Dirk von Gehlen

Mashup

Lob der Kopie

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

edition suhrkamp 2621

Erste Auflage 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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eISBN 978-3-518-76790-0

www.suhrkamp.de

5»Was da ist, das ist mein! hätte er sagen sollen, und ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche genommen, das ist gleich viel, es kam bloß darauf an, daß ich es recht gebrauchte! Walter Scott brauchte eine Szene meines Egmonts und er hatte ein Recht dazu, und weil es mit Verstand geschah, so ist er zu loben.«

Johann Wolfgang von Goethe

 

»Nothing is original.«

Jim Jarmusch

 

»Wir wollen eine Mücke töten und versprühen DDT – mit Konsequenzen für die freie Kultur, die sehr viel verheerender sind als der Verlust dieser Mücke.«

Lawrence Lessig

9I Vom Zauber der kreativen Kopie

»Imitationen von dir
Verbünden sich mit mir.«

Tocotronic, »Imitationen«

Der Ruhm des Lionel Andrés Messi beruht auf seinem außergewöhnlichen Können im Umgang mit dem Fußball. In den Jahren 2009 und 2010 wurde der Argentinier in Diensten des FC Barcelona zum Weltfußballer des Jahres gewählt. Doch zu den ganz Großen zählt der 1,69 Meter kleine Messi, den seine Fans »La Pulga« (der Floh) rufen, seit er im Frühling 2007 einen Beitrag zu einem der wichtigsten Themen des 21. Jahrhunderts geleistet hat, der Diskussion um das sogenannte geistige Eigentum. Messi tat damals einmal mehr, wofür seine Fans ihn lieben: Er erzielte ein Tor, ein außergewöhnliches, eines, dessen Eigentumsrechte, wären diese vom Weltfußballverband bereits geregelt, vermutlich ein anderer geltend machen würde. Messi hat – zumindest indirekt – die Frage aufgeworfen, wie geistige Leistungen bzw. immaterielle Güter (wie ein Tor) gemessen und bewertet werden können. Und diese Fragen – so prophezeit Mark Getty, Sohn des Öl-Milliardärs Paul Getty und Gründer der Bildagentur Getty Images – werden im digitalen 21. Jahrhundert so bedeutend sein wie es die Verteilung des Rohstoffs Öl im 20. Jahrhundert war.

Den Feuilletonisten und hauptberuflichen Nachdenkern war all dies zunächst entgangen. Doch die fast 100 000 Zuschauer, die am 18. April 2007 in das Stadion Camp Nou in Barcelona gekommen waren, um ihre Mannschaft im spanischen Pokalhalbfinale gegen den FC Getafe zu sehen, bemerkten es sofort: In der 29. Spielminute erlebten sie eine Vorführung, die später als historisch bezeichnet werden sollte. Der damals 19-jährige 10Messi erzielte den Treffer zum 2:0 für Barcelona (Endstand: 5:2). Das ist das reine Ergebnis, in Wahrheit ist dieses Tor aber viel mehr, es ist eine Demonstration der Schönheit der Kopie: Der Spieler mit der Rückennummer 10 führt den Ball fast sechzig Meter über den Platz, umkurvt dabei elegant und in hohem Tempo zwei angreifende Gegenspieler und dringt schließlich von der rechten Angriffsseite in den Strafraum des FC Getafe ein. Dort umspielt er zwei weitere Verteidiger sowie Torhüter Luis García und schiebt den Ball aus spitzem Winkel mit seinem rechten Fuß ins leere Tor.

Dieser Spielzug hatte sich bereits zuvor ins kollektive Gedächtnis der Fußballfans in aller Welt eingegraben. Im Sommer 1986 erzielte in Mexiko ein anderer Argentinier mit der Rückennummer 10 auf nahezu identische Art und Weise einen Treffer im WM-Viertelfinale gegen England. Es war ebenfalls ein 2 : 0 und wurde anschließend zum »Tor des Jahrhunderts« gewählt. Aus der Perspektive der Haupttribüne spielte Argentinien von rechts nach links, so wie Barcelona gegen Getafe. England verlor den Ball im Mittelfeld, so wie Getafe den Ball in der Hälfte des FC Barcelona an Messi verlor. In beiden Fällen wurde der Spielzug über die rechte Angriffsseite vorgetragen, es wurden insgesamt vier Verteidiger ausgespielt und der Treffer aus spitzem Winkel ins leere Tor erzielt. Der Spielzug aus dem Sommer 1986 gleicht jenem aus dem Frühjahr 2007 bis ins Detail. Argentinien besiegte England im Viertelfinale und wurde später gegen Deutschland Weltmeister – angeführt vom Spielmacher und Torschützen mit der Rückennummer 10: Diego Armando Maradona.

Nach seinem Abschied aus dem aktiven Fußball Mitte der neunziger Jahre begann für den heute 50-Jährigen, der bei der WM 2010 mit geringem Erfolg die argentinische Nationalmannschaft trainierte und danach seinen Posten verlor, ein wechselvoller Lebensabschnitt. Im Fernsehen wurde der übergewichtige Fußballrentner häufiger in Entzugskliniken als auf dem Fußballplatz gezeigt – bis zu jenem 18. April 2007. An diesem 11Tag, Maradona befand sich gerade in Buenos Aires in stationärer Behandlung, rief ein junger Spieler des FC Barcelona der Welt in Erinnerung, was für ein großartiger Fußballer Diego Armando Maradona gewesen war. Und dem jungen Spieler gelang dies mithilfe einer vermeintlich minderwertigen Tätigkeit. Lionel Messi kopierte. Damit nicht genug: Messi imitierte den bekanntesten argentinischen Fußballer des 20. Jahrhunderts in einem seiner berühmtesten Werke: Maradona hatte ein scheinbar einzigartiges Jahrhunderttor erzielt. Könnte man diesen Superlativ steigern, Messi hätte die grammatikalische Unmöglichkeit verdient: Er konnte das Einzigartige wiederholen.

Anschließend gibt er sich bescheiden und widmet das Tor dem bettlägerigen Maradona. »Ich will nur, dass er wieder auf die Beine kommt. Ganz Argentinien braucht ihn«, lässt Messi wissen. Und wie reagiert der Kopierte? Er erklärt Messi zu seinem legitimen Nachfolger. »Ich habe einen Erben«, wird der Weltmeister von 1986 zitiert.

Man kann den Zauber dieses Moments aus dem Camp Nou in zahlreichen Filmen im Internet per Knopfdruck nacherleben, er ist dort langfristig (in Kopie) archiviert.1 Es dauert nur wenige Augenblicke, bis die spanischen Reporter den Namen »Maradona« rufen. Messi hat bei seinem Jubellauf nicht mal die Eckfahne erreicht, da haben die Berichterstatter bereits den historischen Kontext hergestellt, in dem dieser Treffer zu bewerten ist. Doch Messi wird nicht als Plagiator gescholten, die spanischen Reporter (und nicht nur die) feiern »La Pulga« als großen Helden des Weltfußballs. Das liegt zunächst natürlich daran, dass Messi eine sportliche Leistung vollbracht hat, die herausragt. Doch durch die Referenz, die in seinem Sturmlauf liegt, bekommt das Tor eine zweite Ebene: Die Szene geht um die Welt, Fußballfans schneiden den Ablauf von Maradonas Jahrhunderttor zusammen mit Messis Sturmlauf, 12spanische Zeitungen adeln den Offensivspieler mit den Wortneuschöpfungen »Messi-as« (Sport), »Messidona« (Marca) und »Diego Armando Messi« (El Periódico).

Diese Neologismen sind Beispiele für sogenannte Mashups. Dieser Begriff, der auf das englische to mash (deutsch: vermischen) zurückgeht, beschreibt, wie durch die (Re-)Kombination von Bestehendem Neues geschaffen wird, etwa aus den Namen Messi und Maradona der Titel »Messidona«.2 Man kennt Mashups in der Musik, in der Malerei, in der Literatur und vor allem auch im Internet. Und dank Lionel Messi und Diego Maradona kennt man sie jetzt auch im Fußball. All diese Phänomene stehen für eine grundlegende Kulturtechnik, die durch die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung einerseits an Verbreitung und andererseits an Bedeutung gewonnen hat. Sie stehen für die Kopie! Deshalb beginne ich dieses Buch mit einem Besuch im Fußballstadion – wohl wissend, dass es bei Messis Pokaltreffer gegen Getafe zunächst um eine rein körperliche Leistung geht, die ihren sportlichen Wert aus dem Tempo, der Ballführung und dem erfolgreichen Abschluss gewinnt. Doch die Tatsache, dass dieses eine Tor aus dem Frühjahr 2007 aus der großen Anzahl herausragender Messi-Treffer heraussticht, liegt an der Referenz an Maradona, an der für ein Fußballstadion ungewöhnlichen Kopie. Kopien begegnen uns allerdings häufig an Orten, an denen wir sie zunächst nicht erwarten, sie sind notwendiger und präsenter, als ihr schlechtes Image vermuten lässt, sie sind eine Grundlage 13der Kreativität, und ja, sie sind überlebensnotwendig für unsere Kultur.

Dabei entspricht das Bild, das Nachahmer in der öffentlichen Wahrnehmung genießen, keineswegs dem Stellenwert dieser Kulturleistung. Die Adjektive, die der Kopie gewöhnlich beigefügt werden, stammen aus dem abwertenden und geringschätzenden Spektrum: Kopien gelten als »billig« oder »plump« und verblassen vor dem hohen Wert, der einem Original beigemessen wird. Auf den Punkt brachte der Börsenverein des deutschen Buchhandels dieses negative Image im Frühjahr 2007 in seiner Kampagne »Kopieren ist keine Kunst«, mit der er vor Piraterie warnen wollte. Vor dem Hintergrund der massenhaften Vervielfältigung durch die »Kopiermaschine Internet«,3 als die der Wired-Mitgründer Kevin Kelly das World Wide Web einmal bezeichnet hat, wird das Kopieren zudem mittels sogenannten Digital Rights Managements technisch blockiert und in Kampagnen wie »Raubkopierer sind Verbrecher« kriminalisiert. Weil darüber der schöpferische Wert des Kopierens aus dem Blick gerät, habe ich dieses Buch begonnen. Es versammelt Beobachtungen und Notizen, die ich in den vergangenen Jahren gemacht habe, und stellt diese – auch mittels einiger Interviews – in einen neuen Kontext. Damit möchte ich keineswegs Urheberrechtsverletzungen rechtfertigen, mir geht es vielmehr darum, einen Schritt aus der oftmals hektischen und ideologisch aufgeladenen Aktualität zurückzutreten, um einzuordnen, welchen Wandel die Digitalisierung angestoßen hat und welchen Stellenwert das Kopieren als kulturelle Errungenschaft darin einnimmt.

Als Redaktionsleiter von jetzt.de, dem jungen Magazin der Süddeutschen Zeitung, war ich früh mit neuen Formen der digitalen Kopie und ihren Folgen konfrontiert. »Darf man Musik aus dem Netz laden und für seine Freunde kopieren?«, ist 14zu einer zentralen Frage in der Lebenswelt nicht nur junger Menschen geworden. Die digitale Kopie fordert auch bestehende Vertriebswege für kulturelle Produkte heraus, sie stellt, wie Gerfried Stocker (der Leiter des Linzer Kulturfestivals Ars Electronica) im Gespräch in diesem Buch erklärt, die bisherigen Geschäftsmodelle auf den Kopf. Denn die kulturelle Praxis des digitalen Kopierens ist für viele (nicht nur junge) Menschen längst Alltag geworden. So selbstverständlich wie die Generation zuvor Songs aus dem Radio aufnahm und auf Mixtapes kopierte, wird heute aus dem Internet geladen, gebrannt und neu zusammengestellt.4 Doch anders als die sogenannten Kassettenjungs und Kassettenmädchen der neunziger Jahre können die jungen Kopierer des neuen Jahrtausends nicht mit einer musealen Verklärung ihrer Mischkultur rechnen. Dabei tun sie kaum etwas anderes als die Generationen zuvor – allerdings mit einer besseren technischen Ausstattung.5 Die Frage, wie man diese Alltagspraxis bewerten soll, spaltet die Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die das Herunterladen und Kopieren von Musik aus dem Netz verdammen; auf der anderen Seite – nicht selten im Kinderzimmer der gleichen Wohnungen und Häuser – befinden sich diejenigen, die es ganz selbstverständlich tagtäglich tun. Welche Folgen dieser digitale Graben, den das Internet gerissen hat, für die Bewertung der Kopie aber auch für die Gesellschaft insgesamt haben kann, untersuchte der Schweizer Jurist Urs Gasser unter anderem in seinem Buch Generation Internet.6 Im 15Gespräch im vorliegenden Band erklärt er, wie man ihn wieder schließen kann. Denn die digitalisierte Musik steht nur am Anfang einer Entwicklung, die von der digitalen Kopie als zentraler Innovation angestoßen wurde.7 Die digitale Kopie als Vervielfältigungsform verwischt die Grenze zwischen Vorlage und Nachahmung, Original und Kopie sind nicht mehr zu unterscheiden. Dateien, Songs und auch Filme können ohne Qualitätsverlust dupliziert und verbreitet werden – wenn sie einmal, das ist die zweite entscheidende Innovation, von ihrem analogen Datenträger (Vinyl, Papier, Film) gelöst und digitalisiert worden sind. Die digitale Kopie und die Befreiung der Information vom Datenträger bilden die beiden grundlegenden Herausforderungen des Zeitalters, das als Ära der Digitalisierung beschrieben wird – auch für das Urheberrecht. Mir geht es nicht darum, dem Bruch des Urheberrechts das Wort zu reden. Ich bin allerdings mittlerweile davon überzeugt, dass man diese Herausforderungen nur wird meistern können, wenn man sie annimmt und positiv zu gestalten versucht, anstatt sie zu bekämpfen. Deshalb möchte ich die Perspektive auf die digitale Kopie und ihre Folgen ausweiten: Über die bestehende Strategie der technischen und juristischen Erschwerung und Verhinderung des Kopierens hinaus will ich einerseits die Chancen des technologischen Fortschritts aufzeigen und vor allem die Gefahren benennen, die die bisherige Kriminalisierungsstrategie mit sich bringt. Wer die Kopie einseitig verdammt, greift damit die Grundlagen unserer Kultur an. Darüber hinaus, so die Kritik des Kunsthistorikers Wolfgang Ullrich in seiner lesenswerten Hommage an die Reproduktionskultur, führe die »schädliche Fixierung des Kunstinteresses 16auf Originale«8 zu einer künstlerischen Verengung des Blicks: »Es wäre schon viel erreicht«, schreibt Ullrich in Raffinierte Kunst, »wenn man im Original künftig nicht mehr nur das Unmittelbare und Ursprüngliche suchte, sondern darin zugleich das Anfängliche, noch Unfertige und Unvollkommene sähe.«9

Ich habe mich auf eine Spurensuche begeben, die aufzeigt, wo und wie menschliches Leben und unsere Vorstellung von Kultur von der Kopie abhängen. Diese ist bedroht, wenn – zum Beispiel mittels politisch aufgeladener Begriffe – der Vorgang der Nachahmung, Imitation und Kopie und die damit verbundene Referenzkultur verdammt werden. Die Erfindung des Begriffs der »Raubkopie« steht dabei beispielhaft für die bisherige repressive Praxis, mit der ich mich im Folgenden ebenfalls auseinandersetzen werde. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine juristische Kategorie, das Wort »Raubkopie« findet man in keinem Gesetz, und dennoch ist der »Raubkopierer« allgegenwärtig. Eine massive Marketing- und Lobbymacht hat dafür gesorgt, dass das Wort sich im Alltag verbreitet hat, um gegen die digitale Kopie und ihre Folgen vorzugehen. Die Kampagnen tragen Titel wie »Nur Original ist legal« oder »Kopien brauchen Originale«, und ihre Macher argumentieren einseitig gegen die Kopie. Die Gründe für dieses Vorgehen wirken nachvollziehbar, die Folgen, die man dabei billigend in Kauf nimmt, erscheinen mir hingegen als bisher vernachlässigte Bedrohung: Unter dem Vorwand, einen Teilbereich des Kopierens bekämpfen zu wollen (die Tauschbörsennutzung, die nun einmal herkömmliche Vertriebs- und Geschäftsmodelle gefährdet), wird die Zukunft der freien Kultur infrage gestellt. Der Jurist James Boyle hat dieses Problem in seinem Buch The Public Domain aufgegriffen. Dort spricht er von der Notwendigkeit, nach dem Vorbild der Ökologiebewegung der 17siebziger und achtziger Jahre eine Art digitalen Umweltschutz (»environmentalism for information«)10 zu entwerfen, der sich für den Erhalt der Umwelt und damit auch für die kreativen Potenziale der Kopie einsetzen soll.

In diesem Sinne verstehe ich das Lob der Kopie auch als Streitschrift für einen digitalen Umweltschutz. Denn ähnlich wie im Umgang mit den endlichen Ressourcen der Natur geht es auch bei der Debatte um die Kopie am Ende um die Frage, welche gesellschaftliche Zukunft uns vorschwebt und was wir dafür tun wollen. Diese Herausforderung bei allen berechtigten wirtschaftlichen Interessen nicht aus dem Blick zu verlieren, ist ein Anliegen dieses Buches. Im Mittelpunkt steht dabei eine Spurensuche, mit deren Hilfe ich nachzuvollziehen versuche, welche Schäden die freie Kultur bereits nimmt (und noch nehmen wird), wenn die Kopie mit unverhältnismäßigen Mitteln bekämpft wird. Ergänzt werden diese Überlegungen durch sieben Expertengespräche, die zwischen die einzelnen Kapitel geschaltet sind und die neue Perspektiven auf das Thema werfen sollen. Im umfangreichen Glossar am Ende des Bandes erläutere ich wichtige Fachbegriffe.

18II Die Krise des Originals

»Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen! So wie wir geboren werden, fängt die Welt an, auf uns zu wirken, und das geht so fort bis ans Ende. Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.«

Johann Wolfgang von Goethe

Kann man das machen: eine übel beleumundete Tätigkeit wie das Kopieren loben, als existenziell für unsere Kultur darstellen und gleichzeitig ein ganzes Kapitel lang eine Definition des Begriffs schuldig bleiben? Da Sie noch weiterlesen, nehme ich an: man kann. Mir geht es hier keineswegs um die ebenfalls als Kopie beschriebene Tätigkeit der bewussten Täuschung, des Betrugs, des durch Karl-Theodor zu Guttenberg medial sehr präsenten Plagiats, der Fälschung oder gar der Lüge,1 mir geht es um einen klar definierten Vorgang. Ich habe dessen Definition jedoch bewusst so lange offengelassen, weil es mir auch darum geht, unsere Wahrnehmung in Bezug auf das zu hinterfragen, was wir als Original (und damit gut) und als Kopie (und damit minderwertig) ansehen.

An der auf das lateinische copia2 (»Vorrat« oder »Überfluss«) zurückgehenden 19Kopie muss man in diesem Zusammenhang zwei Aspekte unterscheiden: Zum einen das reine Vervielfältigen, ein Bereich, der angesichts der Digitalisierung vor grundlegenden Veränderungen steht und in dem Umbrüche notwendig sein werden. Mit den Schwierigkeiten (und auch Kämpfen), die dieser Aspekt des Kopierens mit sich bringt, befasse ich mich unten ab Kapitel IV, beginnen möchte ich jedoch mit dem zweiten Aspekt der Kopie, den ich als kreative Referenzkultur beschreibe. Dabei handelt es sich um eine Technik der Bezugnahme, des Zitats und der Adaption, die schon immer Grundlage unseres Kulturverständnisses war, die jedoch – ebenso wie die Vervielfältigung – durch die Digitalisierung einem Veränderungsprozess unterworfen ist, der ihre Bedeutung noch verstärkt. In beiden Fällen rückt die Kopie in den Mittelpunkt, weil sie einfach von sehr viel mehr Menschen genutzt werden kann. Einerseits im Sinne der Vervielfältigung durch beispielsweise das Duplizieren einer Datei, andererseits aber auch durch die vereinfachten Formen der Bezugnahme. Wo Inhalte digital vorliegen, können sie leichter adaptiert, parodiert und geremixt werden als zu rein analogen Zeiten.3

Dabei ist die von mir als lobenswert beschriebene Kopie durch drei grundlegende Kriterien definiert, die man anhand des »kopierten« Jahrhunderttors Lionel Messis beispielhaft veranschaulichen kann: Zum einen hat Messi bei seinem Treffer sein Bezugssystem nicht verschwiegen oder gar den Ursprung zu verschleiern versucht. Diesen Punkt kann man vor dem Hintergrund der Debatte um Karl-Theodor zu Guttenbergs Promotion, die im Frühjahr 2011 die Republik erschütterte, gar 20nicht überbetonen: Es geht darum, die Quellen offenzulegen. Denn genau darin unterscheidet sich die oben beschriebene Kopie des Lionel Messi von dem vom ertappten Verteidigungsminister später als »Blödsinn« bezeichneten Vorgang. Zu Guttenberg war nachgewiesen worden, weite Teile seiner Promotion abgeschrieben zu haben – ohne Angabe seiner Quellen. Bei Messi lag der Fall anders: Seine Anknüpfung an Maradonas Jahrhunderttreffer war so offensichtlich, dass Messi nach dem Spiel seine Quellen nicht offenlegen und Maradona nicht als Inspiration nennen musste – das war allen Zuschauern längst klar. Messi hat den bekanntesten argentinischen Fußballer des 20. Jahrhunderts kopiert und keinen unbekannten Spieler. Sein Treffer ist insofern wie die Parodie auf einen Politiker zu lesen – man versteht sie nur, weil man die Vorlage kennt. Wäre die Vorlage unbekannt, würde die Parodie nicht gelingen, die Referenz scheitert und wird dann zu Recht als Plagiat gelesen. In einem Artikel über Mashups in der Musik habe ich diesen bedeutsamen Unterschied auch in Bezug auf die Popularität der Vorlage im Frühjahr 2010 wie folgt zusammengefasst:

»Mit dem Mashup verhält es sich also ein wenig wie mit der Ironie. In beiden Fällen müssen vor der Veröffentlichung beziehungsweise der Äußerung die Grundlagen geklärt sein. Es ist unglaubwürdig, erst lauthals eine Behauptung aufzustellen und bei Widerspruch zu behaupten, alles ja nur ironisch gemeint zu haben. Genauso liegt der Fall bei der kreativen Adaption. Wer nicht vor der Kopie seinen Referenzrahmen benennt, wird es im Anschluss schwer haben, als glaubwürdig zu gelten.«4

Diese Glaubwürdigkeit will ich zum ersten Kriterium für jene Form der Kopie machen, von der das Lob der Kopie handelt. Zweitens hat Messi sein Zitat – als solches will ich den Treffer hier verstehen – in eine neue Form gegossen: Sein Treffer fiel in eine andere Zeit, in einem anderen Stadion, gegen eine andere 21Mannschaft und somit in einer völlig anderen Situation als Maradonas Tor im WM-Viertelfinale 1986. Messi hat – Kriterium zwei für eine kreative Kopie – also einen neuen zeitlichen, sozialen und räumlichen Kontext gewählt. Wie diese Übertragung in einen neuen Zusammenhang die Kopie zu einem künstlerischen Akt macht, zeigt das Beispiel der vom amerikanischen Nahrungsmittelkonzern Campbell hergestellten Suppendosen, die Andy Warhol in die Welt der Museen hineinkopierte. Warhol reproduzierte 32 Abbildungen von Campbell-Suppen, die man in jedem amerikanischen Supermarkt kaufen kann, und ließ diese im Jahr 1962 in der Ferrus Galerie in Los Angeles ausstellen.5 Er schuf also mit seiner Kopie einen neuen Kontext und erfüllte damit das zweite Kriterium für eine lobenswerte Kopie (was für Guttenbergs Promotion übrigens ebenfalls nicht gilt).

Das entscheidende Kriterium ergibt sich aber aus dem, was Juristen das »eigenschöpferische Element« nennen: Denn obwohl jemand vermeintlich nur etwas nachmacht, kann er dabei durchaus etwas Neues schaffen. Das kopierte Jahrhunderttor dient dafür als anschauliches Beispiel. Denn dass Messi eine eigene Leistung erbracht hat, dass sein Treffer also eine eigene Schöpfungshöhe erreichte, merkt man spätestens dann, wenn man sich den eigenen Versuch vorstellt, ebenfalls zu kopieren und einen solchen Treffer beispielsweise in einem gewöhnlichen Kreisliga-Spiel zu erzielen.

Spätestens an diesem sportlichen Aspekt des Messi-Tores stößt der Vergleich mit der Kopie im Fußballstadion natürlich an Grenzen. Wollte Messi überhaupt kopieren? Müssen die Gegenspieler nicht zumindest als Miturheber des Treffers angesehen werden, schließlich wäre ohne sie die Kopie nicht möglich gewesen? Stellt dies nicht auch das Konzept des singulären Künstlers (hier: Messi) als kreativer Schöpfer infrage? Und 22überhaupt: Ist das Ganze nicht eine eher situative Form der Kopie, also reiner Zufall? Mir ist bewusst, dass man diese Fragen nicht zweifelsfrei beantworten kann, ich habe dennoch dieses Beispiel aus dem Fußballstadion als Einstieg gewählt, weil es frei ist von jeder moralischen Bewertung, die der Kopie, der Nachahmung und dem Plagiat häufig anhaften. So ist es möglich, anhand der genannten Kriterien eine Form der Adaption, der Nachahmung und des Zitats zu benennen, die moralisch nicht zu verurteilen ist, sondern gar Anlass zu einem Lob der Kopie gibt.6 Der deutsche Musiktheoretiker und Universalgelehrte Johann Mattheson (er gilt als »der erste Theoretiker des modernen urheberrechtlichen Gedankengutes«7) hat diese Definition bereits im 18. Jahrhundert folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Entlehnen ist eine erlaubte Sache. Man muss das Entlehnte mit Zinsen erstatten, d. i., man muss die Nachahmungen so einrichten und ausarbeiten, dass sie ein schöneres und besseres Ansehen gewinnen als die Sätze, aus welchen sie entlehnet sind.«8

Dort, wo das Kopieren als Kunstform besprochen wird, bezieht sich dies auf genau diesen Kontext, auf Formen des »höheren Abschreibens«,9 wie Thomas Mann es genannt hat: Wenn erstens die Quellen und Bezüge offengelegt und nicht 23verschleiert werden, wenn zweitens das Zitat in einen neuen Kontext gestellt oder in seiner Form verändert wird und wenn drittens – das ist das wichtigste Kriterium – durch die Kopie ein neues Werk geschaffen wird. Dies klingt zunächst paradox, geschieht jedoch so regelmäßig, dass es gerade deshalb angemessen erscheint, die kopierte Originalität zu loben.

Wie bedeutsam begriffliche Genauigkeit im Grenzgebiet zwischen Kopie und Täuschung ist, zeigen die Beispiele der sehr populären Plagiatsauseinandersetzungen um zu Guttenberg und Hegemann sehr deutlich. Im Frühjahr 2011 stellte Ulf Poschart in der Welt am Sonntag Guttenbergs Abschreiben in den Kontext der Remix-Kultur. Er schrieb: »Sampling ist eine ebenso moderne wie konservative Kulturtechnik. Sie passt zu Karl-Theodor zu Guttenberg.«10 Schon im Jahr zuvor versuchte die des Plagiats überführte Jungautorin Helene Hegemann (Axolotl Roadkill) ihr Abschreiben mit einem »Recht zum Kopieren und zur Transformation« zu rechtfertigen.11 Einige Journalisten fielen darauf herein und hielten ihren Text für ein Beispiel der Remix-Kultur oder gar für ein Mashup. Dabei hatte sie das wesentliche Merkmal einer kreativen Kopierleistung gar nicht erfüllt: die Nennung der Quellen bzw. Bezüge. So wird aus dem Abschreiben ein betrügerisches Plagiat. Die Differenz zwischen kreativer Kopie und Betrug basiert, darauf weisen Artur-Axel Wandtke und Winfried Bullinger in ihrem Praxiskommentar zum Urheberrecht hin, genau auf diesem Punkt: »Ein Plagiat begeht, wer sich die Urheberschaft an einem fremden Werk anmaßt.«12 Das trifft auch auf eine wenig später bekannt gewordene Praxis des Rappers Bushido zu, der im Frühjahr 2010 vom Landgericht Hamburg zu 24Schadenersatzzahlungen in Höhe von 63 000 Euro verurteilt wurde, weil er sich »mit fremden Federn«13 geschmückt hatte, wie es der Vorsitzende Richter nannte. Der Rapper, der zuvor im Zusammenhang mit Fragen des Urheberrechts pikanterweise vor allem deshalb bekannt geworden war, weil er Nutzer von Tauschbörsen öffentlichkeitswirksam abmahnen ließ, hatte in mindestens 13 Liedern unerlaubt Teile aus Songs der französischen Gothic-Band Dark Sanctuary benutzt.

Das Beispiel zeigt: Die beiden Ebenen der Kopie als Vervielfältigungstechnik und als Referenzkultur hängen oftmals enger zusammen, als man denkt. Darüber hinaus wirft es die Frage auf: Ist eine eigenschöpferische Leistung ohne die Vorarbeit von oder die Anlehnung an andere in der digitalen Welt überhaupt noch möglich? Allerdings legt das dem Kapitel vorangestellte Goethe-Zitat den Gedanken nahe, dass es auch früher nicht möglich war: »Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.«14 Die Anleihen und Bezugnahmen auf Vorgänger und Mitlebende sind, wie es der Kunsthistoriker Heinz Ladendorf formuliert, die Humusschicht, aus der neue kulturelle Schöpfungen erwachsen können.15 Man kann das sehr schön anhand eines Popsongs illustrieren, der auf Flauberts Bouvard und Pécuchet aus dem Jahr 1881 anspielt. Am Anfang des Romans wird beschrieben, wie sich die beiden titelgebenden Protagonisten kennenlernen – bei heißen 33 Grad auf dem menschenleeren Boulevard Bourdon:

25»Jenseits des Kanals, zwischen den von Speichern unterbrochenen Häuserzeilen, stand der weite, klare Himmel in Flächen von tiefem Blau, und im Rückprall der Sonnenstrahlen blendeten die weißen Fassaden, die Schieferdächer und die Kais aus Granit. Ein verworrenes Geräusch tönte von fern in die schwüle Luft; und alles schien erstarrt in sonntäglicher Untätigkeit und der Traurigkeit der Sommertage.«16

Diese Schilderung diente der Hamburger Band Tocotronic als Inspiration für den Text zu ihrem Lied »Jenseits des Kanals«. Dieser Song, der im Jahr 1999 (also 118 Jahre nach Flauberts Roman) entstand, entlehnt nicht nur seinen Titel bei dem französischen Schriftsteller:

»Die Wege, die wir gehen / Sind menschenleer / Das ist nicht zu übersehen / Man kann es drehen und wenden / Wie man will / Dachte ich und legte etwas auf den Grill / Die Zeit stand still / Jenseits des Kanals / War der weite blaue Himmel / Ein verworrenes Geräusch / Wie eine Fahrradklingel / Tönte aus der Ferne in die schwüle Luft hinein / Ich stand allein in meinem Garten / Alles schien erstarrt in einem Warten / Auf die letzten Sommertage dieses Jahres / Und mir war es / Alles andere als fremd.«17

Die Anleihe ist offensichtlich. Es wurde kopiert, wie auch Lionel Messi kopierte – auf eine kreative Weise, denn die oben genannten Kriterien lassen sich auch an dieses Beispiel anlegen: Die Inspirations- und Kopierquelle wird nicht verschleiert. Tocotronic bezieht sich auf ein sehr bekanntes literarisches Werk, sie adaptieren keinen unbekannten Text, sondern Gustave Flaubert. Aber anders als Lionel Messi spricht Sänger und Texter Dirk von Lowtzow sogar über die Kopie. Als er in einem Interview auf Flaubert angesprochen wird, antwortet er schmunzelnd: »Ja, es ist geklaut, aber es ist doch das Schönste überhaupt. Warum selber ausdenken, wenn man auch 26stehlen kann?«18 Dieses »Stehlen«19 geschieht jedoch in einem kreativen Kontext, denn auch dieses zweite Kriterium ist durch die sprachliche Anpassung und durch die Übertragung in Liedform gegeben. Ebenso unstrittig scheint mir – Kriterium drei –, dass durch das Nachahmen eines Flaubert-Textes etwas eigenständig Neues geschaffen wurde.

Dass dieses Prinzip der kreativen Adaption allgemein eine große Bedeutung für seine Band hat, stellt von Lowtzow im Frühjahr 2010 in einem Gespräch anlässlich der Veröffentlichung der Platte Schall und Wahn heraus: »Es gibt ein Buch von William Faulkner, das heißt im Original The Sound and the Fury und in der deutschen Übersetzung Schall und Wahn. Dieses Buch bezieht seinen Titel wiederum von einem Zitat aus Shakespeares Stück Macbeth. Nun haben wir ihn uns für unsere Platte geschnappt.«20 Dieses Prinzip der kreativen Anleihen hat die Band im Jahr 2005 in Form eines Oscar-Wilde-Zitats festgehalten. In dem Lied »Gegen den Strich« heißt es mit Bezug auf den englischen Schriftsteller: »Ich denk an das, was du empfiehlst: Talent borrows, genius steals.«21 Womit Tocotronic außerdem die britische Band The Smiths zitiert, die den Spruch 1986 auf das Cover der in England veröffentlichten Single »Bigmouth strikes again« drucken ließ. Wie notwendig dieses Prinzip der Andeutungen, Zitate und Kopien für die Kultur ist, betont Tocotronic-Bassist Jan Müller in dem Interview aus dem Jahr 2007 im Hinblick auf die Flaubert-Anspielungen: »So macht es doch Spaß, sich mit Kunst, in welcher Form auch 27immer, auseinanderzusetzen. Man surft da quasi von einer Sache zur anderen, entdeckt dann das, dann kommt man auf Flaubert. Der wiederum bezieht sich auch auf etwas. Die Sachen schöpfen ja nie nur aus sich selber.«

Und – möchte man da ergänzen – sie erschöpfen sich auch nie in sich selbst, sondern werden auch ihrerseits zum Anknüpfungspunkt und zur Vorlage.22 Im Fall der Hamburger Band konnte man dies im Herbst 2001 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachlesen, wo die Geschichte der intertextuellen Bezüge ihre nächste Wendung nahm: Zwei Jahre, nachdem Tocotronic den Song »Jenseits des Kanals« veröffentlicht hatte, bahnten sich die von Flaubert inspirierten Kopien aus dem über hundert Jahre alten Roman Bouvard und Pécuchet ihren Weg auf die Seiten der FAZ: Aus dem zum Songtitel umfunktionierten Zitat »Jenseits des Kanals« wurde eine Überschrift im Feuilleton der Zeitung. Redakteure der FAZ borgten sich damals nämlich regelmäßig Liedtitel der Band für ihre Überschriften – und schufen damit ihrerseits etwas Neues. Der Journalist René Martens beschrieb diese Methode im Dezember 2001 so:

»Das sind keine Rätsel23. Es sind Zitate aus den unprätentiös alltagsphilosophischen Texten der Hamburger IndieRock-Band Tocotronic, die einen gewissen Kultstatus genießt. Eine Hommage, unverkennbar inspiriert vom Treiben der Donaldisten 28Patrick Bahners und Andreas Platthaus, die, wie der Spiegel enthüllte, für Überschriften und Bildzeilen im FAZ-Feuilleton systematisch Schöpfungen der Donald-Duck-Übersetzerin Erika Fuchs verwendet hatten. ›Wenn die das können, mache ich das auch‹, dachte sich Klaus Ungerer, nachdem er im Sommer bei den Frankfurtern die Stil-Seite übernommen hatte. Und so vergeht seit nunmehr rund einem Vierteljahr kein Mittwoch ohne Titel, Unterzeile oder Bildtexte, die nicht den fünf Alben der Rockband entnommen sind. Als Höhepunkt seines Schaffens betrachtet Ungerer eine geradezu epische Bildunterschrift: ›Die Alltäglichkeit, die man uns jederzeit aus vollen Fässern zapft, macht uns nicht mehr betrunken, sondern vielmehr bewusst, dass das Unglück überall zurückgeschlagen werden muss.‹«24

Die Geschichte der von Flaubert inspirierten Tocotronic-Zeilen, die zu Titeln, Unterzeilen und Bildunterschriften in der FAZ wurden, zeigt, wie selbstverständlich die Kopie zur Grundausrüstung des kulturellen Schaffens gehört. Dass die FAZ-Redakteure Bahners und Platthaus beispielsweise Comics als Inspirationsquelle für Überschriften wählten, gilt in dem zitierten Text als so selbstverständlich, dass es überhaupt nicht eingeordnet oder erklärt werden muss. Und auch ich gestehe gerne: Für die Überschrift dieses Kapitels habe ich mich bei einem Text des Erziehungswissenschaftlers Horst W. Opaschowski bedient, der im Jahr 2000 über Jugend im Zeitalter der Eventkultur schrieb und ein Kapitel seines Essays mit »Neue Erlebniswelten: Die Krise des Originals« überschrieb.25

Es lassen sich zahllose weitere kulturgeschichtliche Beispiele für dieses Spiel der Zitate und Bezüge finden, das man Kultur nennt. US-Gründervater Thomas Jefferson verglich es einmal29mit dem Weiterreichen einer Flamme: »Wer eine Idee von mir empfängt, mehrt dadurch sein Wissen, ohne meines zu mindern, ebenso wie derjenige, der seine Kerze an meiner entzündet, dadurch Licht empfängt, ohne mich der Dunkelheit auszusetzen.«26 Nach heutigem Kenntnisstand muss man sagen: Bei diesem Satz handelt es sich wiederum um ein Zitat, klingt es doch ganz ähnlich wie eine Weisheit, die Buddha zugeschrieben wird, der Folgendes über das Glück gesagt haben soll: »Thousands of candles can be lighted from a single candle and the life of a candle will not be shortend.«27

»Wir sollten den Riesen auch einen Namen geben.«
Debora Weber-Wulff über Plagiate und produktives Kopieren

Im Frühjahr 2011 musste der damalige Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zurücktreten, als sich herausstellte, dass er große Teile seiner juristischen Promotion abgeschrieben hatte – ohne die Quellen anzugeben. Seine zahlreichen Unterstützer sprachen von handwerklichen Fehlern, die wissenschaftliche Gemeinde in Deutschland von einem Skandal. Die Plagiatsforscherin Debora Weber-Wulff von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin befasst sich seit Jahren mit fehlenden Fußnoten. Ein Gespräch über Plagiate und Riesen in der Wissenschaft.

 

Sind Sie Herrn zu Guttenberg eigentlich dankbar? Immerhin hat er ein Thema auf die Tagesordnung gebracht, mit dem Sie sich schon seit Jahren befassen.

Es ist ein Segen für mich, dass plötzlich alle Welt über 30Plagiate redet. Es ist zwar oft viel Unwissenheit mit im Spiel, aber es freut mich, dass plötzlich alle darüber sprechen. Das ist eigentlich das, was ich mit meiner Arbeit erreichen möchte: Deutschland dazu zu bringen, über wissenschaftliches Arbeiten zu sprechen und eine Kultur des Zitierens zu schaffen.

Erklären Sie doch mal, was Sie damit meinen.

Es ist völlig okay, zu zitieren. Es muss nicht alles aus meiner eigenen Feder kommen, aber ich muss es auch anständig benennen. Es geht in unserer ganzen Kultur darum, dass wir aufeinander aufbauen. Sie kennen sicher das schöne Bild vom Stehen auf den Schultern von Riesen. Der Pygmäe, der auf den Schultern von Riesen steht, sieht weiter. Das ist richtig so, aber wir sollten den Riesen auch einen Namen geben.

Und zu Guttenberg hat in seiner Arbeit einfach einen Umhang über die Riesen geworfen und so getan, als sei er selber groß?

So könnte man das sagen. Wir müssen aber gar nicht so tun, als ob wir ganz groß wären. Wir sollten benennen, auf wessen Schultern wir stehen. Damit auch klar ist, wie klein wir sind. Es ist immer nur wenig, was wir beitragen. Aber das muss klar erkennbar sein. Wenn jedoch die ganze Arbeit nur aus fremden Ideen besteht und das auch noch als eigene Leistung verkauft wird ...

... dann spricht man von einem Plagiat. Können Sie eine wissenschaftliche Definition dafür geben?

Es geht um die Übernahme von Wortfolgen, besonders gelungenen Phrasen oder Argumentationsketten von einem anderen ohne entsprechende Hinweise. Allerdings ist es etwas schwierig mit der wissenschaftlichen Definition in Deutschland. Ich lehne mich dabei immer an die Einordnung der Modern Language Association aus den USA an. Dort heißt es, ein Plagiat »umfasst unter anderem die Unterlassung von geeigneten Quellenhinweisen bei der Verwendung der Formulierungen oder besonderen Wortwahl 31eines anderen, der Zusammenfassung der Argumente von anderen oder der Darstellung vom Gedankengang eines anderen«.

Im Rahmen der Guttenberg-Debatte kam die These auf, durch das Internet hätten Plagiate zugenommen. Wie stehen Sie dazu?

Plagiate gab es schon immer. Wir können nicht messen, ob sie zu- oder abgenommen haben. Es ist aber in jedem Fall einfacher für uns geworden, Plagiate zu finden. Das Internet ist ein einfaches, mächtiges Werkzeug, mit dem man sehr viel erreichen kann. Schauen Sie sich das GuttenPlagWiki an: Die Idee eines Wikis ist so verblüffend einfach, und doch verändert es die Welt, weil es Menschen ermöglicht, zusammenzuarbeiten – obwohl sie sich nicht kennen und nicht im selben Raum sitzen. Das nennt man Kollaboration.

Die Kollaboration soll jetzt weitergetragen werden. Es gibt eine Seite namens PlagiPedia, auf der Menschen gemeinsam weitere Promotionen auf Plagiate prüfen wollen.

Ich bin sehr erstaunt. Man merkt, dass da Doktoranden dabei sind, Leute, die es gewohnt sind, Arbeiten zu strukturieren. Jeder kann eine Kleinigkeit dazu beitragen, und es wird gesammelt. Es arbeitet nicht jeder nur für seinen eigenen Zettel, sondern alle zusammen auf einem großen Notizzettel. Wikis faszinieren mich seit Jahren, und als ich dann sah, dass es diese Technik zu meinem Thema gibt, war für mich klar: Da will ich dabei sein.

Sie engagieren sich aber nicht nur dort, Sie haben sich auch die Mühe gemacht, die Guttenberg-Arbeit mit Plagiatssoftware zu testen. Können Sie schon Ergebnisse benennen?

Ich wollte herausfinden, ob der Vorwurf stimmt, dass man das Plagiat vorher hätte entdecken können, wenn man nur eine Software genutzt hätte.

Und?

Man sieht einiges an Plagiat sehr klar, aber die Systeme reagieren teilweise auf Kleinigkeiten, übersehen dafür größere 32Plagiate und melden korrekt Zitiertes als Plagiat. Man muss viel Arbeit in die Auswertung investieren, auch im Standardfall. Und lustigerweise meldet jedes System einen anderen Grad an Plagiat.

Deshalb sind Sie – obwohl Sie selbst Informatikerin sind – skeptisch in Bezug auf Plagiatssoftware.

Das liegt an der Vortäuschung von Wissenschaftlichkeit. Denn man muss ja die Frage stellen, worauf beziehen sich die Prozentangaben genau? Außerdem: Viele Inhalte, die plagiiert wurden, gibt es an unterschiedlichen Stellen mit unterschiedlichen Adressen im Netz. Aber jede URL wird extra benannt. Das heißt, diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen.

Peter Häberle und Rudolf Streinz, die zu Guttenbergs Arbeit begutachten, haben nach dem Skandal gesagt, im Jahr 2006 sei das Erkennen von Plagiaten noch sehr schwierig gewesen. Wörtlich heißt es in ihrer Erklärung: »Plagiatssoftware sowie auch andere Methoden waren damals keineswegs so weit entwickelt wie heute.« Sie sagen aber, dass Software gar nicht nötig gewesen wäre. Was raten Sie, um Plagiate zu finden?

Man hätte im Fall von zu Guttenberg einfach eine Stichprobe in einer Suchmaschine machen müssen, die gab es auch 2006 schon. Wenn man beim kritischen Lesen einen Verdacht schöpft, weil es zum Beispiel Stilbrüche gibt, sollte man aufmerksam werden. Dann nimmt man ein paar Wörter vor dem Stilbruch und ein paar danach und gibt die bei Google oder einer anderen Suchmaschine ein.

Offenbar ist das für einige trotzdem zu kompliziert.

Der Aufstieg des Internet ging so schnell, dass viele Leute es nicht geschafft haben, diese neue Technologie zu erlernen. Die wissen nicht, was sie mit dem Internet alles tun können. Man muss da eigentlich Weiterbildung anbieten. Denn es geht nicht, dass man das auf Hilfskräfte auslagert. Sie können keine Hilfskraft damit beauftragen, eine Doktorarbeit überprüfen zu lassen.

33Was wäre eine Alternative?

Ich schlage vor, dass die Universitäten sich auf den Wert ihrer Bibliotheken besinnen, diese Sammelstellen für »tote Bäume«. Dabei sind Bibliothekare hervorragend ausgebildet darin, etwas auszubuddeln. Die wissen, wie man recherchiert. Das sollte man nutzen. In den USA und in Kanada geht der Kampf gegen Plagiate genau von den Bibliotheken aus. Dort gibt es eine Plagiatsberatungsstelle. Zu der können Dozenten gehen, die sich nicht wohlfühlen mit einer Arbeit.

Glauben Sie, dass wir solche Beratungsstellen jetzt auch in Deutschland bekommen?

Das wäre mein sehnlichster Wunsch. Software alleine ist jedenfalls nicht die Lösung. Deshalb empfehle ich: Macht eure Bibliotheken stark!

Sie sagen, Ihr Ziel sei es, eine Kultur des richtigen Zitierens zu erreichen. Lernt man das nicht in der Schule?

Eigentlich steht auf dem Lehrplan für Klasse neun – zumindest in Berlin, da weiß ich es genau – das Thema »Umgang mit fremden Texten«. Aber die Lehrer sind oft selbst unsicher, sie haben vielleicht selbst mal plagiiert. Ich habe zu Hause eine eigene Stichprobe an Teenagern. Ich konnte beobachten, wie eine Freundin meines Sohns eine Arbeit verfasst hat, die sie aus der Wikipedia abgeschrieben hatte. Zum Glück hat sie mir die Arbeit gezeigt. Dann habe ich sie darauf angesprochen, und sie hat gesagt: »Das dürfen wir benutzen.« Da musste ich erst erklären, dass sie es nicht eins zu eins abschreiben kann.

Sie sagen aber auch, dass es nicht ausschließlich ein schulisches Problem ist.

Nein, es geht um mehr. Hier kommen Studierende an, die an absolute Wahrheiten glauben. Die wollen, dass wir vorne stehen und ihnen absolute Wahrheiten eintrichtern. Da gibt es dann schon Stress, weil wir keine richtigen Antworten 34haben, sondern wollen, dass sie lernen, selbst zu denken.

Aber für eigenständiges Denken ist es auch notwendig, andere Gedanken anzunehmen. Da sind wir wieder bei den Riesen.

In ein Themengebiet eindringen, diesem abringen, worum es geht, und das dann in eigenen Worten wiedergeben – das ist Wissenschaft. Und wenn Sie wollen, könnten Sie Herrn zu Guttenberg auf hausarbeiten.de hinweisen. Die haben nämlich zur Selbstverteidigung ganz weit unten auf der Seite eine Erklärung, wie man richtig eine Hausarbeit schreibt. Und der Absatz über richtiges Zitieren ist hervorragend. Ich verweise immer meine Studierenden darauf.

Ich habe zu Beginn gefragt, ob sie dankbar sind, dass er das Thema aufgebracht hat. Zum Abschluss würde ich gerne wissen: Sind Sie dankbar, dass Herr zu Guttenberg zurückgetreten ist?

Es geht mir um die Wissenschaft. Die Grundlage der Wissenschaft wird infrage gestellt, wenn ein solches Fehlverhalten nicht geahndet wird. Darüber hinaus habe ich den vielleicht kindlichen Wunsch, dass unsere Minister nicht nur gute Denker und Lenker sind, sondern dass sie uns auch nicht anlügen. Deshalb finde ich den Rücktritt gut und richtig. Und vielleicht dient er ja zu mehr, denn ich glaube, wir sollten in Deutschland wegkommen davon, den Doktortitel so wichtig zu nehmen. Eigentlich sollten wir jetzt ein Moratorium haben: Alle, die einen Doktortitel haben, verpflichten sich, ihn außerhalb der Universität nicht mehr zu tragen. Denn diese Titel-Fixierung ist ja Teil des Problems.

Der Aphorismus, wonach Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen, weiter sehen können als diese, gilt auch und gerade im Zeitalter der Digitalisierung. Alles Wissen, unsere ganze 35Kultur, basiert eben auf dem Prinzip der Nachahmung, der Anlehnung und letztlich der Kopie, die in dem Satz durch das Stehen auf den Schultern von Riesen symbolisiert wird. Geprägt hat dieses Bild Isaac Newton. Er schrieb: »Wenn ich weiter gesehen habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.«28 Diese Fundstelle bei Newton aus dem 17. Jahrhundert gilt vielen als Ursprung der Metapher, »doch es ist belegt, dass es vor ihm bereits der römische Dichter Lucan, der französische Philosoph Bernhard von Chartres, der spanische Theologe Didacus Stella und der englische Schriftsteller Robert Burton verwendet hatten«, stellt der Urheberrechtsexperte Matthias Spielkamp auf der Website irights.info fest. Spielkamp weiter: »Angeblich geht es zurück auf den Mythos von Kedalion, der auf den Schultern des blinden Riesen Orion saß und ihn führte.«29 Aus dieser unklaren Herkunft lassen sich in Fragen der Form und des Inhalts interessante Schlüsse ziehen. Einerseits kann man daran ablesen, dass ein Bild, ein Aphorismus oder ein Zitat durchaus geschichtliche Kraft entwickeln kann, auch wenn nicht eindeutig ein (genialischer) Erfinder dahinter auszumachen ist. Zweitens kann man mit dem amerikanischen Soziologen Robert K. Merton, der die Geschichte des Aphorismus in seinem Buch Auf den Schultern von Riesen nachzeichnet, auf der inhaltlichen Ebene feststellen:

»Recht betrachtet, ist der Kern des Aphorismus vom Zwerg auf den Schultern der Riesen ein Pendant zu der soziologischen Einsicht des 20. Jahrhunderts, daß wissenschaftliche Entdeckungen aus der bestehenden kulturellen Basis hervorgehen und daher in einem bestimmten Rahmen, der sich ziemlich genau definieren läßt, praktisch unausweichlich werden. Wir wissen jetzt, daß der Aphorismus tatsächlich bei Bernhard von Chartres entstanden 36ist (wobei dieser auf den Schultern seiner Vorgänger, vornehmlich Priscians, stand).«

Aus dem späten Mittelalter »bahnte sich der Aphorismus langsam seinen Weg ins 17. Jahrhundert, wo er von Newton aufgegriffen wurde, um sich von da an für immer mit seinem Namen zu verbinden«.30 Was Original und was Kopie ist, das zeigt die Geschichte der Urheberschaft dieses Zitats sehr deutlich, hat also oft mit Zuschreibungen zu tun, damit also, was man für ein Original halten will und was nicht. Die Unterscheidung ist eher ein soziales Konstrukt als eine objektive Kategorie. Walter Benjamin schrieb schon 1936 in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: »Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden.«31 Aber eben weil das so ist, muss das Original, um seine Bedeutsamkeit oder Aura zu erhalten, seine eigene Wertigkeit immer wieder betonen. In der Werbung schlägt sich dies in zum Teil absurden Slogans zur Originalität von Produkten, Lebensmitteln und Dienstleistungen nieder. So wirbt der Sofa-Hersteller Cassina für das Modell Maralunga (»weiß mit seinem weichen und veränderbaren Design zu verwirren – kann aber nur schwer mit anderen verwechselt werden«) mit den Worten: »Keine Kopie kann das Original übertreffen.« Der Autohersteller Chrysler wurde in einer Kampagne für den Voyager gar moralisch: »Originale kopiert man nicht«, heißt es da, obwohl der beworbene Minivan dem zehn Jahre zuvor produzierten Fahrzeugtyp gleicht. Im Prospekt zum Wagen findet man die Auflösung: »Originale erschafft man.«