Julius, ein junger Psychiater, durchstreift die Straßen Manhattans, allein und ohne Ziel, stundenlang. Die Bewegung ist ein Ausgleich zur Arbeit, sie strukturiert seine Abende, seine Gedanken. Er lässt sich treiben, und während seine Schritte ihn tragen, denkt er an seine kürzlich zerbrochene Liebesbeziehung, seine Kindheit, seine Isolation in dieser Metropole voller Menschen. Fast unmerklich verzaubert sein Blick die Umgebung, die Stadt blättert sich vor ihm auf, offenbart die Spuren der Menschen, die früher hier lebten. Mit jeder Begegnung, jeder neuen Entdeckung gerät Julius tiefer hinein in die verborgene Gegenwart New Yorks – und schließlich in seine eigene, ihm fremd gewordene Vergangenheit.
Für seinen faszinierenden Roman über einen Flaneur des 21. Jahrhunderts ist Teju Cole international von Presse und Lesern gefeiert und mit Autoren wie Sebald, Camus oder Naipaul verglichen worden. Getragen vom Fluss seiner bewegenden, klaren Sprache, erzählt Open City eine Geschichte von Erinnerung, Entwurzelung und der erlösenden Kraft der Kunst.
Teju Cole, geboren 1975, wuchs in Nigeria auf und kam als Jugendlicher in die USA. Er ist als Kunsthistoriker, Schriftsteller und Fotograf tätig und hat eine Stelle als Distinguished Writer in Residence am Bard College inne. Zurzeit arbeitet er an einem Buch über Lagos, die größte Metropole Afrikas und die am schnellsten wachsende Stadt der Welt. Teju Cole lebt in Brooklyn, New York.
Teju Cole
Open City
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch
von Christine Richter-Nilsson
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Open City bei Random House, New York.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4486.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© 2011, Teju Cole
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Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Umschlagfotos: © Teju Cole
Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-78900-1
www.suhrkamp.de
für Karen
und für Wah-Ming und Beth
Als ich also im vergangenen Herbst begann, abendliche Streifzüge durch die Stadt zu unternehmen, erwies sich Morningside Heights als guter Ausgangspunkt. Der Weg, der ausgehend von der Cathedral of St. John the Divine den Morningside Park durchquert, führt in nur fünfzehn Minuten zum Central Park. In die andere Richtung, nach Westen, sind es ungefähr zehn Minuten zum Sakura Park, und wenn man sich von dort nach Norden wendet, immer am Hudson River entlang, der aber wegen des Straßenlärms jenseits der Bäume nicht zu hören ist, kommt man nach Harlem. Diese Spaziergänge, ein Kontrapunkt zu meinen geschäftigen Tagen im Krankenhaus, wurden länger und länger und führten mich von Mal zu Mal weiter fort. Oft fand ich mich spätabends in großer Entfernung von zu Hause wieder und war gezwungen, die U-Bahn zurück zu nehmen. So drang New York City zu Beginn des letzten Jahres meiner Facharztausbildung zum Psychiater im Schritttempo in mein Leben ein.
Kurz bevor ich meine ziellosen Wanderungen aufnahm, hatte ich mir angewöhnt, Zugvögel zu beobachten, und heute frage ich mich, ob zwischen beidem ein Zusammenhang bestand. An Tagen, an denen ich früh genug zu Hause war, blickte ich aus dem Fenster wie ein Augur, der den Himmel nach Zeichen absucht, und hoffte, das Wunder der natürlichen Immigration zu erleben. Jedes Mal, wenn ich Gänse erspähte, die in Formationen über den Himmel schossen, fragte ich mich, wie unser Leben hier unten wohl aus ihrer Perspektive aussah. Würden sie sich jemals solchen Überlegungen hingeben, dann müssten ihnen, stellte ich mir vor, die Wolkenkratzer als ein Wald dicht aneinandergedrängter Tannen erscheinen. Oft genug sah ich, wenn ich den Himmel absuchte, nur Regen oder den diffusen Kondensstreifen eines Flugzeugs, der das Bild im Fensterrahmen zerteilte, und dann zweifelte etwas in mir, ob diese Vögel mit ihren dunklen Flügeln und Hälsen, ihren blassen Körpern und unermüdlichen kleinen Herzen wirklich existierten. Sie waren so unglaublich, dass ich meiner Erinnerung kaum traute, wenn sie nicht da waren.
Gelegentlich flogen Tauben vorbei, auch Spatzen, Zaunkönige, Pirole, Tangare und Mauerschwalben, aber es war schwierig, anhand der winzigen und meist farblosen Flecken, die vereinzelt am Himmel vorüberzischten, die Vögel zu identifizieren. Manchmal, während ich auf die seltenen Gänsegeschwader wartete, hörte ich Radio. Normalerweise mied ich amerikanische Sender, die für meinen Geschmack zu viele Werbeunterbrechungen machten – Beethoven gefolgt von Skijacken oder Wagner nach Landkäse –, und suchte stattdessen nach Internetradiosendern aus Kanada, Deutschland oder den Niederlanden. Auch wenn ich die Ansager oft nicht verstand, weil meine Kenntnis ihrer Sprachen dürftig war, entsprach das Programm meiner Abendstimmung sehr genau. Da ich damals schon seit über vierzehn Jahren begeistert Klassikradio hörte, kannte ich einen Großteil der Musik, aber einiges war auch neu für mich. Es gab sogar seltene Momente des Staunens, zum Beispiel, als ich auf einem Hamburger Sender ein bezauberndes Stück für Orchester und Alt-Solo von Schtschedrin hörte (vielleicht war es auch von Ysaÿe), das ich bis zum heutigen Tag nicht habe zuordnen können.
Ich mochte das Murmeln der Ansager, ihre Stimmen, die aus Tausenden von Kilometern Entfernung gedämpft zu mir sprachen. Ich drehte die Computerlautsprecher leise und schaute hinaus, geborgen im Klang dieser Stimmen, und plötzlich lag der Gedanke an die Analogie zwischen mir in meinem kargen Apartment und dem Radiomoderator in seiner Studiozelle nahe, auch wenn dort, irgendwo in Europa, gerade tiefste Nacht herrschte. Jene körperlosen Stimmen sind in meinem Kopf mit dem Bild der am Himmel ziehenden Gänse verbunden. Dabei habe ich sie gar nicht oft gesehen, vielleicht drei- oder viermal: Meistens musste ich mit dem Farbenspiel der Abenddämmerung vorliebnehmen, dem Taubenblau, dem dreckigen Rouge, dem Rostrot, die allmählich tiefen Schatten wichen. Wenn es dunkel wurde, nahm ich mir ein Buch und las im Schein einer alten Schreibtischlampe, die ich aus einem der Müllcontainer an der Universität gerettet hatte. Ihre Glühbirne war von einer Glashaube bedeckt, die einen grünlichen Lichtschein auf meine Hände, das Buch auf meinem Schoß und die abgenutzten Polster meines Sofas warf. Manchmal las ich mir laut aus dem Buch vor, und dabei fiel mir auf, wie sich meine Stimme auf merkwürdige Weise mit dem Raunen der französischen, deutschen oder niederländischen Radioansager verwob oder mit der dünnen Textur der Violinen im Orchester, eine Wahrnehmung, die dadurch verstärkt wurde, dass der Text, den ich gerade las, zumeist aus einer europäischen Sprache übersetzt worden war. In jenem Herbst verschlang ich ein Buch nach dem anderen: Barthes' Die helle Kammer, Peter Altenbergs Seelentelegramme, Tahar Ben Jellouns Der letzte Freund und andere mehr.
Diese fugenartige Konstellation brachte mich auf den heiligen Augustinus, der sich über den heiligen Ambrosius gewundert hatte, dem man nachsagte, er habe herausgefunden, wie man lese, ohne die Worte erklingen zu lassen. Es ist tatsächlich eigenartig, das geht mir immer wieder durch den Kopf, dass wir die Worte verstehen können, ohne sie auszusprechen. Augustinus glaubte, Bedeutung und Innenleben der Sätze ließen sich durch laute Aussprache am besten erfahren, aber seitdem hat sich unsere Vorstellung vom Lesen sehr verändert. Man hat uns gründlich gelehrt, dass das Gespräch eines Menschen mit sich selbst als Anzeichen von Exzentrik oder Wahnsinn zu werten sei; wir sind nicht mehr gewöhnt, unsere eigene Stimme zu hören, außer in einer Konversation oder in der sicheren Umgebung einer schreienden Volksmenge. Dabei ist ein Buch ein Angebot zum Gespräch: Einer spricht mit dem anderen, und der hörbare Klang ist oder sollte natürlicher Bestandteil dieses Austauschs sein. Also las ich mir selbst laut vor, ich war mein eigener Zuhörer und lieh den Worten eines anderen meine Stimme.
Auf jeden Fall vergingen diese ungewöhnlichen Abendstunden wie im Flug, und oft schlief ich direkt auf dem Sofa ein und schleppte mich erst viel später ins Bett, irgendwann mitten in der Nacht. Nach einem kurzen Schlaf, der sich kaum länger als einige Minuten anfühlte, wurde ich vom Ton meines Handyweckers wach gerüttelt, den ich auf ein kurioses Marimba-Arrangement von »O Tannenbaum« eingestellt hatte. In diesen ersten Augenblicken des Wachwerdens, als mich plötzlich das Morgenlicht blendete, rasten meine Gedanken im Kreis, Traumfragmente vermischt mit Passagen des Buchs, das ich vor dem Einschlafen gelesen hatte. Ich wollte die Monotonie dieser Abende brechen, deswegen machte ich mich zu meinen Spaziergängen auf, zwei- oder dreimal pro Woche nach der Arbeit und mindestens einmal am Wochenende.
Anfänglich erlebte ich die Straßen als eine unaufhörliche Geräuschkulisse, ein Schock nach der Konzentration und relativen Ruhe des Tages, so als zerrisse jemand die Stille einer abgeschiedenen Kapelle mit einem dröhnenden Fernseher. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Menge der Kauflustigen und der Angestellten, durch Baustellen und an hupenden Taxis vorbei. Wenn ich durch belebte Teile der Stadt lief, fiel mein Blick auf mehr Menschen, hundert- oder sogar tausendmal mehr Menschen, als ich den ganzen Tag zu sehen gewohnt war, doch der Eindruck dieser zahllosen Gesichter trug nicht dazu bei, mein Gefühl der Isolation zu lindern; es wurde eher noch verstärkt. Auch die Müdigkeit nahm zu, eine Erschöpfung, die ich seit den ersten Monaten als Assistenzarzt drei Jahre zuvor nicht mehr gespürt hatte. Eines Abends lief ich einfach immer weiter, bis zur Houston Street, die ungefähr sieben Meilen entfernt lag, und fand mich schließlich in einem Zustand verwirrter Ermüdung wieder. Ich musste kämpfen, um auf den Beinen zu bleiben. An diesem Abend nahm ich die U-Bahn nach Hause, aber anstatt sofort einzuschlafen, lag ich auf dem Bett, zu müde, um mich vom Wachzustand zu lösen. Und in der Dunkelheit ließ ich noch einmal die zahlreichen Ereignisse und Bilder meines Streifzuges ablaufen und versuchte die Begegnungen zu sortieren, wie ein Kind, das mit Bauklötzen spielt und versucht herauszufinden, welcher Klotz wo hingehört, welcher zu welchem passt. Jedes Viertel schien aus einem anderen Stoff zu bestehen, einen anderen Luftdruck zu haben, eine andere psychische Aufladung: die strahlenden Lichter und verlassenen Läden, die Sozialbauten und Luxushotels, die Feuerleitern und Stadtparks. Ich sortierte weiter, vergeblich, bis die Formen ineinander verschmolzen und abstrakte Gestalten annahmen, die nichts mehr mit der tatsächlichen Stadt zu tun hatten. Erst dann begann mein hektisches Gehirn, endlich Gnade zu zeigen und Ruhe zu geben, und traumloser Schlaf überfiel mich.
Die Spaziergänge erfüllten ein Bedürfnis: Sie erlösten mich von der Atmosphäre strenger Reglementierung bei der Arbeit, und als ich ihren therapeutischen Wert einmal erkannt hatte, wurden sie zur Normalität, und ich vergaß, wie mein Leben gewesen war, bevor ich damit begonnen hatte. Die Arbeit war bestimmt von Perfektion und Kompetenz, für Improvisation war kein Platz, Irrtümer wurden nicht geduldet. Mein Forschungsprojekt – eine klinische Studie über affektive Störungen bei älteren Menschen – interessierte mich sehr, doch es verlangte mir eine Akribie ab, wie ich sie zuvor nicht hatte aufbringen müssen. Die Straßen boten einen willkommenen Ausgleich. Jede Entscheidung – wo ich nach links abbog, wie lange ich gedankenverloren vor einem verlassenen Gebäude stand, ob ich den Sonnenuntergang über New Jersey beobachtete oder durch die Schatten auf der East Side schlenderte und nach Queens hinüberschaute – war letztlich unerheblich und daher eine Erinnerung an Freiheit. Ich durchquerte die Viertel, als wollte ich sie mit meinen Schritten vermessen, die U-Bahnhöfe dienten als Leitmotive meiner ziellosen Bewegung. Der Anblick von großen Menschenmassen, die eilig in unterirdische Kammern drängten, befremdete mich immer wieder aufs Neue, es kam mir vor, als ob die gesamte Menschheit, einem widernatürlichen Todestrieb folgend, in fahrende Katakomben hastete. Unter freiem Himmel teilte ich meine Einsamkeit mit Tausenden, in der U-Bahn, in unmittelbarer Nähe fremder Menschen, einander rempelnd im Kampf um Platz und Luft zum Atmen, unerkannte Traumata auslebend, intensivierte sie sich.
An einem Sonntagmorgen im November brachte mich ein Streifzug durch die relativ ruhigen Straßen der Upper West Side zum weiträumigen, sonnendurchfluteten Columbus Circle. Die Gegend hatte sich in jüngster Zeit verändert: Die Zwillingstürme des Time Warner Center hatten die Plaza zu einem kommerziellen Standort und Anlaufpunkt für Touristen werden lassen. Der in rasender Geschwindigkeit hochgezogene Gebäudekomplex war gerade eröffnet worden und gefüllt mit Läden für maßgeschneiderte Hemden, Designeranzüge, Schmuck, Gourmet-Küchengeräte, handgefertigte Lederaccessoires und importierte Dekorationsartikel. In den oberen Etagen befanden sich einige der exklusivsten Restaurants der Stadt und boten Trüffeln, Kaviar, Kobe-Steaks und hochpreisige Menüs an. Die Wohnungen in den Stockwerken darüber gehörten zu den teuersten in ganz Manhattan. Die Neugier hatte mich ein- oder zweimal in die Läden getrieben, aber die Preise und das, wie ich fand, protzige Ambiente hatten mich davon abgehalten, wieder herzukommen. Bis zu diesem Sonntagmorgen.
Es war der Tag des New York Marathon, daran hatte ich nicht gedacht. Ich war überrascht, als ich die vielen Menschen auf dem runden Platz vor den Glastürmen sah, ein massiver, erwartungsvoller Pulk, der in Richtung des Zielbereiches drängte. Die Straße, die vom Platz weg nach Osten führte, war gesäumt von Schaulustigen. Weiter westlich war eine Bühne aufgebaut. Zwei Männer stimmten gerade ihre Gitarren, ließen die Akkorde ihrer elektronisch verstärkten Instrumente silberhell aufeinander antworten. Banner, Plakate, Fahnen und alle möglichen Wimpel flatterten im Wind, Polizisten auf Pferden mit Scheuklappen steuerten den Auflauf mit Absperrbändern, Trillerpfeifen und Handzeichen. Sie trugen nachtblaue Uniformen und dunkle Sonnenbrillen. Die Menschen um sie herum waren bunt gekleidet, ihre in der Sonne flimmernden grünen, roten, gelben und weißen Kunstfasern taten meinen Augen weh. Um dem Getümmel zu entkommen, ging ich zum Shopping Center. Neben all den Armani- und Hugo-Boss-Stores gab es im zweiten Stock auch einen Buchladen, wo ich, wie ich hoffte, ein bisschen zur Ruhe kommen und vor dem Heimweg noch einen Kaffee trinken konnte. Aber vor dem Eingang drängten sich die Menschen, und die Absperrungen machten es unmöglich, in die Türme zu kommen.
Ich entschloss mich, stattdessen einen früheren Lehrer zu besuchen, der in der Nähe wohnte, am Central Park South, weniger als zehn Fußminuten entfernt. Mit seinen neunundachtzig Jahren war Professor Saito der älteste Mensch, den ich kannte. Er hatte mich unter seine Fittiche genommen, als ich am Maxwell College anfing. Damals war er zwar schon emeritiert, kam aber weiterhin jeden Tag auf den Campus. Er musste etwas in mir gesehen haben, das ihn glauben ließ, sein feinsinniges Forschungsfeld (frühe englische Literatur) wäre an mich nicht verschwendet. In dieser Hinsicht war ich zwar eine Enttäuschung, aber er war so freundlich, mich mehrmals in sein Büro einzuladen, obwohl ich in seinem Seminar über englische Literatur vor Shakespeare nur mäßig abgeschnitten hatte. Damals hatte er gerade eine aufdringlich laute Kaffeemaschine installiert, also tranken wir Kaffee und redeten: über verschiedene Interpretationen des Beowulf, später über die antiken Klassiker, die endlosen Mühen der Wissenschaft, die Tröstungen der akademischen Welt und über sein Studium kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Jenes letzte Thema lag außerhalb des Bereiches meiner eigenen Erfahrungen, vielleicht interessierte es mich deshalb am meisten. Der Krieg brach aus, als er gerade seine Promotion abschloss, und er war gezwungen, England zu verlassen und in den pazifischen Nordwesten zurückzukehren, wo er aufgewachsen war. Gemeinsam mit seiner Familie wurde er im Minidoka-Lager in Idaho interniert.
Rückblickend erscheint es mir so, dass bei diesen Gesprächen hauptsächlich er redete. Sie waren eine Unterweisung in der Kunst des Zuhörens, und sie lehrten mich, aus dem Ungesagten die Umrisse einer Geschichte zu skizzieren. Professor Saito erzählte selten von seiner Familie, dafür umso mehr von seinem Leben als Gelehrter, seinen Einstellungen zu den wichtigen Fragen seiner Zeit. In den 1970er Jahren hatte er eine kommentierte Übersetzung von Piers Plowman vorgelegt, die sich als sein größter akademischer Erfolg erweisen sollte. Er sprach darüber mit einer eigentümlichen Mischung aus Stolz und Enttäuschung. Auf ein anderes, unabgeschlossen gebliebenes Großprojekt spielte er an, ohne näher darauf einzugehen. Manchmal ging es auch um Universitätspolitik. Ich erinnere mich an einen Nachmittag, an dem es ausschließlich um eine ehemalige Kollegin ging, deren Name mir schon damals nichts sagte und heute nicht mehr einfällt. Diese Frau war aufgrund ihrer Aktivitäten während der Bürgerrechtsbewegung bekannt geworden und, zumindest zeitweise, zur Campus-Berühmtheit avanciert, so dass ihre Seminare aus allen Nähten platzten. Er beschrieb sie als intelligente, sensible Person, mit der er sich aber nie einig war. Er bewunderte sie und wurde trotzdem nicht warm mit ihr. Es ist ein Rätsel, sagte er zu mir, sie war eine gute Wissenschaftlerin, und sie stand bei den Kämpfen der Zeit immer auf der richtigen Seite, aber ich konnte sie einfach nicht ausstehen. Aggressiv und selbstsüchtig war sie, Gott hab sie selig! Aber man darf ja hier nichts gegen sie sagen. Sie gilt immer noch als Heilige.
Nachdem wir Freundschaft geschlossen hatten, machte ich es mir zur Gewohnheit, Professor Saito zwei- oder dreimal pro Semester zu besuchen, und diese Treffen waren unvergessliche Höhepunkte meiner Jahre am Maxwell College. Er wurde für mich zu einer Großvaterfigur, die mit meinen wirklichen Großvätern (von denen ich nur den einen gekannt hatte) nicht das Geringste gemein hatte. Ich fühlte, dass mich mit ihm mehr verband als mit den Menschen, mit denen ich rein zufällig verwandt war. Als ich nach meinem Abschluss wegging, erst für meine Forschungsphase nach Cold Spring Harbor, dann zur Medical School nach Madison, brach unser Kontakt ab. Wir schrieben uns ein oder zwei Briefe, aber es war schwierig, unsere Gespräche auf diese Weise weiterzuführen, da neueste Nachrichten nie die Substanz unseres Austauschs gewesen waren. Aber nachdem ich für meine Assistenzzeit in die Stadt zurückgekehrt war, traf ich ihn mehrere Male; das erste Mal rein zufällig – obwohl ich an diesem Tag tatsächlich an ihn gedacht hatte – direkt vor einem Lebensmittelgeschäft nicht weit von Central Park South, wo er in Begleitung eines Assistenten unterwegs war. Später suchte ich ihn unangemeldet in seinem Apartment auf, er hatte mich ausdrücklich dazu aufgefordert, und konnte feststellen, dass er immer noch denselben Grundsatz der offenen Tür pflegte wie früher in seinem Büro am College. Die Kaffeemaschine von damals hatte ausgedient und stand unbenutzt in einer Ecke. Professor Saito erzählte mir, er habe Prostatakrebs. Das setzte ihn zwar nicht vollständig außer Kraft, aber er fuhr nicht mehr zum Campus und hielt nun zu Hause Hof. Es musste ihm schmerzhaft bewusst gewesen sein, dass er weniger Besuch bekam und seine sozialen Kontakte sich mehr und mehr auf die Krankenschwestern und Helfer des häuslichen Krankenpflegedienstes beschränkten.
Ich grüßte den Pförtner im dunklen, niedrigen Foyer und fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock. Professor Saito rief mir schon entgegen, als ich die Wohnung betrat. Er saß bei den großen Fenstern am hinteren Ende des Zimmers und winkte mich zu sich. Er sah nicht mehr gut, aber sein Gehör war noch so scharf wie bei unserer ersten Begegnung, als er gerade mal siebenundsiebzig war. Wie er da so saß, ein in Decken gewickeltes Bündel in einem großen weichen Sessel, wirkte er, als wäre er tief in seiner zweiten Kindheit versunken, doch das täuschte: Wie sein Gehör, so war auch sein Denken noch äußerst intakt. Wenn er lächelte, kräuselten sich die Fältchen überall auf seinem Gesicht und zerknitterten die papierdünne Haut auf seiner Stirn. Sein Zimmer schien immer von einem sanften, kühlen Nordlicht erfüllt zu sein. Dort saß er, umgeben von den Kunstgegenständen, die er ein Leben lang gesammelt hatte: die sechs polynesischen Masken an der Wand hinter ihm, die direkt über seinem Kopf einen dunklen Heiligenschein bildeten; die lebensgroße papuanische Ahnenstatue in der Ecke, die zwischen den Lippen einzeln geschnitzte Holzzähne entblößte und unter einem Strohrock notdürftig einen erigierten Penis verhüllte. Ich vergöttere Phantasiemonster, hatte Professor Saito einmal gesagt, aber ich fürchte mich vor den echten.
Durch die Fensterfront konnte man auf die schattige Straße und die alte Steinmauer sehen, die den Park dahinter eingrenzte. Als ich mich gerade hinsetzen wollte, hörte ich von der Straße ein Johlen. Schnell erhob ich mich wieder und sah, wie sich die Menschenmenge teilte, um einen einzelnen Läufer durchzulassen. Er trug ein goldenes Trikot und schwarze Handschuhe, die bis zu den Ellbogen reichten, wie eine Dame bei einem offiziellen Dinner. Getragen von den Anfeuerungsrufen sprintete er – der Bühne, der tobenden Menge, der Ziellinie und der Sonne entgegen.
Kommen Sie, setzen Sie sich, setzen Sie sich. Professor Saito hustete, als er auf den Sessel neben sich zeigte. Erzählen Sie mir, wie es Ihnen geht. Ich war krank. Letzte Woche war es schlimm, aber jetzt geht es schon viel besser. In meinem Alter wird man oft krank. Wie geht es Ihnen, wie stehen die Dinge? Die Geräuschkulisse draußen erhob sich erneut, dann ebbte sie wieder ab. Ich sah die Verfolger vorbeihuschen, zwei schwarze Männer. Kenianer wahrscheinlich. Jedes Jahr dasselbe, seit fast fünfzehn Jahren, sagte Professor Saito. Wenn ich am Tag des Marathons rausmuss, nehme ich den Hintereingang. Aber ich gehe sowieso nicht oft raus, dieses Ding da klebt an mir fest wie der Schwanz an einem Hund. Ich ließ mich gerade wieder in den Sessel zurücksinken, als er auf den durchsichtigen Beutel an der kleinen Metallstange neben sich zeigte. Der Beutel war zur Hälfte mit Urin gefüllt, sein Plastikschlauch verschwand irgendwo im Kissenbündel. Gestern hat mir jemand Sharonfrüchte mitgebracht, herrliche, feste Sharonfrüchte. Möchten Sie eine? Sie müssen sie unbedingt probieren. Mary! Die Krankenpflegerin, eine große, kräftig gebaute Frau mittleren Alters aus St. Lucia, die ich schon von früheren Besuchen kannte, tauchte aus dem Korridor auf. Mary, würden Sie bitte unserem Gast die Sharonfrüchte bringen? Mir fällt das Kauen immer schwerer, ergänzte er, nachdem sie in der Küche verschwunden war, etwas so Reichhaltiges und Unkompliziertes wie eine Sharonfrucht ist genau das Richtige für mich. Aber genug davon, wie geht es Ihnen? Wie läuft die Arbeit?
Meine Anwesenheit belebte ihn. Ich erzählte ein wenig von meinen Spaziergängen, hatte aber irgendwie keinen rechten Zugriff auf das, was ich eigentlich sagen wollte über jenes abgelegene Territorium, das meine Gedanken durchquert hatten. Also berichtete ich von einem meiner jüngeren Fälle. Eine Familie konservativer Christen, Anhänger der Pfingstbewegung, waren von einem Kinderarzt im Krankenhaus an mich überwiesen worden. Der dreizehnjährige Sohn, ihr einziges Kind, hatte Leukämie, und die anstehende Behandlung barg das ernstzunehmende Risiko, dass er in der Folge zeugungsunfähig würde. Der Kinderarzt hatte ihnen geraten, das Sperma des Jungen einfrieren und lagern zu lassen. So könne er später als Mann und zukünftiger Ehemann dank der Möglichkeit der künstlichen Befruchtung eigene Kinder haben. Die Eltern waren offen für den Vorschlag, Sperma zu konservieren, und hatten auch nichts gegen künstliche Befruchtung, aber aus religiösen Gründen konnten sie sich keinesfalls mit der Vorstellung abfinden, ihren Sohn masturbieren zu lassen. Das Dilemma ließ sich nicht chirurgisch lösen. Eine schwere Krise für die Familie. Sie suchten Rat bei mir, und nach einigen Sitzungen und vielen Gebeten entschieden sie sich schließlich, das Risiko der Enkellosigkeit einzugehen. Sie konnten nicht zulassen, dass ihr Sohn den sündigen Pfad der Onanie betrat.
Professor Saito schüttelte den Kopf, und ich konnte ihm ansehen, dass ihm die Geschichte Spaß gemacht hatte, dass ihre absurden und traurigen Züge ihn ebenso sehr amüsiert (und beunruhigt) hatten wie mich. Menschen treffen eine Wahl, sagte er, sie treffen eine Wahl, und zwar im Namen anderer. Und was machen Sie, wenn Sie nicht arbeiten, was lesen Sie gerade? Vor allem medizinische Zeitschriften, sagte ich, und andere interessante Sachen, die ich anfange und nie zu Ende bringe. Kaum habe ich ein neues Buch gekauft, da liegt es schon wieder vorwurfsvoll und vernachlässigt herum. Ich lese auch nicht viel, erwiderte er, meine Augen. Er deutete auf seinen Kopf. Aber ich habe schon genug reingestopft da oben. Ehrlich gesagt, ich bin pappsatt. Wir lachten, und in dem Moment kam Mary herein und brachte auf einem Porzellantellerchen die Sharonfrüchte. Ich aß eine halbe. Sie war ein bisschen überreif. Dann aß ich die andere Hälfte und bedankte mich.
Während des Krieges lernte ich viele Gedichte auswendig, sagte er. Heutzutage wird das an den Schulen kaum noch erwartet. Ich habe das am College gemerkt, dass die Jüngeren immer weniger auswendig kannten. Für sie war Auswendiglernen nur eine nette Abwechslung, die für spezielle Seminare eben nötig war. Dreißig oder vierzig Jahre zuvor hatten Studenten eine viel lebendigere Beziehung zur Poesie, und das hatte damit zu tun, dass sie Gedichte auswendig kannten. Damals waren Erstsemester mit einem Grundstock von Werken vertraut, bevor sie überhaupt den ersten Kurs in englischer Literatur besuchten. Was hat mir meine eigene Memorierfähigkeit in den Vierzigern geholfen, ich wusste ja nicht, wann ich meine Bücher wiedersehen würde, außerdem gab es in dem Lager sowieso kaum etwas zu tun. Wir waren völlig durcheinander. Wir waren Amerikaner, dafür hatten wir uns jedenfalls immer gehalten, nicht für Japaner. Diese Phasen des Wartens, die Verwirrung, für die Eltern war das schwieriger als für die Kinder, glaube ich, und während wir so warteten, stopfte ich Wordsworth' Prelude und Shakespeares Sonette häppchenweise in mich hinein und lange Passagen von Yeats. Heute kann ich sie nicht mehr wortgetreu wiedergeben, es ist zu lange her, aber ich brauche nur den Kontext der Gedichte, einen Anklang, das genügt schon. Zwei oder drei Zeilen, wie ein kleiner Haken – er deutete einen mit der Hand an –, und schon kann ich den Rest daran hervorziehen und weiß wieder, wovon das Gedicht handelt, was es bedeutet. Zwei oder drei Zeilen, und man hat alles am Haken. In summer season when soft was the sun, I wore a shroud as I shepherd were. Kennen Sie das? Wahrscheinlich lernt heute kein Mensch mehr irgendetwas auswendig. Dabei war das einmal Teil unserer Bildung, so wie ein guter Geiger seine Bach-Partiten und Beethoven-Sonaten parat hat. Mein Tutor am Peterhouse war Chadwick, ein Aberdeener. Er war ein großartiger Gelehrter, ein Schüler von Skeat. Hab ich Ihnen nie von Chadwick erzählt? Ein Querulant durch und durch, aber er machte mir den Wert unseres Erinnerungsvermögens klar. Er lehrte mich, das Gedächtnis als mentale Musik in Jamben und Trochäen zu begreifen.
Sein Gedankenflug führte ihn aus dem Alltag heraus, weg von den Decken und dem Urinbeutel. Es war wieder Ende der Dreißigerjahre, und er war zurück in Cambridge, atmete die feuchte Luft der Moore und genoss die Beschaulichkeit seiner jugendlichen Studienjahre. Manchmal hatte ich den Eindruck, er führte ein Selbstgespräch, doch dann stellte er mir eine direkte Frage, und ich, selbst aus einem kleinen Gedankengang gerissen, rang um Antwort. Wir nahmen unsere alten Rollen wieder ein, er der Lehrer, ich der Student, und er redete immer weiter, ganz egal ob meine Antworten richtig oder falsch ausfielen, ob ich Chaucer für Langland hielt oder Langland für Chaucer. Eine Stunde verging schnell, und dann fragte er mich, ob wir für heute Schluss machen könnten. Ich versprach, bald wiederzukommen.
Als ich auf die Straße trat, war der Wind kälter geworden, die Luft klarer. Der Jubel der Menge war nun konstant laut. Ein großer Pulk von Läufern nahm Kurs auf die Zielgerade. Weil die 59. Straße abgesperrt war, lief ich zur 57. Straße, um von dort aus wieder auf den Broadway zu kommen. Die Subway-Station am Columbus Circle war überfüllt, also lief ich in Richtung Lincoln Center weiter, um an der nächsten Station einzusteigen. Auf Höhe der 62. Straße fand ich mich neben einem drahtigen Mann mit ergrauenden Koteletten wieder, der sichtlich erschöpft war und leicht hinkte. Er trug Shorts über hautengen schwarzen Laufhosen und eine blaue Fleecejacke mit langen Ärmeln, und er hatte einen Plastikbeutel bei sich, an dem ein Schildchen baumelte. Seinen Gesichtszügen nach war er mexikanischer oder mittelamerikanischer Abstammung. Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinanderher, nicht absichtlich, aber wir ertappten uns dabei, im selben Tempo zu laufen und in dieselbe Richtung. Schließlich fragte ich ihn, ob er gerade mitgelaufen sei, und als er nickte und lächelte, gratulierte ich ihm. Mir ging durch den Kopf, dass er mehr als zweiundvierzig Kilometer gelaufen war, anschließend einfach seinen Beutel genommen hatte und jetzt nach Hause hinkte. Keine Freunde, keine Verwandten, die ihn in Empfang genommen hatten und mit ihm feierten. In diesem Moment tat er mir leid, und ich redete weiter, schob diesen Gedanken weg. Ich fragte ihn, ob es ein gutes Rennen gewesen war. Ja, sagte er, ein gutes Rennen, die Bedingungen waren ideal, nicht zu heiß. Sein Gesicht war sympathisch, aber verlebt, ich schätzte ihn auf fünfundvierzig oder fünfzig. Wir liefen noch ein Stück zusammen weiter, schweigend zumeist, nur gelegentlich sagte einer von uns etwas über das Wetter oder die Menschenmenge.
An der Kreuzung vor den Opernhäusern verabschiedete ich mich von ihm und beschleunigte meinen Gang. Ich stellte mir vor, wie seine hinkende Gestalt langsam zurückblieb und sein drahtiger Körper einen Sieg davontrug, der nur für ihn selbst sichtbar war. Ich hatte als Kind schwache Lungen gehabt und war nie ein guter Läufer gewesen, den Energieschub aber, den ein Marathonläufer nach vierzig Kilometern erlebt, wenn das Ziel so nahe ist, kann ich sofort nachvollziehen. Viel geheimnisvoller ist doch, was jemanden am dreißigsten, einunddreißigsten, zweiunddreißigsten Kilometer vorbeitreibt, wenn sich bereits so viele Ketone im Körper gebildet haben, dass die Beine steif werden, die Willenskraft durch Übersäuerung zu schwinden droht und der Körper streikt. Der erste Mensch, der jemals einen Marathon lief, starb danach auf der Stelle; kein Wunder, denn es ist ein bemerkenswerter Akt menschlicher Ausdauer, egal wie viele ihn inzwischen vollbracht haben. Und als ich mich in Gedanken an Pheidippides' Zusammenbruch noch einmal nach meinem Begleiter von eben umschaute, sah ich die Sache klarer. Nicht er war bemitleidenswert, sondern ich, der ich nicht weniger einsam war als er, aber den Vormittag weniger sinnvoll genützt hatte.
Bald erreichte ich Tower Records an der Ecke 66. Straße und las überrascht die Schilder, auf denen die Schließung der Filiale und die Geschäftsaufgabe des gesamten Unternehmens angekündigt wurden. Ich war früher oft in dem großen Laden gewesen und hatte darin sicher Hunderte Dollar für Musik ausgegeben, deswegen schien es mir richtig, und sei es nur um der alten Zeiten willen, ihm noch einen letzten Besuch abzustatten, bevor er seine Türen für immer schließen würde. Mir war eigentlich nicht nach Shoppen zumute, aber das Versprechen herabgesetzter Preise klang verlockend. Also ging ich hinein. Der Fahrstuhl brachte mich in den ersten Stock. Die Klassik-Abteilung war ungewöhnlich voll und schien sich ganz in der Hand von Männern mittleren Alters in graubraunen Mänteln zu befinden. Sie durchkämmten die CD-Regale mit der Geduld von grasenden Tieren; einige ließen ihre Beute in rote Einkaufskörbe fallen, andere drückten die glänzenden Plastikpäckchen an ihre Brust. Aus der Anlage klang Purcell, ein überschwänglicher Lobgesang, den ich sofort als eine der Geburtstagsoden an Queen Mary identifizierte. Normalerweise missfiel mir die Musik aus den Lautsprechern; sie ruinierte das Vergnügen, an andere Musik zu denken. Ich fand immer, in Musikgeschäften sollte es still sein, sollte man mehr als sonst irgendwo klar denken können. Diesmal machte es mir jedoch nichts aus, weil es ein Stück war, das ich kannte und sehr mochte.
Auch das nächste Stück erkannte ich anhand der ersten Takte, obwohl es etwas völlig anderes war, nämlich der erste Satz aus Mahlers später Symphonie Das Lied von der Erde. Ich stöberte weiter, bewegte mich von Regal zu Regal, von wiederveröffentlichten Schostakowitsch-Symphonien zu längst vergessenen sowjetischen Provinzorchestern und Chopin-Einspielungen jugendlicher Teilnehmer des Van-Cliburn-Wettbewerbs, fand aber die Preissenkungen nicht drastisch genug und verlor jedes Kaufinteresse. Schließlich folgte ich nur noch der Musik, die in ihren seltsamen Schattierungen auf mich niederrieselte. Es passierte fast unmerklich, aber kurze Zeit später war ich so versunken, dass es für die Außenwelt so ausgesehen haben mochte, als sei ich in den Tiefen privater Abgründe gefangen. In dieser Trance bewegte ich mich durch die CD-Reihen, fingerte durch Plastikhüllen, Zeitschriften und Partituren und lauschte der Klangbewegung dieser Wiener Chinoiserie. Im zweiten Satz, beim Lied über die Einsamkeit des Herbstes, erkannte ich Christa Ludwigs Stimme und damit die berühmte Aufnahme, die Otto Klemperer 1964 dirigiert hatte. Auf diese Erkenntnis folgte noch eine: Ich musste nur abwarten, bis die Komposition ihren emotionalen Kern erreichte, also bis zum Finale der Symphonie. Und so setzte ich mich auf eine der harten Bänke neben den Hörstationen und ließ mich forttragen, folgte Mahler durch Trunkenheit, Sehnsucht, Bombast, Jugend (und ihr Schwinden), Schönheit (und ihr Schwinden) bis hin zum Finale, zum Abschied, wo Mahler »schwer« notiert hatte, anstatt wie üblich das Tempo anzugeben.
Das Vogelzwitschern und die Anmut, die Klagen und ausgelassenen Sprünge der vorangegangenen Sätze waren einer andersartigen Stimmung gewichen, die stärker war, entschlossener, und die mich traf wie plötzliches grelles Licht, das in den Augen schmerzt. Es war unmöglich, ganz in der Musik aufzugehen, nicht an diesem öffentlichen Ort. Ich legte den kleinen Stapel CDs auf den nächstbesten Tisch und verließ das Geschäft. Ich schaffte es gerade noch in die nächste Bahn Richtung Uptown, bevor sich die Türen des Wagens schlossen. Die Menschenmengen vom Marathon verliefen sich allmählich. Ich fand einen Sitzplatz und lehnte mich zurück. Das Fünfnoten-Motiv aus dem Schlusslied klang in meinem Kopf nach, so intensiv, als würde ich noch immer dort stehen, von wo ich geflüchtet war, und zuhören. Ich spürte das Holz der Klarinetten, das Kolophonium der Geigen und Bratschen, die Vibrationen der Pauken und die Intelligenz, die alle Instrumente im Kurs der Musik zusammenhielt und steuerte. Mein Erinnerungsvermögen war überwältigt. Das Lied folgte mir nach Hause.
Auch am nächsten Tag legte sich Mahlers Musik über all meine Aktivitäten und verlieh den alltäglichen Dingen des Krankenhauses eine neue Qualität: das Glänzen der Glastüren am Eingang zum Milstein-Gebäude, die Untersuchungstische und Tragbahren im Erdgeschoss, die Stapel von Patientenakten in der psychiatrischen Abteilung, das durch die Fenster der Kantine einfallende Licht, die Gebäude in Uptown, die von hier oben so aussahen, als ließen sie ihre Köpfe hängen. Es war, als ob sich die Präzision der orchestralen Textur in die Welt der sichtbaren Gegenstände übertragen und jedes Detail mit Bedeutung aufgeladen hätte. Einer meiner Patienten saß mir mit überkreuzten Beinen gegenüber, und sein in der Luft hängender schwarz polierter Schuh, in dem der Fuß zuckte, schien ebenfalls Teil dieser vertrackten musikalischen Welt geworden zu sein.
Als ich das Presbyterian Hospital verließ, ging gerade die Sonne unter; der Himmel war überzogen von einem zinnartigen Schimmer. Ich nahm die Subway zur 125. Straße, und während ich durch mein Viertel ging, fühlte ich mich weniger ausgebrannt als sonst an einem Montagabend. Also nahm ich einen kleinen Umweg und lief eine Weile durch Harlem, wo sich mir das lebhafte Treiben der Straßenhändler darbot: die senegalesischen Tuchverkäufer, die jungen Männer, die Bootleg-DVDs verkauften, die Stände der Nation of Islam. Es gab selbstverlegte Bücher, Dashikis, Black-Liberation-Plakate, bündelweise Räucherstäbchen, Fläschchen mit Parfüm und Ölessenzen, Djembé-Trommeln und Touristen-Schnickschnack aus Afrika. Auf einem Tisch waren vergrößerte Fotografien ausgelegt, die Lynchmorde an Afroamerikanern im frühen 20. Jahrhundert dokumentierten. An der Ecke St. Nicholas Avenue versammelten sich die Schwarztaxifahrer. Sie rauchten, plauderten und warteten auf Fahrgäste, die sie auf eigene Rechnung transportieren konnten. Junge Männer mit Kapuzensweatshirts, Vertreter einer Schattenwirtschaft, tauschten Botschaften und kleine Plastikpäckchen aus und vollführten eine Choreographie, die außer ihnen niemand durchschaute. Ein alter Mann mit aschgrauem Gesicht und gelben Glupschaugen lief an mir vorbei und hob den Kopf, und ich (während ich einen Moment lang dachte, er wäre jemand, den ich kannte oder früher einmal gekannt oder gesehen hatte, um augenblicklich jede dieser Möglichkeiten wieder zu verwerfen und von der Angst durchzuckt zu werden, die schnelle Folge dieser irreführenden Kurzschlüsse könnte mich aus der Bahn werfen) erwiderte seinen schweigsamen Gruß. Ich drehte mich nach ihm um und sah, wie seine schwarze Kutte mit einem unbeleuchteten Hauseingang verschmolz. Im abendlichen Harlem gab es keine Weißen.
Im Lebensmittelladen kaufte ich Brot, Eier und Bier, nebenan beim Jamaikaner Ziegencurry, gelbe Kochbananen, Reis und Erbsen. Gegenüber befand sich eine Blockbuster-Videothek; obwohl ich dort nie etwas ausgeliehen hatte, war ich verblüfft, auch hier ein Schild zu lesen, das die Ladenschließung bekanntgab. Wenn Blockbuster nicht einmal in einer Gegend voller Studenten und Familien überleben konnte, dann musste das Geschäftskonzept grundsätzlich fehlerhaft sein, dann kamen all die desperaten Maßnahmen der letzten Zeit, die mir jetzt wieder einfielen, die Senkung der Ausleihgebühren, die Werbeoffensive und die Abschaffung von Gebühren bei verspäteter Rückgabe, zu spät. Automatisch musste ich an Tower Records denken, schließlich hatten beide Unternehmen lange ihre jeweiligen Branchen dominiert. Nicht, dass mir diese anonymen Großunternehmen leidtaten, im Gegenteil. Sie hatten sich ihren Namen und ihren Gewinn auf Kosten der kleineren, alteingesessenen lokalen Geschäfte gemacht. Aber nicht nur die Tilgung einstmals fester Koordinaten meiner mentalen Landschaft bewegte mich, sondern auch die Schnelligkeit und sachliche Beiläufigkeit, mit der der Markt sogar die vermeintlich stabilsten Unternehmen verschlang. Firmen, die noch vor wenigen Jahren als unerschütterlich galten, verschwanden innerhalb einer gefühlten Zeitspanne von zwei oder drei Wochen. Ihre wie auch immer geartete Rolle wurde anderen überlassen, die vorläufig ebenso unantastbar erscheinen, dann aber ihrerseits von unvorhersehbaren Veränderungen bezwungen werden würden. Auch diese Überlebenden würden irgendwann vergessen sein.
Als ich mich mit den Einkaufstüten meinem Hauseingang näherte, erblickte ich den Mann, der direkt neben mir wohnte. Er kam gleichzeitig mit mir an und hielt mir die Haustür auf. Ich kannte ihn nicht gut, eigentlich kannte ich ihn überhaupt nicht und musste einen Moment nachdenken, bevor mir sein Name einfiel. Er war Anfang fünfzig und vor einem Jahr eingezogen. Seth, so hieß er.
Ich hatte nur einmal mit Seth und seiner Frau Clara gesprochen, kurz nachdem sie eingezogen waren. Er war ein pensionierter Sozialarbeiter, der sich einen lebenslangen Traum erfüllte und noch einmal studierte, Romanistik. Ich sah ihn ungefähr einmal im Monat, vor dem Haus oder an den Briefkästen. Carla, die ich seit dem Einzug der beiden nur zweimal getroffen hatte, war Schuldirektorin in Brooklyn gewesen, wo sie immer noch eine Wohnung hatten. Einmal, als meine Freundin Nadège und ich gemeinsam einen freien Tag verbrachten, klopfte Seth an meine Tür und fragte, ob ich Gitarre spielte. Als ich verneinte, erklärte er mir, dass er nachmittags oft zu Hause sei und ihn der Lärm meiner Lautsprecher (es müssen Ihre Lautsprecher sein, sagte er, obwohl es wie Livemusik klingt) manchmal stören würde. Doch dann fügte er hinzu, und echte Wärme lag in seiner Stimme, dass sie an den Wochenenden immer weg seien und dass wir ab Freitagnachmittag ruhig laut sein könnten, wenn uns danach sei. Es tat mir leid, und ich entschuldigte mich. Fortan hatte ich mich bemüht, ihnen keinen Ärger mehr zu bereiten, und es gab keine weiteren Beschwerden.
Seth trug, wie ich, einige Einkaufsbeutel. Es ist kalt geworden, sagte er. Seine Nase und seine Ohrläppchen hatten sich rosa gefärbt, und seine Augen tränten. Stimmt, erwiderte ich, ich hab sogar überlegt, von der 125. ein Taxi zu nehmen. Er nickte, und wir standen eine Weile schweigend da. Als der Aufzug kam, stiegen wir ein und im siebten Stock wieder aus, und als wir dann den Korridor entlangliefen, raschelten unsere Nylonbeutel. Ich fragte ihn, ob sie immer noch an den Wochenenden wegfahren würden. O ja, jedes Wochenende, antwortete er, aber jetzt fahre ich allein, Julius. Carla ist im Juni gestorben. Sie hatte einen Herzinfarkt.
Ich war erschüttert und völlig verwirrt, als hätte mir jemand etwas mitgeteilt, das unmöglich sein könne. Das tut mir so leid, sagte ich. Er senkte den Kopf, und wir liefen weiter den Gang entlang. Ich fragte, ob er einige Zeit mit der Uni hatte aussetzen können. Nein, sagte er, ich hab einfach weitergemacht. Ich legte einen Moment lang meine Hand auf seine Schulter und wiederholte, wie leid es mir täte, und er bedankte sich bei mir. Es schien ihm leicht peinlich zu sein, sich mit meinem verspäteten Schock über etwas auseinanderzusetzen, das für ihn so viel persönlicher war als für mich, aber auch schon viel länger zurücklag. Unsere Schlüssel klirrten, er betrat seine Wohnung, Nummer einundzwanzig, und ich meine, zweiundzwanzig. Ich schloss die Tür hinter mir und hörte auch seine ins Schloss fallen. Ich machte das Licht nicht an. Im Zimmer nebenan war eine Frau gestorben, auf der anderen Seite dieser Wand, an die ich mich immer lehnte, war sie einfach aus dem Leben getreten, und ich hatte nichts davon mitbekommen. Nichts in den vielen Wochen, in denen ihr Mann getrauert hatte, nichts, als ich ihm zum Gruß mit Kopfhörern auf den Ohren zugenickt hatte, nichts – nicht einmal, als ich in der Waschküche meine Sachen zusammenlegte, während er vor der Waschmaschine saß. Ich hatte ihn nicht gut genug gekannt, um ihn regelmäßig zu fragen, wie es Carla gehe, und ich hatte auch nicht bemerkt, dass sie nicht mehr da war. Das war das Schlimmste daran. Ich hatte weder ihre Abwesenheit noch eine Veränderung – es musste doch eine Veränderung gegeben haben – in seiner Stimmung wahrgenommen. Es wäre trotzdem nicht möglich gewesen, auch damals nicht, an seine Tür zu klopfen und ihn zu umarmen oder länger mit ihm zu reden. Eine derartige Vertrautheit wäre künstlich gewesen.
Ich machte das Licht an und ging in die Wohnung. Ich stellte mir vor, wie sich Seth mit seinen Übungen in Französisch oder Spanisch abplagte, wie er Verben konjugierte, an Übersetzungen feilte, Vokabeln lernte, Aufsätze schrieb. Als ich meine Einkäufe auspackte, versuchte ich zu rekonstruieren, wann genau er an meine Tür geklopft hatte, um mich zu fragen, ob ich Gitarre spielte. Es musste vor, nicht nach dem Tod seiner Frau gewesen sein. Ich spürte Erleichterung darüber, die fast augenblicklich einem Gefühl der Scham wich. Aber auch dieses Gefühl verebbte; viel zu schnell, wenn ich es mir jetzt überlege.