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Eine junge Isländerin ist auf dem Weg zu einer Verabredung mit ihrem Liebhaber, von dem sie sich trennen will, aber er kommt ihr zuvor. Auf dem Weg zu ihm hat sie eine Graugans überfahren, die jetzt im Kofferraum liegt. Mit der Gans, nimmt sie sich vor, will sie ihren Mann überraschen und ein vorgezogenes Weihnachtsessen zubereiten. Der aber – »das kann so nicht weitergehen« – eröffnet ihr während des Essens, dass er sie verlassen wird, um mit seiner Kollegin Nina zusammenzuziehen, die ein Kind von ihm erwartet.

Hals über Kopf stürzt sich die junge Frau daraufhin in eine Reise durch ihr Land. Mit dem Handschuhfach voller Geld, denn tatsächlich ist eingetroffen, was ihr eine Wahrsagerin prophezeit hat, sie hat im Lotto gewonnen. Und noch etwas hat ihr die Wahrsagerin prophezeit: Sie wird den Mann ihres Lebens treffen, wenn zwei weitere Tiere gestorben sind. Begleitet wird sie von einem kleinen Kind, dem gehörlosen Sohn ihrer Freundin, mit dem sie, die vielsprachige Lektorin und Übersetzerin, Sprache ganz neu lernt. Eine Freundschaft entsteht. Nach vielen Abenteuern treffen sie in einem kleinen Ort an der Ostküste ein, wo die junge Frau als Kind viele Sommer verbracht hat. Drei Tiere sind gestorben. Wo ist der Mann ihres Lebens?

 

Die isländische Bestsellerautorin Auður Ava Ólafsdóttir erzählt in ihrem berührenden Roman von einer Reise durch das winterliche Island und von einer herzerwärmenden Freundschaft zwischen einem kleinen Jungen und einer kinderlosen Frau.

 

»Ein überaus amüsantes Buch, das einen packt und nicht mehr loslässt.« P. B. B.2 – Isländisches Fernsehen

 

Auður Ava Ólafsdóttir, geboren 1958 in Reykjavík, debütierte 1998 mit ihrem ersten Roman. Weiß ich, wann es Liebe ist (it 4264 ) wurde mit den wichtigsten isländischen Literaturpreisen und 2010 in Frankreich mit dem »Prix Page des libraires« für den besten ausländischen Roman ausgezeichnet. Über 200 000 Exemplare wurden in Frankreich verkauft.

 

 

AUÐUR AVA ÓLAFSDÓTTIR

Ein Schmetterling im November

Roman
Aus dem Isländischen von Sabine Leskopf

Mit siebenundvierzig Rezepten und einer Strickanleitung

Insel Verlag

 

 

Die isländische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel

Rigning í nóvember. © Auður Ava Ólafsdóttir, 2004.

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2013

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2013.

© Insel Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Mirjan Rooze

Umschlaggestaltung: glanegger.com, München

Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

 

eISBN 978-3-458-73324-9

www.insel-verlag.de

Ein Schmetterling im November

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Für Melkorka Sigríður

 

Wo gibt es Städte, aber keine Häuser,

Straßen, aber keine Autos

Wälder, aber keine Bäume?

 

Antwort: auf der Landkarte

(Rätsel aus der Kinderstunde)

Null 

So also sieht das Ganze heute für mich aus, wenn ich zurückblicke und mich vielleicht nicht mehr der Reihe nach an alles erinnern kann. Jedenfalls stehen wir da eng beisammen in der Mitte des Bildes, ich habe meinen Arm um seine Schultern gelegt und auch er hält mich fest umschlungen – weil er so klein ist, natürlich eher irgendwo weiter unten – mir fällt eine dunkelbraune Strähne über die blasse Stirn und er lacht von einem Ohr zum anderen, er hält etwas in seiner fest zusammengeballten Faust, die er nach vorn streckt.

Ganz unten an dem großen Kopf sitzen die weit abstehenden Ohren mit den Hörgeräten, auffallend groß und altmodisch. Sie sehen aus wie Empfänger für Nachrichten aus dem Weltall. Dazu kommt, dass seine Augen durch die Brille unnatürlich groß aussehen, sodass sie die Gläser fast ausfüllen, und dadurch wirkt er noch auffälliger. Und tatsächlich drehen sich die Menschen auf der Straße nach ihm um, zuerst schauen sie ihn an, dann mich, dann wieder ihn, und sie schauen ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwindet, zum Beispiel, wenn er an meiner Hand zum Spielplatz hinübergeht und ich das gusseiserne Tor hinter uns schließe. Ich weiß, dass man uns von den anderen Autos aus beobachtet, wenn ich ihn in seinem Sitz anschnalle.

Hinten im Bild ist mein vier Jahre altes, mit Gangschaltung ausgestattetes Auto zu sehen. Die drei Goldfische schwimmen in einer kleinen Pfütze im Kofferraum – doch davon weiß er noch nichts – und den Boden bedeckt ein vollständig durchnässter blauer Schlafsack in Doppelgröße. Bald darauf werde ich im Dorfladen zwei neue Daunendecken kaufen, denn eine Frau von dreiunddreißig Jahren kann nicht ewig den Schlafsack mit einem fremden Kind teilen, und schließlich ist das Handschuhfach voll von Geldscheinen, frisch aus der Bank. Ein Verbrechen liegt aber nicht vor, es sei denn, es gilt als Verbrechen, auf einer Strecke von weniger als dreihundert Kilometern auf der Nationalstraße, dort, wo der Streifen Land zwischen Gletscher und Meer am schmalsten ist und es die meisten einspurigen Brücken gibt, mit drei Männern zu schlafen.

Doch nichts ist, wie es sein soll auf dieser Insel an diesem letzten Tag im November, einem stockdunklen Tag, und trotzdem stehen wir nur im Pullover da, ich in einem weißen Rollkragenpullover, er in einem neuen minzgrünen Strickpullover mit Karomuster und Kapuze, die Temperatur ist etwa dieselbe wie in Lissabon am Tag zuvor, sagt der Nachrichtensprecher im Radio, er sagt weitere Niederschläge und weiterhin milde Temperaturen voraus. Deshalb sollten sich Frauen mit Kindern in dieser schwarzen Ödnis möglichst nicht draußen aufhalten und schon gar nicht in der Nähe einspuriger Brücken, denn die Straßen können vielerorts überflutet sein.

Nun bin ich nicht so eitel, dass ich glaube, dass mir an jeder einspurigen Brücke ein neuer Liebhaber begegnet, doch man weiß ja nie. Bei näherem Hinschauen sehe ich auf dem Bild ein paar Schritte weiter hinten einen jungen Mann von vermutlich siebzehn Jahren, eigentlich steht er direkt zwischen mir und dem Jungen, aber sein Gesicht wirkt leicht verschwommen. Unter der Kappe zeigt er empfindsame Gesichtszüge und vermutlich werden sich seine Hautprobleme bald bessern. Er lehnt mit halb geschlossenen Augen an der Zapfsäule und sieht müde aus.

Schaut man noch näher hin, praktisch mit der Lupe, kann man an den Reifen fast ein paar Federreste erkennen, sogar ein paar Blutspritzer auf den Felgen, auch wenn jetzt schon drei Wochen vergangen sind seit dem Tag, an dem mein Mann die gemeinsame Wohnung mit den orthopädischen Matratzen aus dem Ehebett, der Campingausrüstung und zehn Bücherkisten verlassen hat. Und doch darf man bei alldem nicht vergessen, dass der Schein trügt, dass die Wirklichkeit mit dem zu Tode erstarrten Bild nur wenig zu tun hat, sondern viel eher einer Büchse mit umherwuselnden Würmern gleicht.

Eins 

Gott sei Dank war es kein Kind.

Ich löse meinen Gurt und stürze aus dem Auto heraus, um nach dem Tier zu sehen, es sieht noch heil aus, nur dass es jetzt auf dem Boden liegt, allein der Hals hängt kraftlos herab, auf der Brust ist ein wenig Blut zu sehen und ich fürchte, dass darunter ein zerquetschtes Gänseherz liegt.

Bei der Notbremsung sind die Mappen auf den Boden gerutscht, Manuskriptseiten mit Übersetzungen aus mehreren Sprachen breiten sich auf dem Boden aus, irgendwo auf dem vollgepackten Rücksitz liegt aber noch ein einigermaßen kompletter Stapel.

Das Besondere an meiner Arbeit – etwas, das ich meinen Kunden gegenüber gern hervorhebe – besteht wohl darin, dass ich alles persönlich bei ihnen zuhause abgebe, ich liefere korrekturgelesene Artikel, Aufsätze und Übersetzungen aus wie thailändische Nudelgerichte und Frühlingsrollen. Das mag altmodisch sein, aber es funktioniert, die Leute freuen sich, ein Stück Papier in der Hand zu halten und dabei einen Moment lang einem unbekannten Menschen gegenüberzustehen, der bis in die Tiefen ihrer Seele geblickt hat. Am besten ist es, kurz vor dem Abendessen vorbeizukommen, wenn die Nudeln schon gar sind und keine Minute länger im Wasser bleiben dürfen oder wenn die Zwiebeln schon angebraten sind und der Fisch fertig paniert bereitliegt. Nach meiner Erfahrung geht es dann am schnellsten, keiner will einen Gast diesem Essensgeruch aussetzen, man will nicht in Socken oder gar barfuß mit einem Unbekannten herumdiskutieren, inmitten all der Schuhe im Flur und den quengelnden Kindern im Hintergrund, nach meiner Erfahrung geht so die Abrechnung am schnellsten über die Bühne und die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß, dass die Leute versuchen, um die Mehrwertsteuer zu feilschen. Sie ziehen die Sache dann auch nicht unnötig in die Länge, wenn ich sage, dass ich keine Scheck- oder Kreditkarten nehme, sondern schreiben stattdessen in aller Eile einen Scheck aus und nehmen die Blätter kommentarlos entgegen.

Wenn die Leute dagegen zu mir in meine kleine Arbeitswohnung kommen, die ich unten am Hafen gemietet habe, lassen sie sich eher Zeit, um meine Anmerkungen zu kommentieren, mich von ihrem guten Willen zu überzeugen, ihre Fachkenntnisse zu erläutern, warum sie die Dinge so ausgedrückt haben und nicht anders. Es sei nun wirklich nicht meine Aufgabe, den Artikel komplett umzuschreiben – in einem Absatz hätte ich gar ganze neun Wörter gestrichen –, sondern nur die Tippfehler zu korrigieren, die im Eifer des Gefechts hineingeraten seien, wie ein Kunde das einmal ausdrückte, während er gleichzeitig Brille und Krawatte zurechtrückte und sich vor dem Spiegel im Flur die Barthaare glättete.

Dabei ginge es ihm nicht darum, komplizierte Gedanken unverhältnismäßig zu vereinfachen, der Artikel sei schließlich für Leute gedacht, die etwas von der Sache verstehen. Und doch hatte ich keinerlei Kritik an seinem Dativ bei den Geothermalkraftwerksbauplänen geübt, ich hatte lediglich darüber nachgedacht, ob man nicht ab und zu den Begriff ertragreich, der ganze 14 Mal auf einer Seite vorkam, gegen ein altmodisches, volkstümliches und selten verwendetes Adjektiv wie zum Beispiel geburtenreich, also reich an Geburten, austauschen könnte. Das hatte ich jedoch nicht laut gesagt, sondern nur so bei mir gedacht und mich darüber amüsiert. Wenn man sich dann am Ende einig geworden ist, fangen manche Männer an, ein wenig von sich selbst zu erzählen und mir Fragen zu stellen, zum Beispiel, ob ich verheiratet bin. Zwei- oder dreimal habe ich einem ein Brot geschmiert. Ich möchte jedoch betonen, dass nicht ich die Anzeige verfasst habe, das war meine Freundin Auður in einem offensichtlich manischen Anfall. Mir liegt es nämlich nicht, die Dinge so auf die leichte Schulter zu nehmen.

 

Übernehme Korrekturlesen, überarbeite Diplomarbeiten, auch Artikel für Fachzeitschriften und Tageszeitungen zu Themen jeder Art. Überarbeite auch Reden von Politikern, unabhängig davon, welcher Partei sie angehören, korrigiere individuelle Eigenarten in anonymen Beschwerde- oder Fanbriefen, entferne Schnitzer und peinliche Zitate von Philosophen und Dichtern in Festreden, hebe das Niveau von Nachrufen auf nahezu himmlische Ebene an, verfüge über eine große Auswahl von Zitaten verstorbener Nationaldichter.

Außerdem Übersetzungen aus elf Fremdsprachen ins Isländische und aus dem Isländischen in andere Sprachen, darunter Russisch, Polnisch und Ungarisch. Schnelle und sorgfältige Arbeit. Lieferservice. Sämtliche Unterlagen werden vertraulich behandelt.

 

Ich nehme den noch warmen Vogel auf und vermute, dass ich einen Gänserich überfahren habe, und da ich ironischerweise gerade erst einen Artikel über das Paarungsverhalten von Gänsen korrekturgelesen habe, in dem von der lebenslangen Treue zu ein und demselben Partner die Rede ist, suche ich in der Gänseschar nach der Lebensgefährtin des Verstorbenen. Immer noch überqueren ein paar Tiere watschelnd die spiegelglatte Straße und springen hinauf auf den Bürgersteig auf der anderen Seite, die großen orangefarbenen Gänsefüße leuchten auf dem Asphalt. Soweit ich sehen kann, blickt sich keine aus der Schar nach ihrem Gefährten um, keine scheint eine besondere Ähnlichkeit mit der Gans in meiner Hand aufzuweisen, wie man sie oft zwischen langjährigen Partnern feststellt. Wo es mir doch in letzter Zeit sogar gelungen ist, einige der schwarzen Katzen in der Straße auseinanderzuhalten, allein dadurch, wie sie auf meine Zärtlichkeiten reagieren. Immer noch stehe ich mitten auf der Straße und halte dieses ziemlich fette Tier am Hals und bin überrascht, dass ich weder Abscheu noch Schuldgefühle in mir verspüre. Wo ich doch im Grunde meines Herzens ein eher mitfühlender Mensch bin, das heißt, Streit zu vermeiden versuche. Es fällt mir schwer, einen Antrag abzulehnen, der männlicher Sentimentalität entspricht, und ich kaufe alle Lose von Wohlfahrtsorganisationen, deren Post in meinem Briefkasten landet. Jetzt stellt sich bei mir eine Vorfreude ein, wie man sie vielleicht sonst nur an der Fleischtheke kurz vor Weihnachten empfindet, und ich denke über Gewürze und Beilagen nach und darüber, ob das Muster des Good-Year-Reifens unter einer dickflüssigen Wildsoße noch zu erkennen sein wird.

»Ja, also dann – ein frohes neues Jahr im Voraus«, sage ich zu meinen Freunden, die ich an einem dunklen Novemberabend überraschend zum Essen eingeladen habe. Mehr sage ich nicht.

Ich schnappe mir ein paar Seiten aus einem unglaublich langweiligen Artikel über Wärmeleiter und lege den Vogel im Kofferraum vorsichtig darauf ab. Es ist eine Ewigkeit her, dass ich den Kofferraum zuletzt geöffnet habe, und ich stelle fest, dass er bis oben hin voll ist mit den Küchenrollen, die ich bereits vor Monaten gekauft habe, um einen Sportausflug behinderter Jugendlicher zu unterstützen. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich nicht die gefrorenen Krabben genommen habe.

Doch die Gans wird nicht das gleiche Schicksal erleiden, denn ich werde meinem Ehemann, der selbst ein Meister der Kochkunst ist, eine freudige Überraschung bereiten. Zuerst muss ich aber noch in diesem Mehrfamilienhaus im Nachbarviertel vorbeischauen, um noch ein einziges Mal das zu tun, was ich eigentlich nie wieder hatte tun wollen.

Zwei 

Ich parke den Wagen vor dem mehrstöckigen Haus, dann laufe ich die mit einem robusten Läufer ausgelegte Treppe bis in den zweiten Stock hinauf, nehme zwei Stufen auf einmal in dem lila gestrichenen Treppenhaus, sodass man meine Absätze klappern hört. Es interessiert mich nicht, dass sich auf dem Weg nach oben zwei oder drei Türen einen Spalt weit öffnen und der Geruch von jahrelangem Wohnen daraus hervorquillt, es würde mich auch nicht interessieren, ob jemand hinter mir her spioniert, denn das, was ich da zum dritten Mal in drei Wochen tue, tue ich normalerweise nicht, ist ehrlich gesagt eine absolute Ausnahme, denn ich bin eine verheiratete Frau.

Wenn ich dieses Haus nachher wieder verlasse, weiß ich genau, dass ich nie wieder hierher zurückkehren werde, und deshalb sind mir die geöffneten Türen egal, deshalb verschwende ich keinen Gedanken an die Gaffer. Denn ich habe es eilig, meinem Liebhaber die blutigen Hände um den Hals zu legen, auf dem neu verlegten Parkett zu liegen und mit meinen Fingern seinen Nacken hinabzugleiten und dabei eine rote Spur zu hinterlassen, das Ganze dann rasch hinter mich zu bringen, um noch die Beilagen für die Gans zu besorgen, bevor die Geschäfte zumachen. Es dauert ewig, bis er mich aus den Stiefeln herausgezerrt hat, er beugt sich im Türrahmen nach vorne, und ich strecke ihm mein Bein entgegen, er lässt mich währenddessen nicht aus den Augen, hat seine Brille schon abgenommen. Er hat die Jalousien fast ganz heruntergezogen und die tief stehende Novembersonne, die über der Halbinsel von Seltjarnarnes unterzugehen beginnt, überzieht unsere Körper mit Streifen, sodass wir wie zwei Zebras aussehen, die an der Wasserstelle kurz aufeinandertreffen. Am Waschmittelgeruch merke ich, dass er das Bett frisch bezogen hat, alles ist überaus ordentlich, eine solche Wohnung könnte ich bei einem Brand oder bei Kriegsausbruch verlassen, ohne etwas mitnehmen zu müssen, ohne etwas daraus zu vermissen. Das Einzige, was nicht hierher passt, sind die gerüschten, gemusterten Volants über den Jalousien.

»Meine Mutter hat sie genäht und mir nach der Scheidung geschenkt«, sagt er und räuspert sich.

Natürlich verändert sich die Umgebung je nach Stimmung und Gefühlen, obwohl ich mir ausgerechnet jetzt und in dieser Situation nicht wirklich zutraue, über die Bedeutung von Schönheit oder Wohlbefinden zu philosophieren. Ich habe es auch nicht von langer Hand geplant, dass ich jetzt hier nackt am äußersten Rand eines fremden Bettes sitze; das sind nur eben die Umstände, in denen ich mich gerade befinde. Es ist mir gleichgültig, dass hier jede Farbe fehlt, ja, dass die ganze Wohnung vielleicht sogar hässlich ist, es ist mir auch gleichgültig, dass er so gut wie keine Kommas setzt und alles in einem so »kompackten« Stil schreibt, seine Sprache mitunter sogar ein wenig grob ist, auch dort, wo es so überhaupt nicht angemessen ist, denn dafür kann er ordentlich zupacken, wenn es darauf ankommt. Auch wenn ich auf diesem Gebiet nicht viel Erfahrung haben mag, weiß ich, dass es keinen Zusammenhang zwischen Sex und Sprachgefühl gibt, so viel habe ich gelernt.

Auf der ersten Seite klebt eine kleine Feder mitten in einem Blutfleck, doch ich spekuliere nicht länger darüber, ob ich ihm den Artikel vorher oder nachher geben soll, die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es besser ist, wenn ich es hinterher tue, denn man soll Berufliches und Privates nicht miteinander vermischen. Als wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten, schien es ihn zu wundern, dass ich ihm anschließend die Rechnung samt gesondert ausgewiesener Mehrwertsteuer überreichte.

Anschließend helfe ich ihm dabei, das Laken wieder glattzuziehen, und während er den blau gestreiften Bettbezug, der zusammengeknäult auf dem Boden liegt, wieder über die Daunendecke zieht, gibt er sich ganz offen und vertraut mir Dinge an, die keine Frau je weitererzählen dürfte. Da bemerke ich zum ersten Mal eine sonderbare Tätowierung auf dem unteren Rücken, nicht unähnlich einem Spinnennetz, was an und für sich schon ungewöhnlich ist für einen Mann in seiner Position. Als ich die Stelle berühre, nehme ich darunter eine wulstige Narbe wahr. Ich frage ihn danach und er sagt mir, das sei ein Versehen gewesen, und ich bin mir nicht sicher, ob er damit die Narbe oder die Tätowierung meint.

Er streckt die Hand aus.

»Ist das nicht deins?«, fragt er und hält ein weißes Spitzenhöschen zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Als ob noch andere dafür infrage kämen.

Jetzt habe ich es eilig, nach Hause zu kommen, doch als ich mir die Hände mit seiner rosafarbenen parfümierten Seifenlotion gewaschen habe und wieder aus dem Bad herauskomme, hat er bereits den Tisch gedeckt, Eier gekocht, zwei Scheiben Brot für mich mit Lachs belegt und Tee gemacht. Während ich esse, steht er mit nacktem Oberkörper barfuß neben mir und schaut mir dabei zu, während er sein Hemd anzieht. 

»Vor ein paar Tagen habe ich dein Auto in der Stadt gesehen und direkt neben dir geparkt«, sagt er. »Ist dir das nicht aufgefallen?«

»Nein, ist es nicht.«

»Ist dir noch nicht einmal aufgefallen, dass jemand deine Windschutzscheibe freigekratzt hat?«

»Nein, ist es nicht, aber trotzdem danke.«

»Dabei habe ich auch gesehen, dass du bald zum TÜV musst mit dem Wagen.«

Nachdem ich beide Brote aufgegessen habe, will ich mich bei ihm für alles bedanken und ihn küssen, weil ich nie mehr wiederkommen werde, aber jetzt fragt er mich, ob ich oft an ihn denke.

»So alle drei bis vier Tage«, sage ich.

»Das macht dann fünf Komma sechs Mal in drei Wochen«, so der frisch geschiedene Fachmann, an dessen über der Hose hängendem Hemd inzwischen ein Knopf geschlossen wurde. »Ich denke also offensichtlich öfter an dich als du an mich, nämlich etwa sechzig Mal am Tag. Auch wenn ich nachts aufwache, denke ich darüber nach, was du wohl gerade so machst, in Gedanken schaue ich dir zu, wie du dich nach dem Baden eincremst, ich überlege, wie es wäre, in deiner Haut zu stecken, und abends stelle ich mir vor, dass du erst ins Bett gehst, wenn dein Mann eingeschlafen ist.«

»Er ist dieser Tage abends ziemlich selten daheim«, sage ich.

Da fragt er, ob ich vorhabe, mich scheiden zu lassen.

»Nein, das habe ich eigentlich nicht vor«, antworte ich. Denn ich liebe meinen Mann wohl. Das sage ich aber nicht. Und dann teilt er mir, ohne zu zögern, mit, dass dies das letzte Mal war.

»Das letzte Mal wofür?«

»Dass wir miteinander schlafen. Es ist eine zu große Qual für mich, mich danach von dir verabschieden zu müssen, ich habe das Gefühl, als würde ich am Rande eines hohen Felsens stehen, und dabei habe ich so große Höhenangst.«

Als ich die Treppe in seinem Haus zum dritten Mal in genau so vielen Wochen hinuntergelaufen bin, sehe ich, dass es draußen unglaublich düster geworden ist. Aber jetzt bin ich weg und jetzt ist Schluss und ich tue das, was ich da gerade getan habe, nie wieder, denn ich habe es eilig heimzukommen. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass da jemand auf mich wartet. Unterwegs im Auto läuft im Radio das Frühlingslied von Mendelssohn, die Platte ist schon alt und verkratzt, aber der Radiomoderator scheint das überhaupt nicht zu merken. Ich hingegen weiß es, auch wenn ich wohl kaum behaupten könnte, dass ich zuhöre.

Drei 

Auch wenn keine Frau ihr Leben ganz im Griff haben kann, ist es doch zu neunundneunzig Komma neun Prozent sicher, dass ich diesen Tag zu Hause im Bett mit meinem Mann beenden werde. Aber jetzt merke ich, dass ich meinen vier Jahre alten, mit Gangschaltung ausgestatteten Wagen umständlich vor meiner alten Wohnung einparke, in der Straße, in der ich vor zwei Jahren einmal gelebt habe. Dabei hatte ich es doch so eilig, nach Hause zu kommen. Und dann erkenne ich die Gardinen nicht wieder und mir fällt ein, dass ich keinen Schlüssel mehr für diese Haustür besitze und dass ich seither schon zwei Mal umgezogen bin, wenn auch nie weit weg. Beim Wegfahren sehe ich, dass jemand in dem Zimmer, in dem einmal mein Computer stand, ein Babymobile aufgehängt hat; um ganz sicherzugehen, warte ich noch einen Moment, bis ich schließlich einen Mann sehe, der mit einem Baby an der Schulter am Fenster vorbeigeht. Immerhin weiß ich, dass das nicht mein Mann ist, dass das nicht mein Kind ist. Denn ich habe kein Kind.

Ich sitze immer noch im Auto, als mein Handy klingelt, es ist die Musiklehrerin, die Klavierspielerin, meine Freundin. Auður ist alleinerziehend, hat einen vier Jahre alten gehörlosen Sohn und ist im 7. Monat schwanger. Abends sitzt sie im Bett und spielt Akkordeon und normalerweise ist sie einem guten Schluck Cognac nicht abgeneigt.

Sie sagt, sie kann nicht lange sprechen, sie ist eigentlich gerade beschäftigt mit einem schwierigen Schüler und dessen noch schwierigerer Mutter, und ausgerechnet jetzt – nun flüstert sie fast – hat sie einen Termin bei einer Wahrsagerin, vielleicht nicht direkt einer Wahrsagerin, eher könnte man sie ein Medium nennen, ob ich den Termin nicht übernehmen könnte? Im Hintergrund höre ich jemanden weinen, kann aber nicht feststellen, ob es ein Kind oder ein Erwachsener ist.

Vor zwei Jahren ist meine Freundin in irgendeinem Wahn bei einer Wahrsagerin gelandet. Seitdem hat sie sich im Netz des Schicksals verfangen und lässt sich in ihrem Leben durch nichts mehr überraschen. Zumindest war die Schwangerschaft keine Überraschung für sie.

 

Ich warte immer noch darauf, dass es einfach verschwindet. Ich denke nicht darüber nach. So kann ich es verschwinden lassen, ich denke einfach nicht mehr darüber nach. Bis es nicht mehr da ist. Trotzdem kann ich nicht behaupten, dass ich nie darüber nachdenke. Ich habe in einem Buch nachgeschlagen und weiß, dass es kein zwei Komma fünf Zentimeter langer Stichling mehr ist, sondern langsam zu einem Menschen wird, dass es schon Zehen hat. Bald kann ich die Hose mit dem geblümten Aufschlag nicht mehr anziehen. Ich verstecke es unter der Wolljacke mit den Messingknöpfen, damit keiner davon erfährt. Und dann will ich so bald wie möglich hinaus in die Welt. Wenn ich mit der Schule fertig bin. Noch bilde ich mir das alles nur ein.

 

Auður kennt meine Skepsis gegenüber den Mächten des Schicksals.

»Was meinst du damit, lieber nicht?«, sagt sie zu mir. »Die Frau hat eine Warteliste von zwei Jahren«, fährt sie fort, ganz ruhig, als spräche sie gelassen und mit großer Überzeugungskraft zu einem launischen Kind. »Man sagt, sie sei die Allerbeste in der nördlichen Hemisphäre, in Amerika hat man sogar mit Elektroden und allem, was dazugehört, ihre Gehirnströme untersucht und sie begreifen das einfach nicht, finden kein Muster, keinen roten Faden, du hast pünktlich da zu sein in zwanzig Minuten, fahr jetzt sofort los. Es kostet dreitausendfünfhundert Kronen, keine Scheck- oder Kreditkarte, keine Quittung.«

»Wenn du dir diese Chance entgehen lässt, kriegst du so bald keine andere.« Sie müsse jetzt Schluss machen, rufe mich aber später wieder an. »Dann musst du mir alles erzählen«, flüstert sie mit rauer Stimme und legt auf.

Vier 

Zwanzig Minuten später stehe ich im Neubaugebiet außerhalb der Stadt, unterwegs zu einem fremden Haus. Ich sehe nichts als flaches Land und Moorebenen, eine unfassbare Weite in alle Richtungen. Nichts bietet den Häusern auch nur irgendeinen Schutz. Es dauert eine Weile, bis ich das halbfertige Haus gefunden habe – alles immer noch im Bau, die Straßen kaum befestigt, keine Außenbeleuchtung, weder Hausnummern noch Straßenschilder, nichts als das Chaos des ersten Tages. Und doch steht die Grundmauer der Kirche schon. Was meine Aufmerksamkeit dann am Ende auf das richtige Haus lenkt, ist der Holzstoß in der Einfahrt. Ein ordentlicher Stapel, bei dem die kürzesten Holzstücke, eigentlich nur Stummel, in einem sonderbaren Muster angeordnet sind. Es sieht aus wie ein zerrissenes Spinnennetz, mit viel Kalkül arrangiert. Vorn am Haus steht noch das Gerüst, das Grundstück ist voller Schotter, aber im Sommer werden hier wahrscheinlich die Beeren wachsen.

Sie entspricht so überhaupt nicht meiner Vorstellung von einer Wahrsagerin, erinnert eher an eine italienische Sexbombe aus den 60er Jahren. Es sieht so aus, als stünde Gina Lollobrigida vor mir in der Tür. Vermutlich stand sie schon da, noch bevor ich überhaupt geklopft habe, eine elegante Erscheinung von unbestimmbarem Alter in einem auf Figur geschnittenen Kleid und Schuhen mit hohen Absätzen. Doch was sie endgültig von gewöhnlichen Menschen unterscheidet, sind die stechenden Augen, winzige Pupillen, so klein wie Stecknadelköpfe in einem Ozean von flüssigem Blau.

Die Wohnung wirkt kahl, die nackten Glühbirnen hängen von der Decke, ein paar Plastikblumen, an der Wand ein Bild von Christus mit wallenden Locken und großen blauen Augen voller Tränen und eine Bleistiftzeichnung von einem traditionellen isländischen Bauernhof mit vier Giebeln und Grasdach. Draußen wird es immer dunkler, doch die Wohnung ist in Licht getaucht. Die Stimme ist von ähnlicher Sinnlichkeit wie die Frau selbst.

Sie hätte früher mit mir gerechnet, ist das Erste, was sie zu mir sagt, vor vielen Monaten schon.

Ein stumpfer Schmerz durchfährt mich und meine Gedanken werden glasklar und durchsichtig, ich lasse mich auf das Sofa fallen, spüre, wie sich meine Halsmuskeln entspannen, ich lege den Kopf auf ein besticktes Kissen und frage, ob es ihr etwas ausmacht, wenn ich mich hinlege, statt ihr am Tisch gegenüberzusitzen.

Sie mischt die abgegriffenen Karten und legt sie vor sich auf den Tisch, zählt, paart Zahlen und Muster von Ereignissen miteinander, meine Vergangenheit und meine Zukunft. Mir wird klar, dass sie mich wie ein offenes Buch lesen kann. Ich finde es sehr unangenehm, auf diese Weise enttarnt zu werden. Sie erwähnt allerdings weder ein außereheliches Verhältnis noch eine tote Gans im Kofferraum, auch nicht, dass ich immer noch eine fremde Flüssigkeit in mir trage, von der ich jetzt befürchte, dass sie sogar in den Plüsch sickern könnte.

Stattdessen redet sie über meine Kindheit und andere Geschichten, an die ich mich unmöglich erinnern kann, über die ich gar nichts mehr weiß, erwähnt einen Misthaufen und einen gerissenen Gummi in einer hautfarbenen Hose, kommt immer wieder aufs Neue auf diesen zerrissenen Faden zurück, eine Unterhose vielleicht, sagt sie, cremefarben, könnte aber auch eine Schlafanzughose sein. Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht.

»Ich sage nur das, was sie mir zeigen, bewahre es auf.« Dann wendet sie sich ganz unvermittelt der Zukunft zu.

»Alles, was ich hier sehe, sehe ich gleich drei Mal«, sagt sie, »drei Männer in deinem Leben auf drei Abschnitten von je 100 Kilometern, drei tote Tiere, drei kleinere Unfälle oder Zusammenstöße, die allerdings nicht unbedingt dich selbst betreffen, Tiere werden verstümmelt, Männer und Frauen überleben. Aber eins ist klar: Drei Tiere werden sterben, bevor du den Mann deines Lebens triffst.«

Ich murmele aus dem Sofa hervor, dass ich eine verheiratete Frau bin, zum Beweis hebe ich kraftlos meine Hand empor und streiche mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand an meinem schlichten Ehering entlang. Sie ignoriert das, ich bin nicht einmal sicher, ob sie mir überhaupt zuhört.

»Da wird noch das ein oder andere geschehen, es wird viel Nässe geben, Kurzsichtigkeit, Gier, Eingesperrtsein, mehr Nässe.«

»Was für eine Nässe?«

»Sie wird nicht nur bis zu den Knöcheln reichen, mehr kann ich nicht sagen, mehr kann ich heute noch nicht wissen. Ich kann aber schon einen großen Meeressäuger auf trockenem Land erwähnen.« Sie macht eine kurze Pause, im Zimmer herrscht Totenstille.

»Hier gibt es eine dreifache Empfängnis«, fährt sie fort, »eine davon möglicherweise sogar dreieinig.«

Wovon spricht diese Frau eigentlich?

»Mein Bruder hat Drillinge aus der Retorte, die sind gerade zwei Jahre alt geworden«, kann ich gerade so einschieben.

»Die meine ich nicht«, sagt die Frau gereizt, »ich spreche von drei schwangeren Frauen, drei Kindern, die zur Welt kommen werden, drei Frauen, die in den nächsten Monaten ein Kind gebären werden.«

»Da ist meine Freundin Auður …«

Sie hat ganz offensichtlich nicht das geringste Interesse an irgendwelchen Informationen von mir, Gott sei Dank scheint sie auch an mir selbst kein Interesse zu haben, macht eine abweisende Handbewegung in meine Richtung und nimmt ihr Zwiegespräch mit einem unsichtbaren Gegenüber wieder auf.

»Und dann ist hier noch ein Junge, aber der ist schon groß, ein Teenager, ein schmaler Fjord, eine Sandbank, Weidenröschen, Flussmündungen, Robben ganz in der Nähe.«

Wieder eine kurze Pause.

»Hier ist ein Lotteriegewinn, Geld und eine Reise. Ich sehe einen großen Ring, ich sehe auch einen weiteren, kleineren Ring, der auf einen Finger passt, später. Du wirst nicht dieselbe sein wie vorher, doch am Ende stehst du da mit dem Licht in deinen Armen.«

Das waren ihre Worte, mit dem Licht in deinen Armen, was auch immer das nun heißen mochte.

»Wenn wir das jetzt also einmal zusammenfassen«, sagt sie, wie ein geschickter Redner, »dann haben wir hier eine Reise, einen Lotteriegewinn, Reichtum und Liebe, auch wenn es dabei wohl nicht mit rechten Dingen zugehen wird. Ich kann dahingegen nicht sehen, welcher der drei Männer das sein wird.« Ich richte mich schließlich wieder auf und sehe, dass sie sämtliche Karten aufgedeckt hat, erkenne, dass sie die Karten in einem merkwürdigen Muster angeordnet hat, irgendwie ähnelt es dem Holzstapel draußen, eine Art von Spinnennetz mit zerrissenen Fäden. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich dazu etwas sagen muss.

»Hast du das Holz für die Verschalung draußen angeordnet?«

Sie blickt mich starr an, mit winzigen Pupillen, so klein wie Stecknadelköpfe in einem Ozean von flüssigem Blau.

»Männer können mit so kleinen Holzstückchen nichts anfangen. Achte sorgfältig auf die Muster, sie dürfen dir aber nicht die Sicht verstellen, man braucht Zeit, um ein gutes Auge für Muster zu entwickeln. An deiner Stelle würde ich mich trotzdem nicht im Nebel ins Moor hinaus vorwagen. Denk daran, der Schein kann trügen.«

Als ich ihr zum Abschied die Hand reichen will, umarmt sie mich plötzlich und sagt dann:

»Es wäre vielleicht gar keine schlechte Idee, einen Lottoschein zu kaufen.«

Ihre Kinder, zwei halbwüchsige Teenager, wollen mich noch ans Auto bringen. Ich kann mich im Moment nicht daran erinnern, wo ich es geparkt habe, irgendwo furchtbar weit weg. Sie nehmen mich in die Mitte, schreiten mit konzentriertem Ausdruck im Gesicht voran, als ob sie sich einer Aufgabe angenommen hätten, die sie nun auch zu Ende bringen müssen. Ich habe das Gefühl, dass sie mit mir im Kreis gehen, wir sind schon schrecklich weit gelaufen, ich kann mich nicht erinnern, hier schon einmal entlanggekommen zu sein. Und als ich schließlich davon überzeugt bin, dass ich jetzt vor dem größten Problem dieses Tages stehe, sehe ich meinen Wagen – direkt vor mir, unten an einem aus Steinen aufgerichteten Uferdamm. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn dort zurückgelassen zu haben. Er ist unverschlossen wie immer, doch die Papiere sind noch alle da, ohne dass ich beschwören könnte, dass nicht doch die eine oder andere Seite aus dem Stapel fehlt. Ich habe kein Verlangen, nach der Gans im Kofferraum zu schauen. Erst als ich mich von den beiden verabschiede, fällt mir auf, dass beide Zwillinge beim Gehen immer zuerst den rechten Fuß belasten, sie haben einen ganz sonderbaren Blick, die Pupille wie ein schwarzer Stecknadelknopf in einem Ozean von flüssigem Hellblau. Ich habe das Auto angelassen und will ihnen noch einmal zuwinken, aber sie haben sich bereits in Luft aufgelöst.

Fünf 

Er ist zuhause. Ich bleibe einen Moment auf der mit Frost überzogenen Grasfläche stehen, bevor ich hineingehe, blicke in das Licht meines eigenen Zuhauses hinein, trete vor dem Johannisbeerbusch von einem Fuß auf den anderen, in der Hand die Gans und überlege, ob man es mir ansieht, ob es ihm auffallen wird. Ich sehe, dass er scheinbar ziellos von einem Zimmer ins nächste geht, Dinge hin und her räumt und das Licht abwechselnd an- und ausschaltet. Dann gehe ich an den Fenstern entlang um das hell erleuchtete Haus herum, ein Puppenhaus ohne Vorderseite, um die Bruchstücke aus dem Leben meines Ehemannes aneinanderzureihen.

Urplötzlich hat er die Waschmaschine ausgeräumt und steht mit der nassen Wäsche in den Armen im Schlafzimmer, normalerweise tut er das nie. Er ist auch nicht der Heimwerkertyp, aber ausgerechnet jetzt scheint ihm in den Sinn gekommen zu sein, die Glühbirne im Vorraum auszutauschen und die kaputte Schranktür in der Küche zu reparieren. Plötzlich blickt er aus dem Fenster, hinein in die Dunkelheit, und ich habe das Gefühl, er schaut mir direkt in die Augen, als denke er darüber nach, ob ich nun zu ihm gehöre oder nicht, ob ich jetzt endlich hereinkommen oder draußen im Garten bleiben werde. Er steht da mit nacktem Oberkörper und mit der nassen Wäsche in den Armen – das muss sich recht kühl anfühlen, es sei denn, seine Körperbehaarung bietet ihm da einen gewissen Schutz. Als er sich zum Bett hinabbeugt, habe ich einen Augenblick lang das Gefühl, dass da jemand liegt und er sich jetzt neben diesen Jemand ins Bett legen will, doch gleich darauf schießt er wieder hoch mit meiner hellblauen Unterhose in der Hand, er breitet sie aus und glättet die feuchte Hose vorsichtig mit seinen großen Händen. Dann hängt er sie auf den Wäscheständer, den er neben dem Bett aufgestellt hat, ich sehe vier Wäscheklammern an den blauen Ecken meiner Unterhose. Er mag nicht viel zuhause sein und vielleicht reden wir auch nicht mehr so viel miteinander wie früher, doch ich habe einen guten Ehemann und bin mir meiner Schuld bewusst, ich bin nicht mehr zum Einkaufen gekommen.