Ein Geheimnis
Roman
Aus dem Französischen von
Holger Fock und Sabine Müller
Suhrkamp
Titel der französischen Originalausgabe: Un secret
Umschlagfoto: Thurston Hopkins/
Hulton Archives/getty images
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Editions Grasset & Fasquelle, 2004
© der deutschen Übersetzung
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005
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www.suhrkamp.de
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN: 978-3-518-73560-2
Für Tania und Maxime,
für Simon.
Als Einzelkind hatte ich lange Zeit einen Bruder. Meine Ferienbekanntschaften, meine Spielgefährten mußten mir aufs Wort glauben, wenn ich ihnen dieses Märchen auftischte. Ich hatte einen Bruder. Schöner als ich, stärker als ich. Einen älteren Bruder, erfolgreich und unsichtbar.
War ich bei einem Freund zu Besuch, wurde ich immer neidisch, wenn die Tür aufging und ein anderer erschien, der ihm ein wenig ähnelte. Zerzaustes Haar, ein spöttisches Lächeln, mit zwei Worten wurde er mir vorgestellt: »Mein Bruder.« Ein Rätsel, dieser Eindringling, mit dem alles geteilt werden mußte, sogar die Liebe. Ein echter Bruder. Einer, dem man ähnlich sah, in dessen Gesicht man gemeinsame Züge entdeckte, eine widerspenstige Strähne oder einen Wolfszahn, ein Zimmergenosse, den man in- und auswendig kannte, dessen Stimmungen, Vorlieben, Schwächen, Gerüche einem vertraut waren. Für mich, der ich allein über das Reich unserer Vier-Zimmer-Wohnung herrschte, ein wunderliches Wesen.
Obwohl ich die Liebe und Zärtlichkeit meiner Eltern mit niemandem teilen mußte, schlief ich unruhig, wälzte mich mit schlimmen Träumen im Bett. Ich weinte, sobald die Lampe ausgeknipst wurde, ich wußte nicht, wem die Tränen galten, die über mein Kopfkissen liefen und in der Nacht versanken. Da ich mich schämte, ohne die Ursache dafür zu kennen, mich oft grundlos schuldig fühlte, zögerte ich den Augenblick des Einschlafens hinaus. Meine Kinderwelt lieferte mir täglich Anlässe zu Traurigkeit und Ängsten, die ich in meiner Einsamkeit hegte. Es mußte jemand her, der diese Tränen mit mir teilte.
Eines Tages war ich dann nicht mehr allein. Ich hatte mich nicht davon abbringen lassen, meine Mutter in das alte Dienstmädchenzimmer unter dem Dach zu begleiten, das wir als Abstellkammer benutzten und wo sie ein wenig aufräumen wollte. Ich entdeckte dieses unbekannte Zimmer mit seinem muffigen Geruch, seinen wackligen Möbeln und Stapeln von Koffern mit rostigen Schlössern. Sie hatte den Deckel eines Koffers angehoben, in dem sie alte Modemagazine zu finden hoffte, die früher ihre Zeichnungen veröffentlicht hatten. Als sie dort auf einem Stapel Decken einen kleinen Hund mit Bakelitaugen liegen sah, zuckte sie kurz zusammen. Der Plüsch war abgewetzt, die Schnauze staubig, und er trug ein gestricktes Hundedeckchen. Ich hatte ihn mir sofort geschnappt und an die Brust gedrückt; als ich aber das Unbehagen meiner Mutter spürte, verzichtete ich darauf, ihn in mein Zimmer mitzunehmen, und legte ihn wieder zurück.
In der darauffolgenden Nacht preßte ich zum ersten Mal meine nasse Wange an die Brust eines Bruders. So war er in mein Leben getreten, und ich würde ihn nie mehr allein lassen.
Seit jenem Tag lebte ich in seinem Schatten, wandelte ich auf seinen Spuren wie in einem zu großen Anzug. Er begleitete mich zum Spielplatz, in die Schule, und jedem, den ich traf, erzählte ich von ihm. Zu Hause erfand ich sogar ein Spiel, damit er an unserem Familienleben teilhaben konnte: Ich bat darum, auf ihn zu warten, bevor wir uns zu Tisch setzten, ihm einzuschenken, bevor man mir einschenkte, seine Feriensachen einzupacken, bevor meine gepackt wurden. Ich hatte mir einen Bruder geschaffen, hinter dem ich mich verstecken konnte, einen Bruder, dessen Last ich mit ihrem ganzen Gewicht trug.
So mager, kränklich und blaß ich auch war, ich wollte unbedingt der Stolz meines Vaters sein. Von meiner Mutter wurde ich abgöttisch geliebt, schließlich war ich der einzige, der unter ihren durchtrainierten Bauchmuskeln herangewachsen, zwischen ihren sportlichen Schenkeln zur Welt gekommen war. Ich war der erste und der einzige. Vor mir, niemand. Bloß eine Nacht, ein Meer von Dunkelheit, ein paar Schwarzweißfotos, auf denen die Begegnung zweier ruhmreicher, in allen Disziplinen der Leichtathletik gestählter Körper festgehalten war, die später den Bund fürs Leben schlossen, um mich zu zeugen, mich zu lieben und mich zu belügen.
Ihren Erzählungen nach hatte ich schon immer diesen in unserem Land sehr gebräuchlichen Namen. Meine Abstammung verurteilte mich nicht mehr zum sicheren Tod, ich war nicht mehr jener dürre Zweig an der Spitze eines Stammbaums, den es zu kappen galt.
Meine Taufe fand so spät statt, daß ich mich noch gut erinnern kann: an die Handbewegung des Priesters, den Abdruck des nassen Kreuzes auf meiner Stirn, das Gefühl, als ich mich an den Priester schmiegte und unter dem bestickten Ende seiner Stola aus der Kirche hinaustrat. Ein Bollwerk, das mich vor dem himmlischen Zorn bewahren würde. Sollte der Sturm von neuem losbrechen, würde mich der Eintrag ins Taufregister schützen. Ich wußte davon nichts; still und gehorsam spielte ich das Spiel mit, bemühte mich wie alle, die mit mir feierten, zu glauben, daß wir nur ein Versäumnis nachholten.
Das unauslöschliche Zeichen, das mein Geschlechtsorgan trug, schrumpfte zur Erinnerung an einen notwendigen chirurgischen Eingriff. Da war nichts mehr von einem Ritual, es war eine ganz normale Entscheidung, getroffen aus rein medizinischen Gründen. Sogar unser Nachname hatte seine Narben: Auf Ersuchen meines Vaters waren zwei Buchstaben amtlich ausgewechselt worden, und durch die andere Schreibweise schlug er tiefe Wurzeln auf französischem Boden.
So setzte sich das Vernichtungswerk im verborgenen fort, das die Schlächter einige Jahre vor meiner Geburt betrieben hatten: Es begrub alles unter sich, was geheimgehalten und verschwiegen wurde, verstümmelte die Familiennamen, erzeugte Lügen, die Scham blieb. Obwohl die Verfolger besiegt waren, triumphierten sie noch immer.
Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen kam die Wahrheit zum Vorschein. Es waren Kleinigkeiten: ein paar Scheibchen ungesäuerten Brots, die in goldbraun gebackenes Rührei getaucht wurden, ein Samowar in moderner Gestaltung auf dem Kaminsims im Wohnzimmer und, im Büfett verschlossen, ein Kerzenleuchter zwischen dem Tafelgeschirr. Und immer wieder diese Fragen: Regelmäßig erkundigte man sich nach der Herkunft des Namens Grimbert, machte sich Gedanken über seine richtige Schreibweise; man grub das »n« aus, das durch ein »m« ersetzt worden war, man stöberte das »g« auf, das von einem »t« verdrängt werden sollte, und wenn ich zu Hause von solchen Mutmaßungen berichtete, wischte mein Vater sie mit einer Handbewegung beiseite. Wir hätten immer so geheißen, hämmerte er mir ein, diese Selbstverständlichkeit dulde keinen Widerspruch: Die Spur unseres Familiennamens sei bis ins Mittelalter zurückzuverfolgen, hieß nicht eine Figur des Roman de Renart* schon Grimbert?
Ein »m« für ein »n«, ein »t« für ein »g«, zwei winzige Veränderungen. Aber das »aime« (liebe) hatte das »haine« (Haß) verdeckt; da ich des »j’ai« (ich habe) beraubt war, gehorchte ich von nun an dem Gebot des »tais« (schweig).* Ich stieß zwar ständig gegen diese schmerzhafte Mauer, hinter der meine Eltern sich verschanzt hatten, aber ich liebte sie zu sehr, um das Wagnis einzugehen, die Grenzen zu überschreiten, an alte Wunden zu rühren. Ich war entschlossen, nichts zu erfahren.
Lange Zeit hat mein Bruder mir bei der Überwindung meiner Ängste geholfen. Ich spürte den Druck seiner Finger an meinem Arm, seine Hand, die durch mein Haar fuhr, und schöpfte daraus die Kraft, Hindernisse zu überwinden. Wenn ich auf der Schulbank seine Schulter an meiner spürte, fühlte ich mich sicher, und wenn ich abgefragt wurde, flüsterte er mir oft die richtige Antwort ins Ohr.
Er trug den Stolz der Rebellen zur Schau, die sich über alles hinwegsetzten, der Pausenhofhelden, die dem Ball hinterherflogen, der Eroberer, die über die Zäune kletterten. Unfähig, mich mit ihnen zu messen, lehnte ich mit dem Rücken an der Wand, bewunderte sie und wartete auf das befreiende Klingeln, um endlich wieder zu meinen Heften zu kommen. Ich hatte mir einen siegreichen Bruder ausgesucht. Niemand konnte ihn übertreffen, er gewann in allen Disziplinen, während ich meinem Vater meine Schwäche zeigte und die Enttäuschung ignorierte, die in seinem Blick lag.
Meine innig geliebten Eltern: Jeder Muskel an ihnen glänzte wie die Statuen, die mich in den Gängen des Louvre betörten. Meine Mutter machte Turmspringen und Bodenturnen, mein Vater Ringen und Geräteturnen, beide spielten Tennis und Volleyball. Zwei Körper, die wie dazu geschaffen waren, sich zu begegnen, zu vermählen, fortzupflanzen.
Ich war die Frucht dieser Sportlichkeit, aber mit einer morbiden Freude pflanzte ich mich vor dem Spiegel auf, um meine Mängel aufzulisten: spitze Knie, ein hervorspringendes Becken, spindeldürre Arme. Und ich regte mich über das Loch unter meinem Solarplexus auf, in das eine Faust hineingepaßt hätte, das meinen Brustkorb aushöhlte, als hätte ein Schlag ihn für immer eingedrückt.
Arztpraxen, Ambulanzen, Krankenhäuser. Der Desinfektionsmittelgeruch überlagerte kaum den des beißenden Angstschweißes, eine verderbliche Atmosphäre, zu der ich mein Scherflein beitrug, indem ich unter dem Stethoskop hustete, meinen Arm für die Spritze freimachte. Jede Woche ging meine Mutter mit mir zu einer dieser mir schon vertrauten Untersuchungen, half mir beim Ausziehen, um mich mit meinen Symptomen einem Spezialisten zu überlassen, der sich anschließend zu einem leisen Zwiegespräch mit ihr zurückzog. Gefaßt saß ich auf dem Untersuchungstisch und wartete auf das Urteil: ein Eingriff in nächster Zeit, eine langwierige Behandlung, bestenfalls Vitamine oder Inhalationen. Ich habe Jahre mit der Behandlung dieser schwächlichen Anatomie verbracht. Unterdessen protzte mein Bruder auf unverschämte Weise mit seinen breiten Schultern, der sonnengebräunten Haut unter seinem blonden Flaum.
Reck, Trainingsbank, Sprossenleiter, mein Vater trainierte täglich in einem Zimmer unserer Wohnung, das er in einen Turnraum umgewandelt hatte. Auch wenn meine Mutter weniger Zeit dort zubrachte, machte sie doch ihre Aufwärmübungen, lauerte auf die geringste Erschlaffung, um ihr sofort entgegenzuwirken.
Beide führten zusammen einen Großhandel in der Rue du Bourg-l’Abbé, in jenem Karree eines der ältesten Stadtviertel von Paris, das dem Handel mit Trikotagen und Strickwaren vorbehalten war. Die meisten Sportbekleidungsgeschäfte ließen sich von ihnen mit Trikots, Turnanzügen und Sportunterwäsche beliefern. Ich setzte mich an die Kasse neben meine Mutter, um die Kunden zu begrüßen. Manchmal half ich meinem Vater, trippelte ihm hinterher in das eine oder andere Lager, sah zu, wie er mühelos Stapel von Kartons anhob, die mit Sportfotos geschmückt waren: Turner an den Ringen, Schwimmerinnen, Speerwerfer, die sich in den Warenregalen auftürmten. Die Männer trugen das leicht gewellte, kurze Haar meines Vaters, die Frauen hatten die dunkle, wallende und von einem Band gebändigte Haarpracht meiner Mutter.
Einige Zeit nach meiner Entdeckung in der Abstellkammer hatte ich darauf gedrungen, noch einmal in das ehemalige Dienstmädchenzimmer hinaufzugehen, und dieses Mal konnte mich meine Mutter nicht davon abhalten, den kleinen Hund mitzunehmen. Noch am selben Abend setzte ich ihn auf mein Bett.
Wenn ich mit meinem Bruder Streit hatte, flüchtete ich mich zu meinem neuen Freund, Sim. Wie war ich eigentlich auf seinen Namen gekommen? War es der staubige Geruch des Plüschs? Lag es am Schweigen meiner Mutter, an der Traurigkeit meines Vaters? Sim, Sim! Ich ging mit meinem Hund in der Wohnung spazieren und weigerte mich, die Verwirrung meiner Eltern zur Kenntnis zu nehmen, wenn ich ihn beim Namen rief.
Je älter ich wurde, um so gespannter wurde das Verhältnis zu meinem Bruder. Ich erfand Streitigkeiten zwischen uns, ich lehnte mich gegen seine Autorität auf. Ich wollte ihn zum Nachgeben bewegen, aber ich ging selten als Sieger aus unseren Auseinandersetzungen hervor.
Im Laufe der Jahre hatte er sich verändert. Aus dem Beschützer war ein spöttischer, manchmal verächtlicher Tyrann geworden. Dennoch erzählte ich ihm weiter von meinen Ängsten, meinen Niederlagen, während ich mich vom Rhythmus seiner Atemzüge in den Schlaf wiegen ließ. Er hörte sich meine Geheimnisse wortlos an, aber sein Blick ließ mich zu einem Nichts schrumpfen, er musterte meine Schwächen, hob die Bettdecke an, verkniff sich ein Lachen. Da packte mich die Wut, und ich ging ihm an die Gurgel. Zurück in deine Nacht, feindlicher Bruder, falscher Bruder, Schattenbruder! Ich streckte meine Finger in seine Augen und drückte mit aller Kraft gegen sein Gesicht, um es im Treibsand des Kopfkissens zu versenken.
Er lachte, und wir wälzten uns unter der Bettdecke, erfanden in der Dunkelheit unseres Kinderzimmers die Zirkusspiele neu. Verstört von der Berührung, stellte ich mir vor, wie zart seine Haut war.
Meine Knochen wuchsen in die Länge, ich wurde immer magerer. Besorgt rief der Schularzt meine Eltern zu sich, um sich zu vergewissern, daß ich genügend zu essen bekam. Das Gespräch war verletzend für sie. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich ihnen Schande bereitete, aber dadurch sah ich noch mehr zu ihnen auf: Ich haßte meinen Körper, und meine Bewunderung für ihre Körper war grenzenlos. Ich entdeckte eine neue Form, mich meines Verliererdaseins zu erfreuen. Der Mangel an Schlaf höhlte meine Wangen mit jedem Tag ein wenig mehr aus, meine kränkliche Erscheinung geriet noch mehr in Gegensatz zur strahlenden Gesundheit meiner Eltern.
Mein aschfahles Gesicht, die bläulichen Augenringe verrieten das durch einsame Praktiken entkräftete Kind. Wenn ich mich in mein Zimmer einschloß, nahm ich immer das Bild eines Körpers, die Wärme eines Körpers mit. Entweder klammerte ich mich mit aller Kraft an meinen Bruder, oder ich gab mich dem kurz aufblitzenden Bild hin, das mich zuvor auf dem Schulhof geblendet hatte. In der großen Pause suchte ich Zuflucht am Rand des Karrees, das den Mädchen vorbehalten war. Fern von den Ballspielen und dem Geschrei, das im Jungenbereich ertönte, spielten sie dort Himmel und Hölle oder Seilspringen. Ich saß in der Nähe ihrer klaren Stimmen auf dem Asphaltboden und ließ mich von ihrem Lachen und ihren Abzählversen davontragen, und wenn sie hochsprangen, erhaschte ich einen Blick auf die kleinen weißen Schlüpfer unter ihren Röcken.
Ich war unendlich neugierig auf Körper. Die schützende Kleiderhülle konnte mir schon bald nichts mehr verbergen, meine Augen funktionierten wie jene magischen Brillen, deren Qualitäten in einer Zeitschriftenwerbung, die ich gesehen hatte, gerühmt und mit denen von Röntgenstrahlen verglichen wurden. Ihrer einheitlichen städtischen Kleidung entledigt, offenbarten die Passanten sowohl ihre Vorzüge als auch ihre Schwächen. Auf den ersten Blick erfaßte ich ein krummes Bein, eine hoch sitzende Brust, einen vorstehenden Bauch. Mein geübter Blick sorgte für eine reiche Ausbeute an Bildern, eine regelrechte anatomische Sammlung, in der ich blätterte, sobald die Nacht anbrach.