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Jebleeh, der seit Jahren in Amerika im Exil lebt, kehrt für einen Besuch in seine Heimatstadt Mogadischu zurück, begleitet von seinem Schwiegersohn Malik, einem Journalisten, der über die Unruhen und den zunehmenden Islamismus in der Region schreiben will. Im Jahr 2006 ist Mo­gadischu vom Bürgerkrieg gezeichnet, die Stimmung beklemmend. Das Chaos ­einer von Warlords besetzten Stadt, das Jebleeh von seinem letzten Besuch erinnert, ist nun einer unheimlichen Ruhe gewichen, die von den allgegenwärtigen peitschentragenden Männern in weißen Mänteln – den Schergen der islamistischen Organisation Al-Shabaab – noch verstärkt wird. Unterdessen landet Maliks Bruder Ahl auf der Suche nach seinem verschwundenen Sohn in Puntland, einer Region, die allgemein als Unterschlupf der Piraten bekannt ist. Und während die Somalier sich gegen die äthiopische Invasion wappnen, Piraten die Seewege verunsichern, werden die Brüder immer tiefer in die Wirren des Bürgerkriegs ­hineingezogen.

 

Nuruddin Farah wurde 1945 in Baidoa, Somalia, geboren. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Indien sowie Theaterwissenschaft in London und Essex. 1974 musste er Somalia verlassen, wo er aus politischen Gründen in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, und lebte viele Jahre im Exil. Erst 1996 konnte er sein Heimatland wieder besuchen. Farah ist Autor zahlreicher Romane und Theaterstücke, die weltweit in siebzehn Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Er lebt heute mit seiner ­Familie in Kapstadt.

 

Zuletzt erschienen:
Links. Roman, 2005
Netze. Roman, 2009

Nuruddin Farah

Gekapert

Roman

Aus dem Englischen
von Susann Urban

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Crossbones bei Riverhead Books

 

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom deutschen Übersetzerfonds e.V. gefördert.

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Satz: Memminger MedienCentrum AG

 

eISBN 978-3-518-73053-9

www.suhrkamp.de

Aus einem Wagen, der soeben angehalten hat, steigt ein Bursche unbestimmten Alters mit New-York-Yankees-Baseballkappe und Ray-Ban-Sonnenbrille, bedächtig wie eine Spinne, die eine Mauerritze hochkriecht. Ohne Hilfe der beiden vorn im Auto sitzenden Männer holt er aus dem Kofferraum eine Reisetasche. Es sind altgediente Soldaten, und obwohl sie kein Wort darüber verloren haben, weiß er, daß sie nicht viel von seinesgleichen halten.

Der Bursche wirft sich die Tasche über die Schulter, nickt den beiden Männern im Fahrzeug dankend zu. Sie sehen mit offensichtlicher Verachtung weg, seine Dankbarkeit interessiert sie nicht. Sein Lächeln zeigt jugendlichen Wagemut, verbirgt seine Beklommenheit. Er will nicht versagen, darf nicht versagen. Der enorme Unterschied zwischen einem Märtyrertod und eine Sache in den Sand zu setzen und dabei umzukommen, ist ihm bewußt. Natürlich will er nicht sterben, nicht bevor er seinen Traum verwirklicht hat.

Er ist klein, sein Ehrgeiz groß. An seinem ersten Tag in der Al-Schabaab hatte ihn der Ausbilder, der sich über ihn aufgeregt hatte, am Kragen gepackt und auf somalisch angebrüllt: »Waxayahow yar!« – »Du Grünschnabel!« Der Spitzname blieb hängen, und wenn er fällt, fühlt er sich mittlerweile auch angesprochen. Das Auto stößt zurück, er bewegt sich auf der staubigen Straße vorwärts, atmet schwer unter seiner Last.

Es ist heiß; kurz vor Mittag kommt ihm eine Frau entgegen, die ein Körperzelt trägt. Er weckt ihr Interesse, ein zierliches, knapp 1,40 Meter großes Kerlchen, das eine Reisetasche schleppt, größer und schwerer als es selbst. Sie beobachtet, wie der Bursche die Tasche auf den Boden stellt und erleichtert aufseufzt. Erst wenn er seine Sonnenbrille abgenommen hat, wird sie es in Betracht ziehen, den Gesichtsschleier zu heben oder Fragen zu beantworten.

Sie beschließt, ihm von gleich zu gleich zu begegnen und löst ihren Schleier. Beugt sich hinab und sieht ihm in die Augen, will ihm die Nervosität nehmen. Sie tauschen den üblichen Gruß aus – sie sagt Nabad, das somalische »Friede sei mit dir«, er bevorzugt das arabische Pendant, Salamu alaikum.

»Kann ich helfen?« fragt sie. »Sieht so aus, als ob du dich verirrt hast.«

Sie möge ihm sagen, in welcher Richtung die Kibla liege, bittet er sie.

Sie läßt sich Zeit, überlegt, ob er wohl einer der Handlanger ist, die für die Al-Shabaab die schmutzige Arbeit verrichten. Der arme Kerl muß die Kibla – den arabischen Ausdruck für die Richtung in der Mekka liegt und in die sich ein Muslim beim Gebet wendet – mit Norden verwechseln, denkt sie und fragt sich, ob er ein Mann mit der Stimme eines Jungen oder ein Junge im Körper eines Mannes ist. Sie stehen auf einer der staubigen Straßen East Wardhiigleys, eines heruntergekommenen Viertels Mogadischus, und taxieren einander. Cambara ist auf dem Weg zum Bakaaraha-Markt; sie benötigt noch ein paar Dinge für die Wohnung, die sie für ihre Gäste vorbereitet, Jeebleh und seinen Journalistenschwiegersohn Malik, die morgen eintreffen werden. Während sie Grünschnabel betrachtet, kommt ihr der Gedanke, daß er sich vielleicht als jemand ausgibt, der er gar nicht ist, so wie sie sich, ehe sie das Haus verläßt, das Körperzelt wie eine Verkleidung überstreift. Die Somalierinnen, die zuvor nie Schleier zu tragen pflegten, nahmen nach Ausbruch des Bürgerkrieges 1991 dazu Zuflucht. Damit fühlten sie sich etwas geschützter vor sexuellen Belästigungen durch bewaffnete Jugendliche. Seit aber 2006 die Union islamischer Gerichte die Herrschaft über Mogadischu übernommen hat und ihre Auslegung der Scharia ausweitet, ist die Verschleierung ein Muß geworden. Frauen, die Hosen tragen oder etwas freizügigere Kleider, wie noch vor dem Bürgerkrieg, werden bestraft.

Sein Haar ist aschefarben und mit Locken geschlagen, deren kein Kamm Herr wird. Den wenigen Worten, die sie bisher vernommen hat, entnimmt sie, daß er noch nicht im Stimmbruch war. Dennoch ist sein Gesicht von jenen tiefen Furchen durchzogen, die sie mit den Hirten aus der Zentralregion assoziiert, wo die politischen Unruhen der letzten Zeit entstanden sind. Die Al-Schabaab, der Militärflügel der Union der islamischen Gerichte, versuchte, die Einwohner der Stadt bis zur Unterwerfung zu terrorisieren, und es sieht so aus, als wäre sie einigermaßen erfolgreich gewesen. Sie vermutet, daß er einer der Al-Schabaab-Rekruten ist, die den Auftrag haben, eines der Häuser hier in der Nachbarschaft zu »weihen«, genauer gesagt, zu beschlagnahmen, um von dort aus gemeinsam mit seinen Mitstreitern gegnerische Ziele anzugreifen. Cambara zeigt nach Süden, schickt ihn in die falsche Richtung, weit weg vom nordöstlichen Teil der Stadt, in dem sie wohnt.

Grünschnabel greift nach seiner Reisetasche und marschiert in die Richtung, die ihm die Frau gewiesen hat. Er verlagert die Last von einer Schulter auf die andere, atmet schwer durch die Nase und legt hin und wieder eine Pause ein. Er gibt sich stärker als er ist, versucht sich in beschwingtem Gang, aber es ist ganz offensichtlich, daß er Theater spielt; er schafft keine zwei Schritte, ohne ins Schwanken zu geraten. Das Gewicht der Tasche belastet ihn so, daß er sich nicht mehr an die Einzelheiten seiner Anweisung erinnern kann. Er kann sich zweifellos glücklich schätzen, daß er für diesen heiklen, geheimnisvollen Auftrag ausgewählt worden ist. Sein erster Einsatz. Er wird alles tun, um die Anführer der Zelle, deren vollwertiges Mitglied er jetzt ist, zu beeindrucken. Bei diesem Gedanken zieht ein Lächeln über sein Gesicht und für kurze Zeit wird sein Gang wieder dynamischer.

Schon beim bloßen Gedanken daran, wie er die Reisetasche abgeholt hat, verliert er das Gleichgewicht. Man hatte ihn zu einem bärtigen Mann geschickt, dessen Kampfname Garweyne, Vollbart, lautet. Ihm gehört auf dem Bakaaraha-Markt, einem Zufluchtsort, in dessen labyrinthischen Windungen die Rebellen häufig ihre Angriffe planen, einer der größten Computerläden. Wer sich in diesem riesigen Markt nicht auskennt, den verwirren die vielen Sackgassen, die von Buden und Ständen gesäumt sind, deren Aufbau einen halben Tag dauert, ihr Abbau lediglich ein paar Stunden.

In die Reisetasche hat Vollbart Minen, Granaten und andere Sprengkörper gepackt, Kleinwaffen, die, so vermutet Grünschnabel, dazu gedacht sind, im Fall eines äthiopischen Angriffs Löcher in Flugzeugrümpfe zu reißen. Tatsächlich hat Vollbart darüber kaum Worte verloren, und Grünschnabel weiß, daß es ihm nicht zusteht, Fragen zu stellen. Er darf seiner Neugier nicht nachgeben, jegliches Abweichen von seinen Anweisungen zöge eine schwere Strafe nach sich. Soviel ist ihm klar: Er bildet die Vorhut einer Kommandoeinheit, die den Boden vorbereitet, damit die Al-Schabaab sofort auf eine äthiopische Invasion Mogadischus reagieren kann. Normalerweise beschäftigt er sich mit Sprengstoffen, doch heute ist es seine Aufgabe, ein als sicher eingestuftes Haus zu »weihen«.

Das Aufgebot, dem Grünschnabel angehört, besteht aus einem ausgewählten Kreis von Kämpfern, die dem Befehl zweier Männer unterstehen. Einer der beiden trägt den Kampfnamen Dableh, Fußknecht. Bei Ausbruch des Bürgerkriegs war er Befehlshaber über das größte Waffenlager des Landes, vom damaligen Diktator Barre höchstpersönlich zum Oberst ernannt. Nach Ausbruch des Bürgerkrieges wechselte der Oberst die Seiten und gewährte dem Warlord StrongmanSouth uneingeschränkten Zugriff auf dieses Lager, versorgte dessen Clanmiliz mit Waffen und ermöglichte es ihr, das Staatsoberhaupt aus der Stadt zu jagen. Dableh hat sowohl den Bürgerkrieg als auch die Schicksalswirren seiner Herren überlebt. Nach StrongmanSouths Tod verlor Fußknecht keine Zeit, wechselte zur Union islamischer Gerichte und trug 2006 zu ihrem endgültigen Sieg über die Warlords bei. Seit ein paar Monaten verwendet er seine militärische Sachkenntnis auf die geplante Invasion Baidoas, dem Sitz der schwachen Übergangsregierung.

Der zweite Mann in der Hierarchie trägt den Kampfnamen Al-Xaqq, Die Wahrheit, einen der neunundneunzig Namen Allahs. Als bescheidener Mann gibt Al-Xaqq seinem Namen ein weltlicheres Gewicht und zieht es vor, VerkünderDerWahrheit genannt zu werden. Er ist Sprengstoffexperte und ein hochrangiges Mitglied der Union, ein gelehrter Mann, der über große Erfahrung in Menschenführung verfügt. Er ist stolz auf seine beeindruckende Fähigkeit, potentielle Selbstmordattentäter zu erkennen. Die jungen Männer werden von ihm ausgebildet. Al-Xaqq schläft und ißt gemeinsam mit ihnen – um ihre Hingabe zu testen, unterwirft er sie manchmal harten Strafen oder unangenehmen Prüfungen – und zementiert so die Treue der jungen Männer vor ihrem Einsatz. Manchmal ist er der einzige, der die Einzelheiten eines Einsatzes kennt, stimmt diesen genau auf den von ihm handverlesenen Märtyrer ab. Als Grünschnabel vor ein paar Monaten den Anforderungen eines Selbstmordattentäters nicht gerecht wurde, schlug VerkünderDerWahrheit vor, er solle sich bei den Sprengstoffen einarbeiten, und stellte ihn zu Fußknechts Einheit ab.

Grünschnabel kennt den Ablauf: Vollbart wird sowohl an Fußknecht als auch an VerkünderDerWahrheit eine Bestätigungs-SMS geschickt haben, daß Grünschnabel die Reisetasche abgeholt hat. Besondere Ereignisse erfordern besondere Rituale, die häufig wiederholt werden – jedesmal, wenn einer der Rebellen von den Anführern des Aufstands Waffen oder Geld erhält.

Vom Herumschleppen der Tasche erschöpft, legt Grünschnabel eine längere Verschnaufpause ein, bezweifelt, daß er sich auf dem richtigen Weg befindet. Laut dem Fahrer hätte das Haus ganz in der Nähe sein müssen. Entweder ist er im Kreis gelaufen oder die Frau im Körperzelt hat ihn irregeführt. Ihm schwant, daß er nicht mehr im Zeitplan liegt, und er beschleunigt seine Schritte, biegt links ab, dann rechts und wieder rechts. Da stößt er auf zwei Männer, die sich unterhalten, und beschließt, daß es sich um die beiden Al-Schabaab-Sympathisanten handeln muß, die ihm weitere Anweisungen erteilen sollen. Anfänglich schenken ihm die Männer keinerlei Aufmerksamkeit, obwohl er dicht neben ihnen steht. Grünschnabel kommt es vor, als wüßten sie nicht so recht, was sie von ihm halten sollen. Dann fällt ihm der vereinbarte Erkennungssatz ein. Wie ein Schauspieler, der seinen einstudierten Text aufsagt, fragt er: »Würden Sie mir bitte sagen, in welcher Richtung Norden liegt?«

Daß die beiden Männer nicht genau der Beschreibung seiner Ausbilder entsprechen, beunruhigt Grünschnabel nicht. Der Hunger läßt ihn nachlässig werden, den Details seiner Mission keine Aufmerksamkeit schenken. Der ältere der Männer ist schlank und sehr dunkel, mit klugen Augen, er trägt einen Sarong. Sein Begleiter, jünger und untersetzter, trägt die Tracht der Beduinen.

Der Mann in Beduinenkleidung spricht als erster, seine Zähne sind braun verfärbt. Er wendet sich an seinen Begleiter und sagt mit dem typisch überheblichen Tonfall, den Gebildete annehmen, wenn sie mit weniger beschlagenen Menschen sprechen: »Dieser Grünschnabel möchte wissen, in welcher Richtung Norden liegt.«

»Wie kommst du darauf, daß er wissen will, in welcher Richtung Norden liegt, wenn er eigentlich wissen will, in welcher Richtung die Kibla liegt?« erwidert der Ältere.

Grünschnabel weiß nicht mehr, welchen Fremden er an welcher Straßenecke mit dem Codewort »Kibla« nach dem Weg fragen sollte. Aus dem Tonfall des Älteren schließt er, daß sie sich über ihn lustig machen. Ein längerer Blick auf die beiden bringt ihn noch mehr durcheinander. Der Mann in Beduinenkleidung benimmt sich so eigenartig, als wollte er die Hand ausstrecken und die Reisetasche öffnen. Grünschnabels Unsicherheit verstärkt sich, als der Mann, wie um dem Älteren sein überlegenes Wissen zu beweisen, sagt: »Glaubt der junge Mann etwa, daß die Kibla immer im Norden liegt?«

Nun zeigt sich Zweifel in den Augen des Älteren und auch sein Blick richtet sich auf die Tasche. Er weist Grünschnabel an, er solle den Weg, den er gekommen sei, zurückgehen, bis er zu einem großen Haus komme, auf dessen grünem Tor in roter Farbe und frisch glänzend »Allahu Akbar« stehe.

»Wie weit ist es zum Haus mit der Inschrift?«

»Bis zur Kreuzung sind es hundertfünfzig Schritte«, antwortet der Ältere. »Dann gehst du nach rechts und nochmal nach rechts. Das ist der Weg nach Norden, Richtung Mekka, die Ausrichtung der Kibla, der richtige Weg. Das grüne Tor und die blutrote Inschrift sind nicht zu übersehen. Das ist das Haus, nach dem du suchst.«

Kaum ist Grünschnabel außer Hörweite, da bricht der Mann in Beduinenkleidung in Hohngelächter aus, amüsiert sich beim Gedanken, daß sie den Burschen zum falschen Haus geschickt haben, das einem Geschäftskonkurrenten des Älteren gehört. Der Hausbesitzer ist außer Landes und hat sein Heim an eine Familie mit fragwürdiger politischer Vergangenheit vermietet, die zu einem Clan gehört, der mit dem des Mannes in Beduinenkleidung verfeindet ist. »Zwei Fliegen mit einer Klappe«, sagt er.

Grünschnabel sucht nach dem Haus mit dem grünen Tor und der Inschrift, schiebt sein löchriges Gedächtnis auf die Tatsache, daß er kein Frühstück gehabt hat; zudem sind für einen Grünschnabel wie ihn die verzwickten politischen Spielchen der Erwachsenen unverständlich. Vermutlich nutzen sie ihn ohnehin nur aus. Alles ist so verworren. Doch dann findet er das Tor mit der Inschrift und vergißt seine Zweifel. Er geht daran vorbei und biegt rechts ab. Wie angewiesen, sucht er den Hintereingang. Der Zaun, über den er hier klettern muß, ist hoch.

Sein Herzschlag beschleunigt sich, er schickt eine kurze SMS an seinen Aufpasser, daß er sich vor dem Hintereingang befindet und bekommt die auffordernde Antwort, er soll sich gleich Zutritt verschaffen. Er öffnet die Reisetasche und nimmt ein leichtes Maschinengewehr und einen Patronengürtel heraus. Er schultert das Gewehr, legt sich den Gürtel um die Taille und wirft die Tasche an einer niedrigen Stelle über den Zaun; wartet dann ein paar Minuten.

Grünschnabel wünscht sich selbst viel Glück, nimmt leichtfüßig wie ein junges Dikdik Anlauf und erklettert den Zaun. Auf der anderen Seite kommt er mit einem leisen Plumps auf und bleibt ein paar Sekunden lang hocken, die Waffe im Anschlag, so wie er es in Filmen gesehen hat.

Vor ihm erstreckt sich ein ungepflegter Garten, die niedrigen Sträucher struppig, die Bäume verkrüppelt und die Hauswand von Kletterpflanzen überwuchert. Schleichend bewegt er sich vorwärts, so geräuschlos wie die Leoparden in den Geschichten, die er gehört hat. Seine Lehrer an der madrasa wären sicher zufrieden mit ihm, überzeugt, daß ihn die kurze Ausbildung in einen Kadetten verwandelt hat, der bereit ist, im Dienste des Aufstands den Märtyrertod zu sterben. Für den Bruchteil einer Sekunde hält er erschrocken inne, als er irgendwo in der Nähe eine Bewegung wahrnimmt. Rasch und entschlossen birgt er die Tasche und steht unerschrocken hinter den niedrigen Sträuchern – es hat eben doch seine Vorteile, klein zu sein, denkt er. Nun liegt ein zweiter, nicht ganz so hoher Zaun vor ihm, den niemand erwähnt hat. Da sieht man mal wieder, sagt er zu sich, daß sogar die Informationssammler der Al-Schabaab Fehler machen. Trotzdem blickt er sich nicht um, dies ist der Weg, den ihm das Schicksal bestimmt hat. Außerdem hat ein Märtyrer keine Angst. Falls nötig, wird er die Waffe benutzen und töten.

Er geht drei Schritte zurück, atmet schnell ein und aus, bis er ein Brennen in der Lunge spürt. Da die Männer den zweiten Zaun nicht erwähnt haben, haben sie vielleicht noch etwas anderes, noch Tückischeres übersehen; er muß auf alles gefaßt sein. Es sei denn, sie hätten den Zaun absichtlich nicht erwähnt, um sein Durchhaltevermögen auf die Probe zu stellen. Sein Aufpasser hat ihm eingeprägt, wie wichtig es ist, die Waffe nur zu benutzen, wenn es unumgänglich ist, und dabei unbedingt den Schalldämpfer zu verwenden.

Nervosität macht sich in ihm breit. Er wirft die Reisetasche über den Zaun. Wartet ein paar Minuten, rennt los, springt darüber und rollt sich bei der Landung wie ein Ball zusammen – das hat er sich von den Videos auf einer Dschihadisten-Website abgeschaut. In einem der Videos ermunterten die Ausbilder die jungen Dschihadisten, die Skalps namhafter Zielobjekte als Trophäe an sich zu nehmen. Grünschnabel ist sich nicht sicher, ob er jemals den Kopf eines Mannes, den er getötet hat, behalten will. Tatsächlich besteht nicht einmal der Hauch einer Chance, daß er dieses Verlangen verspürt, und ohnehin hat er keinen Platz, an dem er einen Kopf verstecken könnte.

Jetzt weicht die Realität zum zweiten Mal von den Informationen ab, die er erhalten hat: Eines der Fenster steht halb offen, aber es scheint nicht zu einem Badezimmer zu gehören, wie ihm gesagt wurde, sondern zu einer Küche.

Er versteckt sich hinter einem riesigen Baum, dessen Stamm so dick wie der eines Baobabs ist. Er steht reglos da, wie der Teilnehmer eines Gottesdienstes, der darauf wartet, daß der Imam den rituellen Ablauf des Gebets fortsetzt. Wie ein Dschihadist, der einen Angriff auf den Feind anführt, konzentriert er sich auf jede seiner Bewegungen und ist rasch mit zwei Riesenschritten auf der hinteren Veranda.

Er sucht die Umgebung nach Anzeichen ab, ob jemand zu Hause ist: das verräterische Vorhandensein eines Korbstuhls, den jemand nach draußen gebracht hat, um es sich darauf bequem zu machen, eine zusammengerollte Katze, die im Schlaf schnurrt, Kleidungsstücke, die auf der Wäscheleine trocknen.

Er betritt das Haus durch das Küchenfenster, quetscht sich hindurch. Natürlich können einen Instruktionen nicht auf alle Eventualitäten vorbereiten. Es gilt, während des Einsatzes ohne Hilfe Entscheidungen zu treffen. Soweit er beurteilen kann, ist hier drin alles ruhig. Er streicht mit triumphierendem Gefühl ein bißchen durch das Haus, geht dann hinaus, um die Reisetasche zu holen. Er ruft seinen Aufpasser an, teilt ihm mit, daß er im Haus ist und es unbedenklich genutzt werden kann.

Sein Aufpasser verlangt, er solle das Äußere des Hauses beschreiben, das er »geweiht« hat. Er fragt ihn sogar mehrmals, wie er dorthin gekommen ist. Zuerst schiebt Grünschnabel das auf die schlechte Verbindung. Dann bekommt er Zweifel, ob er sich überhaupt auf dem richtigen Anwesen befindet.

Er beendet das Telefonat und fängt an, das Haus gründlich auszukundschaften, was er gleich hätte machen sollen. Er geht die Treppe hinauf und betritt die Zimmer. Die Räume sehen bewohnt aus: offen stehende Schubladen, dreckschwarze Socken, Unterhosen, noch feucht vom Tragen. Ich bin im falschen Haus, denkt er wieder. Aber das kann er nun nicht mehr ändern.

Der Kühlschrank in der Küche brummt. Er öffnet die Tür und sein Blick fällt auf Plastikdosen, die wahrscheinlich die Reste des gestrigen Abendessens enthalten, und er verspürt Hunger und Wut zugleich. Er hat sich schon seit langem nicht mehr den Bauch mit Fleisch vollgeschlagen und ist versucht, das Essen, das sehr lecker aussieht, in sich hineinzustopfen. Er wünscht sich, er hätte seinen Aufpasser nicht angerufen.

Er hört ein Geräusch auf der vorderen Veranda. Er dreht sich um und sieht durch die offene Tür einen sehr alten Mann, unrasiert, im Morgenmantel und mit Flipflops, auf das Haus zuwanken. Wahrscheinlich wird der Alte ebenso überrascht sein wie er. Doch der Alte scheint Grünschnabel mit einem seiner vielen Enkelkinder zu verwechseln. »Du bist ja früh zurück! Der Wind hat die Tür zugeknallt, und ich kam nicht wieder rein und bin im Vorgarten auf der Bank unterm Baum eingeschlafen.«