Die vollkommene Leere, eine Sammlung von Analysen, von kritischen Besprechungen nicht existierender Bücher, ist nicht nur ein witziger Einfall und ein Vergnügen für Denkende, sondern wie gewöhnlich bei Lem eine Warnung vor allzu leichtfertigem Optimismus, vor dem Vertrauen auf Entdeckungen im Bereich literarischer Form, die so oft als genial, wegweisend, einzig und allein nachahmenswert angepriesen werden.
Die vollkommene Leere legt den Snobismus und den Glauben an einen alles erleichternden Fortschritt bloß. Die »vollkommene Leere« bezeichnet ein quälendes Gefühl der Schwerelosigkeit. Es ist dem Handeln und Schaffen im höchsten Maße feindlich, denn es tötet auch die Hoffnung.
Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.
Die vollkommene Leere
Autorisierte Übersetzung aus dem Polnischen
von Klaus Staemmler
»Die neue Kosmogonie« übersetzte
I. Zimmermann-Göllheim
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe:
Doskonała próżnia.
»Czytelnik«, Warszawa 1971
»Non serviam« wurde dem Band Bezsenność (Schlaflosigkeit), Wydawnictwo Literackie, Kraków 1971, entnommen.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Copyright © 1971 by Stanisław Lem
Alle Rechte an der deutschen Ausgabe
Insel Verlag Frankfurt am Main 1973
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags, Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74343-0
www.suhrkamp.de
Stanisław Lem: »Die volkommene Leere«
(Doskonała próżnia)
Marcel Coscat: »Les Robinsonades«
Patrick Hannahan: »Gigamesh«
Simon Merril: »Sexplosion«
Alfred Zellermann: »Gruppenführer Louis XVI.«
Solange Marriot: »Rien du tout, ou la conséquence«
Joachim Fersengeld: »Perycalypsis«
Gian Carlo Spallanzani: »Der Idiot«
(Idiota)
»Do yourself a book«
Kuno Mlatje: »Odysseus aus Ithaka«
(Odys z Itaki)
Raymond Seurat: »Toi«
Alistar Waynewright: »Being Inc.«
Wilhelm Klopper: »Die Kultur als Fehler«
Cezar Kouska: »De Impossibilitate Vitae;
De Impossibilitate Prognoscendi«
Arthur Dobb: »Non serviam«
Alfred Testa: »Die Neue Kosmogonie«
(Nowa Kosmogonia)
(»Czytelnik« – Warschau)
Rezensionen über nicht existierende Bücher zu schreiben, ist nicht Lems Erfindung; nicht nur bei einem zeitgenössischen Schriftsteller – J. L. Borges – findet man derartige Versuche (z. B. als »Besprechung des Werks von Herbert Quaine« in dem Band »Labyrinthe«), die Konzeption reicht weiter zurück, und auch Rabelais war nicht der erste, der sie anwandte. Doch »Die vollkommene Leere« ist insofern einzigartig, als sie eine Anthologie ausschließlich solcher Kritiken sein will. Systematische Pedanterie oder systematischer Spaß? Man verdächtigt den Autor der spaßhaften Absicht, und dieser Eindruck wird auch durch die Einleitung nicht abgeschwächt, eine ellenlange, theoretische Einleitung, in der man liest: »Romane zu schreiben, ist eine Form des Verlusts schöpferischer Freiheiten ... Weiterhin ist das Rezensieren von Büchern eine noch weniger edle Zwangsarbeit. Über den Schriftsteller kann man wenigstens sagen, er habe sich selbst gefesselt – durch das gewählte Thema. Der Kritiker befindet sich in der schlechteren Lage; wie ein Zwangsarbeiter an seine Schubkarre, ist der Rezensent an das besprochene Werk geschmiedet. Der Schriftsteller verliert seine Freiheit im eigenen, der Kritiker im fremden Buch.«
Die Emphase dieser Vereinfachungen ist zu offensichtlich, um ernst genommen zu werden. In einem weiteren Absatz der Einleitung (»Autosoil«) heißt es: »Die Literatur hat uns bisher von fiktiven Gestalten erzählt. Wir gehen weiter, wir werden fiktive Bücher beschreiben. Das ist eine Chance, die schöpferischen Freiheiten wiederzugewinnen, und zugleich die Vermählung zweier kontradiktorischer Geister, des belletristischen Autors und des Kritikers.« Das »Autosoil«, führt Lem weiter aus, soll die freie Schöpfung »zum Quadrat« sein, denn der Kritiker des Textes werde, ist er erst in diesen Text eingeführt, mehr Manövrierfähigkeiten haben als der Erzähler der traditionellen oder nicht traditionellen Literatur. Dem kann man zustimmen, weil die Literatur heute tatsächlich um eine größere Distanz zu dem Geschaffenen ringt wie der Läufer um das richtige Atmen. Schlimm genug, daß diese gelehrte Einleitung irgendwie nicht zum Ende kommt. Lem erzählt darin von den positiven Seiten des Nichts, von idealen mathematischen Objekten und neuen Metaebenen der Sprache. Für einen Spaß ist das ein bißchen überzogen. Mehr noch – mit dieser Ouvertüre führt Lem den Leser (und vielleicht auch sich selbst?) in die Irre. Denn »Die vollkommene Leere« besteht aus Pseudorezensionen, die nicht nur eine Sammlung von Witzen sind. Ich möchte sie im Gegensatz zum Autor in drei Gruppen einteilen:
1. Parodie, Pastiche und Spott. Hierzu gehören die »Robinsonaden«, »Nichts oder die Konsequenz« (beide Texte verhöhnen auf verschiedene Weise den Nouveau Roman), eventuell noch »Du« und »Gigamesh«. Zwar ist die Position bei »Du« ziemlich risikoreich, denn sich ein schlechtes Buch auszudenken, das man verreißen kann, weil es schlecht ist, wirkt allzu billig. Formal am originellsten ist der Roman »Nichts oder die Konsequenz«, weil bestimmt niemand ihn schreiben könnte, der angewandte Trick der Pseudorezension erlaubt also ein akrobatisches Kunststück: die Kritik eines Buches, das es nicht nur nicht gibt, sondern auch nicht geben kann. »Gigamesh« hat mir am wenigsten gefallen. Es geht darum, daß die Sonne alles an den Tag bringt. Aber lohnt es sich wirklich, mit derartigen Witzen Meisterwerke abzutun? Vielleicht, wenn man selbst keine schreibt.
2. Skizzen und Kladden (denn letzten Endes sind das eigenartige Kladden) wie »Gruppenführer Louis XVI.«, »Der Idiot« und auch »Die Frage des Tempos«. Jede von ihnen könnte – wer weiß das schon – der Embryo eines guten Romans sein. Aber diese Romane müssen erst geschrieben werden. Eine Inhaltsangabe, ob kritisch oder nicht, ist schließlich doch nur eine Vorspeise, die uns Appetit auf das in der Küche nicht vorhandene Hauptgericht macht. Warum ist es nicht vorhanden? Eine Kritik mit Unterstellungen ist unfair, aber ich will sie mir einmal gestatten. Der Autor hatte Einfälle, die er nicht in vollem Umfang zu realisieren vermochte; er konnte sie nicht niederschreiben, und es tat ihm leid, sie nicht niederzuschreiben – das ist die ganze Genesis dieses Teils der »Vollkommenen Leere«. Intelligent genug, gerade diesen Vorwurf vorauszusehen, hat Lem beschlossen, sich durch die Einleitung zu tarnen. Deshalb spricht er in »Autosoil« von der Armseligkeit der Prosawerkstatt, von der Handwerkerarbeit des Schnitzens an den Beschreibungen, »um fünf Uhr verließ die Marquise ihr Haus«. Doch eine gute Werkstatt ist nicht armselig. Lem schrak zurück vor den Schwierigkeiten, die jeder der drei von mir nur als Beispiel genannten Titel in sich barg. Er zog es vor, nichts zu riskieren, er hat sich gedrückt, er ist ausgewichen. Indem er sagt, jedes Buch sei »ein Grab zahlloser anderer, die es vernichtet, verdrängt hat«, deutet er an, daß er über mehr Einfälle verfügt als über biologische Zeit (ars longa, vita brevis). Aber so viele bedeutsame, vielversprechende Einfälle hat er in der »Vollkommenen Leere« gar nicht. Es gibt dort Geschicklichkeitsbeweise, die ich erwähnt habe; dann aber weicht er in Späße aus. Ich vermute etwas Ernsthafteres, nämlich – eine nicht zu verwirklichende Sehnsucht.
3. Die Überzeugung, daß ich mich nicht irre, entnehme ich der letzten Gruppe von Werken in diesem Band, nämlich solchen wie »De Impossibilitate Vitae«, »Die Kultur als Fehler« und – besonders! – »Die Neue Kosmogonie«. »Die Kultur als Fehler« stellt Anschauungen auf den Kopf, die Lem mehr als einmal verkündet hat, sowohl in seinen belletristischen als auch in seinen diskursiven Büchern. Die Eruption der Technologie, dort als Liquidatrix der Kultur gebrandmarkt, wird hier zur Befreierin der Menschheit erhoben. Zum zweiten Mal erweist sich Lem in »De Impossibilitate Vitae« als Apostat. Die amüsante Absurdität der langen Ursachenketten dieser Familienchronik darf uns nicht täuschen – nicht um die Komik der Anekdote geht es, sondern um einen Angriff auf Lems Allerheiligstes, auf die Wahrscheinlichkeitstheorie, auf den Zufall also, auf die Kategorie also, die seinen verschiedenen Konzepten zugrunde liegt. Der Angriff findet in einer närrischen Situation statt, das soll seine Schärfe abstumpfen. War er also vielleicht einen Augenblick lang nicht grotesk gedacht? Diesen Zweifel zerstreut »Die Neue Kosmogonie«, eine wahre pièce de résistance des Buches, in ihm versteckt wie die Griechen im Trojanischen Pferd. Sie ist weder ein Spaß noch eine fiktive Rezension. Was also ist sie wirklich? Belastet mit einer so massiven wissenschaftlichen Argumentation, wäre sie ein reichlich schwerfälliger Spaß – man weiß ja, Lem hat die Enzyklopädien gefressen, man braucht ihn nur zu schütteln, schon wimmelt es von Logarithmen und Formeln. »Die Neue Kosmogonie« ist die fiktive Rede eines Nobelpreisträgers, sie umreißt ein revolutionäres Bild des Universums. Hätte ich kein anderes Buch von Lem gelesen, könnte ich am Ende annehmen, es sollte ein Witz für dreißig Eingeweihte sein, d. h. für die Physiker und die anderen Relativisten auf der ganzen Welt. Doch kommt mir das unwahrscheinlich vor. Also? Ich habe den Verdacht, es handle sich wieder um ein Konzept, das dem Autor aufleuchtete – und vor dem er zurückschrak. Selbstverständlich wird er das nie zugeben, und weder ich noch irgend jemand sonst wird ihm beweisen können, daß er den Kosmos als Spiel ernst genommen hat. Er kann sich stets auf die Spaßhaftigkeit des Kontextes berufen, auf den Titel des Buches (»Die vollkommene Leere« – als wird über nichts gesprochen); außerdem – das beste Asyl, die beste Ausrede ist die licentia poetica.
Dennoch bin ich der Meinung, daß sich hinter all diesen Texten der Ernst verbirgt. Der Kosmos als Spiel? Intentionale Physik? Als Verehrer der Wissenschaft, der vor ihrer heiligen Methodologie auf dem Bauch liegt, konnte Lem sich nicht zu ihrem ersten Häresiarchen und Abtrünnigen erheben. Er konnte deshalb diesen Gedanken in keine diskursive Aussage einfügen. Andererseits, die Idee des »Kosmos als Spiel« zur Achse eines Handlungsfadens zu machen, hätte bedeutet, ein weiteres, soundsovieltes Buch der »normalen Science Fiction« zu schreiben.
Was blieb übrig? Für den gesunden Menschenverstand nichts anderes, als zu schweigen. Bücher, die ein Schriftsteller nicht schreibt, die er bestimmt nicht in Angriff nimmt, was auch geschehen mag, denen man fiktive Autoren zuschreiben kann – sind solche Bücher nicht dadurch, daß sie nicht existieren, dem feierlichen Schweigen seltsam ähnlich? Kann man sich noch mehr von heterodoxen Gedanken distanzieren? Redet man von diesen Büchern, von diesen Auftritten als von fremden Äußerungen, dann ist das fast, als spräche man – schweigend. Besonders wenn sich das in einer Szenerie des Spaßes abspielt.
Also – aus jahrelang unter dem Herzen getragenem Hunger nach einem nahrhaften Realismus, aus Gedanken, die den eigenen Anschauungen kraß entgegenstehen und deshalb nicht direkt ausgesprochen werden können, aus allem, wovon man vergeblich träumt, ist »Die vollkommene Leere« entstanden. Die theoretische Einleitung, die scheinbar die »neue literarische Gattung« begründet, ist ein Manöver, um die Aufmerksamkeit abzulenken, eine absichtlich exponierte Bewegung, mit der der Zauberkünstler unseren Blick von dem ablenkt, was er wirklich tut. Wir sollen glauben, daß Geschicklichkeitsbeweise stattfinden werden, obwohl dem nicht so ist. Nicht der Trick der »Pseudorezension« hat diese Werke geboren, sie selbst haben sich, vergeblich nach Ausdruck verlangend, dieses Tricks als Exkusation und Vorwand bedient. Ohne diesen Trick wäre das alles in der Sphäre des Verschweigens geblieben. Es handelt sich nämlich um einen Verrat an der Phantasie zugunsten eines gut geerdeten Realismus, um eine Verleugnung in der Empirie, um eine Häresie in der Wissenschaft. Sollte Lem geglaubt haben, seine Manipulation werde nicht durchschaut werden? Dabei ist sie sehr einfach: lachend das hinausschreien, was man ernsthaft nicht zu flüstern wagte. Trotz allem, was die Einleitung sagt, muß der Kritiker nicht an das Buch geschmiedet sein wie der Zwangsarbeiter an die Schubkarre; nicht darin besteht seine Freiheit, daß er ein Buch in den Himmel heben oder herabsetzen kann, sondern darin, daß er durch das Buch wie durch ein Mikroskop den Autor betrachten kann. Dann aber erweist sich die »Die vollkommene Leere« als Geschichte von dem, was man haben möchte, aber nicht hat Sie ist ein Buch voll unerfüllter Träume. Und die einzige Finte, die der hakenschlagende Lem noch anwenden könnte, wäre der Gegenangriff in Gestalt der Behauptung, nicht ich, der Kritiker, sondern er selbst, der Autor, hätte die vorliegende Rezension geschrieben und sie zu einem weiteren Teil der »Vollkommenen Leere« gemacht.
(Ed. du Seuil – Paris)
Nach Defoes Robinson kam, für Kinder zurechtgeschnitten, der schweizerische Robinson und eine Menge derartiger infantil gemachter Versionen vom Leben ohne Mitmenschen; vor ein paar Jahren nun hat die Pariser »Olimpia«, mit dem Geist der Zeit gehend, »Robinson Crusoes sexuelles Leben« publiziert, ein triviales Machwerk, bei dem es sich nicht einmal lohnte, den Namen des Autors zu nennen, er versteckte sich nämlich hinter einem jener Pseudonyme, die der Verleger selbst benutzt, wenn er zu bekannten Zwecken einen Tagelöhner der Feder engagiert. Auf die »Robinsonaden« Marcel Coscats dagegen lohnte es sich zu warten. Hier haben wir Robinson Crusoes gesellschaftliches Leben, seine sozial-charitative Arbeit, seinen mühevollen, schwierigen, bedrängten Lebenslauf, denn es handelt sich hier um die Soziologie der Einsamkeit, um die Massenkultur einer menschenleeren Insel, die gegen Ende des Romans vor Gedränge geradezu aus den Nähten platzt.
Coscat hat, wie der Leser bald bemerkt, kein Werk plagiatorischen oder kommerziellen Charakters geschrieben. Es geht ihm weder um die Sensation noch um die Pornografie der Menschenleere, indem er etwa die sinnliche Begierde des Schiffbrüchigen auf die Palmbäume mit ihren behaarten Kokosnüssen, auf die Fische, Ziegen, Äxte, Pilze und Fleischwaren lenkt, die aus dem zerschellten Schiff gerettet wurden. Der »Olimpia« zum Trotz ist Robinson in diesem Buch kein rasendes Mannstier, das, wie das phallische Einhorn Sträucher, Zuckerrohr- und Bambussaaten zertretend, den Sandstrand, die Berggipfel, das Wasser der Buchten, das Schreien der Möwen, die erhabenen Schatten der Albatrosse oder die vom Sturm ans Land getriebenen Haifische vergewaltigt. Wer nach solchem Inhalt giert, findet in diesem Buch keine Nahrung für seine entfesselte Phantasie. Marcel Coscats Robinson ist Logiker in Reinkultur, extremer Konventionalist, Philosoph, der aus seiner Doktrin die letzten möglichen Schlüsse gezogen hat, und das Zerschellen des Schiffes, des Dreimasters »Patricia«, war für ihn nur ein Öffnen des Tors, ein Sprengen der Fesseln, ein Bereitstellen der Laborapparatur für das Experiment, es war ein Akt, der ihm den Zugang zu seinem eigenen, von den anderen nicht befleckten Sein öffnete.
Nachdem Serge N. seine Lage erkannt hat, nimmt er sie nicht fügsam an, sondern beschließt, der echte Robinson zu werden, und beginnt mit der freiwilligen Annahme gerade dieses Namens, was insofern rational ist, als er aus seinem bisherigen Leben keinen Nutzen mehr wird ziehen können.
Das Los des Schiffbrüchigen im Gesamtrahmen der Unbequemlichkeiten des Seins ist hinreichend unerfreulich, man braucht es nicht mit von vornherein vergeblichen Bemühungen der dem Verlorenen nachtrauernden Erinnerung zu würzen. Die Welt, die man antrifft, muß man auf menschliche Weise ordnen; der ehemalige Serge N. beschließt deshalb, sowohl die Insel als auch sich selbst vom Nullpunkt an zu gestalten. Coscats neuer Robinson gibt sich keinen Illusionen hin; er weiß, Defoes Held war eine Fiktion, sein lebendiges Vorbild aber, der Matrose Selkirk, wie sich herausstellte, als eine Brigg ihn nach Jahren zufällig fand, ein so völlig vertiertes Wesen, daß er sogar die Sprache verloren hatte. Defoes Robinson rettete sich nicht durch Freitag – der traf zu spät ein –, sondern weil er gewissenhaft mit einem strengen, für den Puritaner aber besten aller möglichen Gefährten rechnete, nämlich mit dem Herrgott selbst. Dieser Gefährte zwang ihm das strikt pedantische Verhalten, die hartnäckige Arbeitsamkeit, die Gewissenserforschung und besonders die reinliche Bescheidenheit auf, die den Autor der Pariser »Olimpia« so rasend gemacht hat, daß er sie frontal auf die Hörner der Zügellosigkeit nahm.
Serge N. oder der Neue Robinson, der eine gewisse schöpferische Kraft in sich spürt, wird eine These bestimmt nicht aufstellen und weiß das schon von vornherein: Der Höchste kommt für ihn nicht in Frage. Er ist Realist, und als Realist macht er sich ans Werk. Er will alles überlegen, also beginnt er mit der Frage, ob es nicht das Vernünftigste wäre, gar nichts zu tun; das wird ganz sicher in den Wahnsinn führen, doch wer weiß, ob er nicht eine durchaus bequeme Position darstellt. Ja, wenn man sich eine Art des Irrsinns auswählen könnte wie eine zum Oberhemd passende Krawatte, die hypomanische Euphorie etwa mit ihrer dauerhaften Freude, Robinson würde sie sich sogar gern einimpfen, aber woher die Gewißheit, daß er nicht abtreibt in die Depression, die mit Selbstmordversuchen endet? Dieser Gedanke stößt ihn ab, besonders in ästhetischer Hinsicht, außerdem entspricht Passivität nicht seiner Natur. Zudem wird er immer Zeit genug haben, um sich aufzuhängen oder zu ertränken – so legt er auch diese Variante ad acta. Die Welt der Träume, sagt er sich auf einer der ersten Seiten des Romans, das ist jenes Nirgendwo, das geradezu vollkommen sein kann; eine Utopie, abgeschwächt in ihrer Deutlichkeit, weil ungenügend entfaltet, ertrinkend in den nächtlichen Arbeiten des Gehirns, das dann den Aufgaben des Wachseins nicht gewachsen ist. »Im Traum«, sagt Robinson, »besuchen mich verschiedene Personen und stellen mir Fragen, auf die ich keine Antwort weiß, bis sie von ihren Lippen kommt. Soll das etwa bedeuten, daß diese Personen Bruchstücke sind, die sich von meinem Sein lösen, Verlängerungen seiner Nabelschnur? So reden heißt in einen entsetzlichen Fehler verfallen. Wie ich nicht weiß, ob jene mir bereits schmackhaft erscheinenden fetten weißen Würmer sich unter diesem flachen Stein befinden, den ich mit der großen Zehe meines nackten Fußes vorsichtig zu lockern beginne, weiß ich auch nicht, was sich im Geist jener Personen verbirgt, die mich im Traum besuchen. Bezogen auf mein Ich, sind diese Personen also ebenso äußerlich wie Würmer; es geht nicht darum, den Unterschied zwischen Traum und Wachsein zu verwischen – das ist der Weg zum Wahnsinn! –, sondern darum, eine neue, bessere Ordnung zu schaffen. Was im Traum nur manchmal gelingt, irgendwie, schief, schwankend und zufällig, muß ausgerichtet, verdichtet, ergänzt und befestigt werden; der Traum, am Wachsein fixiert, auf das Wachsein als Methode hin ausgeführt, dem Wachsein dienstbar, das Wachsein bevölkernd, es mit bester Ware anreichernd, hört auf, Traum zu sein, und das Wachsein wird unter dem Einfluß dieser Therapie einerseits auf alte Weise nüchtern, andererseits auf neue Weise geformt. Da ich allein bin, brauche ich mit niemandem mehr zu rechnen; da aber mein Wissen um das Alleinsein zugleich für mich Gift ist, werde ich demzufolge nicht allein sein; den Herrgott kann ich mir faktisch nicht erlauben, doch bedeutet das noch lange nicht, daß ich mir niemanden erlauben kann!«
Und weiter sagt unser logischer Robinson: »Der Mensch ohne andere ist wie ein Fisch ohne Wasser, aber wie die Mehrzahl der Gewässer schmutzig und verdreckt ist, waren auch meine Milieus Abfallhaufen. Verwandte, Eltern, Chefs, Lehrer habe ich mir nicht selbst ausgewählt, sogar für meine Mädchen trifft das zu, weil sie sich einfanden, wie es gerade kam: ich habe gewählt (wenn ich überhaupt gewählt habe), was der Zufall anbot. Wenn ich wie jeder Sterbliche zu den zufälligen Umständen von Geburt, Familie und Gesellschaft verurteilt war, brauche ich nichts zu bedauern. Mithin – mag das erste Wort der Genesis ertönen: Weg mit diesem Gerümpel!«
Er spricht, wie wir sehen, diese Worte mit einer Feierlichkeit, die dem »Es werde ...« des Schöpfers gleichkommt. Denn Robinson beginnt, sich vom Nullpunkt aus eine Welt zu schaffen. Schon ist sie nicht mehr nur infolge einer akzidentellen Katastrophe von allen Menschen befreit, sondern er geht mit der Schöpfung aufs Ganze. So umreißt Coscats vollkommen logischer Held sein Programm, das ihn später verspotten und vernichten wird – etwa wie die menschliche Welt ihren Schöpfer?
Robinson weiß nicht, womit er anfangen soll. Sich mit Idealfiguren umgeben? Mit Engeln? Mit Pegasussen? (Einige Augenblicke lang gelüstet es ihn nach Zentauren.) Doch begreift er, der Illusionslose, daß die Anwesenheit irgendwelcher vollkommenen Wesen ihm lästig wäre. Deshalb gibt er sich am Anfang denjenigen zur Seite, von dem er bisher, früher nur hat träumen können, nämlich den treuen Diener, den Butler, Garderobier und Lakaien in einer Person, den fettleibigen (Fettleibige sind heiter!) Glumm. Im Verlauf dieser ersten Robinsonade denkt unser Schöpfer-Geselle über die Demokratie nach, die er wie jeder Mensch (dessen ist er sicher) nur aus Notwendigkeit ertragen hat. Schon als Junge hat er vor dem Einschlafen davon geträumt, wie schön es wäre, im Mittelalter als großer Herr geboren zu werden. Jetzt endlich kann er seine Wunschträume verwirklichen. Glumm ist gehörig dumm, darin übertrifft er seinen Herrn von sich aus; nie fällt ihm etwas Originelles ein, also sagt er nie den Dienst auf; alles führt er prompt aus, sogar das, was der Herr noch gar nicht verlangt hat.
Der Autor erklärt nicht, ob und wie Robinson für Glumm arbeitet, da die Geschichte in der ersten (Robinsons) Person erzählt wird. Selbst wenn dieser also (und wie könnte es anders sein?) still und leise tut, was später als Ergebnis des Lakaiendienstes erscheint, tut er es in vollkommener Gedankenlosigkeit, so daß nur die Resultate dieser Mühen sichtbar werden. Kaum reibt sich Robinson morgens seine noch schlafverklebten Augen, schon liegen am Kopfende seines Lagers auf sauberen Tellersteinen die sorgsam zubereiteten, leicht mit Meerwasser gesalzenen, mit der Säure aus Sauerampferblättern schmackhaft gewürzten kleinen Austern, die er besonders gern mag, oder weiße, butterweiche Regenwürmer. Und ganz in der Nähe glänzen seine mit Kokosfasern blankgeputzten Schuhe, die Kleidung wartet, mit einem sonnenheißen Felsbrocken glattgebügelt, die Hose hat eine scharfe Falte, im Rockaufschlag steckt eine frische Blume, doch der Herr nörgelt wie üblich ein bißchen, während er frühstückt und sich ankleidet, zum Mittagessen bestellt er Seeschwalben und zum Abendbrot Kokosmilch, aber gut gekühlt – Glumm lauscht den Befehlen, wie es einem guten Butler ansteht, natürlich in demütigem Schweigen.
Der Herr nörgelt, der Diener lauscht; der Herr befiehlt, der Diener folgt – ein angenehmes, ruhiges Leben, etwa wie Ferien auf dem Lande. Robinson geht spazieren, liest interessantere Steinchen auf, legt sich sogar eine Sammlung davon an, Glumm richtet inzwischen die Mahlzeiten – und ißt dabei selbst überhaupt nichts, welche Sparsamkeit bei den Ausgaben, welche Bequemlichkeit! Doch bald zeigt sich im Inneren der Beziehungen zwischen Herrn und Diener das erste Sandkorn. Glumms Existenz steht außer Frage, an ihr zu zweifeln, hieße daran zweifeln, daß die Bäume auch dann aufragen und die Wolken auch dann vorüberziehen, wenn niemand sie ansieht. Aber der Diensteifer des Lakaien, seine Sorgfalt, sein treuer Gehorsam, seine Fügsamkeit werden geradezu langweilig. Die Schuhe sind immer geputzt, die Austern duften jeden Morgen neben dem harten Lager, Glumm sagt kein Wort – das fehlte auch noch, der Herr kann räsonierende Diener nicht leiden –, doch man sieht daraus, daß es Glumm als Person auf der Insel überhaupt nicht gibt; Robinson beschließt, etwas hinzuzufügen, daß die allzu einfache, also primitive Situation raffinierter macht. Glumm Trägheit, Trotz oder einen Kopf voller Streiche zu verleihen, ist unmöglich; er ist bereits, wie er nun einmal ist. Zu sehr existent. So engagiert Robinson als Helfer und Küchenjungen den kleinen Smen. Ein schmutziger, aber hübscher Junge, fast möchte man sagen, ein Zigeunerknabe, ein wenig Faulpelz, aber aufgeweckt, zu allerlei Streichen aufgelegt, und von nun an hat nicht der Herr, wohl aber der Lakai immer mehr zu tun, nicht mit der Bedienung des Herrn, wohl aber damit, vor dem Auge des Herrn zu verbergen, was dieser Lausebengel ausheckt. Im Ergebnis gibt es Glumm sogar noch weniger als zuvor, weil er ständig mit der Abrichtung Smens beschäftigt ist, Robinson kann manchmal ungewollt Glumms Schimpfereien hören, wenn der Seewind sie zu ihm trägt (Glumms krächzende Stimme erinnert seltsam an die Stimme der großen Seeschwalben), aber er wird bestimmt nicht in die Streitereien der Dienstboten eingreifen! Smen hält Glumm von seinem Herrn fern? Dann muß Smen eben weg, schon ist er in alle vier Winde verjagt. Sogar Austern hat er genascht! Der Herr ist bereit, die kleine Episode zu vergessen, was hilft’s, wenn Glumm das nicht gänzlich kann. Er vernachlässigt seine Arbeit, Schimpfen ändert nichts, der Lakai schweigt weiter, er ist stiller als Wasser, unwichtiger als Gras, aber – jetzt wird das klar – er hat begonnen, sich etwas zu denken. Der Herr wird den Lakaien weder ausfragen noch um seine Offenheit bitten – soll er etwa sein Beichtvater sein?! Es geht nicht alles nach Wunsch, ein strenges Wort bleibt ohne Wirkung – also auch du, alter Dummkopf, geh mir aus den Augen! Da hast du dein Gehalt für drei Monate – verrecken sollst du! Stolz wie jeder Herr, vertut Robinson einen ganzen Tag damit, ein Floß zusammenzubasteln, so gelangt er an Deck der auf dem Riff zerschellten »Patricia«. Zum Glück haben die Wellen das Geld nicht weggespült. Die Rechnung ist beglichen, Glumm verschwindet, aber das abgezählte Geld hat er zurückgelassen. Derart von dem Lakaien beleidigt, weiß Robinson nicht, was er tun soll. Er spürt, wenn auch nur intuitiv, daß er einen Fehler gemacht hat. Was nur ist da mißlungen?
»Ich bin der Herr, ich kann alles!« sagt er sogleich, um sich selbst zu stärken, und engagiert Wochenmitte. Sie ist – ahnen wir – zugleich eine Anrufung des Freitag-Paradigmas und sein Gegenteil (Freitag verhält sich zu Wochenmitte wie der fünfte zum dritten Wochentag). Aber dieses junge, recht einfache Mädchen könnte den Herrn in Versuchung führen. Er könnte in ihren wundervollen, weil unerreichbaren Umarmungen zugrunde gehen, sich in Begierde und wilder Ehe fiebrig anstecken, wahnsinnig werden wegen eines blassen, rätselhaften Lächelns, wegen der nackten, von der Asche der Feuerstelle bitteren Hacken, wegen der nach Hammeltalg riechenden Ohrläppchen. Also macht er Wochenmitte sogleich aus einer guten Eingebung heraus – dreibeinig; in einer gewöhnlicheren, das heißt trivial objektiven Alltäglichkeit könnte er das nicht tun! Hier aber ist er der Herr der Schöpfung. Er handelt wie jener Mann, der ein Faß voll giftigem, aber zur Trunksucht verleitendem Methylalkohol besitzt und es selbst vernagelt, auf das er im Angesicht der Versuchung lebe, der er nie erliegen wird; zugleich wird er gedanklich viel zu tun haben, denn seine geile Begierde wird stets den Pfropfen aus dem hermetisch verschlossenen Faß ziehen wollen. Genauso wird Robinson von nun an neben dem dreibeinigen Mädchen leben, durchaus imstande, sie sich ohne das mittlere Bein vorzustellen, aber das ist dann auch alles. Er wird reich sein an unverausgabten Gefühlen, an unvergeudeten Zärtlichkeiten (wozu sie auch an so jemanden vergeuden?). Die kleine Wochenmitte, die sich für ihn mit Mittwoch verbindet (Mitt-woch, Mitte der Woche, der Sexus ist darin klar symbolisiert), wird seine Beatrice sein. Wußte dieser törichte vierzehnjährige Teenager überhaupt etwas von Dantes Lüsternheitskrämpfen? Robinson ist wirklich mit sich selbst zufrieden. Er hat sie geschaffen und – durch die Dreibeinigkeit – im gleichen Akt gegen sich selbst verbarrikadiert. Indessen beginnt es bald im Gebälk zu knistern. Auf ein in anderer Hinsicht wichtiges Problem konzentriert, hat Robinson viele wichtige Züge bei Wochenmitte vernachlässigt!
Zunächst handelt es sich um noch ziemlich unwichtige Dinge. Manchmal möchte er die Kleine heimlich beobachten, besitzt aber Stolz genug, sich diesem Gelüst zu widersetzen. Dann jedoch huschen ihm allerlei Gedanken durch das Hirn. Das Mädchen tut, was früher Glumm aufgetragen war. Austernsammeln spielt keine Rolle, aber die Pflege der Garderobe ihres Herrn, sogar seiner Unterwäsche? Darin kann man schon ein Element der Doppeldeutigkeit, nein! der Eindeutigkeit entdecken. Also steht er heimlich auf, in dunkler Nacht, während sie bestimmt noch schläft, um seine Inexprimablen in der Bucht auszuwaschen. Wenn er jedoch so früh aufsteht, warum könnte er dann nicht wenigstens ein einziges Mal, nur so zum Spaß (aber nur zu seinem, des Herrn, einsamen Spaß), ihre Sachen auswaschen? Hat er sie ihr nicht geschenkt? Er ist den Haifischen zum Trotz mehrmals hinausgeschwommen, um den Rumpf der »Patricia« zu durchsuchen, und hat etwas Weiberkram gefunden, Röcke, Kleider, Schlüpfer. Wenn er sie auswäscht, muß man sie ja wohl auf die Leine zwischen zwei Palmstämme hängen. Ein gefährliches Spiel! Um so gefährlicher, als Glumm zwar nicht mehr als Lakai auf der Insel weilt, aber auch nicht vollends verreckt ist. Robinson hört fast seinen schnaufenden Atem, er ahnt seine Gedanken: Mir hat Seine Wohlgeboren nie etwas ausgewaschen. Als er noch existierte, hätte Glumm nie gewagt, etwas mit einer derart unverschämten Anspielung Gespicktes zu sagen, aber der Abwesende erweist sich als Schrecklich geschwätzig! Im Grunde gibt es Glumm nicht, wohl aber die Leere nach ihm! Man sieht ihn an keinem konkreten Ort, aber auch als er noch diente, verbarg er sich bescheiden, auch damals lief er seinem Herrn nicht über den Weg, er wagte nicht, vor seinen Augen zu erscheinen. Jetzt geht Glumm geradezu als Gespenst um: Sein pathologisch diensteifriges Glotzen, seine krächzende Stimme – alles rückt näher; die weit zurückliegenden Streitigkeiten mit Smen hallen nach im Schrei jeder beliebigen Seeschwalbe; Glumm wölbt seine behaarte Brust in den reifen Kokosnüssen (wohin die Schamlosigkeit solcher Vergleiche nur führt!), er biegt sich in den Schuppen der Palmstämme und beobachtet Robinson aus dem tiefen Wasser unter den Wellen mit Fischaugen (er glotzt!) wie ein Ertrinkender. Und wo? Nun dort, wo der Felsvorsprung ist, denn auch Glumm hatte sein Hobby: Er saß gern auf dem Kap und beschimpfte die heiseren, altersschwachen Walfische, die imRahmen ozeanischen Familienlebens ihre Fontänen springen ließen.
Ja, wenn man mit Wochenmitte reden und dadurch die bereits sehr wenig dienstlichen Beziehungen gemäß den herrenhaft-männlichen Kategorien von Befehl und Gehorsam, Strenge und Reife festigen, straffen, schicklicher gestalten könnte! Aber sie ist doch im Grunde ein einfaches Mädchen; von Glumm hat sie nicht einmal gehört; zu ihr reden bedeutet soviel wie mit einem Bild sprechen. Auch wenn sie sich etwas denkt – sagen wird sie bestimmt nie ein Wort. Scheinbar aus Schlichtheit, aus Schüchternheit (sie dient ja!), in Wirklichkeit aber ist solche Mädchenhaftigkeit listig, sie begreift mit allen Fasern der Haut sehr genau, wozu – nein, wogegen ihr Herr so sachlich, ruhig, beherrscht und erhaben ist! Zudem verschwindet sie für lange Stunden, bis zum Einbruch der Dunkelheit ist sie nicht zu sehen. Sollte etwa Smen? Denn Glumm gewiß nicht, ausgeschlossen! Er ist ja gar nicht auf der Insel!
Der naive Leser (an solchen mangelt es leider nicht) könnte hier womöglich denken, Robinson leide an Hirngespinsten, er sei auf dem Weg in den Wahn. Keineswegs! Wenn er ein Gefangener ist, dann nur der seiner eigenen Geschöpfe. Denn er kann sich das eine nicht sagen, das radikal-heilend auf ihn wirken würde, nämlich daß es Glumm nie gegeben hat und Smen ebensowenig. Erstens würde dadurch die, die jetzt ist, Wochenmitte, als wehrloses Opfer von der Flut einer klaren Niederlage hinweggespült. Außerdem würde die einmal getroffene Klarstellung Robinson total und für immer als Schöpfer lähmen. Deshalb kann er, ohne Rücksicht auf das, was noch geschehen wird, vor sich selbst die Nichtigkeit des Geschaffenen nicht zugeben, genauso wie ein redlicher, wahrer Schöpfer nie die Bösartigkeit des Geschaffenen zugeben kann. Denn das würde in beiden Fällen eine völlige Niederlage bedeuten. Gott hat das Böse nicht geschaffen; und in Analogie dazu wirkt Robinson nicht im Nichts. Jeder ist der Gefangene seiner Genesis aus dem Geist.
So ist Robinson Glumm wehrlos ausgeliefert. Glumm ist da – aber stets weiter weg, als daß man ihn mit einem Stein, einem Knüppel erreichen könnte, es hilft auch nichts, wenn man, um ihn zu fangen, Wochenmitte im Dunklen an einen Pfahl bindet (so weit ist es schon mit Robinson gekommen!). Der verjagte Lakai ist nirgendwo und damit überall. Der unselige Robinson, der die Beliebigkeit so unbedingt meiden, der sich mit Auserwählten umgeben wollte, hat sich selbst verunreinigt, weil er die ganze Insel verglummt hat.
Der Held erleidet wahre Martern. Großartig sind besonders die Beschreibungen nächtlicher Streitgespräche mit Wochenmitte, der Dialoge, der von ihrem verdrossenen, weibchenhaften, versucherisch anschwellenden Schweigen rhythmisch unterbrochenen Gespräche, in denen Robinson alles Maß, alle Hemmungen verliert und in denen seine ganze Herrenhaftigkeit von ihm abfällt; schon ist er geradezu ihr Eigentum, schon ist er abhängig von einem Nicken, einem Zwinkern, einem Lächeln. Und er spürt durch die Dunkelheit hindurch dieses kleine, winzige Lächeln des Mädchens, wenn er sich jedoch ermattet, schweißüberströmt auf dem harten Lager bis zum Morgengrauen hin- und herwälzt, suchen ihn zügellose, wahnwitzige Gedanken heim; er träumt davon, was er mit Wochenmitte tun könnte ... vielleicht auf paradiesische Weise wirken? So entstehen in seinen Erörterungen die Gedankenverbindungen, so kommt er vom strickartig zusammengedrehten Stück Stoff zur biblischen Schlange, so schlägt er versuchsweise einer Möwe den Kopf ab, damit nach Entfernung des Buchstabens M Eva übrigbleibt1, deren Adam natürlich er, Robinson, wäre. Doch weiß er nur zu gut: Wenn er sich Glumms, der ihm doch zur Zeit seiner Lakaienhaftigkeit höchst gleichgültig war, nicht entledigen konnte, wäre schon der Plan, Wochenmitte zu beseitigen, eine Katastrophe. Jede Form ihrer Anwesenheit ist besser als die Trennung, das ist klar.
Also setzt die Geschichte seiner Erniedrigung ein. Das allnächtliche Auswaschen ihres Weiberkrams wird zu einem wahren Mysterium. Mitten in der Nacht erwachend, lauscht er ihren Atemzügen. Zugleich weiß er, daß er jetzt wenigstens mit sich selbst darum ringen kann, nicht aufzustehen, die Hand nicht in jene Richtung auszustrecken – aber wenn er die grausame Kleine verjagte, das wäre das Ende! In den ersten Sonnenstrahlen flattert im Wind ihre gewaschene, von der Sonne gebleichte, löchrige Unterwäsche (oh, die Stellen mit den Löchern!); Robinson erfährt sämtliche Möglichkeiten der banalsten Martern, die Privilegien des unglücklich Verliebten. Und ihr gesprungener Spiegel, ihr kleiner Kamm ... Robinson flieht die Höhlenwohnung, er ekelt sich nicht mehr vor dem Felsen, von dem aus Glumm die alten, trägen Walfische beschimpft hat. Doch kann es so nicht weitergehen – also soll es nicht sein. Da eilt er zum Strand, um auf den großen, weißen Leib der »Pherganica« zu warten, des Transatlantikdampfers, den der Sturm (wohl auch ad hoc eingebildet) auf den schweren, die Füße versengenden, mit dem Schimmern sterbender Perlmuscheln übersäten Sand werfen wird. Aber was bedeutet es schon, daß manche Perlmuscheln Haarnadeln enthalten und andere mit weichschleimigem Schmatzen halbverbrannte, durchnäßte »Camel« vor Robinsons Füße ausspeien? Zeigt sich nicht deutlich durch diese Zeichen, daß sogar der Strand, der Sand, das bebende Wasser und sein Schaum, die auf der glatten Fläche in die Tiefe weggleiten, nicht mehr Teile der materiellen Welt sind? Doch ob es nun so ist oder nicht – das Drama, das am Strand beginnt, als der Leib der »Pherganica« mit furchtbarem Krachen auf den Riffen zerschellt und seinen unglaublichen Inhalt vor dem tanzenden Robinson ausschüttet, dieses Drama ist völlig real, es ist das Weinen unerwiderter Gefühle ...
Von dieser Stelle an – geben wir es zu – wird das Buch immer schwerer verständlich und verlangt vom Leser keine geringe Anstrengung. Die bis dahin präzise Entwicklungslinie verwickelt und verknotet sich. Wollte der Autor absichtlich durch Dissonanzen die Aussage des Romans trüben? Wozu dienen die beiden Barhocker, die Wochenmitte gebärt – wir ahnen, daß ihre Dreibeinigkeit ein erbliches Merkmal ist, das ist klar, gut; aber wer war der Vater dieser Hocker? Ist es schon bis zur unbefleckten Möbelstück-Empfängnis gekommen?? Warum erweist sich Glumm, der bisher die Walfische nur angespuckt hat, als ihr Verwandter? (Robinson nennt ihn Wochenmitte gegenüber einen »Vetter der Wale«.) Und weiter: zu Beginn des zweiten Bandes hat Robinson drei bis fünf Kinder. Die Ungewißheit der Anzahl begreifen wir noch, sie ist ein Kennzeichen der bereits sehr kompliziert gewordenen halluzinatorischen Welt; ihr Schöpfer ist gewiß nicht mehr imstande, alle Einzelheiten des Geschaffenen richtig im Gedächtnis zu behalten. Sehr gut. Aber von wem hat Robinson diese Kinder? Hat er sie durch einen reinen Willensakt geschaffen wie zuvor Glumm, Smen, Wochenmitte, oder hat er sie in einem mittelbar imaginierten Akt mit einem Weib gezeugt? Über Wochenmittes drittes Bein fällt im zweiten Band kein Wort. Soll das eine Art antikreativer Extraktion bedeuten? Das scheint ein Fragment aus dem Gespräch mit dem Kater der »Pherganica« im achten Kapitel zu bestätigen. Dieser sagt zu Robinson: »Du Beinausreißer.« Da aber Robinson den Kater weder auf dem Schiff gefunden noch auf andere Weise geschaffen hat – den Kater hat sich Glumms Tante ausgedacht, von der Glumms Frau sagt, sie sei die »Wöchnerin der Hyperboräer« –, erfährt man leider nicht, ob Wochenmitte außer den Hockern noch Kinder hatte oder nicht. Wochenmitte bekennt sich nicht zu Kindern, jedenfalls schweigt sie in der großen Eifersuchtsszene auf alle Fragen Robinsons, während der Unselige bereits einen Strick aus Kokosfasern flicht.
»Nichtsrobinson« nennt sich der Held in dieser Szene, ja »GARNICHTSROBINSON«2. Da er nun aber bisher so vieles getan (d. h. geschaffen) hat – wie soll man diesen Passus auffassen? Warum Robinson sagt, wenn er auch nicht genauso dreibeinig sei wie Wochenmitte, so sei er ihr in dieser Hinsicht doch einigermaßen ähnlich, läßt sich gerade noch ungefähr verstehen, aber diese den ersten Band abschließende Bemerkung wird im zweiten weder anatomisch noch künstlerisch fortgeführt. Weiter – die Geschichte der Tante von den Hyperboräern wirkt recht geschmacklos, so auch der Kinderchor, der ihre Metamorphose begleitet (»Wir sind hier drei, vier und einhalb, alter Freitag« – dieser Freitag ist Wochenmittes Onkel, die Fische glucksen etwas über ihn im dritten Kapitel, es handelt sich um Anspielungen auf Freiersfüße, man weiß nur nicht auf wessen).
Je weiter man im zweiten Band vorankommt, desto verworrener wird es. In seinem zweiten Teil spricht Robinson überhaupt nicht mehr mit Wochenmitte, ihr letzter Kommunikationsakt ist jener Brief, den sie nachts in die Asche der Feuerstelle an Robinson schreibt und den dieser beim Morgengrauen liest – aber er zittert schon vorher, weil er den Inhalt im Dunklen erahnt, während sein Finger über die erkalteten Schlacken gleitet. ... »auf daß er sie endlich in Ruhe lasse«, schreibt sie, und er wagt nicht zu antworten, er entfernt sich wie ein begossener Pudel. Weshalb? Um die Wahl der Miß Perlmuschel zu organisieren, um unter wüsten Schimpfwörtern mit einem Stock auf die Palmen einzuschlagen, um auf der Strandpromenade sein Programm herauszuschreien, die Insel sei an die Walfischschwänze zu binden! Dann entstehen auch im Verlauf eines Vormittags jene Menschenmengen, die Robinson leichtfertig und nachlässig ins Leben ruft, indem er Nachnamen, Vornamen, Beinamen irgendwo hinschreibt, worauf ein komplettes Chaos zu folgen scheint: die Szenen mit dem Bau des Floßes und seiner Zerschlagung, mit der Errichtung des Hauses für Wochenmitte und seiner Zerstörung, mit den Händen, die im gleichen Maße dicker werden wie die Beine dünner, mit der unmöglichen schwanzlosen Orgie, bei der der Held Ochsenblut nicht von Ochsenschwanzsuppe und Ohren nicht von Uhren unterscheiden kann.
All das – fast hundertsiebzig Seiten, den Epilog nicht eingerechnet – macht den Eindruck, als habe entweder Robinson seine früheren Pläne aufgegeben oder der Autor finde sich in seinem Werk selber nicht mehr zurecht. So hat denn auch Jules Nefastes im »Figaro Littéraire« erklärt, das Werk sei »geradezu klinisch«. Serge N. konnte trotz seines praxeologischen Schöpfungsplanes dem Wahnsinn nicht entgehen. Die Folge einer wirklich konsequenten solipsistischen Kreation muß die Schizophrenie sein. Diese banale Wahrheit versucht das Buch zu illustrieren. Deshalb hält Nefastes es für intellektuell unfruchtbar, wenngleich stellenweise amüsant – wegen der Invention des Autors.
Anatol Fauche dagegen zieht in »La Nouvelle Critique« das Urteil seines Kollegen vom »Figaro Littéraire« in Zweifel, indem er, unserer Meinung nach völlig zu Recht, sagt, Nefastes sei, ohne Rücksicht darauf, wovon die »Robinsonaden« handeln, psychiatrisch inkompetent (es folgen lange Ausführungen über das Fehlen aller Verbindungen zwischen Solipsismus und Schizophrenie – da uns dieses Problem aber als für das Buch völlig unwesentlich erscheint, verweisen wir den Leser in dieser Hinsicht auf »La Nouvelle Critique«). Und so legt Fauche im folgenden die Philosophie des Romans aus: Das Werk zeige, daß der Schöpfungsakt asymmetrisch sei, weil man in Gedanken zwar alles schaffen könne, aber nicht alles (fast nichts) sich nachher wieder vernichten lasse. Das gestatte schon das Gedächtnis des Schaffenden nicht, das seinem Willen nicht unterliege. Nach Fauche hat das Werk zwar nichts mit der Krankengeschichte (eines bestimmten Wahns in der Einsamkeit) zu tun, es zeigt aber einen Zustand der Verirrung in der Schöpfung: Robinsons Handlungen (im zweiten Band) sind nur insofern sinnlos, als er selbst nichts mehr von ihnen hat; psychologisch lassen sie sich dagegen leicht erklären. Dieses Hin und Her ist typisch für einen Menschen, der sich in nur teilweise vorausgesehenen Situationen befindet; diese Situationen gerinnen nach ihren eigenen Gesetzen und nehmen ihn gefangen. Aus realen Situationen, unterstreicht Fauche, kann man realiter entfliehen, aus erdachten dagegen sich nicht zurückziehen; deshalb enthüllen die »Robinsonaden« nur, daß die wirkliche Welt für den Menschen unentbehrlich ist (»die wirkliche Außenwelt ist die wirkliche Innenwelt«). Herrn Coscats Robinson war gar nicht wahnsinnig, nur sein Plan, sich auf der einsamen Insel ein synthetisches Universum anzulegen, war bereits im Keim zum Scheitern verurteilt. Als Ergebnis dieser Folgerungen spricht Fauche den »Robinsonaden« auch jeden tieferen Wert ab, da sich das Werk, so ausgelegt, tatsächlich als höchst armselig erweist.
Nach unserer Ansicht sind aber beide zitierten Kritiker am Kern des Buches vorbeigegangen, ohne seinen Gehalt richtig aufzunehmen.
Unserer Meinung nach hat der Autor etwas dargelegt, was sehr viel weniger banal ist als die Geschichte des Irrsinns auf der einsamen Insel oder die Polemik gegen die These von der kreativen Allmacht des Solipsismus. (Eine Polemik dieses Typs wäre überhaupt ein Nonsens, da in der systematischen Philosophie nie jemand die Behauptung von der solipsistischen schöpferischen Allmacht aufgestellt hat; wie dem auch sei, in der Philosophie lohnt sich der Kampf gegen Windmühlenflügel nicht.) Nach unserer Überzeugung ist das, was Robinson tut, wenn er »tobt«, kein Wahnsinn und auch keine polemische Dummheit. Die einleitende Intention des Romanhelden ist rational gesund. Er weiß, die Begrenzung jedes Menschen sind die anderen; der daraus eilfertig gezogene Schluß, die Liquidierung der anderen gäbe dem Subjekt die vollkommene Freiheit, ist ein psychologischer Trugschluß; er entspricht dem physikalischen Trugschluß, der behauptet, da die Form der Gefäße, in denen Wasser enthalten ist, die Form des Wassers bestimme, müsse man die Gefäße zerschlagen, um dem Wasser »absolute Freiheit« zu geben. Im Gegenteil, wie Wasser, das sein Gefäß verläßt, zu einer Pfütze auseinanderläuft, so explodiert auch der völlig einsame Mensch, wobei diese Explosion eine Form der kompletten Dekulturation darstellt. Hat man keinen Gott und weder andere Menschen noch die Hoffnung auf ihre Rückkehr, muß man zur eigenen Rettung ein Glaubenssystem errichten, das in bezug auf seinen Schöpfer außer ihm sein muß. Herrn Coscats Robinson hat diese schlichte Wahrheit verstanden.
Und weiter: für den gewöhnlichen Menschen sind die am heftigsten begehrten und zugleich völlig realen Wesen unerreichbareferne