»An jene, die Glyzinen und Sonnenschein zu schätzen wissen. Kleines mittelalterliches Castello an der italienischen Mittelmeerküste für den Monat April zu vermieten. Z. Postfach 1000, The Times.« Auf diese Anzeige hin entfliehen vier englische Damen dem trüben Londoner Alltag und reisen gemeinsam nach Italien – eine Reise, die einige Überraschungen mit sich bringt. Ohne ihre Ehemänner und die lästigen Pflichten entdecken sie nicht nur die Verzauberungskraft des mediterranen Frühlings, sondern auch die Liebe …
Von diesem verzauberten April erzählt Elizabeth von Arnim vergnüglich und mit viel Charme und Tiefgang in ihrem bekanntesten und erfolgreichsten Buch.
Elizabeth von Arnim, 1866 in Australien geboren, heiratete den preußischen Baron von Arnim-Schlagenthin und lebte einige Jahre auf dem pommerschen Gut Nassenheide, das sie in ihrem Erfolgsroman Elizabeth und ihr Garten verewigt hat. Sie lebte in Großbritannien, Italien und Südfrankreich, 1939 emigrierte sie in die USA. Sie starb 1941 in Charleston/USA.
Von ihr sind u. a. im insel taschenbuch erschienen: Die Reisegesellschaft (it 3259), Elizabeth auf Rügen (it 4116), Elizabeth und ihr Garten (it 4132).
ELIZABETH VON ARNIM
Verzauberter April
Roman · Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen
Insel Verlag
Originaltitel: The Enchanted April. Erstdruck: Macmillan, London 1922.
Umschlagabbildung: Szene aus dem Film
»Verzauberter April« (Enchanted April, GB 1992)
Foto: Cinetext Bild & Textarchiv
eBook Insel Verlag Berlin 2013
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1992
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Umschlaggestaltung: Anke Rosenlöcher
Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-458-73244-0
www.insel-verlag.de
Es begann in einem Frauenclub in London an einem Februarnachmittag – ungemütlich der Club und trübselig der Nachmittag –, als Mrs. Wilkins, die von Hampstead gekommen war, um einzukaufen, und in ihrem Club zu Mittag gegessen hatte, die Times vom Tisch im Raucherzimmer nahm, mit einem lustlosen Blick die Seufzerspalte entlangfuhr und dies entdeckte:
An jene, die Glyzinen und Sonnenschein zu schätzen wissen. Kleines mittelalterliches Castello an der italienischen Mittelmeerküste für den Monat April möbliert zu vermieten. Notwendiges Personal vorhanden. Z, Postfach 1000, The Times.
Das war der Augenblick der Empfängnis; aber wie es so oft der Fall ist, war die Empfangende in diesem Augenblick selbst ahnungslos.
Ihr April war für dieses Jahr damit unweigerlich festgelegt – aber so ahnungslos war Mrs. Wilkins, daß sie die Zeitung mit einer verdrossenen, resignierten Geste fallen ließ, ans Fenster ging und trübsinnig auf die triefende Straße hinausstarrte.
Doch nicht für sie die mittelalterlichen Castellos, mochten sie auch ausdrücklich als klein beschrieben werden. Nicht für sie die Mittelmeerküste im April, die Glyzinen und der Sonnenschein. Solche Wonnen waren den Reichen vorbehalten. Dennoch, das Inserat richtete sich an jene, die dergleichen zu schätzen wissen, so daß es immerhin auch an sie gerichtet war, denn zu schätzen wußte sie diese Dinge gewiß; mehr, als irgendeiner ahnte; mehr, als sie je offenbart hatte. Aber sie war arm. Auf der ganzen Welt gehörten ihr gerade neunzig Pfund, die sie über die Jahre erspart hatte, von ihrem Kleidergeld sorgsam Pfund um Pfund abgezwackt. Sie hatte diese Summe auf Vorschlag ihres Mannes als eiserne Reserve für Notzeiten zusammengekratzt. Das Kleidergeld, das ihr Vater ihr spendete, betrug 100 Pfund im Jahr, und folgerichtig war Mrs. Wilkins' Kleidung genau das, was ihr Mann, der sie zum Sparen anhielt, als schlicht und schicklich bezeichnete und ihre Bekannten untereinander, wenn überhaupt von ihr die Rede war, was selten geschah, denn sie war gar zu unscheinbar, als »na ja: proper«.
Mr. Wilkins, Anwalt von Beruf, ermunterte überall zur Sparsamkeit, ausgenommen in dem Bereich, der sein Essen tangierte. Dort hielt er es nicht für Sparsamkeit, dort hielt er es für schlechte Haushaltsführung. Doch für die Sparsamkeit, die sich mottengleich in Mrs. Wilkins' Kleidern einnistete und sie ruinierte, war er des Lobes voll. »Du weißt nie«, sagte er, »wann Notzeiten kommen, und vielleicht wirst du da noch froh sein, wenn du einen Spargroschen hast. Ehm, wir beide wohl.«
Nachdem Mrs. Wilkins eine Zeitlang trübsinnig aus dem Clubfenster auf die Shaftesbury Avenue hinausgeblickt hatte – ihr Club war eher bescheiden, lag aber recht günstig für Hampstead, wo sie wohnte, und für Shoolbred's, wo sie einkaufte –, fragte sie sich plötzlich, vor ihrem geistigen Auge das Mittelmeer im April, Glyzinen und was den Reichen alles Beneidenswertes geboten wurde, vor ihrem physischen Auge dagegen den widerwärtigen rußigen Regen, der ununterbrochen auf die dahinhastenden Schirme und die aufspritzenden Autobusse fiel, ob dies nicht vielleicht die Notzeit war, auf die sich vorzubereiten Mellersh – Mellersh war Mr. Wilkins – sie immerzu ermuntert hatte, und ob nicht, einem solchen Klima zu entfliehen und es sich in einem kleinen mittelalterlichen Castello behaglich zu machen, womöglich das war, was die Vorsehung von Anfang an bezüglich ihres Ersparten für sie im Sinn gehabt hatte. Natürlich nur mit einem Teil des Ersparten; vielleicht einem ganz geringen. Vielleicht war ja das Castello, wo es doch aus dem Mittelalter stammte, bereits ziemlich schadhaft, und schadhaft hieße preiswert. Sie hätte gar nichts gegen ein paar Schäden hier und ein paar Schäden da, für schon vorhandene Schäden mußte man ja nicht zahlen; im Gegenteil – indem sie den Preis, den man eigentlich hätte zahlen müssen, verringerten, zahlten sie sich geradezu aus für einen. Aber wie unsinnig, an so was überhaupt zu denken …
Sie wandte sich vom Fenster ab mit derselben verdrossenen und resignierten Geste wie schon beim Weglegen der Times, ging durchs Zimmer Richtung Tür, um Regenmantel und Schirm zu holen und sich in einen der überfüllten Busse zu quetschen und auf dem Nachhauseweg bei Shoolbred's auszusteigen und Schollen für Mellershs Abendessen zu kaufen – Mellersh war heikel mit Fisch, ausgenommen Lachs –, als sie Mrs. Arbuthnot erblickte, eine Frau, die sie vom Sehen her kannte und die ebenfalls in Hampstead wohnte und dem Club angehörte; sie saß am Tisch in der Mitte des Zimmers, wo die Zeitungen und Illustrierten bereitlagen, und war ihrerseits vertieft in die erste Seite der Times.
Mrs. Wilkins hatte noch nie mit Mrs. Arbuthnot gesprochen, die einem der zahlreichen Kirchenzirkel angehörte und die Armen analysierte, klassifizierte, aufteilte und registrierte; wohingegen sie und Mellersh, wenn sie denn ausgingen, die Gesellschaften mit impressionistischen Malern besuchten, von denen es in Hampstead eine Menge gab. Mellersh hatte eine Schwester, die einen davon geheiratet hatte und weit draußen im Heideland wohnte, und aufgrund dieser Verwandtschaft wurde Mrs. Wilkins in einen Kreis gezogen, der ihrem Naturell überhaupt nicht entsprach, und sie hatte gelernt, sich vor Bildern zu fürchten. Sie sollte etwas Gescheites über die Bilder äußern, und ihr fiel partout nichts ein. Sie murmelte dann immer »herrlich« und spürte deutlich, daß das nicht ausreichte. Doch niemand stieß sich daran. Niemand hörte ihr zu. Niemand nahm Notiz von Mrs. Wilkins. Sie war die Sorte Mensch, die auf Gesellschaften übersehen wird. Ihre durch Sparsamkeit ramponierte Kleidung machte sie praktisch unsichtbar; ihr Gesicht war nicht fesselnd; ihre Konversation kam nur zögernd; sie war schüchtern. Und wenn Kleidung und Gesicht und Konversation unbedeutend sind, dachte Mrs. Wilkins, die ihre Unzulänglichkeiten klar erkannte, was bleibt dann auf Gesellschaften noch von einem?
Auch war sie immer mit Wilkins zusammen, jenem glattrasierten, gutaussehenden Mann, der einer Gesellschaft allein durch sein Erscheinen Glanz verlieh. Wilkins war angesehen. Es war bekannt, daß seine Seniorpartner eine Menge von ihm hielten. Der Kreis seiner Schwester bewunderte ihn. Er fällte verständige Urteile über Kunst und Künstler. Er war energisch; er war besonnen; er sagte nie ein Wort zuviel, andererseits sagte er auch nie ein Wort zuwenig. Er erweckte den Eindruck, als fertige er Abschriften von allem an, was er sagte; und er war so offenkundig verläßlich, daß es oft passierte, daß Leute, die ihn auf diesen Gesellschaften kennenlernten, unzufrieden mit ihren eigenen Anwälten wurden und nach einer Zeit innerer Unruhe sich von ihnen lösten und zu Wilkins gingen.
So war Mrs. Wilkins natürlich in den Schatten gestellt. »Sie sollte doch«, sagte seine Schwester, die selbst etwas Richterliches, Kategorisches und Bestimmendes an sich hatte, »besser zu Hause bleiben.« Aber Wilkins konnte seine Frau nicht zu Hause lassen. Er war Familienanwalt, und alle Berufskollegen haben Frauen und zeigen sie vor. Mit der seinen ging er werktags auf Gesellschaften, mit der seinen ging er sonntags zum Gottesdienst. Da er noch ziemlich jung war – er war neununddreißig – und begierig nach alten Damen, von denen er bisher in seiner Kanzlei noch nicht genügend akquiriert hatte, konnte er es sich nicht leisten, die Kirche auszulassen, und hier hatte Mrs. Wilkins – wenn auch nie im Gespräch – die Bekanntschaft von Mrs. Arbuthnot gemacht.
Sie sah, wie sie die Kinder der Armen in die Bankreihen lotste. Immer trat sie an der Spitze der Prozession herein, die von der Sonntagsschule kam, genau fünf Minuten vor dem Chor, und verstaute ihre Jungen und Mädchen ordentlich auf die zugewiesenen Plätze und ließ sie zum Vorgebet auf die schmächtigen Knie sinken und genau dann wieder aufstehen, wenn sich zur aufbrausenden Orgel die Sakristeitür öffnete und der Chor und die Geistlichen erschienen, der Litaneien und Gebote voll, die sie sogleich deklamieren würden. Sie hatte einen traurigen Gesichtsausdruck, war aber offensichtlich tüchtig. Diese Verbindung verwunderte Mrs. Wilkins immer wieder, denn Mellersh pflegte ihr an Tagen, wo sie bloß Scholle erwischt hatte, zu sagen, daß man bei Tüchtigkeit nicht niedergeschlagen sein konnte und daß man, wenn man seine Arbeit gut machte, automatisch nur so strahlte und sprühte.
An Mrs. Arbuthnot war nichts Strahlendes und Sprühendes, wenn es auch am Automatischen in ihrem Umgang mit den Kindern der Sonntagsschule nicht fehlte; aber als sich Mrs. Wilkins vom Fenster abwandte und Mrs. Arbuthnot am Tisch erblickte, war ihr nichts Automatisches anzusehen, unverwandt schaute sie auf die erste Seite der Times, wobei sie die Zeitung ganz still hielt und die Augen nicht bewegte. Sie starrte bloß vor sich hin; und ihr Gesicht war wie immer das Gesicht einer geduldigen und enttäuschten Madonna.
Noch während sie ihrer plötzlichen Regung nachgab, verwunderte sich Mrs. Wilkins, die Schüchterne und Zögernde, daß sie, statt wie vorgesehen weiter Richtung Garderobe zu gehen und von dort zu Shoolbred's, um Fisch für Mellersh aufzutreiben, am Tisch stehenblieb und sich direkt Mrs. Arbuthnot gegenüber hinsetzte, mit der sie noch nie im Leben ein Wort gesprochen hatte.
Es war einer jener langen, schmalen Refektoriumstische, so daß sie sich ziemlich nah gegenübersaßen.
Mrs. Arbuthnot schaute jedoch nicht hoch. Sie starrte weiter mit Augen, die zu träumen schienen, auf eine bestimmte Stelle in der Times.
Mrs. Wilkins beobachtete sie eine ganze Weile, versuchte Mut zu fassen, um sie anzusprechen. Sie wollte fragen, ob sie das Inserat gesehen habe. Sie wußte nicht, warum sie das fragen wollte, aber sie wollte es. Wie dumm, daß sie nicht die Worte fand, sie anzusprechen. Sie sah so freundlich aus. Sie sah so unglücklich aus. Warum konnten sich zwei unglückliche Seelen nicht auf ihrem Weg durch diese fade Sache, Leben genannt, mit einem kleinen ungezwungenen Gespräch stärken, einem richtigen Gespräch über das, was sie fühlten, was sie gern hätten, was sie sich immer noch erhofften? Sie mußte annehmen, daß auch Mrs. Arbuthnot dasselbe Inserat studierte. Ihr Blick ruhte genau auf dem betreffenden Teil der Zeitung. Malte auch sie sich aus, wie es sein würde – Farbe, Duft, Licht, sanftes Geplätscher des Meeres zwischen erwärmten Klippen? Farbe, Duft, Licht, Meer; statt Shaftesbury Avenue, pfützenspritzender Busse, Fischabteilung bei Shoolbred's, U-Bahn nach Hampstead und Abendessen, und morgen dasselbe und übermorgen dasselbe und alle Zeit dasselbe …
Plötzlich ertappte sich Mrs. Wilkins, wie sie sich über den Tisch lehnte. »Lesen Sie das gerade über das mittelalterliche Castello und die Glyzinen?« hörte sie sich fragen.
Natürlich war Mrs. Arbuthnot überrascht; aber sie war längst nicht so überrascht wie Mrs. Wilkins über ihre eigene Frage.
Mrs. Arbuthnot hatte ihres Wissens diese trübe, magere und lasche Person, die ihr gegenübersaß, nie zuvor gesehen, mit ihrem kleinen sommersprossigen Gesicht und den großen grauen Augen, die unter dem zusammengedetschten Naßwetterhut fast verschwanden, und sie blickte sie einen Augenblick lang schweigend an. Tatsächlich las sie das von dem mittelalterlichen Castello und den Glyzinen, vielmehr hatte sie es vor zehn Minuten getan und sich seitdem in Träumereien verloren – von Licht, Farbe, Duft, sanftem Geplätscher des Meeres zwischen erwärmten Klippen …
»Warum fragen Sie mich das?« sagte sie mit ihrer ernsten Stimme, denn die Schulung der Armen und ihre Schulung durch sie hatten sie ernst und geduldig werden lassen.
Mrs. Wilkins errötete und sah völlig verschüchtert und verängstigt aus. »Ach, bloß weil ich es auch gelesen habe und mir dachte, vielleicht – ich hab mir gedacht, daß irgendwie –«, stotterte sie.
Worauf Mrs. Arbuthnot, die ständig Leute in irgendwelche Listen und Gruppen verzeichnete, mit nachdenklichem Blick auf Mrs. Wilkins überlegte, in welche Rubrik – angenommen, man müßte sie einordnen – sie wohl am ehesten hineinpaßte.
»Und ich kenne Sie vom Sehen«, fuhr Mrs. Wilkins fort, die wie alle Schüchternen, wenn sie erst einmal angefangen haben, voranpreschte und immer weiter redete, erschreckt vom bloßen Klang dessen, was sie zuletzt gesagt hatte. »Jeden Sonntag, ich sehe Sie jeden Sonntag in der Kirche …«
»In der Kirche?« echote Mrs. Arbuthnot.
»Und das da muß wundervoll sein – das Inserat da mit den Glyzinen – und …«
Mrs. Wilkins, die mindestens dreißig war, brach ab und zappelte auf dem Sessel herum wie ein linkisches, verlegenes Schulmädchen.
»So wundervoll muß das sein«, platzte es aus ihr heraus, »und – ein so trübseliger Tag ist das heute …«
Danach schaute sie Mrs. Arbuthnot mit einem Kettenhundblick an.
›Dieses arme Geschöpf‹, dachte Mrs. Arbuthnot, deren Leben aus Helfen und Trösten bestand, ›braucht Rat.‹
Und folglich schickte sie sich an, ihn in aller Geduld zu geben.
»Wenn Sie mich in der Kirche sehen«, sagte sie freundlich und aufmerksam, »wohnen Sie vermutlich auch in Hampstead?«
»Oh, ja«, sagte Mrs. Wilkins. Und sie wiederholte, wobei ihr Kopf auf dem langen dünnen Hals sich leicht senkte, als beuge die Erinnerung an Hampstead sie: »Oh, ja.«
»Wo?« fragte Mrs. Arbuthnot, die, wenn Rat gebraucht wurde, natürlich erst einmal daranging, die Fakten zu sammeln.
Aber Mrs. Wilkins legte ihre Hand sacht und liebkosend auf den Teil der Times, wo das Inserat stand, als wären allein die gedruckten Worte schon kostbar, und sagte nur: »Vielleicht erscheint einem dies darum so wundervoll.«
»Nein – ich glaube, das ist an und für sich wundervoll«, sagte Mrs. Arbuthnot, die Fakten vergessend, mit leichtem Seufzer.
»Dann haben Sie es also gelesen?«
»Ja«, sagte Mrs. Arbuthnot, während ihre Augen wieder verträumt blickten.
»Wäre es nicht wundervoll?« murmelte Mrs. Wilkins.
»Wundervoll«, sagte Mrs. Arbuthnot. Ihre Miene, die sich erhellt hatte, zeigte erneut Geduld. »Ganz wundervoll«, sagte sie. »Aber es ist sinnlos, seine Zeit mit derlei Gedanken zu verschwenden.«
»Ah, ganz und gar nicht«, war Mrs. Wilkins' schnelle und überraschende Entgegnung; überraschend, weil sie so völlig anders war als das übrige an ihr – das nichtssagende Kostüm, der zerknautschte Hut, die widerspenstige Haarsträhne, die sich gelöst hatte. »Allein das Drübernachdenken ist schon etwas wert – was für ein Unterschied zu Hampstead –, und manchmal glaube ich – ja, wirklich –, wenn man nur hartnäckig genug über Dinge nachdenkt, kriegt man sie.«
Mrs. Arbuthnot beobachtete sie geduldig. In welche Kategorie würde sie, angenommen, sie müßte das tun, die dort einordnen?
»Vielleicht«, sagte sie und lehnte sich ein wenig vor, »sagen Sie mir Ihren Namen. Wenn wir uns befreunden wollen« – sie lächelte ihr ernstes Lächeln – »was hoffentlich der Fall ist, sollten wir besser am Anfang beginnen.«
»Oh, ja, wie nett von Ihnen. Ich bin Mrs. Wilkins«, sagte Mrs. Wilkins. »Ich erwarte nicht«, fügte sie errötend hinzu, da Mrs. Arbuthnot schwieg, »daß Ihnen das irgend etwas sagt. Manchmal scheint …, scheint es mir auch nichts zu sagen. Aber« – sie blickte wie hilfesuchend um sich – »ich bin Mrs. Wilkins.«
Sie konnte ihren Namen nicht leiden. Es war ein unbedeutender, gewöhnlicher Name mit einem lachhaften Dreh am Ende, dachte sie, wie der sich aufringelnde Schwanz bei einem Mops. Aber da war er nun mal. Es ließ sich nichts machen. Wilkins hieß sie, und Wilkins würde sie weiterhin heißen; selbst wenn ihr Mann sie dazu ermunterte, sich bei allen Gelegenheiten als Mrs. Mellersh-Wilkins vorzustellen, tat sie das nur, wenn er in Hörweite war, denn ihrer Auffassung nach verschlimmerte Mellersh Wilkins noch, indem es das Wilkins betonte, wie Chatsworth, am Türpfosten eines einfachen Cottage angebracht, nur das Cottage betont.
Als er das erste Mal vorschlug, sie solle doch Mellersh vorne dranhängen, hatte sie aus besagtem Grund protestiert, und nach einer Pause – Mellersh war viel zu besonnen, um ad hoc zu reagieren, sondern erst nach einer Pause, in der er vermutlich im Geiste eine genaue Kopie seiner nächsten Replik anfertigte – sagte er sehr ungehalten: »Ich bin doch kein Cottage«, und blickte sie an wie jemand, der hofft, vielleicht zum hundertsten Mal hofft, daß er keinen Dummkopf geheiratet hat.
Natürlich sei er kein Cottage, versicherte ihm Mrs. Wilkins, nie habe sie das angenommen; nicht im Traum habe sie daran gedacht, sagen zu wollen …, sie habe nur gemeint …
Je mehr sie erklärte, desto banger hoffte Mellersh, und dieses Bangen war ihm mittlerweile vertraut, da er seit zwei Jahren verheiratet war, daß er nicht versehentlich ein Dummchen geheiratet haben mochte; und sie hatten einen anhaltenden Streit – wenn man als anhaltenden Streit bezeichnen kann, was von der einen Seite mit würdevollem Schweigen geführt wird und von der anderen mit ernstem Sichrechtfertigen –, ob Mrs. Wilkins die Absicht gehabt habe, anzudeuten oder nicht, daß Mr. Wilkins ein Cottage sei.
›Ich glaube‹, hatte sie gedacht, als der Streit endlich vorbei war – er dauerte recht lange –, ›daß jeder über x-Beliebiges streiten würde, wenn er zwei volle Jahre mit jemand anderem zusammen war und nicht einen einzigen Tag getrennt. Was wir beide brauchen, ist Urlaub.‹
»Mein Mann«, sagte Mrs. Wilkins weiter zu Mrs. Arbuthnot, im Bemühen, ein wenig Licht auf sich zu werfen, »ist Anwalt. Er …« Sie suchte nach etwas Erhellendem, was sie über Mellersh sagen könnte, und fand: »Er ist sehr gutaussehend.«
»Nun«, sagte Mrs. Arbuthnot freundlich, »das muß Ihnen doch sehr gefallen.«
»Wieso?« fragte Mrs. Wilkins.
»Weil«, sagte Mrs. Arbuthnot, ein wenig verblüfft, denn ständiger Umgang mit den Armen hatte sie daran gewöhnt, daß ihre Äußerungen widerspruchslos akzeptiert wurden, »weil Schönheit, gutes Aussehen, eine Gabe ist wie jede andere, und wenn richtig damit umgegangen wird …«
Sie verlor sich in Schweigen. Mrs. Wilkins' große graue Augen waren auf sie geheftet, und es kam Mrs. Arbuthnot auf einmal vor, als verfestige sich bei ihr die Angewohnheit, immer etwas erklären zu müssen, und zwar so, wie Kindermädchen das tun, denn sie hatte ja stets Zuhörer, die nicht anders konnten, als ihr zuzustimmen, die sich gehütet hätten, sie zu unterbrechen, auch wenn sie es wollten, die unwissend waren, die ihr kurz und gut auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.
Aber Mrs. Wilkins hörte nicht zu; denn gerade in diesem Augenblick, so absurd das schien, schoß ihr ein Bild durch den Kopf, und da saßen zwei Gestalten zusammen unter einer Glyzine, die sich um die Zweige eines ihr unbekannten Baumes hochrankte, und sie selbst war die eine und Mrs. Arbuthnot die andere – sie sah sie beide – konnte sie sehen. Und hinter ihnen, im strahlenden Sonnenschein, ragten alte graue Gemäuer – das mittelalterliche Castello – sie sah es – sie waren dort …
Und darum starrte sie Mrs. Arbuthnot an und hörte keines ihrer Worte. Und Mrs. Arbuthnot starrte ihrerseits Mrs. Wilkins an, gebannt vom Ausdruck auf ihrem Gesicht, das die Erregung über das, was sie sah, widerspiegelte, und darunter leuchtete und bebte es wie Wasser im Sonnenlicht, wenn es von einem Windstoß gekräuselt wird. Wäre Mrs. Wilkins in diesem Augenblick auf einer Gesellschaft gewesen, die Blicke hätten mit Interesse auf ihr geruht.
So starrten sie einander an; Mrs. Arbuthnot überrascht, forschend, Mrs. Wilkins mit den Augen desjenigen, der eine Offenbarung hat. Aber natürlich. So ließe sich das machen. Aus eigener Kraft konnte sie es sich nicht leisten und brächte es auch nicht zuwege, selbst wenn sie es sich leisten könnte, allein dort hinzureisen; aber sie und Mrs. Arbuthnot gemeinsam …
Sie lehnte sich über den Tisch. »Warum sollten wir es nicht hinkriegen?« flüsterte sie.
Mrs. Arbuthnot riß die Augen noch weiter auf. »Es hinkriegen?« wiederholte sie.
»Ja«, sagte Mrs. Wilkins so leise, als hätte sie Angst, belauscht zu werden. »Nicht bloß hier herumhocken und ›wie wundervoll‹ hauchen und dann heim nach Hampstead, ohne einen Finger gerührt zu haben – wie üblich nach Hause gehen, sich ums Essen kümmern, um den Fisch, wie wir das nun schon Jahr für Jahr tun und noch viele Jahre mehr. Faktisch«, sagte Mrs. Wilkins und errötete bis in die Haarwurzeln, denn der Klang der eigenen Worte und das, was da aus ihr heraussprudelte, erschreckten sie, und dennoch konnte sie nicht aufhören, »ist kein Ende in Sicht. Es gibt kein Ende. Darum sollte es Unterbrechungen geben – im Interesse aller. Es wäre geradezu selbstlos, wenn wir wegführen und eine Zeitlang glücklich wären, weil wir dann um so freundlicher zurückkämen. Verstehen Sie, nach einem Weilchen braucht jeder Urlaub.«
»Aber – wie meinen Sie das, es hinkriegen?« fragte Mrs. Arbuthnot.
»Es uns nehmen«, sagte Mrs. Wilkins.
»Es uns nehmen?«
»Es pachten. Es mieten. Es haben.«
»Sie meinen etwa – Sie und ich?«
»Ja. Zwischen uns beiden. Teilen. Dann würde es nur die Hälfte kosten, und Sie sehen so aus, als wollten Sie es genausosehr wie ich – als brauchten Sie Ruhe, als brauchten Sie, daß Ihnen etwas Erfreuliches passiert.«
»Aber wir kennen uns gar nicht.«
»Stellen Sie sich nur mal vor, wie gut wir uns kennen würden, wenn wir zusammen einen Monat fortführen! Und ich hab was für Notzeiten gespart, und ich vermute, Sie auch, und das hier sind elendige Zeiten, schauen Sie doch nur raus aus dem Fenster.«
›Sie ist verstört‹, dachte Mrs. Arbuthnot; dennoch war sie seltsam erregt.
»Stellen Sie sich vor, einen ganzen Monat wegkommen, von allem weg, in den Himmel …«
›Sie sollte so was nicht sagen‹, dachte Mrs. Arbuthnot. ›Unser Vikar …‹ Dennoch war sie seltsam erregt. Ja, das würde wundervoll sein, Ruhe zu haben, eine Unterbrechung.
Die Gewohnheit machte, daß sie sich schon bald wieder in der Hand hatte; und die Jahre des Umgangs mit den Armen brachten sie dazu, in jenem unüberhörbaren, wenn auch wohlwollenden Überlegenheitstonfall zu erklären: »Aber schließlich, Sie wissen ja, der Himmel ist nicht anderswo. Er ist hier und jetzt. So heißt es.«
Sie wurde sehr ernsthaft, wie immer, wenn sie geduldig versuchte, den Armen beizustehen und sie zu erleuchten. »Der Himmel ist in uns«, sagte sie mit ihrer leisen, sanften Stimme. »So heißt es von allerhöchster Stelle. Und Sie kennen die Zeilen über die verwandten Punkte, nicht wahr …«
»Natürlich kenne ich die«, unterbrach Mrs. Wilkins ungeduldig.
»Die verwandten Punkte, Himmel und Heim«, fuhr Mrs. Arbuthnot fort, daran gewöhnt, ihre Sätze zu Ende zu bringen. »Der Himmel ist in unserem Heim.«
»Ist er nicht«, sagte Mrs. Wilkins, wieder überraschend.
Mrs. Arbuthnot war bestürzt. Dann sagte sie sanft: »Oh doch. Er ist da, wenn wir es wollen, wenn wir ihn schaffen.«
»Ich will es ja, und ich schaffe ihn auch, und er ist nicht da«, sagte Mrs. Wilkins.
Darauf sagte Mrs. Arbuthnot nichts, denn auch sie hatte gelegentlich ihre Zweifel hinsichtlich des Heims. Sie saß da und blickte beunruhigt auf Mrs. Wilkins, wobei der Drang stärker wurde, sie endlich einzuordnen. Wenn sie nur Mrs. Wilkins einordnen könnte, sie sicher in der richtigen Rubrik unterbrächte, dann, so ihre Überzeugung, fände sie auch ihr Gleichgewicht wieder, das sich merkwürdigerweise nur zu der einen Seite hin zu neigen schien. Auch sie hatte nämlich seit Jahren keinen Urlaub gemacht, und das Inserat hatte sie, als sie es bemerkte, zum Träumen verleitet, außerdem war Mrs. Wilkins' Erregung ansteckend, und sie hatte das Gefühl, als sie ihrem heftigen, merkwürdigen Schwärmen lauschte und ihr strahlendes Gesicht betrachtete, aus dem Schlaf gerissen zu werden.
Es war nicht zu übersehen, daß Mrs. Wilkins verstört war, aber mit Verstörten hatte Mrs. Arbuthnot schon zu tun gehabt – faktisch hatte sie ständig mit ihnen zu tun –, und sie wirkten sich nicht im geringsten auf ihre eigene Charakterfestigkeit aus; wohingegen diese hier sie irgendwie unsicher machte, als wenn das Fortgehen, das Nur-weit-Weg von ihren Kompaßstrichen Gott, Mann, Heim und Pflicht (sie hatte nicht das Gefühl, als habe Mrs. Wilkins den Wunsch, daß auch Mr. Wilkins mitkomme), und bloß um einmal glücklich zu sein – als wenn das gut und wünschenswert wäre. Was es natürlich nicht war; was es ganz gewiß nicht war. Sie hatte ebenfalls einen Notgroschen peu à peu auf dem Sparkonto der Post angesammelt, aber die Vorstellung, daß sie sich jemals derart vergessen und Geld abheben und für sich selbst ausgeben würde, war einfach absurd. Unmöglich, daß sie je so etwas tun würde, oder? Unmöglich, daß sie je ihre Armen vergessen, so gänzlich Elend und Krankheit vergessen würde, oder? Zweifellos wäre eine Reise nach Italien einfach wunderbar, aber es gab viele wunderbare Dinge, die man gern tun würde; und wozu war einem schließlich Charakterstärke verliehen, wenn nicht dazu, diese Dinge eben nicht zu tun?
Unveränderlich wie die Kompaßstriche waren für Mrs. Arbuthnot die vier wichtigen Fakten des Lebens: Gott, Mann, Heim, Pflicht. Vor Jahren hatte sie sich auf diesen Fakten zum Schlafen gelegt, nach einer Zeit großen Schmerzes, wobei ihr Haupt auf ihnen ruhte wie auf einem Kissen; und sie hatte eine Heidenangst davor, aus einem so einfachen und sorglosen Zustand aufgeweckt zu werden. Darum suchte sie eifrig nach einer Rubrik, in die sie Mrs. Wilkins stecken und damit auch ihren eigenen Geist erleuchten und beruhigen konnte; und sie saß da und blickte die andere nach deren letzter Bemerkung voller Unbehagen an und fühlte, wie sie selbst immer verstörter wurde, sich ansteckte und entschied, sie pro tem, vorläufig, wie der Vikar auf den Versammlungen sagte, in die Rubrik Überspanntheit einzutragen. Man konnte sie natürlich auch direkt in die Kategorie Hysterie tun, oft nur die Vorstufe zum Irrsinn, aber Mrs. Arbuthnot hatte gelernt, Personen nicht so rasch in ihre endgültige Kategorie zu stecken, nachdem sie mehr als einmal bestürzt entdecken mußte, daß sie einen Fehler gemacht hatte; und wie schwierig es gewesen war, den Betroffenen da wieder herauszuholen, und wie die furchtbarsten Gewissenbisse sie gequält hatten.
Ja. Überspanntheit. Wahrscheinlich kannte sie keine regelmäßige Arbeit für andere, dachte Mrs. Arbuthnot; Arbeit, die von einem selbst ablenkte. Offenbar war sie steuerlos: umhergetrieben von Böen, Aufwallungen. Überspanntheit war fast mit Sicherheit ihre Kategorie oder würde es bald schon sein, wenn niemand ihr half. Arme Kleine, dachte Mrs. Arbuthnot, die nicht nur ihre Fassung, sondern auch ihr Mitgefühl wiederfand und wegen des Tisches nicht in der Lage war, die Länge von Mrs. Wilkins' Beinen zu sehen. Alles, was sie sah, waren ihr schmales, lebhaftes, scheues Gesicht und ihre mageren Schultern und der Ausdruck kindlicher Sehnsucht in ihren Augen nach etwas, von dem sie wußte, es würde sie glücklich machen. Nein; solche Dinge machten einen nicht glücklich, solche vergänglichen Dinge. Mrs. Arbuthnot hatte in ihrem langen Zusammensein mit Frederick gelernt – Frederick war ihr Mann, und sie hatte ihn mit zwanzig geheiratet und war nun dreiunddreißig –, wo allein die wahren Freuden zu finden sind. Sie fanden sich, das wußte sie jetzt, nur im alltäglichen Leben, Stunden um Stunden, die man anderen widmete; sie fanden sich nur – hatte sie nicht dort immer wieder ihre Anfechtungen und Entmutigungen abgeladen und war getröstet worden? – zu Füßen Gottes.
Frederick war der Typ von Ehemann, dessen Frau es beizeiten zu Gottes Füßen hindrängt. Von ihm hin zu Gottes Füßen war es ein kleiner, wenn auch schmerzlicher Schritt gewesen. Im nachhinein kam ihr der Schritt klein vor, tatsächlich hatte sie aber das ganze erste Ehejahr dazu gebraucht, und jeder Zentimeter Weg war ein Kampf gewesen, und jeder Zentimeter davon, so war es ihr damals erschienen, war getränkt mit ihrem Herzblut. Das war nun alles vorbei. Sie hatte seit langem Frieden gefunden. Und Frederick, einst ihr heißgeliebter Bräutigam, ihr angebeteter junger Ehemann, war an die zweite Stelle direkt hinter Gott auf der Liste ihrer Pflichten und Verzichte gerückt. Da schwebte er, an zweitwichtigster Stelle, etwas Lebloses bis zum Weißbluten ausgepreßt durch ihre Gebete. Jahrelang konnte sie nur glücklich sein, wenn sie das Glück vergaß. Sie wollte, daß es so bliebe. Sie wollte alles ausklammern, was sie an schöne Dinge erinnerte, was sie wieder dazu bringen konnte, Sehnsucht zu haben, Wünsche …
»Ich wäre gerne mit Ihnen befreundet«, sagte sie mit Nachdruck. »Besuchen Sie mich doch, oder erlauben Sie mir, daß ich Sie gelegentlich besuche? Immer, wenn Ihnen nach Reden zumute ist. Ich gebe Ihnen meine Adresse«, sie kramte in ihrer Handtasche, »dann vergessen Sie's nicht.« Und sie fand eine Visitenkarte und streckte sie ihr hin.
Mrs. Wilkins ignorierte das Kärtchen.
»Es ist sonderbar«, sagte Mrs. Wilkins, als hätte sie die andere nicht gehört, »aber ich sehe uns beide – Sie und mich – in diesem April in einem mittelalterlichen Castello.«
Mrs. Arbuthnot spürte ihr altes Unbehagen. »Wirklich?« sagte sie und bemühte sich, unter dem träumerischen Blick der glänzenden grauen Augen ihre Gelassenheit zu bewahren. »Wirklich?«
»Sehen Sie niemals die Dinge blitzartig aufleuchten, bevor sie geschehen?« fragte Mrs. Wilkins.
»Nie«, kam es von Mrs. Arbuthnot.
Sie versuchte zu lächeln; sie versuchte es mit dem verständnisvollen, abgeklärt toleranten Lächeln, mit dem sie den notwendigerweise parteiischen und unzulänglichen Ansichten der Armen zuzuhören pflegte. Ohne Erfolg. Das Lächeln erstarb.
»Natürlich«, sagte sie mit leiser Stimme, fast als befürchte sie, der Vikar und die Sparkasse lauschten, »würde es wunderschön sein – wunderschön …«
»Selbst wenn es verkehrt wäre«, sagte Mrs. Wilkins, »wäre es ja nur für einen Monat.«
»Das …«, begann Mrs. Arbuthnot, der das Verwerfliche eines solchen Standpunktes klar war; aber Mrs. Wilkins unterbrach sie, bevor sie zu Ende reden konnte.
»Wie dem auch sei«, sagte Mrs. Wilkins, »ich bin überzeugt, daß es verkehrt ist, für allzu lange Zeit immer nur gut zu sein, bis man selbst ganz elend wird. Und daß Sie schon viele Jahre lang gut sind, erkenne ich daran, daß Sie so unglücklich aussehen« – Mrs. Arbuthnot öffnete den Mund, um zu protestieren – »und ich – ich habe nichts als Pflichten erfüllt, Dinge für andere getan, seit meiner Kindheit, und ich glaube nicht, daß irgend jemand mich deswegen ein bißchen – ein bißchen – mehr – mehr liebt – und ich sehne mich danach – oh, wie sehne ich mich – nach etwas anderem – etwas anderem …«
Würde sie gleich weinen? Mrs. Arbuthnot spürte heftiges Unbehagen und Mitleid. Sie hoffte, sie würde nicht weinen. Nicht hier. Nicht in diesem unfreundlichen Zimmer, wo Fremde ein und aus gingen.
Aber nachdem Mrs. Wilkins an einem Taschentuch gezerrt und gezupft hatte, das nicht aus ihrer Kostümtasche wollte, gelang es ihr doch schließlich, und sie schneuzte sich die Nase, und dann, ein paarmal rasch mit den Augen blinzelnd, blickte sie Mrs. Arbuthnot mit Nachsicht heischender Miene demütig und erschrocken an und lächelte.
»Werden Sie mir glauben«, flüsterte sie und versuchte das Beben der Lippen zu unterdrücken, »daß ich noch nie in meinem Leben so zu jemandem gesprochen habe? Ich kann mir nicht erklären, ich begreif's einfach nicht, was da über mich gekommen ist.«
»Es ist das Inserat«, sagte Mrs. Arbuthnot mit würdevollem Kopfnicken.
»Ja«, bestätigte Mrs. Wilkins und wischte sich verstohlen über die Augen, »und wir beide sind so …« – sie schniefte noch einmal leicht ins Taschentuch – »unglücklich.«