Die Liebe ist für Rilke die größte Erfahrung, deren Menschen fähig sind. In der Liebe überbieten wir uns selbst und werden zu mehr, als was wir sonst sind. Doch ist der Weg vom Verliebtsein zur großen Liebe ein schwieriger Prozeß, der all unsere Fähigkeiten in Anspruch nimmt. Lieben will gelernt sein, denn die Liebe ist kein Zeitvertreib. Partnerschaft, Ehe, Beziehungsprobleme, Trennung, Kummer sind die Themen, denen sich Rilke, selbst einer der größten Liebesdichter der Weltliteratur, mit unablässigem Ernst widmet.
Aus Rilkes umfangreicher Korrespondenz mit den unterschiedlichsten Briefpartnern sind hier Zitate ausgewählt, die den Leser direkt ansprechen. In diesen Passagen ist Rilke erfrischend konkret, präzise im Ausdruck und oft überraschend relevant für heutige Belange. Rilkes eigenwillige und scharfsinnige Gedanken laden ein zum Innehalten und schließlich zum Überlegen und Mitdenken. Letztlich geben uns Rilkes exquisit formulierte Gedanken den Anstoß, ein ganz persönliches Verständnis und eine tägliche Praxis der Liebe zu entwickeln.
Rainer Maria Rilke
Es gibt nur – die Liebe
Über die Liebe
Ausgewählt und mit einem Nachwort
von Ulrich Baer
Insel Verlag
Umschlagabbildung: August Macke
Helles Haus, 1914
eBook Insel Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe
des insel taschenbuchs 3219.
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2006
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Umschlag: Michael Hagemann
Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-458-73557-1
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Die Frage, die Ihr Mann durch Sie an mich richtet, ist allgemein nicht zu beantworten; denn in der Art ihrer jedesmaligen persönlichsten Lösung wird sich herausstellen, ob der Einzelne mit seiner opfernden Einstellung sich selbst Schaden tut oder nicht. Selbst ein scheinbarer Verzicht auf eigene Ideale, um der Sorgfalt zu einem Anderen willen, muß nicht endgültiger Verzicht sein, sondern kann wiederum Bereicherung werden; denn wer für einen Anderen in großer Unterwerfung sich bemüht, der kann ja auch wieder in dem Anderen das großziehen, was er in sich selber vernachlässigt; und manch einem mag es schöner scheinen und lohnender, in einem geliebten Geschöpf oder einem groß begriffenen Gemeinwesen zur Blüte zu kommen, als im eigenen Dasein.
Das sind ja schließlich die Ereignisse und die Werte in der Welt: daß man immer wieder von einem hört, der Dinge, die man dunkel dachte, gesagt und Dinge, die man in guten Stunden gesagt, getan hat. Daran wächst man. Dieses Gefühl von Leitungen und Linien, die von entfernten Einsamen zu uns herübergehen und von uns Gott weiß wohin und zu wem: das halte ich für das beste Gefühl: es läßt uns einsam und schaltet uns doch zugleich in eine große Gemeinsamkeit ein, in der wir Halt und Hilfe und Hoffnung haben.
Warum, mein Gott, verbringt man sein Leben in Konventionen, die uns wie eine enge Verkleidung einschnüren und die uns davon abhalten, die unsichtbare Seele zu verwirklichen, diese Tänzerin unter den Sternen!
Die Liebe, ist diese nicht zusammen mit der Kunst die einzige Lizenz, die menschlichen Bedingungen zu übersteigen, größer, großzügiger, trauriger zu sein, wenn das sein muß, als der gewöhnliche Mensch? Seien wir so, heldenhaft, [und] entsagen wir keiner der Vorteile, die unseren angeregten Zustand umtreibt.
Um es so zu sagen, sind tatsächlich wir, wenn wir dieses begonnene Glück in unsere Hände nehmen, vielleicht die ersten, die es zerstören. Es sollte auf dem Amboß seines Schöpfers bleiben, den Schlägen seines arbeitenden Hammers ausgesetzt. Legen wir unser Vertrauen in diesen bewunderswerten Künstler: es ist wahr, daß wir ständig die Stöße seines erbarmungslos nach den Regeln einer vollendeten Kunst geführten Werkzeugs fühlen. Doch zum Ausgleich dessen sind wir ebenso von Zeit zu Zeit daran gehalten, sein Lieblingswerk zu bewundern, das er zur endgültigen Vollendung führt: wieviel haben wir es schon dieses erste Mal bewundert! Wir sind nur in ganz geringem Ausmaß an unserer Liebe als Mitarbeiter beteiligt; und es ist eben darum, daß sie von banalen Gefahren nicht berührt werden kann. Machen wir es zu unserer Aufgabe, ihre Gesetze, ihre Jahreszeiten, ihren Rhythmus und den Gang ihrer Konstellationen durch ihren weiten besternten Himmel kennen zu lernen. Innehalten, meine Freundin, innehalten und bewundern! Ich weiß wohl, daß ich, indem ich so zu Ihnen spreche, uns eine ganz ungleiche Aufgabe auferlegt bleibt: Sie sind zu sehr Frau, um nicht unendlich zu leiden, durch das, was an Liebes-Aufschub in dieser Auflage zu liegen scheint. Und dann, was mich betrifft, indem ich mich ganz um meine Arbeit versammle, versichere ich mich der Mittel meiner entschiedensten Treue; während Sie, wenigstens in diesem Moment, indem Sie sich gegen Ihr Leben wenden, dieses durch halb-versteinerte Aufgaben blockiert finden. Lassen Sie sich davon nicht entmutigen, sehr Liebe; sehen Sie, dies wird sich ändern. Durch die Verwandlung Ihres Herzens selbst werden sie nach und nach die bleibenden Widerstände in der Wirklichkeit beeinflussen; Sie werden all das, was Ihnen undurchdringlich erscheint, durch ihr entflammtes Herz durchsichtig machen … Denken Sie nicht zuviel an den Augenblick und bewahren Sie sich davor, das Leben in den Stunden des Nebels zu beurteilen, die Ihnen keinen Ausblick auf seine Weite gestatten.
Denn dies ist das Wunder, das an den wirklich Liebenden jedesmal geschieht: je mehr sie geben, je mehr besitzen sie von jener köstlichen nährenden Liebe, aus der Blumen und Kinder ihre Kraft haben und die allen Menschen helfen könnte, wenn sie sie nehmen wollten, ohne zu zweifeln.
Einmal liebend, einmal entflammt, darf man sich nicht mehr für unglücklich halten; wer einmal den Eingang hatte in die Seeligkeit der Liebe, der ist in ihr und alle Entbehrung, alle Sehnsucht ist für ihn fortan nur noch das Gewicht, die Schwere seiner Fülle! Mag sein, daß <sie> ihm dann zum Leid, zum Leiden, zur Verzweiflung wird, daß er diese Fülle nicht anwenden, genau: nicht dort anwenden kann, wo sie ursprünglich ist verlangt und erwartet worden. Aber der Jüngling, der Mann, ist er nicht immer in der Lage des »Zauberlehrlings«, der mit der Beschwörung seines Herzens Mächte, Stürme erweckt, denen er nicht gewachsen ist; und vor denen er sich rettet (retten muß vielleicht), um das andere Maaß seines Lebens einzuhalten, das logische, das leistende, das scheinbar nüchterne, das der Liebe widerspricht und gelegentlich nur noch die Sinne zuläßt als eine Art Ausgleich der nach anderen Seiten hin übertriebenen Spannungen.
Was für eine rücksichtslose Herrlichkeit, aber wie furchtbar, Liebe zu entzünden, welcher Brand, welches Unheil, welcher Untergang. Selbst zu brennen freilich, wenn mans kann, ja das möchte wohl des Lebens und des Todes wert sein.
Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß sie sich überstünden und Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit.
Clara und ich, lieber Friedrich, wir haben uns gerade darin gefunden und verstanden, daß alle Gemeinsamkeit nur im Erstarken zweier benachbarter Einsamkeiten bestehen kann, daß aber alles, was man Hingabe zu nennen pflegt, seinem Wesen nach der Gemeinsamkeit schädlich ist: denn wenn ein Mensch sich verläßt, so ist er nichts mehr, und wenn zwei Menschen beide sich selbst aufgeben, um zueinander zu treten, so ist kein Boden mehr unter ihnen und ihr Beisammensein ist ein fortwährendes Fallen. – Wir haben, mein lieber Friedrich, nicht ohne große Schmerzen, solches erfahren, haben erfahren, was jeder, der ein eigenes Leben will, so oder so zu wissen bekommt.
Man kann selten helfen, darum muß man, wo einmal die leiseste Möglichkeit dazu auftritt, ganz bei der Sache sein. Die »Caroline«, fühl ich, ist ein wenig Beistand für Sie, ich habe mich nicht geirrt, – ist es auch dieser Brief? Wie werden Sie ihn empfinden? Schreiben Sie mir, wie man einem Freunde schreibt, alles, – wir wollen ganz aufrichtig gegen einander sein. Nur so kann vielleicht etwas Nutzen herauskommen, und dann – für Beide. Helfen können heißt immer auch irgendwie sich selber helfen!
Einen nahen Menschen zu haben, in dem entgegengesetzte Ansichten mit einer tiefen überzeugten Freundschaft zusammengehen, kann von wunderbar entwickelndem Einfluß sein; denn solange man (wie meistens den Eltern und sonst älteren Leuten gegenüber) gezwungen ist, das Andere auch jedesmal für das Falsche, Arge, Feindliche zu halten, statt eben schlechthin für – das Andere, solange bekommt man keine gelassene und gerechte Beziehung zur Welt, in der ja jedes Raum haben soll, Theil und Gegentheil, ich und der von mir Allerverschiedenste. Und nur unter Voraussetzung und Zugebung einer solchen, vollzähligen, Welt, wird man auch das eigene Innere, mit seinen internen Kontrasten und Widersprüchen, weit und geräumig und luftig einrichten.
Auch ich stehe still und voll tiefen Vertrauens vor den Toren dieser Einsamkeit, weil ich für die höchste Aufgabe einer Verbindung zweier Menschen diese halte: daß einer dem anderen seine Einsamkeit bewache. Denn wenn das Wesen der Gleichgültigkeit und der Menge darin besteht, keine Einsamkeit anzuerkennen, so ist Liebe und Freundschaft dazu da, fortwährend Gelegenheit zur Einsamkeit zu geben. Und nur das sind die wirklichen Gemeinsamkeiten, die rhythmisch tiefe Vereinsamungen unterbrechen … Denken Sie daran, als Sie Clara Westhoff kennen lernten: da wartete Ihre Liebe geduldig auf ein aufgehendes Tor, dieselbe Liebe, die jetzt ungeduldig an die Wände pocht, hinter denen die Dinge sich vollziehen, die wir nicht kennen, die ich ebensowenig kenne wie Sie, – nur daß ich das Vertrauen habe, daß sie mich tief und verwandt berühren werden, wenn sie sich mir einmal offenbaren. Und kann Ihre Liebe keine ähnliches Vertrauen fassen? Aus diesem Vertrauen allein werden ihr Freuden kommen, von denen sie leben wird, ohne zu hungern.
U
Zwei Menschen, die in gleichem Grade leise sind, müssen nicht von der Melodie ihrer Stunden reden. Diese ist ihr an und für sich Gemeinsames. Wie ein brennender Altar ist sie zwischen ihnen und sie nähren die heilige Flamme fürchtig mit ihren seltenen Silben. Setze ich diese beiden Menschen aus ihrem absichtlosen Sein auf die Bühne, so ist mir offenbar darum zu tun, zwei Liebende zu zeigen und zu erklären, warum sie selig sind. Aber auf der Szene ist der Altar unsichtbar und es weiß keiner sich die seltsamen Gesten der Opfernden zu erklären.