Über Volkssouveränität
Elemente einer
Demokratietheorie
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011
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eISBN 978-3-518-75550-1
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Eine Demokratietheorie, die das Prinzip der Volkssouveränität als ihren zentralen Gegenstand behandelt, ist nicht nur Mißverständnissen ausgesetzt, sondern auch durch aktuelle innergesellschaftliche und globale Entwicklungen herausgefordert, die Volkssouveränität einerseits durch die Dezentralisierung nationalstaatlicher Politik, andererseits durch den Bedeutungsverlust des Nationalstaats selbst obsolet erscheinen lassen.
Was zunächst (immer noch mögliche) Mißverständnisse angeht, so könnten das Prinzip der Volkssouveränität als solches und dessen besondere Akzentuierung in der vorliegenden Konzeption gleichermaßen in Frage stehen. Bereits die seit 1920 einsetzende Verdrängung, seit 1945 vordringende Dämonisierung des Prinzips der Volkssouveränität beruht auf einem fundamentalen Mißverständnis: Die »Souveränität« der Volkssouveränität wird gegen ihre Komponente verselbständigt und von einschlägigen Übersichts- und Handbuchartikeln bis hin zu den subtilen Souveränitätsparadoxierungen bei Giorgio Agamben entweder auf äußere Staatssouveränität reduziert oder mit innerstaatlicher Exekutivgewalt verwechselt [1] und schließlich, in der extremsten Variante Agambens, mit der aus der Rechtsordnung freigesetzten, vollkommen irregulären Gewaltanwendung im Ausnahmezustand identifiziert. Was diese letztere Bestimmung bei Agamben angeht, so wird der Ausgangspunkt der Neubesetzung des Souveränitätsbegriffs im 20. Jahrhundert erkennbar: Agamben beruft sich ausdrücklich auf Carl Schmitts berühmtes Diktum »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, [2] in dem Carl Schmitt den Begriff der Souveränität von dessen ursprünglicher Bedeutung der Gesetz8gebungsfunktion erstens überhaupt auf die der Exekutivfunktion umpolte (der Ausnahmezustand war von jeher die »Stunde der Exekutive«) und zweitens im Sinne des extrem gesteigerten Funktionszuwachses definierte, den der Ausnahmezustand für die Exekutive unter gleichzeitiger Einschränkung oder Negation legislativer Kontrollmöglichkeiten eröffnet. [3] Durch die unkritische Rezeption dieses pervertierten Souveränitätsbegriffs wird Agambens zutreffende Diagnose, daß der Ausnahmezustand längst zum Paradigma der normalen Praxis gegenwärtiger »demokratischer« Systeme geworden ist, [4] verdunkelt. Agambens starke These der grundsätzlichen Nichtunterscheidbarkeit von Demokratie und Diktatur begibt sich in fatale Abhängigkeit von Carl Schmitt, der nicht mehr die Erzeugung positiven Rechts, sondern umgekehrt dessen Außerkraftsetzung im Ausnahmezustand mit dem Signum der »Souveränität« versieht. Es ist eine genaue Reproduktion dieser Begrifflichkeit, wenn Agamben die extremste Ausnahme gesetzesfreier Räume in »Lagern«, in KZs, als Erscheinungsform der Souveränität bestimmt. [5]
Der in der Tat äußerst wirkungsmächtigen Begriffspolitik Carl Schmitts ist es gelungen, die ursprüngliche Bedeutung von »Souveränität« aus dem wissenschaftlichen Gedächtnis fast völlig zu verdrängen. Der moderne Begriff der Souveränität bezeichnete – auch bei Hobbes – die Funktion der Gesetzgebung, d. h. die »Quelle« allen positiven Rechts. Hobbes’ absolutistischer »Souverän« erhält dieses Prädikat ausschließlich in seiner Funktion als oberster Gesetzgeber und nicht etwa als Inhaber des exekutivischen Gewaltmonopols, das er außerdem innehat. »Volkssouveränität« ist genau deshalb nicht, wie in der herrschenden Literatur vielfach behauptet, als Spiegelbild der Fürstensouveränität zu qualifizieren, weil nämlich dem souveränen Volk (direkt oder repräsentiert) nur die Gesetzgebung zukommt, während das exekutivische Gewaltmonopol an der Spitze des Staates verbleibt, wodurch eine rigide rechtsstaatliche Gewaltenteilung zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung institutionalisiert ist. [6] Volkssouveränität ist also nicht nur 9von jeglicher Gewaltausübung weit entfernt, sondern in jeder ihrer Aktivierungen der genaue Gegenspieler der gewalthabenden Staatsapparate. Es sei hier bereits angemerkt, daß Volkssouveränität ohne funktionierenden Rechtsstaat nicht verwirklicht werden kann, weil nur in dieser Verbindung die Unterwerfung der »Staatsgewalt« unter den gesetzgebenden Willen des Volkes gelingt: Nur die – im Idealfall – strenge Gesetzesbindung der Staatsapparate beschränkt die »Exekutive« im Wortsinne auf die Ausführung der demokratisch zustande gekommenen Gesetze.
Ein mögliches Mißverständnis hinsichtlich des herausragenden Stellenwerts, der dem Prinzip der Volkssouveränität in den vorliegenden Analysen eingeräumt wird, dürfte durch den Hinweis auf die Notwendigkeit der theoretischen Rekonstruktion dieses Prinzips angesichts seiner anhaltenden Verdrängung bereits ausgeräumt sein. Diese Rekonstruktion enthält darüber hinaus kein Programm der Zurückdrängung anderer Prinzipien der Demokratie, sondern widmet sich im Gegenteil der Aufgabe, das jeweils positive Verhältnis des Elements der Volkssouveränität zu den übrigen konstitutiven Elementen der Demokratie – z. B. Menschenrechte, kritische Öffentlichkeit und, wie erwähnt, Rechtsstaat – zu bestimmen. Auch hier ist ein historischer Transformationsprozeß aufzuarbeiten, der überhaupt erst den klassisch demokratischen, noch unreflektiert unterstellten Zusammenhang aller demokratischen Teilelemente zerstörte und deren heutige postmodernistische Isolierung und zum Teil kontradiktorische Entgegensetzung vorbereitete. Während insbesondere in der Theorie der Weimarer Zeit nicht nur die Varianten unmittelbare und repräsentative Demokratie, dezentrale zivilgesellschaftliche und zentrale politische Organisationsformen der Demokratie, sondern auch Freiheitsrechte und Volkssouveränität, kritische Öffentlichkeit und Volkssouveränität sowie Volkssouveränität und rechtsstaatliche Gewaltenteilung so rigoros gegeneinander ausgespielt wurden, daß jedes dieser demokratischen Elemente destruiert wurde (bes. II.4.), begründen die vorliegenden Analysen eine theoretische Perspektive, der zufolge 10alle genannten Prinzipien der Demokratie in einem Zusammenhang wechselseitiger Optimierung stehen.
Unter diesem Aspekt wird auch die gegenwärtig vorherrschende Theorie und Praxis, die Teilelemente der Demokratie zu jeweils hegemonialen verselbständigt, einer ausführlichen Kritik unterzogen. Dies betrifft insbesondere die verbreiteten Optionen, Menschenrechte gegen ihre »Gefährdung« durch Volkssouveränität zu schützen oder eine kritische Öffentlichkeit für das Ganze der Demokratie zu erklären. Es wird gezeigt, daß die Zerschlagung des Zusammenhangs zwischen Grund-, Freiheits- bzw. Menschenrechten einerseits und Volkssouveränität andererseits gerade die Freiheitsgarantie dieser Rechte aufhebt: Hatte die demokratische Beziehung zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität noch darin bestanden, daß die individuellen Menschenrechtssubjekte (unmittelbar oder repräsentiert) in demokratischen Gesetzgebungsverfahren ihre Menschenrechte selbst konkretisierten, so fallen die gegen den demokratischen Prozeß isolierten Menschenrechte der Interpretationsmacht judikativer und exekutivischer Apparate anheim, die die einst als »vorstaatlich« begründeten Rechte der Bürger in staatlich zugeteilte Güter verwandelt – ein Vorgang, in dem zugleich die Subjekte und Interpreten ihrer Rechte zu bloßen Objekten einer expertokratischen Menschenrechtsverwaltung degenerieren (bes. II.2.; III.2.3.2.; IV.).
Auch die Verdrängung der Volkssouveränität durch den demokratischen Alleinvertretungsanspruch kritischer Öffentlichkeit impliziert eine Amputation der Demokratie, die zu deren klassisch westeuropäischen Konzeption im Gegensatz steht. Hatte diese noch einen fraglos bestehenden Zusammenhang zwischen beiden Prinzipien in dem Sinne vorausgesetzt, daß der demokratische Souverän durch öffentliche Diskussion aufgeklärt entscheide und umgekehrt die Ergebnisse dieser Diskussion per Gesetzgebung rechtsverbindlich würden, so verweist die heutige Isolierung des Prinzips kritischer Öffentlichkeit auf eine seit 1945 einsetzende Hegemonie US-amerikanischen Verfassungsdenkens, die durch neuere Theorien globaler politischer Organisation, in welcher die Einforderung von Volkssouveränität unrealistisch wäre, noch verstärkt wird. Es liegt am strukturellen Gegensatz der Realisierung von Gewaltenteilung in parlamentarischer Demokratie und Präsidialsystem, daß in letzterem kritische Öffentlichkeit mit dem Demokratieprinzip zu11sammenfällt (bes. II.1.). [7] Im Modell parlamentarischer Demokratie ist Volkssouveränität, wie bereits angedeutet, durch eine vertikale Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender Souveränität und gesetzanwendenden Staatsapparaten prozeduralisiert, welche einen engen Funktionszusammenhang zwischen Öffentlichkeit und Volkssouveränität herstellt: Von hier gehen die Legitimations- und Kontrollwege aus, die der Idee nach jeden Einsatz staatlicher Macht nur gemäß dem Willen der gesellschaftlichen Basis erlauben.
Ganz anders nimmt die amerikanische Unionsverfassung das konservative Gewaltenteilungsmodell Montesquieus, das gegen absolutistische monarchische Souveränität wie gegen Volkssouveränität gleichermaßen gerichtet ist, zum Vorbild und etabliert eine horizontale Gewaltenteilung, die auf Souveränitätsteilung beruht: Alle »Gewalten« sind an der Ausübung der Souveränitätsfunktion der Gesetzgebung beteiligt und treten zur Legislative in Konkurrenz (der Präsident durch sein Veto-Recht, der Supreme Court durch seine Normenkontrolle), so daß die teilsouveränen Gewalten sich gegenseitig kontrollieren. In diesem System, das Volkssouveränität nur als einmaligen Akt der Verfassunggebung von 1787 kennt, ist eine starke kritische Öffentlichkeit, gestützt auf unbegrenzte Redefreiheit, in der Tat der einzige Gegenpol zum Kreislauf balancierter Macht. Während aber in parlamentarischen Systemen die Bindung der Regierenden an den Volkswillen eine »juristische« ist, [8] haben bereits in nationalstaatlichen Präsidialsystemen die Ergebnisse öffentlicher Diskussion wenig erwartbare Chancen, sich im politischen Entscheidungssektor zu reproduzieren. Nur der letztere entscheidet, ob er Argumente der gesellschaftlichen Basis wahrnimmt oder als »störendes Umweltgeräusch« ausfiltert. Auf globaler Ebene aber führt die Isolierung des Prinzips kritischer Öffentlichkeit zu dessen völliger Destruktion. Hier ist die Selbstreferentialität getrennter Kommunikationskreisläufe innerhalb des politischen Entscheidungssystems einerseits und der kritischen Öffentlichkeit andererseits perfekt.
12Aktuelle Herausforderungen für eine normative Theorie der Volkssouveränität bestehen aber auch in realgesellschaftlichen Entwicklungen. So führte weniger ein Mißverständnis dieses Prinzips als die unbestreitbare Tatsache der heutigen Fragmentierung des politischen Entscheidungssystems und einer weitgehenden Partikularisierung und Parzellierung der gesellschaftlichen Basis zu einer – allerdings voreiligen – Verabschiedung von Souveränität und Volkssouveränität. Auch wenn diese Schlußfolgerung einem fälschlich unterstellten Monismus dieser Prinzipien geschuldet ist, so bedarf es doch einer soziologischen Analyse der gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine Rekonstruktion starker Demokratie unter den radikal veränderten Bedingungen der Gegenwart. Die neokorporatistische Verflechtung von Staats- und Wirtschaftsbürokratien und eine informationsabhängige Vernetzung politischer Entscheidungsprozesse mit ihren Regelungsbereichen stellt nicht nur die prozeduralisierte Kommunikation zwischen den politischen Instanzen in Frage, sondern nimmt auch allen gesellschaftlichen Interessen, die sich außerhalb dieser dezentralen politisch-gesellschaftlichen Machtkomplexe befinden, sogar die wenigen Einflußchancen, die aufgrund der Existenz einer intakten politischen Zentrale noch gegeben waren. Insofern besteht das Problem einer Rekonstruktion von Volkssouveränität unter diesen Bedingungen neokorporatistisch fragmentierter Macht und partikularisierter gesellschaftlicher Ohnmacht darin, für die letztere eine neue Einflußnahme auf die erstere zu institutionalisieren. Der Vorschlag besteht in einer Dezentralisierung der Gesetzgebung, die der Dezentralisierung der Politik entspricht und zugleich deren demokratieverhindernde Folgen aufhebt. Angesichts einer Interessendiversifizierung auch an der gesellschaftlichen Basis, die im klassischen Parteiensystem nicht einmal mehr »repräsentiert« werden kann, ist eine Arbeitsteilung zwischen parlamentarischer und basisdemokratischer Gesetzgebung konzipiert: Rechtsnormen, die nur noch eine begrenzte Zahl von »Adressaten« betreffen, können in dezentralen Rechtssetzungsarrangements beraten und verabschiedet werden, in denen die betroffenen Konfliktparteien einander direkt konfrontiert und mit symmetrischen Verhandlungspositionen ausgestattet werden, die die Asymmetrien gesellschaftlicher Macht rechtlich kompensieren. Über Rechtsnormen von hohem Allgemeinheitsgrad könnte in zentralen Referenden entschieden werden. Die 13Verfahrensnormen aber, nach denen in basisdemokratischer Gesetzgebung die inhaltlichen Normen zustande kommen, müssen der parlamentarischen Zentrale vorbehalten sein – eine Option, die zugleich der Rekonstruktion des Rechtsstaats dient. Hatte der Stufenbau klassisch rechtsstaatlicher Verfahrenstrennungen willkürliche Durchgriffe auf Personen oder Gruppen dadurch verhindert, daß inhaltliche Rechtsnormen jeweils nur für unbestimmt viele zukünftige Fälle formuliert werden konnten, so ist auch von den Verfahrensnormen basisdemokratischer Rechtssetzung nur dann Fairneß zu erwarten, wenn bei ihrem Zustandekommen der jeweils konkrete gesellschaftliche Interessenkonflikt noch nicht bekannt ist, der nach Maßgabe ihrer Positionszuweisungen ausgetragen und rechtlich geregelt werden soll. Es ist diese Funktion des – Volkssouveränität überhaupt ermöglichenden – Rechtsstaatsprinzips, die heute durch die faktische Refeudalisierung des politischen Systems außer Kraft gesetzt ist (I.; II.3.).
Eine weitere Herausforderung für die Theorie der Volkssouveränität besteht in der gegenwärtig verbreiteten Vorstellung, daß einer konstatierten ökonomischen Globalisierung nur der politische »Überbau« eines Weltstaats bzw. einer global governance angemessen sei. Entsprechend wird der demokratische Nationalstaat als eine anachronistische politische Organisationsform verworfen, die jeder Lösung grenzüberschreitender und globaler Probleme entgegenstehe. Dem Nationalstaat – auch dem demokratischen – wird eine Exklusivität der Grenzen, sogar des Volksbegriffs, angelastet, die seiner territorialen Einhegung entspreche. Das weitestgehende Mißverständnis Jean-Marie Guéhennos qualifiziert den Nationalstaat als Ausgeburt einer »räumlichen Konzeption der Macht«, in welcher »die unmittelbare Abhängigkeit von Grund und Boden noch die gesellschaftlichen Beziehungen bestimmte« [9] – eine Definition des modernen Nationalstaats als mittelalterliche Herrschaftsform, die das Votum für ein zeitgemäßes globales »Imperium«, das ohne Demokratie auskommt, zu begründen sucht.
Die Gegenargumente in der Perspektive des Volkssouveränitätsprinzips plädieren für eine andere Version entgrenzter Politik, die den Nationalstaat in die Organisation globaler Politik als unverzichtbaren Faktor einbezieht. Die Analyse der konstitutiven 14Merkmale des demokratischen Nationalstaats fördert das Gegenteil dessen zutage, was heutige Begriffspolitik (zum Teil durch Resubstantialisierungen im 19. Jahrhundert vorbereitet) dieser politischen Organisationsform fälschlich unterstellt. Sie zeigt, daß gerade mit der Errichtung des demokratischen Nationalstaats das Territorialprinzip durch das des Personenverbands selbstbestimmter Bürger ersetzt wird und das demokratische Gesetz zum neuen konstitutiven Bezugspunkt nationalstaatlicher Identitätsfindung avanciert: Nationalstaatliche Grenzen sind fortan mit dem Geltungsradius der vom Volk gegebenen Verfassungs- und Rechtsordnung identisch. Diese Grenzen entgrenzen zugleich das Staatsgebiet und das Volk; sie sind, wie an Verfassungsbestimmungen der Französischen Revolution abzulesen ist, durchlässig für jeden »Fremden«, der die in ihnen geltende Verfassungsordnung anerkennt, und lassen die Mitwirkung der Migranten an der Fortentwicklung nationalstaatlichen Rechts zu. Auch hinsichtlich steigender grenzüberschreitender Mobilität ist die spezifische Lernfähigkeit der demokratisierten nationalstaatlichen Rechtssysteme nachzuweisen, welche in der Lage sind, die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede kollisionsrechtlich zu vermitteln. – Gegen die Einebnung der Nationalstaaten in einer globalstaatlichen Ordnung, die ihrerseits zur Institutionalisierung von Volkssouveränität außerstande ist, wird staatliche Souveränität als Bedingung der Möglichkeit von Volkssouveränität auch dann verteidigt, wenn noch längere innergesellschaftliche Entwicklungspfade zu diesem Ziel zurückzulegen sind. Auch hinsichtlich der extremen Ungleichheit vor allem der ökonomischen Entwicklung in den Regionen dieser Welt wird die vertikale Handhabung des bestehenden überregionalen bzw. globalen Regelungsbedarfs als hegemoniale Strategie der Hervorbringung neuer einseitiger Abhängigkeiten kritisiert und statt dessen eine horizontale Staatenverbindung befürwortet, die jene Entgrenzung steigert, die seit Anbeginn im demokratischen Nationalstaat angelegt war (VI.).
Schließlich: Auch der demokratische »Volks«-Begriff ist dem postmodernen Bewußtsein abhanden gekommen. Nachdem er im 19. Jahrhundert schon einmal ethnisch-kulturell substantialisiert und im 20. Jahrhundert rassistisch pervertiert wurde, ist gegenwärtig die zusätzliche Gefahr virulent, ihn mit einer soziologischen Kategorie zu verwechseln. Ein extremes Beispiel firmiert 15unter dem Titel »Das Volk, der Souverän«, obwohl dieses »Volk« wahlweise mit sozial Unterprivilegierten, mit frei fluktuierenden Massen, mit dem Proletariat, den Mitgliedern von Freizeitvereinen oder mit Nicht-Intellektuellen gleichgesetzt und insgesamt als »Gegenstand von Sozialpolitik« bestimmt wird. [10] Dieses Ressentiment unterscheidet sich kaum von dem Versuch, Demokratie als »Herrschaft der Minderwertigen« zu denunzieren. Der elitäre Gestus, der demokratische »Tugenden« wie politische Urteilsfähigkeit und Autonomie ausschließlich der sozialen Oberschicht zuschreibt und die »Massendemokratie« für das Scheitern der Demokratie verantwortlich macht, [11] übersieht, daß die Leistung der modernen Demokratietheorie gerade darin bestand, das Prinzip der – stets unsicheren – ethischen Integration vormoderner Gesellschaften durch eine Prozeduralisierung [12] politischer Entscheidungsabläufe zu er16setzen, die – unerachtet der jeweiligen Intentionen der beteiligten Individuen – ungerechte Ergebnisse verhindert. Sogar Rousseaus Konstruktionsprinzipien unmittelbarer Demokratie setzen nicht etwa die guten Menschen des (hypothetischen) Naturzustands voraus, sondern die Menschen, »wie sie sind«, [13] das heißt die durch gesellschaftliche Entwicklung depravierten, egoistisch-bornierten Menschen, deren Hervorbringung Rousseau im ersten und zweiten Discours (siehe unten) analysierte. Rousseaus berühmter »Gemeinwille« (die volonté générale), sofern er sich herstellt, verdankt sich darum nicht etwa einer tugendhaften Erleuchtung der abstimmenden Bürger (und gar nicht einer Tugendelite als »Sprachrohr« des Gemeinwillens, wie eine ganz überholte Rousseau-Interpretation argwöhnte [14]), sondern der egalitär-generalisierenden Struktur des Gesetzgebungsprozesses, in welchem die partikularen Interessen der Abstimmenden »sich gegenseitig« aufheben. [15] Entsprechend testet Kant das demokratische Gesetzgebungsverfahren sogar am Extremfall eines »Volk [es] von Teufeln«: es soll Ergebnisse hervorbringen »als ob« diese »keine […] böse Gesinnungen hätten«, indem es strukturell deren antagonistische Bestrebungen gegeneinander zum Ausgleich bringt. [16] Es ist übrigens gerade – der so vielfach und grundsätzlich verkannte, überhaupt noch zu entdeckende – Rousseau, der im Falle des sich nicht herstellenden »generalisierten« Willens besonders nachdrücklich dem gesetzgebenden Volk ein Recht auf Irrtum zuspricht, [17] das (so ist zu ergänzen) die Regierungen von jeher reichlich in Anspruch nehmen. Zudem setzt Rousseau auf den lernenden Souverän, [18] der sich durch Änderungsgesetzgebung korrigieren kann. – Daß also die freiheitsorientierten 17demokratischen Theorien auf ein »gutes« Menschenbild angewiesen sind, ist ein Grundirrtum der politischen »Ideengeschichte«, der ihrer Vernachlässigung der verfassungsrechtlichen Konstruktionen dieser Theorien geschuldet ist.
Selbst das »Volk« der modernen Demokratietheorie ist eine verfassungsrechtliche Konstruktion. Wenn heute in guter Absicht der vielfach pervertierte Begriff des »Volkes« durch den der »Bevölkerung« ersetzt wird, so ist genau die politische Funktion eliminiert, die die kontraktualistische Theorie als gesetz- und verfassunggebende »Gewalt« des Volkes begründet hatte. Rousseau wie Kant identifizieren die Konstituierung des Volkes mit der des demokratischen Souveräns. Sie bestimmen das »Volk« als Produkt eines Gesellschaftsvertrags von Freien und Gleichen, [19] der aufgrund seiner egalitär-symmetrischen Struktur bereits das abstrakte Prinzip demokratischer Organisation enthält, welches das aktive Volk in seiner Verfassung- und Gesetzgebung rechtlich positiviert und fortlaufend konkretisiert. Ob eine »Bevölkerung« ein »Volk« ist oder nur eine Ansammlung isolierter Sklaven unter einem Herrn, entscheidet sich für Rousseau allein nach dem (normativen) Kriterium des Gesellschaftsvertrags. [20]
Gegenwärtig besteht allerdings Anlaß zu der Frage, ob die Erwähnung der »verfassunggebenden Gewalt des Volkes« in heute geltenden Verfassungen mehr ist als eine höchst ideologische Legitimationsformel, die das Volk überhaupt erst in Besitz nehmen müßte. [21] Im Kontext eines grundsätzlichen Verfassungsskeptizismus, der hier nicht geteilt wird, erläutert Friedrich Müller die Bedingungen, unter denen das »Volk« seit der theoretischen Begründung seiner verfassunggebenden Gewalt daran gehindert wird, »sich selbst in die Hand« zu nehmen. [22] In der Tat ist es der herrschenden Theorie des »Verfassungsstaates« (und dessen Praxis) gelungen, die verfassunggebende Gewalt des Volkes in eine Ermächtigungsformel umzudeuten, die die Gewalt der Staatsapparate begründet; in den Worten Friedrich Müllers: die verfassunggebende Gewalt des 18Volkes wird zur Metapher für die Legitimation der »Gewalt eines Staates, der sich ein Volk hält«. [23] Die Gegenstrategie des Kritikers besteht unter den gegebenen Bedingungen darin, zumindest die Verfassung im positivrechtlichen Sinne beim Wort zu nehmen: Wo immer die verfassunggebende Gewalt des Volkes in einer Verfassung vertextet ist, gewinnt letztere ein Mehr an Legitimität mit entsprechenden Anforderungen an die Verfassungspraxis. [24]
Wenn aber Friedrich Müller darauf besteht, daß sein positivrechtlicher Verfassungsbegriff eine der Verfassung vorausliegende und diese erst begründende verfassunggebende Gewalt ausschließe, [25] so verzichtet er auf die aussichtsreichste Strategie, das Volk in sein stets vorenthaltenes Recht einzusetzen. So wie das »Volk« selbst ein verfassungsrechtlicher Begriff ist, ohne durch den Verfassungstext absorbiert zu werden, so kann der Verfassungstext auf seine eigene Rechtsquelle, die verfassunggebende Gewalt des Volkes, verweisen, ohne deren permanente Existenz aufzuheben. Friedrich Müllers Zurückhaltung in dieser Hinsicht scheint der analogen Konstruktion Carl Schmitts geschuldet. Deren Perversion bestand aber nicht in der Verhältnisbestimmung von verfassunggebender Gewalt und Verfassung, sondern in der Übertragung der verfassunggebenden Gewalt vom Volk auf die Exekutive – eine Konstruktion, die sich im NS-System in Gestalt des »verfassunggebenden Maßnahmenstaates« konkretisierte. [26] – Eine radikale Demokratietheorie hingegen muß ihre Hoffnung auf die allen Verfassungsbestimmungen vorhergehende verfassunggebende Gewalt des Volkes richten, die überhaupt erst eine Demokratie, die den Namen verdient, herbeiführen kann.
Auch das Volk als Gesetzgeber ist eine verfassungsrechtliche Konstruktion, obwohl es für das Volk als politischen Akteur nicht etwa eine »Legaldefinition« gibt, wie im Hinblick auf die nicht identischen »Teilmengen« des Volkes entsprechend den multiplen Möglichkeiten seiner politischen Organisation oder Nichtorganisation 19zutreffend formuliert wurde. [27] Aber in jeder Verfassung, die sich überhaupt auf das Prinzip der Volkssouveränität beruft, ist das Volk durch seine Funktion eindeutig bestimmt: Es ist als Gesetzgeber Gegenspieler der gewalthabenden (exekutivischen und judikativen) Staatsapparate. Es ist bereits durch seine Rechtssetzungsfunktion diesen bloß rechtsanwendenden Apparaten sogar übergeordnet, und es ist aufgrund seiner verfassunggebenden Gewalt Kontrolleur dieser Apparate, gerade weil es diese – unter detaillierten verfassungsrechtlichen Bedingungen – »ermächtigt« hat. Daß das Volk aber realiter von den bloß Ermächtigten übermächtigt wird, ist Folge der Entformalisierung des Rechts, das die »anwendenden« Apparate nach Belieben interpretieren. Erst wenn Rousseaus Hoffnung einer so weitgehenden Gesetzesbindung eingelöst würde, daß die Regierung nicht mehr ist als der Zwischenträger der Befehle, die das Volk sich selbst gibt, [28] käme die Demokratie einer »freien Assoziation« der Individuen nahe. Der Zusammenhang von Volkssouveränität und formalem Rechtsstaat erweist sich auch hier als unhintergehbar.
»Volk« und »Bevölkerung« sind also nach alldem nicht zu verwechseln. Dennoch kann in einem spezifischen Sinn das wachsende Ausmaß, in dem das Volk mit der Bevölkerung identisch wird, als Steigerung demokratischer Legitimität bewertet werden. [29] Es geht um das Prinzip der Inklusion immer größerer Teile der Bevölkerung in die politische Aktivbürgerschaft, das einer anderen Logik folgt als das der Volkssouveränität. Während letzteres zum Zweck der Selbstbestimmung des Volkes als normatives Kriterium der Verteilung politscher Funktionen (Verfassunggebung, Gesetzgebung versus Exekutive, Judikative) entwickelt wurde, wobei die Demokratietheoretiker des 18. Jahrhunderts noch ausnahmslos die Aktivbürgerschaft durch sozioökonomische Qualifikationen für das Wahl- bzw. Stimmrecht begrenzten, begann erst im 19. Jahrhundert eine sukzessive Erweiterung des Wahlrechts, während das Prinzip der Volkssouveränität zerstört wurde: Als es so weit kam, daß auch Arbeiter und schließlich sogar Frauen wählen durften, war die Bindung der Staatsapparate an das demokratische Gesetz 20bereits ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Parlamentswahlen sind heute insofern folgenlos, als die Zusammensetzung der Legislative zwar noch Zielvorgaben für die nächsten Gesetze enthält, aber die Gesetze selbst keine Adressaten mehr in den Apparaten finden. In dieser Situation ist sogar die Differenz zwischen repräsentativer und direkter Demokratie aufgehoben. Auch basisdemokratische Abstimmungen über jedes einzelne Gesetz könnten an dem Umstand nichts ändern, daß angesichts der Selbstprogrammierung der Staatsapparate nur noch ein egalitäres Volk von »Passivbürgern« existiert (III.2.3.1., III.2.4., V.). – Eine Realisierung von Demokratie steht also vor der Aufgabe, den qualitativen Aspekt der Volkssouveränität mit dem quantitativen Aspekt der Inklusion zu kombinieren.
Die vorliegenden Studien basieren auf überarbeiteten, aktualisierten und zum Teil erheblich ergänzten Einzelbeiträgen. Diese sind so angeordnet, daß sie einer fortlaufenden Problementwicklung folgen, aber in ihrer inneren Struktur so belassen, daß sie auch bei separater Lektüre verständlich sind. Dies bedingt gelegentliche Wiederholungen, die es aber ermöglichen, entweder ein Problem aus unterschiedlicher Perspektive wahrzunehmen oder Querverbindungen zwischen diesen Analysen herzustellen. – Alle Beiträge entsprechen der Überlegung, daß Demokratietheorie »praktisch« werden sollte, und untersuchen deshalb (unter gelegentlichen Hinweisen auf das Experimentierfeld der Verfassungsdiskussion anläßlich der deutschen Wiedervereinigung) auch die Konsequenzen demokratietheoretischer Argumentationsfiguren für die Struktur demokratischer Verfassungen, wobei der letztere Aspekt in den Beiträgen II.1.-4. überwiegt. – Die begründungstheoretischen Studien arbeiten die »kopernikanische Wende« der Entsubstantialisierung des mittelalterlichen Naturrechts im Übergang zum prozeduralen Naturrecht der Moderne als Voraussetzung des Volkssouveränitätsprinzips heraus (III.1.) und analysieren exemplarisch einschlägige philosophische Theorien hinsichtlich ihres Verhältnisses zu dieser Innovation (III.2.1.-2.4.). In diesem Kontext steht die Auseinandersetzung mit einer gegenwärtigen politischen »Ideengeschichte«, die sich disziplinär beschränkt und aufgrund mangelnder rechtswissenschaftlicher Kompetenz ihre Gegenstände verfehlt. Deshalb werden diejenigen (verfassungs)rechtlichen und rechtstheoretischen Defizite der Politikwissenschaft detailliert aufgezeigt, die 21sie sowohl daran hindern, historische Demokratietheorien, die sich noch vor der disziplinären Ausdifferenzierung im Kontext der Rechtsphilosophie entwickelten, angemessen zu analysieren, als auch den Zustand gegenwärtiger Demokratien, der durch die (zunehmend prekäre) Form der rechtlichen Kommunikation in und zwischen ihren Institutionen vollständig bestimmt ist, zu beurteilen (IV.). – Insofern versteht sich der vorliegende Band als ein Beitrag zu jener Politikwissenschaft, die nach 1945 als »Demokratiewissenschaft« gegründet wurde und als solche (in Ergänzung ihrer anderweitigen interdisziplinären Orientierungen) der Öffnung zur Rechtswissenschaft bedarf.
Ich kann nicht schließen, ohne mehrfachen Dank auszusprechen. Dieser gilt ganz besonders Jürgen Habermas dafür, daß er in einer schwierigen Situation meine weitere wissenschaftliche Arbeit ermöglichte. Außerdem danke ich meinem früheren wissenschaftlichen Mitarbeiter Peter Niesen für vieldimensionale konstruktive Kritik und meinem ehemaligen Tutor Oliver Eberl, die beide ihre langjährige Solidarität nach meiner Emeritierung in freundschaftlicher Kommunikation fortsetzten. Ich danke Dirk Martin für seine unvergeßlichen Diskussionsbeiträge in meinem Kolloquium und allen Studenten, die mich mit ihren eindringlichen Fragen über die blühenden Felder wissenschaftlicher Entdeckungen gejagt haben.
Auf den ersten Blick scheint der Begriff der Volkssouveränität zu jenen klassischen Begriffen der Demokratietheorie zu gehören, die in der gegenwärtigen Gesellschaft keine mögliche Realität mehr bezeichnen. Dies gilt nicht nur für den Begriff im ganzen, sondern auch für seine Bestandteile. »Souveränität« scheint durch die Tatsache widerlegt zu sein, daß politische Entscheidungsprozesse zunehmend mit ihren gesellschaftlichen Regelungsbereichen in einer Weise vernetzt sind, daß eindeutige Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten überhaupt nicht mehr ausfindig zu machen sind. Erst recht kann dem Volksbegriff angesichts der heutigen Regionalisierung und Pluralisierung aller gesellschaftlichen Problemlagen und der fortgeschrittenen Entwicklung zu einer multikulturellen Gesellschaft keine kompakte Bedeutung mehr zugeordnet werden. Schließlich entbehrten Konzeptionen des »Volkswillens« – ohne die eine Theorie der Volkssouveränität nicht auskommen kann –, soweit sie ein kollektives Entscheidungssubjekt unterstellen, schon immer der gesellschaftlichen Grundlage. Sie waren aber, was noch zu untersuchen ist, auch in den klassischen Demokratietheorien der Aufklärung so nicht gemeint.
Es scheint jedenfalls der aktuellen gesellschaftlichen Situation zu entsprechen, daß der Begriff der Volkssouveränität einem kollektiven Verdrängungsprozeß unterliegt – ein Phänomen, das innerhalb der bundesrepublikanischen Diskussion in konservativen und linken bzw. »alternativen« Stellungnahmen gleichermaßen beherrschend ist. Typisch für die in der Bundesrepublik entwickelte Rechts- und Verfassungstheorie ist die Auffassung, daß die Geltung einer positivrechtlichen Verfassung die Existenz jedes Souveräns, auch eines demokratischen Souveräns, ausschließe und Volkssouveränität nur als Prämisse der geltenden Verfassung zu verstehen sei. [1] Volkssouveränität wird so auf einen einmaligen Akt der verfassunggebenden Gewalt des Volkes reduziert, der sich in dieser eher symbolischen Bedeutung erschöpft und eine Verfassung konstituiert, 23der zunehmend selbst »Souveränität« zugeschrieben wird. [2] Diese herrschende Verfassungstheorie kennt weder den gesellschaftlichen »Ort« noch das Subjekt der Souveränität und entspricht in dieser Hinsicht den faktischen Vernetzungen und der systemischen Zirkularität der heutigen politischen Entscheidungsprozesse. Sie folgt der gleichen Logik, mit der Niklas Luhmann formuliert, daß nicht mehr einzelne Entscheidungssubjekte und gar nicht mehr »das Volk« als »Träger von Willen« in Betracht zu ziehen seien, sondern nur noch das politische System in seiner Gesamtheit. [3] Während diese konservativen Fassungen des Problems darauf hinauslaufen, eine unterdeterminierte Souveränität den institutionalisierten und systemisch strukturierten Organisationskomplexen insgesamt zuzuordnen, denen gegenüber der einstige demokratische Souverän zum »Publikum« degeneriert, [4] das aus einem autonomen, vom konkreten Konsens unabhängigen System heraus mit unzurechenbaren Entscheidungen versorgt wird, wiederholen alternative Konzeptionen die gleiche Dichotomie aus umgekehrter Perspektive. [5]
Der Protest gegen die selbstreferentielle Verselbständigung politischer Entscheidungsprozesse wurde von den neuen basisdemokratischen Bewegungen bezeichnenderweise nicht als Ausübung von Volkssouveränität verstanden, sondern kleidete sich in das Gewand des Widerstandsrechts oder des bürgerlichen Ungehorsams. Damit ist keineswegs ein nur terminologischer Unterschied bezeichnet. Während die Demokratietheorie der Aufklärung eine umfassende Handlungskompetenz des »souveränen Volkes« begründete, die das Volk gleichzeitig als Hüter der bestehenden Verfassung und als permanent wirksame verfassunggebende Gewalt einsetzte, [6] also 24die Entscheidung über Fortbestand und Innovation an der gesellschaftlichen Basis verortete, setzen Widerstand bzw. Ungehorsam ein lediglich reaktives Verhalten von »Rechtsadressaten« auf vorgefertigte rechtliche und politische Entscheidungen voraus. Gegen Innovationen von oben mobilisieren sich Widerstand und Verweigerung von unten. Dieses alternative Konzept enthält darum nicht wesentlich mehr, als die Systemtheorie der gesellschaftlichen Basis ohnehin noch zubilligt. Es nähert sich jener Residualkategorie »basaler Souveränität« [7] an, die Luhmann zufolge lediglich die Möglichkeit bezeichnet, sich in alltäglichen Interaktionen auf vorgegebene Rechtsentscheidungen zu beziehen oder nicht zu beziehen. Ebenso nehmen sich »Widerstand« und »Ungehorsam« lediglich die – wenn auch unalltäglich und demonstrativ vertretene – Freiheit, gesetztes Recht nicht anzuerkennen. Die von Luhmann bezeichnete Dichotomie zwischen einer systemischen Entscheidungssouveränität und einer lediglich negatorischen basalen Souveränität liegt darum auch den gegenwärtig vorherrschenden alternativen Konzepten zugrunde.
In ähnlicher Weise konvergieren die alternativen Selbstbeschreibungen des Ungehorsams mit der herrschenden Rechts- und Verfassungstheorie, deren Exorzismus jeglicher Volkssouveränität im Zeichen der Rechts- und Verfassungssouveränität ganz offenkundig ist. Auch wo basisdemokratische Initiativen tatsächlich nach Prinzipien der Volkssouveränität verfahren, indem sie politische Innovationen und Rechtsänderungen aus der Perspektive »von unten« zu bewirken suchen, subsumieren sie ihr Selbstverständnis und oft auch ihre Praxis der herrschenden justizstaatlichen Doktrin. Selbst genuin liberale rechtswissenschaftliche Argumentationen, die bereit sind, diese Basisbewegungen zu unterstützen, verstärken diesen Effekt. So läuft die Praxis vieler Protestbewegungen darauf hinaus, durch symbolische Regelverstöße eine gerichtliche Klärung der Rechtslage zu bewirken; und die unterstützende juristische Theorie definiert schließlich »die Bereitschaft, sich einem Gerichtsverfahren zu stellen, [als ein] wesentliches Element 25des zivilen Ungehorsams«. [8] Auf diese Weise sind Widerstand und bürgerlicher Ungehorsam nicht auslösende Momente eines demokratischen Willensbildungsprozesses, der zu einer generellen Gesetzesänderung führte, sondern erschöpfen sich darin, den »Rechtsweg« einzuleiten. [9] Die gerichtsförmige Bearbeitung einer solchen Konfliktlage führt aber, sofern nicht gleichzeitig eine öffentliche Diskussion in Gang gesetzt wird, die ihrerseits demokratische Entscheidungen bewirkt, weder zu einer Rechtsänderung noch zu einer »Klärung« des Rechts. Angesichts des gegenwärtigen Methodenkanons der Rechtsprechung, der äußerst situative Abwägungen zuläßt und es den Gerichten erlaubt, vergleichbare Fälle als je neue zu definieren, [10] betrifft eine gerichtsförmige Entscheidung immer nur den vorliegenden Einzelfall. Gleichzeitig kommt es zu einer Juridifizierung der basisdemokratischen Aktivitäten, zu dem erklärten Versuch, bürgerlichen Ungehorsam wiederum »an Regeln zu binden« [11] – Regeln, die in jeder einzelnen Situation von den Gerichten neu bestimmt werden können.
Nur die extreme Situativität in der gegenwärtigen Verrechtlichung von zivilem Ungehorsam und Widerstand trennt aber diese noch von einer schlichten Wiederbelebung des Widerstandsrechts als eines feudalständischen Rechtsinstituts. Was Volkssouveränität von Widerstandsrecht, das sie einmal historisch ablöste, unterscheidet, ist gerade die Tatsache, daß sie sich nicht aus bestehendem Recht oder einer geltenden Verfassung ableitet, sondern der gesamten Rechtsordnung vorausliegt und diese erst begründet. Souveränität bedeutete auch in der Konnotation der »Volkssouveränität« eine legibus-solutus-Position, die die Aufklärungsphilosophie in der Forderung permanenter Verfassungsrevision durch das »Volk« artikulierte und in der Formel erläuterte, daß in dieser Hinsicht nur die Regierung, nicht aber das Volk an die Verfassung gebunden 26sei. [12] Das mittelalterliche Widerstandsrecht dagegen war tatsächlich ein Rechtsinstitut, bezeichnete also eine institutionalisierte, kodifizierte und justitiable Funktion und bezog sich auf eine prinzipiell unverfügbare Rechtsordnung. Hier war jede gesellschaftlich-politische Aktion nur aus der vorgegebenen Rechtsordnung ableitbar, die sowohl zu ihrer Interpretation wie zu ihrer Exekution Gerechtigkeitsexpertokratien begründete. [13] Unter Berufung auf dieses Widerstandsrecht wurde bekanntlich altes Privilegienrecht gegen aufkommende absolutistische Innovationen verteidigt. Gerade die Tatsache, daß seit dem Hochmittelalter Gesetzgebungsansprüche der Herrscher sich ankündigten, [14] machte Widerstand im Namen eines Rechts plausibel, das Priorität vor jeder Handlung und Entscheidung beanspruchte. Auch der ständestaatliche Kompromiß, in dem später die absolutistischen Tendenzen zur souveränen Rechtssetzung mit Institutionen zur Wahrung des alten Rechts und der privilegierten Freiheiten zusammengeschaltet wurden, ließ nur die Idee der Priorität des Rechts vor der Souveränität der Rechtssetzung zu. Weil nämlich in diesem widersprüchlichen Kompromiß Ort und Subjekt der Souveränität nicht zu bestimmen waren, erhielt sich die tradierte mittelalterliche Vorstellung einer Souveränität der Gesamtheit der politischen Institutionen und einer Souveränität der Rechtsordnung als solcher aufrecht. [15] So argumentierte noch Coke in den englischen Konflikten des 17. Jahrhunderts anläßlich seiner generalisierenden Interpretation der feudalen Freiheitsverbriefung der Magna Carta, daß diese keinen Souverän dulde, weil die Magna Carta selbst »absolut« sei. [16]
Es ist vor allem diese Vorstellung einer Souveränität des Rechts bzw. der Verfassung und nicht etwa des »Volkes«, die die gegenwärtige Renaissance des Widerstandsrechts tatsächlich zu einer 27Wiederkehr des Vergangenen macht. Die Praxis und noch mehr die Selbstinterpretation der basisdemokratischen Bewegungen stützen selber den herrschenden Trend, gegen den sie sich wenden, indem sie sich in die bestehende Dichotomie zwischen systemisch verselbständigten Entscheidungsprozessen und bloß negatorischer gesellschaftlicher Reaktion einfügen und sich zur Artikulation ihrer Verweigerungen solcher Aktionsformen bedienen, die im Ergebnis die herrschende justizstaatliche Entwicklung bestätigen. Auf diese Weise wird die Idee, daß nur demokratisch gesetztes Recht legitim sei, verabschiedet und die Initiative der Rechtsentwicklung an die Gerichte zurückgegeben. Diese erneute Annäherung an mittelalterliche Rechtsverhältnisse bricht zugleich mit allen Prinzipien demokratischer Legitimation des politischen Handelns. Dieses versteht sich nicht mehr als Vollzug der Ergebnisse basisdemokratischer und institutionell-demokratischer Meinungs- und Willensbildungsprozesse, die sich im Rahmen der verfassungsmäßigen Verfahrensbestimmungen oder in den von Freiheitsrechten ausgegrenzten autonomen Handlungsbereichen entwickeln, sondern als unmittelbare Exekution von Verfassungsinhalten, die gegenüber demokratischem Prozedere »vorkonsentiert« sind. [17] Demokratische Willensbildung wird folgerichtig durch die Interpretation »souveräner«, vorgegebener Verfassungsinhalte ersetzt, [18] in der das Verfassungsgericht und die Instanzgerichte qua expertokratischer Kompetenz gegenüber alternativen gesellschaftlichen Interpretationsbemühungen stets das letzte Wort behalten. In dieser Rückkehr zur Herrschaft der Exegese wird die Existenz weiter Spielräume der Verfassungsinterpretation damit gerechtfertigt, daß die Verfassung der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung jeweils angepaßt werden müsse. Hatte die Demokratietheorie des 18. Jahrhunderts noch darauf bestanden, daß dies Aufgabe der permanenten verfassunggebenden Gewalt des 28Volkes sei, so ist dieser wesentliche Aspekt von Volkssouveränität heute durch die Verfassungsgerichtbarkeit usurpiert.
Eine Deutung dieser Entwicklungstrends, die eine Refeudalisierung der politischen Integrationsmuster diagnostiziert, wird allerdings nicht umhinkönnen, sich mit dem Anpassungsdruck zu beschäftigen, der von faktischen gesellschaftlichen Veränderungen ausgehend auf die moderne Konzeption demokratischer Institutionalisierung einwirkt und deren Basisprinzip der Volkssouveränität zum Verschwinden bringt. Es geht deshalb im folgenden darum, die Qualität dieser gesellschaftlichen Veränderungen und den Charakter des gegenwärtigen Umbaus der politischen Entscheidungsprozesse näher einzuschätzen (I). Soweit dabei die These vertreten wird, daß gegenwärtig »eindimensionale« institutionelle und theoretische Anpassungsleistungen überwiegen, ist im weiteren der Versuch unternommen, eine andere Art der Anpassung zu erörtern, die veränderte gesellschaftliche Kontexte berücksichtigt, ohne die wesentlichen Emanzipationspotentiale klassischer Demokratietheorie zugunsten vordemokratischer Integrationsmuster aufzugeben. Dieser Versuch konzentriert sich auf eine Rekonstruktion von Volkssouveränität unter gewandelten Bedingungen (II).
Eine überaus kompetente Analyse des gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbruchs von Ulrich Beck betrifft die Strukturen der »Risikogesellschaft«. [19] Da zugleich einige ihrer politisch-institutionellen Folgerungen für die heute herrschenden Anpassungstendenzen repräsentativ zu sein scheinen, sei mehrfach auf sie eingegangen. In ihren analytischen Partien schließt die Studie an Habermas’ Einwände [20] gegen die These vom Anbruch der Postmoderne an [21] und interpretiert den Strukturwandel der gegenwärtigen Gesellschaft als einen Prozeß, in dem die Moderne die Halbheiten der 29industriegesellschaftlichen Modernisierung hinter sich läßt, indem sie eine weitere reflexive Modernisierung auf die bisherigen Prämissen der industriegesellschaftlichen Modernisierung anwendet. Im Gegensatz zu vielen irrationalistischen Fluchtwegen aus der Komplexität der gegenwärtigen Situation unterstellt und favorisiert sie einen historischen Entwicklungsschub, der nicht die Beendigung der Aufklärung, sondern deren Einlösung gegen die bisherige Industriegesellschaft erfordert. [22] Aus dieser Perspektive wird jener Wertkonservatismus mancher Umweltschutzbewegungen, der sich umstandslos aus dem Bedürfnis zur Konservierung der Natur ableitet und ohne Unterscheidungsvermögen die normativ-demokratischen Konzepte der Aufklärung zusammen mit der Aggressivität der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung verwirft, seines schlichten Irrtums überführt. Andererseits bleibt zu fragen, ob Becks Analyse der gegenwärtigen Situation nicht einen zu deutlichen Trend unterstellt und ob ihre Hoffnung, daß »die andere Gesellschaft vielleicht ohne Plan, Abstimmung und Bewußtsein aus den Werkstätten der technisch-ökonomischen Entwicklung entsteht«, [23] begründet ist.
Die Frage, ob die Annahme eindeutiger Gerichtetheit der gegenwärtigen Entwicklung im Sinne fortlaufender Modernisierung berechtigt ist oder durch die Beobachtung relevanter Refeudalisierungen zumindest korrigiert werden muß, entsteht bereits bei der Einschätzung von Einzelelementen der Gesellschaft, wie der veränderten Bedeutung von Klassenstrukturen. Becks These lautet, daß im Zuge reflexiver Modernisierung die industriegesellschaftliche Symbiose von Stand und Klasse aufgelöst werde, indem einerseits ständische Subkulturen weggeschmolzen und andererseits grundlegende Merkmale des Klassencharakters generalisiert werden. [24] Nun ist unbestreitbar, daß die Gruppe der Lohnabhängigen immer größer wird und daß an die Tatsache der Lohnabhängigkeit als solcher ständische Solidarität und lebensweltliche Evidenzen sich nicht mehr anlagern können. Andererseits verkennt der Hinweis auf die nivellierende Wirkung des »Risikos« etwa durch eine so weit gestreute Arbeitslosigkeit, daß diese prinzipiell als Phase innerhalb 30jeder Einzelbiographie auftreten kann, die neuen Parzellierungen in dieser Generalisierung. Sie ergeben sich nicht nur aus der Gleichzeitigkeit von breiter Streuung und sozialer Strukturierung der Arbeitslosigkeit, [25] sondern auch aus deren höchst ungleichen Auswirkungen. Zwischen den Betroffenen existiert eine scharfe Schranke je nachdem, ob finanzielle Reserven und Ressourcen mobilisiert werden können oder lebenszerstörende Konsequenzen trotz biologischen Überlebens zu befürchten sind. Zwar läßt die oft beschriebene Individualisierung durch Arbeitslosigkeit keine Bindung unter den so oder so Betroffenen aufkommen, aber die wirklich Betroffenen erleben das neue ständische Prinzip in negativer Form: den Ausschluß von allen Nichtbetroffenen als Abbruch ihrer eigenen Kommunikationsfähigkeit. – Die neue Parzellierung durch generell drohende Arbeitslosigkeit zeigt sich aber auch in den unterschiedlichen Chancen, ihr zu entgehen. Beck selbst spricht angesichts der Tatsache, daß gegenwärtig das Überangebot von formal Gleichqualifizierten zum Rückgriff auf Auswahlkriterien führt, in denen die Zuweisung nach Alter, Geschlecht, »Auftreten«, »Beziehungen«, kurz: »Herkunft« dominiert, von einer Renaissance »ständischer« Kriterien und einer »Refeudalisierung« in der Verteilung gesellschaftlicher Chancen. [26]