Die Fähre brennt in der Morgenkälte
Die Short Tails abzuhängen war kein Kunststück, denn die Banditen hatten keine Pferde. Außerdem konnte niemand von ihnen reiten, auch Pearly Soames nicht. Aber diese Kerle waren die Herren der Docks. Mit kleinen Booten manövrierten sie erstaunlich geschickt, aber zu Lande half ihnen das nichts. Dort gingen sie zu Fuß oder benutzten die städtischen Busse, U-Bahnen und Vorortzüge – selbstverständlich ohne Fahrschein. Seit drei Jahren waren sie hinter Peter Lake her. Sie jagten ihn ohne Rücksicht auf Wetter und Jahreszeit, sodass er seinen eigenen Worten zufolge immer im »Keller« war, das heißt in einem fortwährenden Abwehrkampf, auf dessen Ende er bisher vergeblich gehofft hatte.
Bisweilen suchte Peter Schutz bei den Muschelfischern des Marschlandes von Bayonne, aber sein eigentliches Revier war Manhattan. Es dauerte dort allerdings nie lange, bis die Short Tails ihn ausfindig gemacht hatten. Dann begann die Jagd aufs Neue.
Peter konnte und wollte auf Manhattan nicht verzichten, denn er war ein Dieb. Woanders zu arbeiten wäre in diesem Gewerbe ein niederschmetterndes Eingeständnis der eigenen Mittelmäßigkeit gewesen. Während der vergangenen drei Jahre hatte er mehrmals mit dem Gedanken gespielt, nach Boston zu gehen, aber stets war er zu derselben Schlussfolgerung gelangt: Dort gab es so gut wie keine lohnende Diebesbeute, die Stadt war zudem für Diebe oder Einbrecher allzu klein und übersichtlich, und außerdem musste er, Peter, sich darauf gefasst machen, den Cantarello-Affen in die Quere zu kommen. Die gaben dort in Boston den Ton an, aber sie waren nichts im Vergleich mit den Short Tails, mit denen sich Peter Lake – übrigens aus ganz anderen Gründen – angelegt hatte. Er hatte sogar gehört, dass es in Boston nachts richtig dunkel wurde! Angeblich stieß man dort auch an jeder Straßenecke mit einem Geistlichen zusammen. Deshalb blieb er lieber in New York und gab sich weiterhin der Hoffnung hin, die Short Tails könnten irgendwann der ständigen Jagd überdrüssig werden.
Da irrte er jedoch. Abgesehen von den Verschnaufpausen im Marschland waren ihm die Kerle immer dicht auf den Fersen gewesen. Mittlerweile hatte er sich fast daran gewöhnt, auf der wackeligen Treppe irgendeines seiner Notquartiere schon in aller Herrgottsfrühe das Poltern von vielen Stiefeln zu vernehmen. Oftmals hatte er von einer leckeren Mahlzeit, einem ihm geneigten Frauenzimmer oder der reichen Beute in einem unbewachten Haus ablassen müssen, weil urplötzlich die Short Tails aufgetaucht waren. Es kam vor, dass sie buchstäblich neben ihm aus dem Boden wuchsen. Wie sie das anstellten, war ihr Geheimnis.
Doch nun lagen die Dinge anders, denn jetzt hatte Peter ein Pferd. Warum war er nicht früher darauf gekommen? Endlich konnte er für einen beliebig großen Sicherheitsabstand sorgen, wenn Pearly ihm wieder einmal zu dicht auf den Pelz rückte, und im Sommer würde er sogar auf dem Rücken des Pferdes Flüsse und Seen durchschwimmen können. Im Winter, wenn das Wasser zufror, würde alles sogar noch leichter sein. Er könnte nicht nur nach Brooklyn flüchten – wenn auch mit dem Risiko, sich im verwirrenden Labyrinth der unzähligen Straßen zu verirren –, sondern nun lagen auch die Kiefernwälder der weiteren Umgebung, die Watchung-Berge und die endlosen Strände von Montauk in seiner Reichweite. Das waren Orte, die man nicht mit der U-Bahn erreichen konnte. Gewiss würden die an die Stadt gewöhnten Short Tails vor ihnen zurückschrecken, denn mochten sie sich auch aufs Töten und Stehlen verstehen, so fürchteten sie sich doch vor Blitz, Donner, wilden Tieren, tiefen Wäldern und dem Quaken der Baumfrösche in der Nacht.
Peter Lake spornte das Pferd zu einer schnelleren Gangart an, aber der Hengst brauchte keine Ermunterung. Die Angst saß ihm noch im Nacken, und außerdem liebte er es, dahinzujagen wie ein Pfeil. Schon übergoss die Morgensonne die Dächer der Häuser mit ihrem Feuerschein. Der Hengst hatte sich längst warm gelaufen. Ja, er genoss es, dahinzustürmen wie ein großes weißes Geschoss, den Kopf nach vorn in den Wind gereckt und die Ohren angelegt. Er machte so riesige Sätze, dass Peter unwillkürlich an ein Känguruh denken musste. Bisweilen war ihm, als würden die Hufe des Hengstes den Boden überhaupt nicht mehr berühren.
Es hat wohl keinen Sinn, nach Five Points zu reiten, sagte sich Peter. Gewiss, er hatte dort Freunde und konnte in tausend Kellerkaschemmen Unterschlupf finden. Da wurde getanzt und um Geld gespielt, aber mit dem großen weißen Hengst würde er zu großes Aufsehen erregen. Alle Petzer und Schnüffler wären geradezu elektrisiert und warteten nur auf die erstbeste Gelegenheit, ihn zu verpfeifen. Außerdem war Five Points so nah! Wozu hatte er das Pferd? Heute zog es ihn hinaus aus der Stadt, er wollte möglichst weit fort.
Sie rasten die Bowery entlang und erreichten bald den Washington Square, wo der Hengst durch den Torbogen flog wie ein dressiertes Zirkustier durch einen brennenden Reifen. Um diese Zeit waren die Straßen schon von zahlreichen Fußgängern bevölkert. Mit gerunzelten Brauen blickten sie dem tollkühnen Reiter nach, der sich ungeachtet des dichten Verkehrs seinen Weg bahnte. Ein Polizist, der am Madison Square die beiden von seinem erhöhten Piedestal herab die Fifth Avenue heraufkommen sah, begriff augenblicklich, dass es vergeblich sein würde, ihnen Halt zu gebieten, und sorgte von vornherein gleich dafür, dass Pferd und Reiter ungehindert passieren konnten. Der grässliche Anblick eines Gaules, der in vollem Galopp auf ein fahrendes Automobil geprallt war, war ihm noch allzu frisch in Erinnerung. Er wollte so etwas nicht noch einmal erleben.
Schon kamen Pferd und Reiter gleich einem zum Leben erwachten Standbild pfeilschnell heran. Der Polizist blies in seine Trillerpfeife und fuchtelte mit den behandschuhten Händen. Unerhört! Sie kamen geradewegs auf seine kleine Verkehrsinsel zu, mit mindestens dreißig Meilen in der Stunde! Kindermädchen bekreuzigten sich und legten schützend die Arme um ihre kleinen Schutzbefohlenen. Fuhrleute auf den Kutschböckenreckten ihre Hälse, alte Frauen wandten den Blick ab. Vor Schreck gefror der Polizist auf seinem Türmchen zu Eis.
Peter spornte sein Pferd zu noch schnellerer Gangart an und ritt schnurgerade auf den Polizisten zu, den rechten Arm wie eine Lanze von sich gestreckt. Als Ross und Reiter wie ein weißer Schemen an dem Mann vorbeihuschten, riss Peter ihm die Dienstmütze mit den Worten vom Kopf: »Ihren Hut, mit Verlaub!« Der erzürnte Beamte machte eine halbe Drehung. Eilig zog er sein Notizbuch aus der Tasche und kritzelte eine Beschreibung des Übeltäters hinein.
Peter lenkte den Hengst nach links in das Tenderloin-Viertel hinein, doch dort waren die Straßen so hoffnungslos verstopft, dass er bald nicht weiterkam. Ein Tankzug und mehrere andere Fahrzeuge hatten sich ineinander verknäult. Kutscher schrien aufeinander ein, Pferde wieherten ungeduldig. Eine Bande von Lausbuben ergriff die Gelegenheit, um die Erwachsenen mit einem Hagel von Schneebällen und Eisbrocken einzudecken. Peter musste sich mehrmals ducken. Als er dabei zufällig einen Blick nach hinten warf, sah er in der Ferne ein rundes Dutzend blauer Punkte, die sich, von Osten kommend, rasch auf ihn zubewegten. Sie rannten, sie stolperten, sie rutschten – es waren Polizisten! Da es keinen Sattel und keine Steigbügel gab, kletterte Peter auf den Rücken des Pferdes, um nachzuschauen, wie es jenseits des Verkehrsknäuels aussah. Leider musste er feststellen, dass es mindestens eine halbe Stunde dauern würde, bis das Chaos entwirrt wäre. Deshalb wendete er das Pferd und schickte sich an, mitten durch die sich nähernde Phalanx der blauen Uniformen hindurchzupreschen, aber der Mut des Hengstes war von anderer Art. Er wollte davon nichts wissen. Mit schnaubenden Nüstern tänzelte er auf der Stelle, während Peter ihn vergeblich anzuspornen versuchte. Nein, er machte keinen Schritt vorwärts, aber auch keinen zurück, sondern trippelte seitlich auf ein Haus mit einer Leuchtreklame zu, die sogar jetzt, am frühen Morgen, marktschreierisch verkündete: Saul Turkish präsentiert: Caradelba, die spanische Zigeunerin.
Das kleine Varietétheater war nur halb voll, der Saal in grelles, blaugrünes Licht getaucht. Nur die Bühnenmitte, wo die halb nackte Caradelba in einem Wirbel weißer und cremefarbener Seide tanzte, wurde von einem einzigen weißen Scheinwerferkegel erhellt.
Peter trabte auf dem weißen Hengst den Mittelgang entlang nach vorne. Dort blieb er stehen und schaute der Tänzerin zu. Insgeheim hoffte er, dass die Polizei ihn aus den Augen verloren hätte, aber schon stürmten die ersten Blauröcke in den Vorraum des Theaters. Da spornte Peter den Hengst erneut an und ritt im Galopp auf den Orchestergraben zu. Die Musiker spielten weiter, aber als urplötzlich ein riesiger Pferdekopf, vergleichbar mit einem Kürbislampion am Bug einer fahrenden Lokomotive, aus der Dunkelheit auftauchte, machten sie ein paar Patzer.
»Mal sehen, ob du auch springen kannst!«, sagte Peter und schloss die Augen. Der Hengst sprang nicht nur – nein, er flog geradezu über das Orchester hinweg und landete fast geräuschlos auf der Bühne neben der spanischen Zigeunerin, zwanzig Fuß weiter und acht Fuß höher. Peter war verblüfft, dass dieses Pferd so weit springen konnte und dabei so sanft aufsetzte. Doch das Mädchen war sprachlos. Die Kleine war fast noch ein Kind, aber ihr Gesicht und ihr schmächtiger Körper waren mit einem Pfund Schminke bedeckt. Wenn sie nicht tanzte, wirkte sie ängstlich und verwirrt. Das plötzliche Erscheinen eines Berittenen auf ihrer Bühne wertete sie als eine schlimme Kränkung. Ob sich dieser Mann auf seinem riesigen Hengst wohl über sie lustig machen wollte? Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen. Übrigens fühlte sich auch der Hengst nicht ganz wohl in seiner Haut. Nie zuvor in seinem Leben hatte er ein Theater betreten, von einer Bühne ganz zu schweigen. Das blendende Scheinwerferlicht, die Musik, der süßliche Duft von Caradelbas Schminke und der wallende blaue Vorhang – all dies entzückte und verunsicherte ihn gleichermaßen. Er warf sich in die Brust wie ein Paradepferd.
Peter Lake brachte es nicht über sich, Caradelba ungetröstet stehen zu lassen. Unten im Orchestergraben balgten sich die Polizisten mit den erbosten Musikern, die sich den Uniformierten in den Weg gestellt hatten. Der Hengst, von der Magie des Rampenlichts verzaubert, versuchte unterdessen sein Glück als Schauspieler, indem er das Gesicht nacheinander zu mehreren ausdrucksvollen Grimassen verzog. Peter, der selbst in größter Bedrängnis stets gelassen blieb, stieg ab und trat zu Caradelba, obwohl die ersten Polizisten sich schon anschickten, die Brüstung der Bühne zu überklettern. In seinem irischen Akzent sagte er zu dem Mädchen: »Meine liebe Miss Candelabra, ich möchte Ihnen zum Zeichen meiner Verehrung und der Bewunderung, welche die Menschen dieser großen Stadt für Sie empfinden, diese Polizeimütze als Erinnerung überreichen. Ich habe sie gerade am Madison Square einem kleinen Polizisten von seinem kleinen Kopf gerissen …« Peter wies auf das runde Dutzend Uniformierter, die unten im Saal, nachdem sie vergeblich versucht hatten, die Bühne zu erklimmen, von den Musikern hart bedrängt wurden. »Wie Sie sehen«, fuhr er dann fort, »ist es eine echte Polizeimütze. Doch nun muss ich gehen.« Die kleine Zigeunerin nahm die Schirmmütze, die trotz der nüchternen blauen Farbe irgendwie aufgeblasen wirkte, und setzte sie sich auf den Kopf. Nun wirkten ihre Arme und Schultern in ihrer Nacktheit fast obszön. Nicht nur zum Ergötzen des Publikums, sondern auch zu ihrer eigenen Freude begann sie, zu den Klängen eines arabesken Fandangos zu tanzen.
Peter Lake lenkte den Hengst in den dämmerigen Hintergrund der weitläufigen Bühne. Durch ein Gewirr von Kulissen, herabbaumelnden Seilen und schmalen Korridoren fanden sie wenig später eine Hintertür, die ins Freie führte. Als sie auf die winterliche Straße hinaustraten, stellten sie erfreut fest, dass das Verkehrschaos in der Zwischenzeit beseitigt worden war. In leichtem Galopp ging es zurück zur Fifth Avenue.
Die Hüter des Gesetzes hatten sich in jüngster Vergangenheit wenig um Peter Lake kümmern können, denn in der Stadt tobten Bandenkriege. Jeden Morgen sammelte die Polizei Berge von Leichen ein, und zwar durchaus nicht nur unten am Fluss oder in Five Points, sondern auch an ungewöhnlichen Orten wie in Kirchtürmen, Mädcheninternaten oder Gewürzspeichern. Die Ordnungshüter hatten kaum Zeit für gewöhnliche Einbrecher wie Peter Lake. Doch wenn er holterdipolter durch Straßen galoppieren würde, in denen die piekfeinen Leute wohnten, dann, so stellte er sich vor, hätte er die Polizei bald auf den Fersen, sodass sich die Short Tails nicht so leicht an ihn herantrauen würden. Die Sache hatte nur einen Haken: Wenn die Short Tails erst einmal einen Menschen aufs Korn genommen hatten, ließen sie nicht mehr von ihm ab – nie.
Peter kannte viele Mittel und Wege, um den tödlichen Fallen seiner Verfolger immer wieder zu entgehen. Stets zauberte seine Fantasie den rettenden Einfall herbei. In dieser winterlichen Stadt gab es ebenso viele Möglichkeiten zum Überleben – und zum Sterben – wie Straßen, Plätze und Sehenswürdigkeiten. Die Short Tails waren jedoch selbst so gerissen und erfahren, dass sie sich jeden Winkel des gigantischen Labyrinths zunutze machten. Sie bewegten sich mit der Wendigkeit von Ratten in einem komplizierten Netzwerk unterirdischer Gänge. Ihre Schnelligkeit verlieh ihnen die Aura der Unentrinnbarkeit, ähnlich dem nie endenden Fluss der Zeit, der Suche des Wassers nach der tiefsten Ebene und der Gefräßigkeit des Feuers. Den Short Tails auch nur für eine einzige Woche entkommen zu sein konnte bereits als eine Leistung gelten, die ans Wunderbare grenzte, doch Peter war schon drei Jahre lang das Hauptziel dieser gnadenlosen Verfolger. Da er nun auch noch die Polizei am Hals hatte, entschloss er sich, Manhattan für eine Zeitlang den Rücken zu kehren. Sollten sich die beiden Greifarme der Zange doch gegenseitig zwicken! Wenn die gegnerischen Lager auf der Jagd nach ihm, Peter, kollidierten, dann verschaffte ihm der Zusammenprall vielleicht drei oder vier Monate Ruhe und Freiheit. Also nichts wie fort! Er entschloss sich, den Muschelfischern im sumpfigen Marschland von Bayonne einen Besuch abzustatten. Sie würden ihm und dem Hengst auf einem trockenen Fleckchen Erde Unterschlupf gewähren, das wusste er, denn sie waren es gewesen, die ihn einst gefunden und in der Art von wohlgesonnenen Wölfen aufgezogen hatten. Den Short Tails waren sie an Wildheit und Kampfkraft weit überlegen, weshalb jene es schon lange nicht mehr wagten, die Riemen ihrer Ruderboote in Gewässer zu tauchen, die zum weitläufigen Herrschaftsbereich der Sumpfmänner gehörten. Denn wer ihnen in die Hände fiel, musste damit rechnen, augenblicklich enthauptet zu werden. Niemand hatte sich jemals gegen sie durchsetzen können, denn nicht nur waren sie schier unüberwindliche Streiter, die nach Belieben auftauchten und verschwanden, sondern ihr Reich war zudem nur halb von dieser Welt. Jeder, der sich ohne ihre Billigung dorthin wagte, lief Gefahr, sich für immer in dem tosenden Wolkenmeer zu verlieren, das sich über die trügerisch glitzernden Wasser wälzte.
Vor langer Zeit hatten die Behörden des Staates New Jersey den Versuch gemacht, die Sumpfmänner in den breiten Strom bürgerlichen Daseins einzugliedern, mit Gesetzen, Steuern und dergleichen mehr. Doch dreißig Polizisten und Detektive der Pinkerton-Agentur waren, einer nach dem anderen, hinter der blendend weißen Wolkenbank verschwunden, die verblüffend schnell ihren Standort wechselte. Der Gouverneur war des Nachts in seiner Villa in Princeton von Unbekannten in zwei Teile geschnitten worden. Eines der Fährschiffe flog bei Weehawken nach einer Explosion so hoch in die Luft wie ein Haus mit zwanzig Stockwerken. Einem riesigen Feuerball gleich war es in die Fluten zurückgestürzt, und im Umkreis von fünfzig Meilen hatten die Fensterscheiben geklirrt.
Peter war sich darüber im Klaren, dass ihn nach einiger Zeit die Lichter von Manhattan jenseits des Flusses trotz aller Gefahren unwiderstehlich aus seinem Versteck locken würden. Die Sumpfmänner lebten ihm zu nah an dem geheimnisumwitterten Wolkenwall. Sie waren wortkarge, wachsame und unergründliche Gesellen, an denen die Zeit so schnell vorbeizustreichen schien wie eine Landschaft an einem fahrenden Zug. Ein typischer Sumpfmann hatte in seiner Rätselhaftigkeit etwas von einem Urmenschen ferner Zeitalter. Er verstand sich darauf, aus der Leber toter Fische das Orakel zu lesen und redete mit flinkem Zungenschlag eine Sprache, deren Worte an seltsame Runenzeichen gemahnten. Für Peter Lake, der sich an das Klimpern der Pianos und die hübschen, nur scheinbar so schwer zu erobernden Mädchen der Großstadt gewöhnt hatte, war ein längerer Aufenthalt in den Sümpfen keine leichte Sache. Aber es gehörte zu seinem Wesen, dass er sich notfalls nach der Decke strecken konnte. Stets war er bereit, sich vom Leben auf die Probe stellen zu lassen.
Auch diesmal würde er wohl nur eine Woche, höchstens zehn Tage bleiben, abends noch vor Mondaufgang schlafen gehen, tagsüber in Eislöchern fischen, zu den Mahlzeiten Unmengen gerösteter Austern verschlingen und in einem kleinen Boot durch die eisfreien, salzigen Brackwasser staken. In den Nächten würde er sich mit der einen oder anderen Frau nackt auf dem Lager wälzen und sich mit ihr in der atemlosen Schönheit wilder, rauschhafter Liebesakte vereinen, während das ungebärdige Winterwetter die kleinen, im Schilf verborgenen Hütten der Sumpfbewohner schüttelte und Schneestürme alle Wege über die Eisflächen unkenntlich machten. Peter dachte an Anarinda, die Dunkelhaarige, Pfirsichbrüstige, Sternenäugige – und er machte sich sofort auf den Weg nach Norden.
»Verdammt!«, fluchte er, als er an den Docks über die leichte Anhöhe ritt und den Fluss vor sich liegen sah. Die Fähre brannte lichterloh, mitten in dem mit Eisschollen übersäten Fahrwasser! Das Schiff lag fest, weitab vom Ufer. Orangefarbener Feuerschein und pechschwarzer, wallender Rauch hüllten es ein. Immer mussten diese Fähren abbrennen! Ihre Kessel explodierten mit Vorliebe im Winter, wenn sich die Schiffe gegen kleine Inseln aus scharfkantigem Eis stromaufwärts kämpfen mussten. Die wunderbaren neuen Brücken über den Strom waren die einzige Abhilfe, aber wer konnte schon an dieser Stelle eine Brücke über den Hudson bauen?
Der Himmel erstrahlte an diesem Tag in makellosem Blau. Am jenseitigen Ufer waren in der steilen braunen Felswand rötliche und purpurne Gesteinsadern fast überdeutlich zu erkennen, ja sogar einzelne weiße Häuschen und Bäume. Ein steifer, kalter Wind blies die Eisschollen stromabwärts vor sich her. Sie rieben sich schurrend aneinander, manchmal prallten sie auch mit dem Glockenton berstenden Glases zusammen. Und mitten in diesem weißen Wirrwarr mühten sich schwarzbemäntelte Feuerwehrmänner, Überlebende zu bergen und von Dampfschleppern und Walfangbooten aus eiskaltes Flusswasser in die Flammen zu spritzen.
Schon hatten sich, trotz des bitteren Frostes, Hunderte von Schaulustigen versammelt: kleine Mädchen mit Schlittschuhen an den Füßen, Handwerker auf dem Weg zur Arbeit, Dienstleute, Dockarbeiter, Fischer und Eisenbahner. Fliegende Händler stellten eilig ihre Buden auf und freuten sich auf die Tausenden von Neugierigen, die herbeieilen würden, um einen Blick auf die im Fluss treibende, inzwischen zu einem schwärzlichen Metallklumpen ausgebrannte Fähre zu werfen und sich an heißen Esskastanien, Puffmais, warmen Brezeln und Fleischspießchen zu laben.
Peter stieg ab. Er erstand von einem verschlagen blickenden Mann, dessen Hände gänzlich gegen Feuer abgehärtet schienen – fast griff er mit den bloßen Fingern in die rötliche Kohlenglut hinein – eine Tüte gerösteter Esskastanien. Da sie noch zu heiß waren, blickte er sich schnell um, um sich zu vergewissern, dass er von keinem weiblichen Wesen beobachtet wurde, öffnete mit einer flinken Bewegung seine Hose und schob die Tüte mit den Kastanien hinein. Wohlige Wärme verbreitete sich vom Bauch aus über seinen ganzen Körper. Unverwandt blickte er zu dem brennenden Fährschiff hinüber. Der Wind hatte noch mehr aufgefrischt. Er zwang die Trauerweiden am Ufer, sich nach Süden zu neigen, und fegte ihnen den pulverigen Schnee aus dem Geäst.
Einer der Schaulustigen starrte nicht auf das brennende Schiff, sondern schien sich nur für Peter Lake zu interessieren. Doch der tat diesen Affront mit einem Achselzucken ab. Was machte es ihm schon aus, von einem Mann begafft zu werden, der die Uniform eines Telegrammboten trug? Für solche Leute hatte Peter nichts übrig. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht im Entferntesten an den gertenschlanken, geflügelten Gott Hermes erinnerten, sondern ausnahmslos rundliche, schwerfällige und dickblütige Scheusale waren, die zu Fuß höchstens eine Meile in der Stunde zurücklegten und keine Puste zum Treppensteigen hatten. Dieser Kerl trug eine zerknautschte Schirmmütze mit einem kleinen Messingschild, auf dem zu lesen stand: Beals, Telegrammbote. Es entging Peter nicht, dass sich dieser Beals nach einem Weilchen unauffällig in der Menschenmenge verdrückte. Was machte es schon, wenn er ihn, Peter, bei den Short Tails verpfiff? Sobald die Bande aufkreuzte, brauchte Peter nur auf seinen Hengst zu springen und das Weite zu suchen.
Unten auf dem Fluss bemühten sich mehrere Feuerwehrmänner, an Bord des brennenden Fährschiffes zu kommen. Eigentlich gab es dazu keinerlei Anlass, denn alle Passagiere waren entweder tot oder gerettet, und die Feuerwehr konnte nicht darauf hoffen, das Feuer doch noch unter Kontrolle zu bringen. Mehrere der tapferen Männer stürzten in den Fluss, als eine Strickleiter durchbrannte, mittels derer sie die steile Bordwand zu bezwingen versuchten. Ein erschrockenes Raunen ging durch die am Ufer versammelten Gaffer. Peter verstand, was dort vorging. Jene Männer wurden umso stärker, je näher sie an das Feuer herankamen. Gewiss, es kam vor, dass der eine oder andere von ihnen bei einem Brand das Leben verlor, aber welch herrliche Bewährungsproben bot ihnen jede Katastrophe!
Peter schloss sich dem allgemeinen Applaus an, als sich einige der Feuerwehrmänner doch noch an einem Seil emporhangelten und das Deck des Schiffes betraten. Während er zuschaute, schälte er eine Esskastanie nach der anderen und teilte sie mit dem Pferd. So verstrich eine halbe Stunde. Das Schiff hatte inzwischen bedrohliche Schlagseite. Ein Schlepper bahnte sich seinen Weg durch die großen Eisschollen, um die erschöpften Feuerwehrleute aufzunehmen, die an Deck des Fährschiffes standen und sich ratlos umblickten, denn auch das rettende Seil war inzwischen verbrannt. Das Schiff konnte jeden Augenblick untergehen, und dann war ihnen der Tod durch Ertrinken gewiss.
Aus dem Augenwinkel – bei Dieben eine hoch entwickelte Art der Wahrnehmung – sah Peter zwei Automobile, die sich rasch näherten. Eigentlich war daran nichts Auffälliges, denn die Straße war ziemlich befahren. Aber diese beiden Wagen kamen, in kurzem Abstand voneinander, verdächtig schnell heran – und sie waren vollgestopft mit Mitgliedern der Short-Tail-Bande! Als Peter sich auf den Rücken des Hengstes schwang, fiel sein Blick auf den Telegrammboten Beals, der in einiger Entfernung vor Aufregung kleine Hüpfer machte. Gewiss würden sich die Short Tails erkenntlich zeigen, indem sie ihn zu einer unmäßigen Prasserei und zu einem Abend im Varieté einluden.
Peter machte sich im Galopp nach Süden davon. Die brennende Fähre war vergessen, als er breite Alleen entlangpreschte, vorbei an Fabriken, Molkereien, Brauereien, Rangierbahnhöfen, Gastanks, ärmlichen Wohnhäusern, kleinen Revuetheatern, Gerbereien und den turmhohen, grauen Pylonen eiserner Brücken. Die Short Tails waren zwar wieder einmal übertölpelt und hatten einstweilen das Nachsehen, aber sie würden unverzüglich mit ihren Automobilen die Verfolgung aufnehmen. Peter fühlte sich jedoch in Sicherheit. Er jagte auf seinem Hengst mit so atemberaubender Geschwindigkeit gen Süden, dass er bisweilen zu fliegen meinte.