mit dichtem Bart und vom Rotwein geröteten Wangen, könnte Buffy wieder im Mittelpunkt stehen und seine Gäste in seiner charmanten Frühstückspension in der malerischen Stadt Knockton begrüßen, wo immer die sein mochte. Holzfeuer, Jovialität, Messingbetten für fröhliche Paarungen – Ehebrecher willkommen! Sein original englisches Frühstück, alles bio natürlich, würde legendär werden. Vielleicht könnte er sogar Schweine halten.

Diese grässlichen Frühstückspensionen seiner Vergangenheit: Nylonlaken, pastellfarbene Tapete, gerahmte Scherenschnitte von Damen im Reifrock – nicht mit ihm! Die Beinaheunmöglichkeit jedweder Form sexuellen Geplänkels in einem Doppelzimmer, das nach Raumspray roch. Die mit Zierdeckchen drapierte Tischgruppe mit ausgelegten Readers Digests. Das etepetete Frühstückszimmer, leises Besteckklappern, Gewürzständer – Gewürzständer! –, winzige Sachets mit Erdbeermarmelade, ausgerechnet Erdbeermarmelade.

»Du willst eine Frühstückspension führen?« Quentin verbarg ein Grinsen, indem er seine Serviette an die Lippen presste.

»Davon habe ich in meiner Zeit immerhin genug gesehen. Auf meinen Tourneen. Ach, übrigens, du bist auch in einer gezeugt worden. In Kettering.«

Quentin zuckte zusammen. »Bitte keine Details, Dad.«

»Deine Mutter und ich haben in Private Lives Sibyl und Elyot gespielt.«

Buffys erste Frau – Gott habe sie selig – war eine junge Frau voller Leben gewesen, die sich von den üblichen Einschränkungen papierdünner Wände nicht einschüchtern ließ. Er erinnerte sich an die gesenkten Augen der anderen Pensionsgäste, wenn sie beide, hastig ein bisschen frisch gemacht, zum Frühstück erschienen. Und Quentin, ein kleines Wunder in ihr, ganz am Anfang.

Kaum verwunderlich, dass Bridies Pension eine Befreiung war. In seiner Glanzzeit hatte das Haus in Edgbaston vor Sex nur so geknistert. Er erinnerte sich, wie er Digby Montague, jetzt königlicher Ritter, nur mit Socken bekleidet über den Flur flitzen sah. Und Hillers, eine lüsterne Lesbe und unvergessliche Lady Bracknell, wie sie im Zigarettenmief am Frühstückstisch saß und das Knie einer blonden Naiven tätschelte. Sogar die Katzen machten es wie wild, eine warf Junge auf seiner Daunendecke. Glückliche Tage.

Buffy fühlte sich irgendwie schlapp und bestellte ein Taxi. Er konnte sich diese Verschwendung jetzt leisten. In seinem Kopf drehte sich alles. Hatte er Quentin die Wahrheit gesagt? Konnte er wirklich sein Zeug zusammenpacken und ins Unbekannte aufbrechen, oder wollte er seinem Sohn bloß beweisen, dass noch Leben im alten Hund steckte? Wie bei einem Schwips hatte er das Gefühl, dass die Ereignisse sich wundersam glatt ineinanderfügten. Seine Kinder waren längst erwachsen und brauchten ihn nicht mehr; hatten sie das jemals? Seine Miete sollte verdoppelt werden. Außerdem hatte Blomfield Mansions, wie er Quentin geklagt hatte, seinen Charakter geändert. Seine leicht angemoderten, unbestimmt jüdischen Bewohner mit den zugezogenen Stores – tragische Witwen, die ihr Leben mit Kaffeelöffelchen dosierten – waren schon lange verschwunden. Einige von ihnen waren ihm reichlich auf den Geist gegangen, aber er vermisste sie. Ihnen nachgefolgt waren die reichen Sprösslinge nahöstlicher Geschäftsleute, die die Wohnungen als Schlupflöcher kauften für den Fall, dass ihre Länder in Rauch und Flammen aufgingen, und die die Nächte hindurch feierten und ihre Sportwagen draußen genau vor seinem Fenster auf Touren brachten. Selbst Ted, der Portier, war von einem Strauß Plastikblumen ersetzt worden.

Buffys Ehefrauen waren tot oder seit langem in ihr anschließendes Leben verschwunden. Er war wohl oder übel frei. Nur sein Hund brauchte ihn, und der konnte überall leben. Wenn er es sich recht überlegte, wäre Fig das Land entschieden lieber.

Als es dämmerte, führte Buffy Fig um den Häuserblock. George, sein vorheriger Hund, musste an der Leine gezogen werden. George hatte wie ein Haarteil ausgesehen; er hatte etwas Flachgedrücktes und Verfilztes. Penny sagte, er sehe aus, als wäre er irgendwann in der Vergangenheit überfahren worden. Allgemein war man sich einig, dass er der faulste Hund war, den man je gesehen hatte.

Sein Nachfolger jedoch war das krasse Gegenteil, ein hyperaktiver Jack Russell, der wie ein Tennisball auf und ab hüpfte und die vorbeifahrenden Autos ankläffte, eigentlich alles, was vorbeikam. Jack Russells liebten es, Kaninchen zu jagen; sie waren überhaupt keine Hunde für London.

Buffy dachte, wenn ich es anpacke, dann Fig zuliebe. Brauchte es mehr an Begründung?