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Walter Withers kündigt seinen einträglichen Job bei der CIA und kehrt als Personenschützer aus Schweden zurück in seine Herzensstadt New York. Es ist Weihnachten 1958, ein gutes Jahr vor der nächsten Präsidentschaftswahl gilt der junge Senator Joe Keneally als heißester Anwärter der Demokraten auf den Posten. Ihn und seine Frau Madeleine soll Withers während ihres Aufenthalts in New York beschützen. Er kommt ihnen so nahe wie kaum ein anderer, flaniert mit ihnen über den Broadway, trifft auf Beat-Poeten und die High Society der Stadt, ist von Stars und Sternchen umgeben. Bis Marta Marlund tot in Withers' Hotelzimmer gefunden wird – und er alle Hände voll zu tun hat, seine Unschuld zu beweisen …

 

Don Winslow wurde 1953 in New York geboren, wo seine Großmutter Ende der 60er für den berüchtigten Mafiaboss Carlos Marcello arbeitete, den mutmaßlichen Drahtzieher des Kennedy-Attentats, der den späteren Autor mehrere Male zu sich einlud. Don Winslow hat bis heute ein Werk hervorgebracht, dessen Qualität, Vielseitigkeit und Spannung ihn zu einem der ganz Großen des zeitgenössischen Krimis machen. Für seinen Roman Tage der Toten wurde er u. a. mit dem Deutschen Krimi Preis 2011 ausgezeichnet.

 Zuletzt sind von ihm im Suhrkamp Verlag erschienen: Zeit des Zorns (2011), Die Sprache des Feuers (2012) und Kings Of Cool (2012).

 

 

Don Winslow

MANHATTAN

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Hans-Joachim Maass

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel
Isle of Joy bei Dutton, New York.

Die Deutsche Erstausgabe erschien zuerst 1997 unter dem Titel
Manhattan Blues im Piper Verlag, München

 

 

Umschlagabbildung: Getty Images/flickr; shutterstock

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Don Winslow 1996

© der deutschen Übersetzung: Piper Verlag GmbH, München 1997

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,
vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: cornelia niere, münchen

Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

 

eISBN 978-3-518-73193-2

www.suhrkamp.de

MANHATTAN

 

PROLOG: DEAR OLD STOCKHOLM

Freitag, 21. März 1958

Walter Withers war bei der CIA nicht unglücklich. Ihm fehlte einfach nur New York.

Oder, wie er zu Morrison, seinem künftigen Exkollegen bei Scandamerican Import/Export, sagte: »Nicht, weil ich die Firma weniger liebe, sondern weil ich Manhattan mehr liebe.«

Walter glaubte nicht eine Sekunde, dass Morrison die Anspielung auf Shakespeare verstehen oder den Aphorismus goutieren würde, doch das Vergnügen an einem wohlformulierten Satz liegt letztlich nicht beim Hörer, sondern beim Sprecher.

Aber Walter wusste aus ihrer dreijährigen Zusammenarbeit, dass Morrison für Vergnügen nicht wirklich zu haben war. Die Erdanziehungskraft schien sein ohnehin schon langes Gesicht jede Woche noch ein wenig länger werden zu lassen. Morrison, dachte Walter, hatte die Dunkelheit des schwedischen Winters verinnerlicht und zu einem Teil seiner Seele gemacht. Zwar war Morrison mit dem gleichen Eifer hinter den langbeinigen skandinavischen Frauen her wie alle anderen, doch seinen Bemühungen haftete ein grundsätzlicher Pessimismus an.

Dabei gelang es Morrison durchaus, Frauen ins Bett zu locken. Die Laken hatten sogar kaum Zeit abzukühlen. Nein, das Problem lag ganz woanders: Selbst wenn er seine Begleiterin schon auf der Treppe zu seiner Bude im zweiten Stock hatte, unter dem durchsichtigen Vorwand, ihr seine Sammlung amerikanischer Jazzplatten vorzuspielen, machte sich Morrison schon Sorgen. In seiner Phantasie fuhr die junge Frau schon vor Tagesanbruch in einem Taxi weg oder saß im Wartezimmer ihres Gynäkologen oder – das schauerlichste aller seiner Wahngebilde – enthüllte ihrem sowjetischen Führungsoffizier seine sexuelle Technik. Morrison stellte sich dabei einen schmierigen, krötenhaften dicken Mann vor, der eine billige, stinkende sowjetische Zigarette nach der anderen rauchte, während er sich mit einem schiefen Grinsen die Erzählungen von Morrisons Tölpelhaftigkeit im Bett anhörte.

Diese letzte Phantasie war so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geworden.

»Immer noch besser, als beim Baseball die Punkte zu zählen«, hatte Walter bemerkt, als Morrison ihm eines Abends in betrunkenem Zustand sein Dilemma gestand.

»Was meinst du damit?«

»Also«, begann Walter und suchte nach Worten, »manche Männer – das habe ich jedenfalls mal gehört – denken an Baseball, wenn sie versuchen, das … Unvermeidliche hinauszuzögern. Deine … Bremse … ist ein imaginärer KGB-Operateur, das ist alles.«

»Das ist alles?«, krächzte Morrison. Er legte den Kopf auf den Tisch, schloss die Augen und stöhnte leise. »Außerdem ist es keine Bremse. Es lässt mir total die Luft raus.«

»Wenn das so ist«, sagte Walter, »machst du dir einfach zu viele Gedanken.«

Morrison schlug ein Auge auf, richtete es auf Walter und sagte anklagend: »Es liegt an dem, was wir ihnen antun, nicht wahr?«

Walter erkannte dies als rein rhetorische Frage. Er war im Dunstkreis der Gemeinde der Geheimdienstleute Nordeuropas tatsächlich dafür berühmt, es ihnen anzutun. Manchmal hatte es den Anschein, als hätte Walter »Der Hurendompteur« Withers für so gut wie jeden osteuropäischen Konsulatsbeamten schöne Bettgefährtinnen besorgt, für jeden halbherzigen Mitläufer und hartgesottenen sowjetischen Spion in Skandinavien. Walter führte einen Rennstall ernster Schwedinnen, einfallsreicher Däninnen und hingebungsvoller Norwegerinnen, die ihre Liebhaber aus den Warschauer-Pakt-Staaten mit olympischer Sex-Gymnastik verwöhnten – zum Vergnügen, für Geld und für Walters Mikrophone.

In dem wundervoll freizügigen Schweden von 1958 besaß Walter Withers eine erotische Bibliothek, die Alfred Kinsey vor Neid hätte smaragdgrün werden lassen. Walter war zu sehr Gentleman, um den Schmeicheleien, dem Drängen und den Bestechungsangeboten seiner Kollegen zu erliegen, die sich für einen pikanten Abend in den eigenen vier Wänden einmal ein Tonband ausleihen wollten. Er lehnte es auch ab, eine Freundin auf ein schnelles, schmutziges Hörspiel ins Büro zu schmuggeln, und wollte es nicht einmal zulassen, dass sich im Hinterzimmer ein paar Jungs mit seiner Tonbandsammlung statt einer Stripperin vergnügten. Und Walter selbst hatte viel zu viele von diesen verdammten Bändern gehört, um sie auch nur andeutungsweise erotisch zu finden.

Nein, für Walter war das alles ein Geschäft, wenn auch ein schmutziges, und er brachte es nicht übers Herz, seinen lüsternen Kollegen zu verraten, dass das beste Geschäft nicht mit schönen Mädchen zu machen war, sondern mit schönen Jungen. Es hatte schließlich nur einen geringen Erpressungswert, einem Osteuropäer mittleren Alters Tonbanddokumente seiner sexuellen Eskapaden mit einer hinreißenden jungen Blondine vorzuspielen. Eheliche Untreue war für sie keine Schande, und das Abspielen ihrer akkustischen Exzesse machte ihnen nur Appetit auf mehr. Wenn man ihnen jedoch Beweise für eine homosexuelle Verbindung präsentierte, war das etwas ganz anderes.

Das war Schmutz, der bezahlt wurde.

Sexuelle Erpressung war jedoch ein bloßer Vorwand. In Walters Augen war sie nur der Auftakt einer Symphonie der Anwerbung, in der er selbst Dirigent, Konzertmeister und Erste Klarinette in einer Person war. Erpressung war die Entschuldigung, die eine Zielperson brauchte, um sich bereitwillig umdrehen zu lassen. Doch Walter wusste, was in Wahrheit gekauft wurde – Stil.

Sein Stil.

Walter hatte einen Teil seines Stils von seinem Vater geerbt, einem Börsenmakler, einem der wenigen, die sich nicht mit riskanten Geschäften bis zur Halskrause verschuldet hatten. So wurde er nur verletzt und nicht tödlich verwundet, als der Schwarze Freitag kam. Walters Vater hatte ihm beigebracht, wie man sich anzieht – eine gute, teure Grundausstattung mit ein paar Farbtupfern –, wann und wie man in einer größeren Runde die Rechnung übernimmt und wie man sehr hart an einem bestimmten Deal arbeitet, ohne es sich anmerken zu lassen.

Manches von Walters Stil war eine Gabe, die er in seiner Zeit an der Privatschule von Loomis und in den Nächten als Erstsemester in Yale wie durch Osmose erworben hatte. Viele dieser Nächte hatte er in der Stadt verbracht, wo er etwas über Mixgetränke lernte und wann man Champagner pur reichen musste. Nebenbei hatte er auch etwas über den Umgang mit den komplizierten Frauen erfahren, die im Ruban Bleu und dem Spivey's Roof gefühlvolle Schnulzen sangen.

Und den Rest seines Stils hatte Walter systematisch anhand der seidigen, Schwarz-Weiß-Bilder erworben, die in der dunklen Stille der Kinos flackerten. Walter brachte zu diesen kinematographischen Unterrichtsstunden eine ruhige Selbsterkenntnis mit, das Wissen, dass er niemals Bogart, Cagney oder Wayne werden würde. Walter wusste, dass er eher ein Typ wie Leslie Howard, Fred Astaire oder Charles Boyer war. Er war Cary Grant – ohne den Akzent oder das Aussehen, obwohl Walter Withers ein gutaussehender Junge war mit seiner Stupsnase, den rosigen Wangen und dem glatt zurückgekämmten sandfarbenen Haar.

Nein, Walter Withers war kein harter Bursche. Walter Withers tötete mit Charme. Über seine romantischen Eroberungen bewahrte er Stillschweigen wie ein Trappistenmönch, prahlte beim Poker nie mit Triumphen und sprang nur dann über das Tennisnetz, wenn er ein Match verloren hatte.

Jeder in Yale liebte Walter – obwohl er es abgelehnt hatte, Skull and Bones beizutreten, weil er es für sich als etwas zu klischeehaft empfand –, und nach einer ereignislosen Dienstzeit bei der Navy während des Krieges hatte er sein Examen in Geschichte gemacht. Kurze Zeit darauf lud ihn ein Professor zum Lunch ein und sagte, er kenne eine Firma, die einen Mann wie Walter gebrauchen könne.

So kam Walter zur CIA und wurde der »Große Skandinavische Lude« und »Tödliche Anwerber«, der seinen Stil für Gott und Vaterland einsetzte. Nur wenige seiner Zielpersonen brachten es über sich, seinem Stil ein glattes Nein entgegenzusetzen. Walter schien nämlich in jeder seiner eleganten Bewegungen und in all seinem Handeln zu sagen – obwohl er es natürlich nie wirklich sagte –, dass sein Stil der westliche Stil sei und sein Lebensstil der der großen kapitalistischen Demokratien. Den Zielpersonen aus den grauen Staaten der Betonköpfe sagte er etwas wie: »Wenn Sie wollen, kann das alles Ihnen gehören.« Angefangen beim Schnitt seines Jacketts bis zu den Bügelfalten seiner Hosen, von der Art, wie er seine Dunhill-Zigaretten aus der Tasche zog, bis zu der Art, wie er zwei Zigaretten mit einem Streichholz anzündete, von der Art, wie seine Augen stumm den Kellner an den Tisch brachten, bis zu der Art, wie er die Rechnung diskret in der Hand verschwinden ließ – alles geschah mühelos, mit Understatement, alles irgendwie spielerisch und unaufdringlich. Walter Withers machte es den Menschen leicht, sich in seiner Gegenwart wohl zu fühlen.

Die Zielpersonen konnten ihm nicht widerstehen. Dazu hatten sie nie eine Chance – oder etwa doch? –, diese armen Bastarde mit ihren winzigen Wohnungen im Hochparterre, die sie mit Mami teilten, diese Typen, die zu Hause zwei Stunden anstehen mussten, um ein Stück minderwertiges Fleisch zu kaufen, diese Frauen, deren sozialistisches Arbeiterparadies es nie schaffte, sie auch nur mit einem Hauch der neuesten Kosmetik zu versorgen, die Walter so unnachahmlich schüchtern aus der Tasche ziehen und anbieten konnte, als wäre es eine Kleinigkeit, die er in der chemischen Reinigung als Zugabe erhalten hatte.

Und er gab ihnen nie das Gefühl, minderwertig zu sein, o nein, so etwas tat Walter nie. Statt dessen gab er ihnen das Gefühl, als wären sie alle gleichberechtigte Mitspieler in dem großen Spiel des Wohlstands, und natürlich war es nur ein kleiner Schritt von diesem Spiel bis zum nächsten, wenn Walter sie an die Jungs mit den nie lächelnden Gesichtern weiterreichte, die etwas über Getreideproduktion erfahren wollten oder Etatzahlen oder neugierig darauf waren, wer bei den großen Konferenzen neben wem saß.

Solche Fragen stellte Walter seinen Zielpersonen nie. Er schmeichelte ihnen, verführte, verwöhnte sie, hörte sich ihre Probleme an, lud sie zum Essen und zum Trinken ein, verschaffte ihnen Betten und Bettgefährtinnen, lieh ihnen Bargeld und hielt ihnen die Hände. Er mochte seine Zielpersonen wirklich, obwohl diese Zuneigung ihn nicht davon abhielt, sich mal mit einem, der zu pampig wurde, hinzusetzen und etwas zu sagen wie: »Jetzt hören Sie mal zu, mein Guter, entweder Sie stellen sich jetzt wieder ins Glied, oder unsere Jungs mit den steinernen Gesichtern lassen mal ein Wort bei euren fallen, und dann …« Dann verstummte Walter und überließ es der Zielperson, sich vorzustellen, wie sie vor der Betonwand irgendeines Behördenkellers auf die Kugel in den Hinterkopf wartete.

Doch dann zündete Walter eine Zigarette an und steckte sie der Zielperson in die zitternde Hand oder füllte den Drink auf und dachte an die anstehende Abendunterhaltung. In dieser Zeit suchte sich Walter einen günstigen Moment aus, um der Zielperson seelenvoll in die Augen zu sehen und zu fragen: »Vertrauen Sie mir?«, worauf die Antwort unfehlbar »ja« lautete, und dann waren sie wieder Freunde.

Walter war mit jedermann gut befreundet. Frauen liebten ihn, weil er sie in elegante Lokale führte, sie zu gutem Essen einlud, ihnen zuhörte und nie den Versuch machte, sie ins Bett zu bekommen, bevor sie ihm klar und deutlich zu verstehen gegeben hätten, dass er es sollte. In diesen Fällen ging er vor dem Frühstück, vergaß nie, ein Briefchen und Blumen zu schicken, und deutete später nie durch ein Wort, einen Blick oder eine Geste an, dass er sie auch nur vor der Haustür geküsst hätte. Männer mochten ihn, weil er ein ganzer Kerl war. Er konnte über Politik sprechen, über Sport und Literatur, spielte anständig Tennis, pokerte um hohe Einsätze und zahlte immer seinen Anteil an den Rechnungen.

Die meisten Geheimdienstleute in dem nordeuropäischen Agentengeschäft mochten Walter, sogar die Briten, die sonst niemanden mochten, nicht einmal – und das ganz besonders – einander. Die einzigen Figuren, die Walters Charme nicht erlagen, waren die braven Leute vom schwedischen Innenministerium, die, immer auf der Hut vor dem benachbarten sowjetischen Bären, der Meinung waren, Walter Withers sei in seinem Job vielleicht ein wenig zu gut. Tatsächlich standen sie kurz davor, ihn auszuweisen, als er urplötzlich seine starke Sehnsucht nach New York entwickelte.

In den Fluren erzählte man sich, der Alte höchstpersönlich habe Walter gefragt, was für einen neuen Posten er jetzt gern hätte, da die Schweden ihn hinauswerfen wollten. Ein Gerücht besagte, sie hätten in den Tiefen des Hamburger Ratskellers gesessen, den der Alte bei seinen seltenen Besuchen in der Alten Welt bevorzugte, und es persönlich besprochen. Dies war eine große Ehre, denn der stellvertretende Direktor verließ sein Büro nur selten, um mit einem normalen Agenten zu sprechen.

Darüber, woher der stellvertretende Direktor seinen Spitznamen hatte, gab es unter den rangniederen Männern der Firma etliche Theorien. Am glaubwürdigsten klang die, dass er von seinem jahrelangen Herumsitzen in seinem fensterlosen Büro herrühre, wo er bei seiner zwanghaften Suche nach angeblichen sowjetischen Maulwürfen über den Akten brüte.

Walter Withers hatte stolz behauptet, den Spitznamen des stellvertretenden Direktors erfunden zu haben, als ein Kollege bei einer Cocktailparty bemerkt hatte, der stellvertretende Direktor habe schon vor Marx gegen den Kommunismus gekämpft, und ein anderer sagte, er sei so alt wie Adam. »Älter«, hatte Walter entgegnet. »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er die Schlange instruiert hat, die Eva umdrehen sollte. Der stellvertretende Direktor ist der Alte persönlich.«

Ein Gerücht wollte wissen – und Morrison hatte es aus einer glaubwürdigen Quelle –, dass es so etwas wie ein Schock war, als Walter lächelte und erwiderte: »In Wahrheit, Sir, würde ich im Augenblick gern meinen Spind zuschließen und mich in der Privatwirtschaft tummeln.«

Zuverlässige Zeugen behaupten, der Alte sei bei diesen Worten noch ein wenig blasser geworden, aber altgediente Männer der Firma, die diese Geschichte hörten, erklärten, das sei nicht möglich – der stellvertretende Direktor sei blutarm und deshalb ohnehin schon von tödlicher Blässe.

Der Alte ignorierte Walters Antwort und flötete: »Ich sage sicher nichts Unerlaubtes, wenn ich erkläre, dass Europa für Sie eine Zeitlang tabu ist, doch wenn eine angemessene Zeit verstrichen ist, kann ich Ihnen einen sehr interessanten Posten in Asien anbieten.«

Walter wollte sich weder so noch so erklären, doch Morrison hörte, dass Walter auf die Leichenblässe des Mannes geblickt habe, der – buchstäblich – genau wusste, wo sämtliche Leichen begraben waren, und gesagt haben soll: »Das ist ein verlockendes Angebot, Sir, aber ich möchte wirklich wieder nach New York.«

»Die Firma ist in New York aber nicht tätig«, bellte der Alte und forderte Walter damit auf, die offenkundige Lüge zu schlucken, dass die CIA ihre schmutzigen Füße nicht auf den jungfräulichen Boden setzte, auf dem unter anderem die ergiebigen Jagdgründe der Vereinten Nationen lagen.

»Genau«, erwiderte Walter. Er zog sein Dunhill-Päckchen aus der Jackentasche und bot dem stellvertretenden Direktor eine Zigarette an, obwohl ihm sehr wohl bewusst war, dass der Alte nicht rauchte. Als der alte Mann den Kopf schüttelte, nahm sich Walter eine Zigarette und tippte damit auf die Tischplatte. Dann beugte er sich über die billige geschliffene Schale mit der brennenden Kerze und zündete sie an.

»Sie würden die Firma verlassen, junger Mann?«, zischte der Alte.

»Nicht, weil ich die Firma weniger liebe, sondern weil ich Manhattan mehr liebe«, erwiderte Walter.

»Julius Cäsar«, murmelte der Alte, »dritter Akt, zweite Szene, in der Brutus erklärt, weshalb er Cäsar den Dolch in den Rücken gestoßen hat.«

Und damit war die Diskussion beendet, wie es in der Geschichte hieß, und die Replik hatte bei dem Alten so gut funktioniert, dass Walter sie Morrison noch einmal auftischte.

»Blödsinn«, sagte der.

»Nichts als die reine Wahrheit«, erwiderte Walter und hielt die rechte Hand hoch, als leistete er einen Eid.

Morrison verzog den Unterkiefer zu einer schiefen Grimasse, die bei ihm einem Lächeln am nächsten kam. »Walter, wie kannst du mich an diesem kalten und desolaten Ort zurücklassen?«

»Ich bin sicher, du wirst dir irgendeinen Trost besorgen«, entgegnete Walter.

»Der Trost ist nicht das Problem«, stöhnte Morrison. »Es ist das Besorgen.«

Nicht übel, Morrison, dachte Walter. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.

Laut sagte er: »Die Welt ist kein großer Fliegenfänger, musst du wissen.«

Morrison sah ihn mit ungläubigen Augen an.

»Die Welt, Walter«, sagte er, »ist nichts weiter als ein großer Fliegenfänger.«

Walter zuckte die Schultern, schnippte seine Zigarettenschachtel auf und bot Morrison eine an. Er zündete erst Morrisons Zigarette an, dann seine.

Morrison starrte ihn an.

Walter hob die Augenbrauen.

»New York, du lieber Himmel«, sagte Morrison schließlich.

»New York, mein Himmel«, entgegnete Walter.

»Wirst du die schwedischen Frauen nicht vermissen?«, fragte Morrison herausfordernd.

Walter setzte sich auf die Ecke von Morrisons Schreibtisch und sagte: »Als ich in Greenwich lebte und noch ein Kind war, putzte meine Mutter meine Schwester und mich immer kurz nach Thanksgiving heraus und verfrachtete uns in einen Zug. Wir stiegen an der Grand Central Station aus, die ich damals für den Mittelpunkt des bekannten Universums hielt, und wenn es nicht gerade sehr kalt war, gingen wir zu Fuß zum Rockefeller Center, um uns den Weihnachtsbaum anzusehen. Er war so hübsch, Michael … das Dunkelgrün der Nadeln vor dem Hintergrund von Mr. Rockefellers grauen Gebäuden … die funkelnden Lichter … all dieser Baumschmuck … aus irgendwelchen verborgenen Lautsprechern kam Weihnachtsmusik, und die Leute von der Heilsarmee läuteten mit ihren Glocken, und wenn wir lange genug in der Menge gestanden und den Baum angestarrt hatten, gingen wir zur Fifth Avenue, um mit unseren Weihnachtseinkäufen zu beginnen. An eins erinnere ich mich besonders gut, um die Frage zu beantworten, die du vorhin gestellt hast: Schon damals glaubte ich, dass die schönsten Frauen der Welt dort herumspazierten. Schon als Junge bewunderte ich ihren Stil, ihren Sinn für Mode, ihr Selbstbewusstsein, ihre Anmut, und starrte sie einfach nur ehrfürchtig an. Ich habe allen Grund zu der Annahme, Michael, dass sie immer noch da sind.«

»Und jetzt, wo du ein großer Junge bist, möchtest du wieder hin, um deine schmutzigen Kindheitsphantasien zu verwirklichen?«, fragte Morrison.

»Es passte alles zusammen, musst du wissen«, erwiderte Walter. »Die Grand Central Station, das Rockefeller Center, der Weihnachtsbaum, die Fifth Avenue, und, ja, ich nehme an, auch die schönen Frauen.«

»Na dann viel Glück, Walter«, sagte Morrison und stand auf, um Walter die Hand zu schütteln.

»Dir auch, Michael«, erwiderte Walter.

 

Eine Stunde später stieg Walter auf Skeppsholmen, einer der drei Inseln in der Stadtmitte Stockholms, aus einem Bus, ging am Wasser entlang zu einem alten zweistöckigen Haus, ging die Treppe zum zweiten Stock hinauf und klopfte an die Tür.

Anne Blanchard machte ihm auf, lächelte breit und küsste ihn auf den Mund. Dann wischte sie ihm den Schnee vom Kragen seines schwarzen Wollmantels, nahm ihn bei der Hand und führte ihn in die Wohnung.

»Liebling, du musst ja ganz durchgefroren sein«, sagte sie. »Bist du zu Fuß gegangen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich nahm den Bus von Centralen, bin aber dann am Wasser entlanggegangen. Ein Abschiedsspaziergang.«

»Ich mache uns Tee« sagte sie. »Es sei denn, du möchtest lieber Kaffee. Ich glaube, ich habe noch etwas.«

»Wenn du die Absicht hast, mich aufzuwärmen«, meinte Walter, »wäre mir noch ein Kuss lieber.«

Sie schmiegte sich ihm in die Arme und küsste ihn lange. Dann machte sie sich frei und setzte den Kessel auf den Herd. Walter zog sich Hut und Mantel aus, hängte sie am Kleiderständer auf, setzte sich auf das kleine Sofa und sah ihr zu.

Anne Blanchard war eine kleine Frau, einen Meter fünfundfünfzig in Strümpfen, und die Kolumnisten, die über Nachtclubs schrieben, nannten sie meist »zierlich«, was ihr gefiel, oder »elfenhaft«, was sie ärgerte. Ihr blondes Haar war kurzgeschnitten und gewellt. Ihre Augen waren grau – die Farbe des Atlantiks kurz vor einem Sturm, wie Walter einmal bemerkt hatte.

An diesem späten Nachmittag im März war sie ganz in Schwarz gekleidet – sie trug eine schwarze Bluse über einem langen schwarzen Rock und schwarze Ballett-Slipper. Sie hatte sich ihre übergroße Schildpattbrille aufgesetzt, ohne die sie so gut wie blind war, und ihr Markenzeichen aufgelegt, blutroten Lippenstift.

Walter liebte sie bis zum Wahnsinn.

Er merkte der Wärme der Küsse und dem Abdruck auf dem Kissen an, dass sie auf dem Sofa gelegen und gelesen hatte. Ein Buch von Sean McGuire, The Highway By Night, lag aufgeschlagen neben der Tischlampe auf dem Beistelltisch. Die Wohnung war ein Einzimmerapartment, was Immobilienmakler erst seit kurzem »Studio« nannten. Die wenigen Möbelstücke waren aus gebleichter Kiefer mit billigen Bezügen. Der Fußboden bestand aus breiten Dielen, die auf Hochglanz gebohnert waren. Ein billiger, rechteckiger Teppich verlieh ihm etwas Wärme.

An der Wand reichte ein Bücherregal vom Fußboden bis zur Decke. In den Regalen standen übergroße Fotobücher, afrikanische Skulpturen, Dutzende von Taschenbüchern und eine teure Stereoanlage, zu der ein Plattenspieler und ein Tonbandgerät gehörten. Vor der Bücherwand stand ein Klavier – Anne konnte ohne Klavier nicht sein.

Ein großes Aussichtsfenster füllte den größten Teil der gegenüberliegenden Wand aus. Draußen nahm der Himmel über dem schwarzen Wasser des Mälarsees allmählich zarte Pastellfarben an. Der Schnee, der auf die gepflasterte Straße fiel, zeichnete sich glitzernd im Licht der Straßenlaternen ab.

Anne hatte die Wohnung von einem jungen schwedischen Pianisten gemietet, der gerade eine Deutschland-Tournee machte. Sie versuchte immer eine Wohnung zu mieten, wenn sie ein längeres Engagement in einer Stadt hatte, weil sie ein Klavier brauchte und Hotels hasste. Das war in der verschworenen Gemeinschaft amerikanischer Jazzmusiker nicht allzu schwer, denn sie arbeiteten meist in Europa, da es in den Staaten nicht genug Jobs gab.

Anne hatte ihm erklärt, dass die meisten der amerikanischen Heimatflüchtlinge Schwarze seien – wie das Trio, das sie begleitete. Sie zögen Europa wegen des Rassismus oder vielmehr wegen des Fehlens von Rassismus vor. Paris sei ihre europäische Basis geworden, und Stockholm belege knapp dahinter den zweiten Platz, weil die Schweden ganz verrückt nach Jazz seien.

Walter blätterte in The Highway By Night und fragte: »Wie ist das Buch?«

»Fabelhaft«, sagte sie begeistert. »Er erfindet die Prosa in einer Weise neu, wie es seit Ulysses niemand mehr geschafft hat.«

Walter wünschte, Joyce hätte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, die Prosa neu zu erfinden. James Jones war ihm ohnehin lieber, doch er verkniff sich, das zu sagen. Anne hielt ihn auch so schon für bürgerlich genug.

»Hast du alles gepackt?«, wollte sie wissen.

»Alles gepackt und fertig. Was ist mit dir?«

Sie goss das heiße Wasser in eine Teekanne, wirbelte sie herum und sagte: »Fast alles gepackt, aber nicht ganz abreisebereit. Ich bin nie ganz bereit, Europa zu verlassen.«

Sie hatten sich vor zwei Jahren in Stockholm kennengelernt – bei einer von Morrisons berühmten Partys zum amerikanischen Unabhängigkeitstag – und ihre Affäre quer durch Europa weitergeführt. In den Anfangsjahren ihrer Karriere hatte Anne in Paris gelebt und in kleinen Clubs gesungen; sie war nur nach New York zurückgekehrt, um ihre erste Platte aufzunehmen, die ihr ein wenig Berühmtheit eingebracht hatte.

Kurz danach hatte sie Walter kennengelernt. Er begleitete sie von Morrisons Party zu dem Club, in dem sie sang, blieb vier Auftritte lang und verliebte sich in sie. Danach war er gereist, um sie so oft zu sehen, wie es das »Geschäft« erlaubte, blieb mal eine Nacht in Hamburg oder ein Wochenende in Kopenhagen. Er erinnerte sich auch an den wundervollen August an der Côte d'Azur, als er Urlaub hatte und sie in den Hotels sang. Es fiel ihm jedoch nicht allzu leicht, sehr oft nach Paris zu kommen, so dass sie beide glücklich waren, als sich für drei Monate das Stockholmer Engagement ergab.

Doch jetzt musste sie wieder nach New York zurück, um ihre zweite Platte aufzunehmen und in den großen Clubs zu singen.

Sie goss zwei Tassen dampfenden Tees ein, stellte sie auf den Couchtisch und setzte sich neben ihn auf das Sofa.

»Willst du mich heiraten?«, fragte er zum vielleicht hundertsten Mal.

Sie schüttelte den Kopf

»Wir werden zur Abwechslung gleichzeitig in derselben Stadt leben«, brachte er in Erinnerung. »Eine solche Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder.«

»Du weißt, dass ich wieder auf Tour muss, wenn die Platte erschienen ist. Wahrscheinlich kriege ich wieder hier in Europa ein Engagement. Was würde mein lieber Ehemann dann tun?«

»Ich würde auf dich warten.«

»Das ist zu viel verlangt.«

»Du hast gar nichts verlangt. Ich habe es angeboten.«

»Das kann ich nicht annehmen.«

Er sprach leichthin, in dem Tonfall, den er bei ernsten Anlässen immer benutzte, als wollte er mit ihr besprechen, ob sie vor oder nach dem Theater essen gehen sollten.

»Würde dir zur Abwechslung nicht mal ein richtiges Zuhause Spaß machen?«, fragte er.

»Ich habe ein richtiges Zuhause«, entgegnete sie.

Sie besaß eine Wohnung in der Nähe des Washington Square, die sie an einen jungen Dichter aus Wyoming vermietet hatte.

»Ich bin zwar nie da«, fügte sie hinzu, »doch es ist trotzdem mein Zuhause, und, ja, es würde mir Spaß machen, zur Abwechslung mal wieder zu Hause zu sein.«

»Dann heirate mich und gib es auf«, sagte er. »Ich kann uns beide anständig ernähren.«

»›Ich werde dich aus all dem hier rausholen?‹«, äffte sie ihn nach.

»Etwas in der Richtung«, sagte er.

»Und das Singen soll ich auch aufgeben?«

»Als Beruf.«

»Ich liebe dich«, erwiderte Anne. »Das tue ich wirklich, sogar sehr, das weißt du.«

Walter nickte. »Aber?«

»Aber das Singen ist nun mal mein Beruf.«

»Ich weiß.«

Sie nippte an ihrem Tee, stellte die Tasse hin und sagte: »Außerdem würdest du mich nicht lieben, wenn ich nicht singen würde.«

»Wie kannst du so etwas Schreckliches sagen!«

»So etwas Wahres sagen.« Sie stand auf und zog die Vorhänge zu. »Sosehr ich dich auch liebe, ich werde dich nicht heiraten, Liebling. Jetzt noch nicht.«

Sie ging zu der Stereoanlage hinüber und schaltete das Tonbandgerät ein.

»Arthur überlegt, ob er von der neuen Platte ein paar Live-Mitschnitte verwendet«, sagte sie, »und außerdem gibt es da etwas, was ich schon immer tun wollte.«

»Und das wäre?«

Sie lächelte schelmisch. Sie stand da und sah ihn an, als würde sie gerade einen Entschluss fassen.

»Was denn?«, sagte Walter lachend.

Sie blickte ihn ernst an, als überlegte sie, ob sie eine Chance ergreifen sollte.

»Dich verführen, während ich singe«, sagte sie.

»Liebling«, sagte Walter, »du verführst mich immer, wenn du singst.«

Klaviermusik erfüllte die kleine Wohnung.

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist in einem Nachtclub, und es gibt Dinge, die ich in einem Nachtclub nicht tun kann.«

»Wie etwa?«

»Wie etwa …«

Sie nahm ihre Brille ab und legte sie auf das Bücherregal. Vom Tonband ertönte ihre hohe und kristallklare Stimme.

I'll take Manhattan,

The Bronx and Staten Island, too …

»Du hast das geplant«, sagte Walter anklagend. Das Tonband hatte genau an der richtigen Stelle angefangen.

Sie nickte mit dem Kopf, als sie zur Musik kleine Tanzschritte machte und dabei den obersten Knopf ihrer Bluse öffnete.

It's such fun going through

The zoo …

Sie streifte ihre Bluse ab, dann ihren schwarzen Spitzen-BH. Für eine so kleine Frau hatte sie große Brüste. Ihre Brustwarzen, dachte Walter, haben die Farbe der Dämmerung an einem Frühlingsabend.

It's very fancy

On Old Delancey Street, you know …

Er hatte ihre Stimme einmal als eine Messerklinge aus purem Silber beschrieben, die flüssiges Gold durchschneidet, und so war es jetzt auch, als er ihr zusah und ihr zuhörte und sich ihm die Kehle dabei zuschnürte. Sie sang weich und zart, trug jede Note in perfekter Tonhöhe vor und sprach jede Silbe klar aus.

The subway charmes are so …

When balmy breezes blow …

To and fro …

Sie streifte mit den Füßen die Slipper ab und ließ Rock und Höschen über die Beine auf den Teppich gleiten: Die Nacktheit zwischen ihren Beinen ließ ihn wieder an das Bild von flüssigem Gold denken.

»Wenn ich ein Liebeslied singe«, sagte sie und sah ihm in die Augen, »stelle ich mir vor, dass du in mir bist.«

»Nun, das haben wir gemeinsam«, sagte er gepresst und wollte aufstehen.

Aber sie schob ihn wieder aufs Sofa zurück, griff hinunter und machte seine Hosen auf.

And tell me what street

Compares with Mott Street in July …

Sie bewegte sich langsam auf ihm und hielt sich aufrecht, als ihre Stimme einen langen Ton hielt, dann ließ sie sich hinuntergleiten, als der Ton in einen warmen Akkord überging.

Sweet pushcarts slowly

Gliding by …

Er presste sie eng an sich, und sie vergrub das Gesicht an seinem Hals.

The great big city's a wondrous toy

Made for a girl and a boy …

»Du fühlst dich so gut an«, murmelte sie.

»Du.«

»Je t'aime«, murmelte sie.

Er antwortete: »Je t'aime aussi

Er liebte sie tatsächlich, mehr als sonst etwas auf der Welt.