Anna Raverat
Lebenszeichen
Roman
Aus dem Englischen von Brigitte Helbling
Rowohlt E-Book
Anna Raverat wurde in Cambridge geboren und wuchs in North Yorkshire auf. Sie studierte Literatur, lehrte am renommierten King’s College in Cambridge und arbeitet heute als Organisationsentwicklerin und Trainerin für Führungskräfte in London, wo sie mit ihren drei Kindern lebt. «Lebenszeichen» ist ihr erster Roman.
Es begann harmlos und fast ohne ihr eigenes Zutun, aber die Nachwehen waren traumatisch: Vor zehn Jahren hatte Rachel eine Affäre. Sie merkte bald, dass der Mann nicht der Richtige war, aber sie konnte nicht aufhören, denn sie liebte das Spiel mit der Überwältigung, das er so brillant inszenierte und mit dem jede Liebesgeschichte beginnt. Sie liebte es, sich dem wilden Gefühl jener Freiheit zu überlassen, die der Bruch der Konventionen erzeugt. Sie liebte es so lange, bis er alle Grenzen überschritt …
Jetzt sitzt sie am Schreibtisch vor dem Fenster ihrer Wohnung und versucht, das alles zu rekonstruieren, allein mit ihren Notizbüchern, Hoffnungen und Lebenslügen. Nach und nach setzt sich die Geschichte zusammen – aus leuchtenden Fragmenten und Erinnerungssplittern.
«Lebenszeichen» ist ein sehr besonderes Buch über die Leidenschaft, über ihre unwiderstehliche Kraft und darüber, wie sie uns zerstören kann. Raverats Prosa, mal poetisch dicht, mal analytisch genau, umkreist ihr Thema hypnotisch, einfühlsam und ohne Zurückhaltung.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Signs of Life» 2012 bei Picador, London
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2014
Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Signs of Life» Copyright © 2012 by Anna Raverat
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ISBN Printausgabe 978-3-498-05790-9 (1. Auflage 2014)
ISBN E-Book 978-3-644-03801-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-03801-1
Für Lola und für Alfie und für Vince
Ich war erleichtert, den Absturz hinter mir zu haben, denn tiefer fallen konnte ich nun nicht mehr.
Sylvia Plath
Bevor wir loslegen, sollten Sie eins wissen: Dies ist keine Beichte. Ich schreibe etwas auf, ich verfertige etwas aus dem, was passiert ist. Vor zehn Jahren hatte ich eine Affäre, die schlecht ausging. Seither wollte ich immer darüber schreiben, aber es hat nie geklappt, und allmählich verstehe ich auch, warum. Ich dachte, die Sache liege hinter mir. Als die Affäre zu Ende war, brach ich zusammen und fühlte mich danach etwa ein Jahr lang wie betäubt. Dann fand ich einen neuen Job und eine neue Beziehung, die ein paar Jahre hielt, später zog ich um und ersetzte nach und nach alle Kleidungsstücke und Schuhe, die ich damals getragen hatte, und stellte eines Tages fest, dass kaum etwas übrig geblieben war. Da versuchte ich wieder einmal, das Ganze aufzuschreiben. Vermutlich glaubte ich, seither sei genügend Zeit vergangen, tatsächlich aber steckte ich noch immer kopfüber in der Geschichte und kam nicht dagegen an.
Vor einigen Tagen las ich ein Gedicht, und nicht das ganze Gedicht, nur diese Zeilen daraus schienen mit einem Mal etwas aufzureißen:
Dass die Zeit einen nicht weiterbringt
dass es die «andere» Seite nicht gibt
dass der Augenblick sehr hell ist und weit und wir damit
niemals durchkommen werden.
Jorie Graham
Beim Lesen dieser Zeilen machte ich unwillkürlich «ah», das Geräusch austretender Luft, ausgelöst von einem dumpfen Schlag des Wiedererkennens, eine physische Reaktion, und ich dachte: Ich versuche da, mit etwas ungestraft durchzukommen, und einen Moment lang ahnte ich auch, was es sein könnte, aber es war so weit in den Hintergrund getreten, dass es keine Form annehmen wollte, zumindest keine, die ich als Gedanken oder Idee auszumachen vermochte. Ich wollte es ans Licht zerren und untersuchen und herausfinden, wie man es in Worte fassen könnte, aber es bewegte sich schnell, wie ein kleines dunkles Tier, und ich sah nicht mehr als Schwanz und Hinterteil, bevor es hinter einem zerstörten Gebäude verschwand. Ich geriet in Panik, mir war, als hätte ich etwas unfassbar Wichtiges verloren, und deshalb fing ich an zu suchen und fand zwar das Tier nicht mehr, aber doch eine ganze Menge Fragen.
Die erste Frage lautete: Was weiß ich tatsächlich über das, was geschehen ist? Mit ihr brach der Damm zu weiteren Fragen und zur Erkenntnis, dass ich zu wenig ehrlich gewesen war und deshalb nicht gut hatte darüber schreiben können. Jetzt muss ich also hinterfragen, was ich zu wissen glaubte. Ich will meinen Anteil daran erkennen und Verantwortung dafür übernehmen, soweit ich es ertragen kann.
Arbeiten werde ich mit den Fragen, Erinnerungen und meinen Notizbüchern. Die Notizbücher sind mehr Zettelkasten als Tagebuch, Aufbewahrungsort für Dinge, die ich behalten will. Darin stehen Gedichtzeilen, Songtexte, meine Träume und all so was. Während und nach der Affäre schrieb ich mir einzelne Vorfälle und Dinge, die gesagt wurden, in einem gebundenen Notizbuch mit gelbem Umschlag und liniertem Papier auf, das ich von der Arbeit mitgenommen hatte. Dieses Notizbuch gibt zwar Einblick in das, was mir zu der Zeit gefiel oder wichtig war, die Schilderungen der tatsächlichen Vorfälle jedoch sind kaum brauchbar, viel zu bruchstückhaft, entweder, weil ich sie in Steno schrieb für den Fall, dass jemand anders sie las, oder weil ich in Eile war. Wahrscheinlich glaubte ich, ich würde diese kurzen Vermerke jederzeit entschlüsseln können, aber nach all den Jahren stelle ich fest, dass mir das manchmal nicht mehr gelingt. Und dann ist da noch meine Erinnerung, in der manches geblieben und viel mehr verschwunden ist. Die Erinnerung ist kein guter Aufbewahrungsort. So sieht das aus. Hier kommt die Geschichte: Sie ist voller Löcher.
So fing es an: Ich küsste Carl. Ich machte Überstunden und er auch. Wir waren nicht die Einzigen im Gebäude, die zu der Uhrzeit noch am Schreibtisch saßen: Unsere Belegschaft war strebsam und jung. Gegen neun kam er zu mir herüber und fragte, ob ich mit ihm auf einen Drink ausginge. Wir kannten uns erst seit ein paar Monaten. Ich hätte nein sagen sollen. Zu Hause wartete Johnny auf mich, aber ich hatte keine Lust mehr, zu arbeiten, und Carl war überzeugend und ich leicht zu überzeugen. Ich weiß, dass ich nur ein Glas trinken und dann zurückkommen wollte, denn ich nahm zwar meine Handtasche mit, ließ den Computer aber eingeschaltet und meine Papiere auf dem ganzen Tisch verstreut.
Carl war neu. Das erste Mal war er mir an einem Nachmittag Ende März aufgefallen, als wir zufällig gleichzeitig das Büro verließen. Zu diesem Zeitpunkt war er seit ungefähr sechs Wochen bei uns. Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Wir standen auf dem Parkplatz im trägen Glanz der Sonne und sprachen über Urlaub. Was mir auffiel, waren seine Bartstoppeln und die Art, wie er beim Lachen das Kinn hob.
Carl und ich gingen in die Bar, die an unserer Straße lag. Ich mochte den Raum, weil er hohe Decken hatte und weil gedrungene Kerzen in breiten Gläsern auf den Tischen flackerten. Unabhängig davon, wie viele Menschen da waren, gab es über den Köpfen immer eine Menge Platz, was mir wie eine Art Luxus vorkam. Ich erinnere mich nicht mehr, ob der Tisch hinten in der Nische schon frei war, als wir kamen, oder ob wir uns erst später dorthin setzten. Ich habe auch vergessen, wie aus einem Glas erst zwei und dann mehr wurden und wie er sich auf der Bank, die wir uns teilten, positionierte. Wandte er sich mir zu oder sahen wir in dieselbe Richtung? Auch an unsere Gesprächsthemen erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber daran, wie lebendig seine Gesichtszüge waren, an sein schiefes Lächeln und sein lautes Lachen. Ich weiß noch, dass ich eine Menge Rotwein trank, aber nicht mehr, was er bestellte. Weder Carl noch ich hatten zu Abend gegessen, ich zumindest nicht, und zusammen aßen wir jetzt auch nichts. Ich schnorrte mir Zigaretten oder kaufte welche am Automaten, eine meiner Angewohnheiten, wenn Johnny nicht dabei war.
Irgendwie kamen wir auf den Unfall zu sprechen, den meine Schwester vor kurzem gehabt hatte, und die Stimmung veränderte sich. Heute noch sehe ich ihn vor mir, wie er mit übergeschlagenen Beinen dasaß, die Arme im Schoß verschränkt, den Körper leicht zu mir gebeugt, seine Augen, die mich fixierten, der Mund in einer Haltung, die sein Kinn länger wirken ließ. Ich war dankbar für sein Interesse, auch wenn mir seine Aufmerksamkeit ein wenig unheimlich war. An all das erinnere ich mich, weil dies ein entscheidender Moment war und weil ich Carl noch nicht kannte. Später wurde mir klar, dass er so aussah, wenn er sich konzentrierte.
Meine Schwester hatte einen Monat vor diesem Abend einen Autounfall gehabt und war schwer verletzt worden. Es gibt nur uns beide; Emily ist viereinhalb Jahre älter als ich, und wir stehen uns sehr nahe. Die Nachricht erreichte mich bei der Arbeit, und Carl bekam das mit, redete mir zu und bestellte mir ein Taxi zum Bahnhof. Heute geht es ihr wieder gut (abgesehen von einer Narbe unter dem linken Auge), aber damals war ihr Unfall das Schlimmste, was mir je zugestoßen war.
Nachdem er sich nach ihr erkundigt hatte, erzählte mir Carl, wie traurig ich ausgesehen hätte, als ich im Taxi davonfuhr, und vielleicht gefiel mir die Vorstellung, dass mein Äußeres meinem inneren Zustand entsprochen hatte. Ich dachte noch an die Einsamkeit jener Taxifahrt, als Carl meinte: Du sahst so traurig aus, ich hätte dich am liebsten geküsst. Ich stellte mir vor, wie er mir einen Kuss auf die Wange setzte, bevor ich im Taxi davonfuhr, die Geste eines Freundes, der er für mich nicht war. Und dann fragte er: Darf ich dich jetzt küssen?
Entweder weil ich damals betrunken war oder weil ich es heute nicht mehr wissen will, ist mir entfallen, was ich zu Carl sagte, das ihn ermutigt haben muss, mich tatsächlich zu küssen. Vielleicht sagte ich einfach nur ja. Als er mich dann aber auf den Mund küsste, war die Überraschung für mich beinahe ebenso groß wie die darüber, dass ich seinen Kuss erwiderte.
Einige Tage danach erblickte ich in einem Supermarkt eine Frau, die mir so ähnlich sah, dass ich innehielt, um sie genauer zu betrachten. Sie suchte sich gerade sorgsam einzelne Orangen aus und legte sie auf die Waage. Ich hielt mich auf Distanz von ihr, obwohl ich versucht war, stracks auf sie zuzulaufen und sie auf unsere Ähnlichkeit aufmerksam zu machen.
Sie war groß, mit langen dunklen Haaren, ebenmäßigen Zügen und einem ovalen Gesicht. Erst als sie mit dem Mann sprach, der sie begleitete, und ich ihr Lächeln sah und ihre kleinen, regelmäßigen Zähne, erkannte ich, dass wir uns gar nicht so besonders ähnlich sahen. Ich überprüfte mein Spiegelbild in der Metallplatte hinter den Bananen. Die Fläche war verschmiert, und ich sah mich nur undeutlich, aber was ich sah, machte mir klar, dass ich gesetzter war als diese Frau – nicht nur größer, sondern auch schwerer, kurvenreicher. Wir hatten beide lange dunkle Haare, aber ihre glänzten und waren gut geschnitten, während ich meine zu einem schlampigen Knoten gebunden hatte. Mein Gesicht war breiter, und am Ende eines langen Tages war unter meinen Augen die Wimperntusche verschmiert, die Wangen fühlten sich schlaff an und die Lippen trocken. Ich band die Haare neu, damit der Knoten besser saß, und legte Lippenbalsam auf. Ich bemerkte, dass meine Lippen voller waren als ihre, und freute mich, als hätte ich in einem heimlichen Wettbewerb gepunktet. Sie suchte noch immer Orangen aus – wie langsam! Ich ging an ihr vorbei und blickte dann kurz nach hinten, um zu sehen, ob sie mich bemerkt hatte. Hatte sie nicht.
Obwohl dieser Kuss der erste war, weiß ich jetzt, dass unsere Affäre schon früher angefangen hatte. Irgendetwas zwischen uns machte diesen Kuss überhaupt erst möglich. Ich genoss Carls Gesellschaft, weil er respektlos war und mich zum Lachen brachte, aber mir war nicht klar gewesen, dass er mich körperlich anzog. Nach konventionellen Maßstäben sah er nicht gut aus: Seine Nase war groß mit einem kleinen Buckel am Ansatz des Nasenrückens, wo er sie einmal gebrochen hatte, und er war kleiner als ich – nicht viel, aber immerhin.
Anderen Leuten war aufgefallen, dass er sich zu mir hingezogen fühlte, das weiß ich, denn sie zogen ihn mit mir auf, wenn ich in der Nähe war. Nach außen hin gab ich mich gleichgültig, insgeheim jedoch fühlte ich mich von seiner Aufmerksamkeit geschmeichelt. Sie gefiel mir, auch wenn ich mich weigerte, mehr darin zu sehen: Die Konsequenzen, die ich daraus hätte ziehen müssen, passten mir nicht, also machte ich weiter mit meiner Version der Dinge, die besagte, dass uns beide eine neue, unbeschwerte Freundschaft verband, die unsere Umwelt vor ein Rätsel stellte. Eines Tages sagte mir mein Assistent ins Gesicht, dass Carl von mir besessen sei. Genau das waren seine Worte. Hätte er sich anders ausgedrückt, hätte ich vielleicht hingehört.
Ich liebte Johnny. Wir waren seit fünf Jahren ein Paar und lebten seit einem Jahr zusammen – keine Sorgen, kein Problem; wir waren einfach glücklich.
Johnny sah phantastisch aus. Jeder sagte das. Er war groß und kräftig und hatte das breiteste, vollkommenste Lächeln, das ich je gesehen habe. Seine Jugend und der Sport hielten ihn fit, aber er neigte zur Rundlichkeit, und sein markanter Knochenbau war von einem hübschen Pölsterchen bedeckt. Er hatte blondes Lockenhaar und braune, dicht bewimperte Augen. Ungewöhnlich, aber eitel war er trotzdem nicht, was nicht heißt, dass er nicht selbstsicher war, denn das war er schon, bis hin zur Arroganz, die wiederum mit seinem Aussehen nichts zu tun hatte. Zum Beispiel weigerte er sich, mehr als ein paar Pfund für einen Haarschnitt zu zahlen: Je billiger, desto besser, so sah er das. Einmal entdeckte er einen Laden, wo man ihm für zwei Pfund den Kopf schor, und als er nach Hause kam, sah er aus wie eine Kokosnuss. Das Wenige, was ihm an Kopfhaaren geblieben war, ließ seine Gesichtszüge übergroß erscheinen. Normalerweise war ich stolz auf seine fleischigen, hohen Wangenknochen und den Adoniskiefer, aber jetzt sah er aus wie eine Karikatur seiner selbst. Ich flehte ihn an, diesen Friseurladen nicht mehr aufzusuchen, was seine Befriedigung darüber, für so wenig Geld einen Haarschnitt erstanden zu haben, kein bisschen schmälerte.
Anfangs waren Carl und ich selten allein. Wir arbeiteten in einem gut laufenden Betrieb, und das Mittagessen oder Drinks nach der Arbeit nahmen wir in der Regel mit Kollegen ein. Es gab jedoch eine Dienstreise, die wir gemeinsam bestritten. In der Phase davor herrschte eine konspirative Stimmung zwischen uns; ständig kam Carl mit neuen Kleinigkeiten für die Reise an: Musik, Süßigkeiten, Zigaretten. Ich freute mich über die Jelly Babies auf seinem Schreibtisch, und er bemerkte es und sagte: Dürfte ich dieses Lächeln bitte noch einmal sehen? Ich fand es wunderbar, wie er bitte sagte. Seine Höflichkeit war wahrscheinlich das, was mir an ihm am meisten gefiel.
Wir verließen das Büro mit einem Gefühl des Triumphs – als sei uns zusammen die Flucht gelungen. Wir fuhren aus der Stadt hinaus, und als wir auf die Autobahn kamen, trat ich aufs Gas, um ihm Angst einzujagen, er aber feuerte mich nur weiter an. Die Zigaretten schmeckten so gut und trocken wie Kekse. Er legte die CD einer obskuren amerikanischen Band ein, deren Musik mich an kalte Räume denken ließ. Er fragte mich, ob sie mir gefiel, und ich gab zu, dass ich sie nicht mochte.
Als wir in Leeds ankamen, war es bereits dunkel. Es dauerte eine Weile, bis wir unser Hotel fanden, und als wir hineingingen, stellten wir fest, dass die Buchung nicht geklappt hatte: Sie hatten uns ein Doppelzimmer reserviert, und es war nichts anderes mehr frei. Carl schlug vor, zuerst etwas zu essen, aber der Gedanke, nicht zu wissen, wo wir übernachten würden, machte mich unruhig, also stiegen wir ins Auto und fuhren weiter. Beim nächsten Hotel, das billiger aussah, blieb Carl im Wagen, während ich hineinging.
Der Mann am Empfang sagte mir, er habe keine Einzelzimmer mehr, aber er habe ein Doppelzimmer mit zwei Betten, ob das in Ordnung wäre. Ich würde jetzt gern sagen, dass es nur an seiner Frage und an der späten Stunde lag, wenn ich mir einredete, Carl und ich könnten uns doch gut ein Zimmer teilen, nur muss ich leider auch zugeben, dass etwas in mir bereit war, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Ich erinnere mich an meine Aufregung dabei. Es war, als bestätigte diese Wendung das, was ich schon beim Wegfahren gespürt hatte: dass ein Leben mit Carl für jede Überraschung gut war. Als ich hinausging, um ihm Bescheid zu sagen, war ich euphorisch. Ich nahm an, dass es ihm so recht sei, und das war es auch. Heute weiß ich, dass mein Verhalten darauf hinauslief, die Anziehung zwischen uns zu bestätigen, aber damals war ich aus irgendeinem Grund noch von meiner Unschuld überzeugt. Ich wusste noch nicht, wie gut ich lügen konnte. Als mir das klarwurde, verschwand das Grundvertrauen, das ich bisher mir selbst und den Menschen um mich herum entgegengebracht hatte. Im Rückblick und im Bewusstsein meiner Lügen sehe ich mich gezwungen, alles in Frage zu stellen.
Ein paar Wochen vor unserem Kuss hatte ich das Gefühl gehabt, es sei an der Zeit, dass Johnny Carl und ich Carls Freundin Katie kennenlernten, also verabredeten wir uns zum Konzert einer Band, in der Carl früher Schlagzeug gespielt hatte. Es kam mir eigenartig vor, meinem Arbeitskollegen als Privatperson zu begegnen und ihn außerhalb der Arbeit zu sehen, beinahe so, als würden wir uns voreinander entblößen. Ich mochte Katie, jedenfalls wollte ich sie mögen, und das Vorhaben, sie zu mögen, glich so sehr einem wirklichen Mögen, dass es auf dasselbe herauskam. Sie hatte einen Kurzhaarschnitt, dünne Lippen, eine spitze kleine Nase mit dazu passendem spitzem, kleinem Kinn, und ihr Lidstrich verlief in zwei scharfen Schwüngen nach oben. Alles in allem wirkte sie windschnittig. Den ganzen Abend versuchte ich herauszufinden, wie Johnny und Carl zueinander standen und ob Katie mich mochte. Weil ich mit Beobachten beschäftigt war, nahm ich an dem Abend nur äußerlich teil. Zum Tanzen war ich zu gehemmt, und als ich sah, wie Johnny in seiner gedehnten, ausschweifenden Art herumhüpfte, zog sich alles in mir zusammen, als müsste mir das peinlich sein. Auf dem Weg nach Hause fragte ich Johnny nach seinem Eindruck von Carl und ging natürlich davon aus, dass er meinen neuen Freund ebenso mögen würde wie ich, aber Johnny sagte nur so etwas wie: Okay, glaube ich, etwas anstrengend – aber die Band war gut.
Später fand ich heraus, dass Carl da schon entschlossen war, mich für sich zu gewinnen, und Johnny nur kennenlernen wollte, um ihn als Rivalen einzuschätzen.
Kann etwas nur deshalb zustande kommen, weil man es unbedingt will? Hat das Begehren so viel Macht?
Carls erster Eindruck von Johnny war, dass er «ganz gut aussah». Und trotzdem hinderte ihn dieser Umstand nicht an seinem Vorhaben, denn das stand bereits fest. Ich glaube nicht, dass es reicht, etwas haben zu wollen, damit es passiert. Entschlossenheit gehört auch dazu. Mir ist das beim Schreiben aufgefallen. Es reicht nicht, schreiben zu wollen. Der Trick, wie P. G. Wodehouse gesagt hat, besteht darin, den Hosenboden mit dem Stuhl bekanntzumachen. Damit Hosenboden und Stuhl sich Tag für Tag begegnen und damit das auch so bleibt, braucht es den Wunsch, und mehr noch Willenskraft. Wunsch und Willenskraft allein sind keine Garantien für Ergebnisqualität, aber sie sorgen doch dafür, dass Sätze aufs Papier kommen. Wunsch und Willenskraft allein reichten nicht aus, um ein Happy End zu sichern, aber sie brachten die Affäre ins Rollen.
Nach dem ersten Kuss verließen Carl und ich die Bar. Woran ich mich erinnern kann, ist, dass wir dann durch eine Siedlungsanlage in der Nähe des Büros gingen, eine Abkürzung, die die meisten von uns tagsüber benutzten, um zur High Street zu gelangen. Wahrscheinlich wollten wir dort ein Taxi nehmen. Mir kommt es so vor, als hätten wir uns stundenlang in dieser Siedlung aufgehalten. Wir redeten, aber ich weiß nicht mehr, worüber. Hauptsächlich küssten wir uns. Wer bist du?, fragte ich immer wieder, aber die einzige Antwort, die er darauf hatte, war ein weiterer Kuss, worauf ich wieder fragte: Wer bist du? Vielleicht war die Frage an mich selbst gerichtet. Vielleicht meinte ich damit: Wer bist du, dass du mich so vom Weg abbringst?
Er sagte, er sei mir verfallen. Ich sprach unsere jeweiligen Partner an, und er schob den Einwand beiseite, als sei er unerheblich und habe kein Recht, sich zwischen uns zu drängen. Trotzdem blieb ich, wir hielten uns an den Händen, bewegten uns sehr langsam voran und küssten uns wieder und wieder. Ich war betrunken genug, mich gehen zu lassen, aber nicht so betrunken, dass mir das Merkwürdige an der Situation völlig entgangen wäre.
Obwohl diese Küsse herrlich gewagt waren, lag für mich im Rückblick der beste Moment vor dem ersten Kuss in der Bar, als die Spannung zwischen uns allmählich, aber noch uneingestanden, in mein Bewusstsein drang und mein Fehltritt noch vor mir lag. Jetzt ist mir klar, dass ich nach diesem ersten Drink mit ihm weiter in der Bar blieb, dort lange blieb und trank und redete und rauchte, um diesen Moment zu verlängern. Vielleicht wollte ich auch sehen, was er mir bringen und wohin er mich führen würde.
Als ich aus der Bar nach Hause kam, war es beinahe ein Uhr morgens. Johnny war außer sich. Ich hatte mein Telefon ausgeschaltet, deshalb hatte er nach zehn Uhr im Büro angerufen und Ivan, unseren Workaholic, erreicht, den Einzigen, der um die Zeit noch da war. Ivan meinte, er hätte mich vor kurzem noch an meinem Platz gesehen, und da mein Computer noch an war und der Schreibtisch voller Papiere, ging er davon aus, dass ich auf dem Klo war oder sonst wie nicht am Platz und gleich wiederkommen würde. Zu meinem Glück hatte Ivan nicht mitgekriegt, dass ich mit Carl weggegangen war. Johnny bat ihn, mir einen Zettel hinzulegen, auf dem stand, dass ich mich melden sollte, sobald ich wieder zurück war, was ich natürlich nicht tat, also stieg Johnny um halb zwölf auf sein Fahrrad und machte sich auf die Suche nach mir. Er radelte durch die Straßen rund um mein Büro, und als er endlich wieder nach Hause kam, war es weit nach Mitternacht. Als ich eintraf, war er kurz davor, die Polizei anzurufen.
Ich erzählte ihm, dass ich mit ein paar Leuten von der Arbeit im Pub gewesen sei und der Besitzer uns nach der Sperrstunde hatte bleiben lassen und dass mir meine Rücksichtslosigkeit leidtue. Unkoordiniertheit meinst du wohl, rief Johnny, der den Alkohol und die Zigaretten an meinem Atem und in meinen Haaren roch. Wir schliefen weit auseinander in unserem Doppelbett, und nicht einmal unsere Zehen berührten sich.
Ich habe immer schon Notizbücher geführt, aber meine Aufzeichnungen sind unregelmäßig, und das ist keine Hilfe, wenn ich Dinge ergründen und an den Tag bringen will. Neulich habe ich erwartungsvoll das gelbe Notizbuch aufgeschlagen und nach Details durchforstet. Ich las darin, dass wir am 17. April bei dem Konzert von Carls Band waren. Heute ist der 24. April (seltsam, dass die Daten beinahe übereinstimmen). Am Tag nach dem Konzert schrieb ich mir Zeilen aus einem Gedicht mit dem Titel «Elegie für einen Schlagzeuger» auf (ich mag diesen Titel sehr, auch heute noch) und außerdem diesen Auszug aus dem Tagebuch einer meiner Lieblingskünstlerinnen (wenn ich Abschnitte aus Tagebüchern anderer in meine eigenen einfüge, muss ich immer an Eschers Bild von einer Hand denken, die eine Hand zeichnet, eine einzige, nach innen führende Spiralbewegung):
Orangen kann man auf sechs Arten essen
1) Mein Vater brachte mir bei, die Schale spiralförmig abzulösen, damit man hinterher eine falsche Orange daraus zusammensetzen konnte. Ich kann weder Kaugummiblasen machen noch Rad schlagen, also war dies eine wertvolle Fertigkeit –
Heute muss ich dabei immer an die alte irische Überlieferung aus der Zeit von König Artus denken. Sie besagt, dass, wenn man von einem Toten rundum einen Streifen Haut abschneidet und ihn dann um einen schlafenden Mann auslegt, dieser dich beim Aufwachen lieben wird. Wenn er allerdings aufwacht, bevor der Streifen ganz ausgelegt ist, stirbt er.
Francesca Woodman
Die Zitate und Textauszüge lese ich heute mit einem Gefühl, als hörte ich alte Lieblingssongs im Radio, Lieder, die man mitsingen kann, aber als ich mir anschaute, was ich damals sonst noch so geschrieben hatte, legte ich das Notizbuch schnell weg und verließ fluchtartig die Wohnung. Ich konnte diese Aufzeichnungen nicht lesen, jedenfalls nicht am Stück, denn abgesehen von ihrer Lückenhaftigkeit irritierte mich auch die Person, die ich vor zehn Jahren war, enorm – launenhaft, egoistisch und weinerlich, wie eine nervige jüngere Schwester.
Aus meiner Flucht wurde ein langer Spaziergang am Kanal. So weit war ich auf dem Leinpfad noch nie gegangen (gut möglich, dass ich bis nach Limehouse gekommen bin). Nach ungefähr einer Stunde bekam ich Hunger und Durst und kehrte um, und dabei fiel mir auf, dass dieser Versuch, vor mir zu fliehen, ein wenig so war, als würde man von zu Hause abhauen, ohne es wirklich zu wollen.
Und auch wenn mir diese Person peinlich ist – die Stellen aus den Texten anderer Leute, die sie sich notiert hat, mag ich trotzdem.
Heute lebe ich in einer Dreizimmerwohnung in Islington. Die Wohnung liegt im dritten Stock, was mir zu hoch vorkam, und beinahe hätte ich sie mir gar nicht angeschaut, nur bestand meine Schwester darauf, und dann gefiel sie mir sofort. Die Räume sind heller als dort, wo Johnny und ich in Hammersmith wohnten, und den Garten vermisse ich auch nicht, weil ich mich nie darum gekümmert habe. Ich mag die kleine Dachterrasse, auf die man durch eine große, gläserne Flügeltür vor meinem Schreibtisch gelangt. Hinter ihr sehe ich hauptsächlich die Rückseite und die Dächer anderer Häuser. Rechts ist ein hoher Kirchturm mit einem Wetterhahn, der an lauen, rosafarbenen Sommerabenden das Licht einfängt. Am Wochenende läuten die Glocken zu scheinbar willkürlichen Zeiten (ich vermute, sie werden motorisch betrieben. Möglicherweise ist die Läutemaschine defekt). Weiter entfernt stehen drei nicht besonders hohe Bäume, doch abgesehen davon, dass sie schwanken, wo sonst nichts schwankt, gibt es nichts über sie zu sagen.
Das Gebäude gegenüber ist in einem erbärmlichen Zustand. Im Erdgeschoss beherbergt es eine gut geführte und beliebte Tapas-Bar, aber die zweistöckige Wohnung darüber ist verwaist. Nie brennt dort Licht. Das schwarze Plastik-Fallrohr ist abgebrochen, es baumelt herunter und flattert und klappert im Wind, und die Holzrahmen um die vier Fenster sind morsch und brüchig, die weiße Farbe verwittert. Wilder Sommerflieder wächst aus einem Spalt in der Wand und wirkt struppig, wie ein halbverhungerter Stadtfuchs.
Heute zähle ich die Dinge, an die ich mich erinnere. Ich hatte mir vorgestellt, dass der Effekt so ähnlich sein würde, wie wenn man einen Hochschrank aufmacht und all die Sachen rauspurzeln, die man dort hineingeschoben und dann jahrelang vergessen hat. Vorläufig ist es noch nicht dazu gekommen.
Ich habe die Auseinandersetzungen mit Carl gezählt und kategorisiert (in leicht, mittelschwer und heftig) und habe gezählt, wie oft wir im Freien oder im Auto miteinander geschlafen haben und wie oft ich seiner Frage auswich, ob ich ihn liebte. (Ich liebte ihn nicht.) Der erste Kuss war im Mai, und die Affäre endete im September, eine Zeitspanne, die kurz genug war, dass man fast alles aufzählen kann, was währenddessen vorfiel. Es gab einen einzigen Geburtstag, meinen. Ich wurde in diesem Sommer vierundzwanzig Jahre alt. Was mir heute seltsam vorkommt, ist, dass er mir mit seinen dreißig Jahren so viel älter zu sein schien.
Einmal stritten wir uns im Spaß. Es ging darum, wie viele Pistazien einen perfekten Happen ergeben. Er sagte, eine aufs Mal, weil man so immer noch eine haben will. Ich sagte, fünf, weil die Arbeit des Schälens im Verhältnis zur Menge ein schöneres Bissgefühl ergibt. Anderseits gehöre ich zu den Menschen, die eine Tüte mit Pistazien aufreißen, sie nach Freilosen – Samenkernen, die von selbst aus der Schale geplatzt sind – durchwühlen und die Ausbeute dann verschlingen. Während einer längeren Autofahrt stellten wir Experimente an – ich schälte, er fuhr – und waren uns einig, dass fünfzehn unerhört waren und zehn auch noch zu viele. Das führte dazu, dass ich mir meiner ursprünglichen Behauptung nicht mehr sicher war, aber ich blieb bei fünfen, weil die Sache inzwischen zu einem dieser dem Bonding dienenden Scherze geworden war – man weiß, man kann da nicht gewinnen, aber man ringt trotzdem weiter darum, um die physische Spannung aufrechtzuerhalten, die früher oder später zum Sex führen wird. Dieses Changieren zwischen Spiel und Leidenschaft war herrlich, wobei ich nicht weiß, wie genau es sich verschob, nur dass die Scherze mit einem Mal in Zärtlichkeiten übergingen und sich zu den Zärtlichkeiten die Spannung gesellte, und das machte den Sex dann nachhaltiger. Wenn ich jedoch an diese ersten, frischen Tage zurückdenke (es waren so wenige!), dann fällt mir nicht bloß Sex ein, sondern Gelächter. Sein Lachen machte aus mir ein Hundejunges; er lockte mich damit wie mit einem Ball, und ich konnte ihm kaum widerstehen.
Fast alle meine Erinnerungen sind Bruchstücke, Impressionen. Zum Beispiel gab es ein Gespräch mit Johnny über neue Freunde bei der Arbeit – wir waren zu Hause, wahrscheinlich am Wochenende. Johnny erzählte mir, er habe sich im Büro mit jemandem angefreundet. Wie heißt er?, fragte ich, nicht besonders interessiert. Sie heißt Fiona, sagte Johnny. Sofort war ich ganz bei der Sache. Ist sie hübsch?
Geht so, sagte er.
Was soll das heißen?
Das soll heißen, dass du keinen Grund hast, dir Sorgen zu machen, sagte er. Und dann fragte er: Und was ist mit mir?
Was soll mit dir sein?
Sollte ich mir Sorgen machen?
Ich wusste natürlich, dass er Carl meinte, aber ich sagte: Weshalb denn?
Du hast dich doch auch im Büro mit jemandem angefreundet, sagte er.
Du redest von Carl? Gott, nein!
Johnny wandte sich wieder seiner Zeitung zu.
Dann haben wir jetzt also beide neue, nicht gutaussehende Freunde bei der Arbeit, sagte ich.
Vom anderen Geschlecht, sagte Johnny. Von «Fiona» hörte ich nie wieder ein Wort.
Ich ertrage den Gedanken nicht, dass der Anfang der Affäre auch der Anfang vom Ende mit Johnny war, hauptsächlich deshalb, weil das kein besonders gutes Licht auf mich wirft, aber auch, weil ich nicht glaube, dass die Dinge so eindeutig waren.
Als ich nach dem ersten Abend mit Carl nach Hause kam, musste ich mich mit Johnny auseinandersetzen, daher fiel mir das, was Carl und ich getan hatten, erst wieder ein, als Johnny und ich mit großem Abstand nebeneinander im Bett lagen. Daran zu denken fiel mir so schwer, dass ich es schnell wieder aufgab. Mein Rausch half mir, die Bilder auszuschalten, deshalb schlief ich problemlos ein.
Als ich aufwachte, hing in meiner Kehle die klebrige Süße von wenige Stunden altem Alkohol, und in meinem Kopf war eine Dumpfheit, die zähflüssig in jede Falte meines Hirns zu kriechen schien. Ich machte mich an meine Morgenroutine: schwarzer Kaffee und Toast, duschen, Haare föhnen. Johnny sagte nur das Nötigste, er war noch immer sauer, was mir entgegenkam, weil ich dadurch meine Lüge nicht wiederholen musste. Ich wusste, dass er keinen Verdacht geschöpft hatte, weil er mich gar nicht fragte, mit wem ich im Pub gewesen war. Ich hatte ihn noch nie zuvor angelogen.
Johnny und ich stritten uns selten, aber ich glaube nicht, dass es zwischen uns tatsächlich weniger Konfliktpotenzial gab als zwischen anderen Paaren. Wenn wir ein Paar sein wollten, das sich nie stritt, so lag das wohl vor allem an unserer Jugend; wir hatten uns in einem Alter kennengelernt, wo man noch glaubt, ständige Harmonie sei wünschenswert und sogar möglich. Ich erinnere mich an einen Streit kurz nach unserem Einzug in die Wohnung, die wir zusammen gekauft hatten. Wir machten gerade Pause vom Einrichten, saßen nebeneinander und tranken Tee. Ich weiß nicht mehr, was den Streit auslöste, aber wir erhitzten uns immer mehr, bis ich irgendwann anfing, mit meiner leeren Teetasse zu gestikulieren. Bedroh mich ja nicht mit einer Teetasse, sagte er und musste lachen, weil es so albern klang. Die meisten unserer Auseinandersetzungen wurden ebenso schnell und einvernehmlich gelöst.
Auf dem Weg zur Arbeit versuchte ich, nicht an das zu denken, was ich getan hatte, konnte aber den Ansturm der Bilder von Carl und mir in der Bar und der Siedlung nicht aufhalten. Ich wusste, dass ich mit Carl würde reden müssen, aber weil ich mir nicht eingestehen mochte, dass ich Johnny betrogen hatte, konnte ich mich auch nicht auf diese Begegnung vorbereiten. Ich hatte eine Vorstellung von dem Leben, das ich mit Johnny führen würde – ein großes Haus, ein baumbestandenes Sträßchen. Die Bilder waren betulich und vorstädtisch, obwohl mir das damals nicht auffiel. Ich dachte wohl, ich könnte mein Herz in eine Privatstraße umwandeln: keine Raser, keine Zusammenstöße, kein Durchgangsverkehr, keine schweren Lasten. Einfahrt verboten.