In ihrem neuen Buch porträtiert die Journalistin Ruth-Esther Geiger eine bunt gemischte Gruppe junger Erwachsener aus Migrantenfamilien, die über Ausbildung und Studium unterwegs zu einer beruflichen Karriere sind. Sie lässt die begabten Studentinnen, Trainees, Praktikanten auch selbst zu Wort kommen, schildern, wie ihnen ihr Start ins Leben gelungen ist (oder noch nicht). Wie sie die Gesellschaft, in die sie hineinwachsen, wahrnehmen. Ob sie sich für ihre Altersgenossinnen engagieren. Werden sie bleiben? Ist ihnen das Thema Integration wichtig? Oder bietet ihnen Deutschland in diesen Zeiten der Globalisierung das Sprungbrett für eine internationale Karriere? Es geht um Pioniere der Integration: um ihre Chancen hierzulande und um das Potential, das sie für ein leistungsstarkes und kreatives »Deutschland der Vielfalt« darstellen. Alle Beteiligten sind ehemalige Schüler-Stipendiaten der START-Stiftung, die am Zustandekommen dieses Buchs beteiligt ist.

Ruth-Esther Geiger, geboren 1950, arbeitet als Coach, Autorin und Journalistin. Sie lebt in Hamburg und Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie: Ihr seid Deutschland, wir auch. Junge Migranten erzählen. Mit einem Geleitwort von Claus Kleber (st 4009). Die Süddeutsche Zeitung schrieb: »Die jungen Einwanderer, die hier ihre Geschichten erzählen, geben der Integration ein ganz neues Gesicht.«

Deutschland – meine Option?

Junge Migranten am Start

Von Ruth-Esther Geiger

Mit einem Vorwort von Harald Martenstein

Suhrkamp

Umschlagfotos: Dieter Roosen

Bei den Fotos im Buch handelt es sich um Privataufnahmen der Porträtierten.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teile des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels

eISBN 978-3-518-79200-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort von Harald Martenstein

Einleitung

Leidenschaftliche Aufklärer

»Alles fing mit einem Lehrer an« Mohamed Rhounan

»Mein Onkel war mein Vorbild, jetzt bin ich selbst eins« Sevin Isikli

Der Verein InteGREATer, gegründet von Ümmühan Ciftci

10 Jahre START

Sanfte Beweger

»Ich bin nicht so die Heilerin, eher möchte ich medizinisch forschen« Shala Mohtezebsade

»Deutschland meine Heimat, Jura mein Gebiet – und Kinder wollen wir auch« Alexandra Nicolai

»Ich vermisse Deutschland, sobald ich im Flugzeug sitze!« Mojtaba Qalanawi

Charismatische Botschafter

»Unterstützung verpflichtet« Abdel-Latif Arouna

Das Projekt Young United Cultures, YUC, gegründet von Abdel-Latif Arouna, geleitet von Efpraxia Dermitzaki

»Berlin inspiriert, meine Familie erdet mich« Merveille Mubakemeschi

Neue Manager

»Das Richtige ergibt sich meistens durch Aufmerksamkeit« Vefa Alparslan

»Manchmal muss man alles auf eine Karte setzen, aber ich wäge gern vorher ab« Ilia Khassine

»Ab und an beneide ich die, die schon mit ihrem Beruf sozial sein können« Arsalan Moradi-Chargari

Selbstgegründete Projekte, Netzwerke von START-Stipendiaten und -Alumni

Vielfalt und Partizipation

Vorwort

von Harald Martenstein

»Migration« bedeutet »Wanderung«. Fast jeder Mensch hat heutzutage einen Migrationshintergrund. Ich zum Beispiel bin in der Stadt Mainz aufgewachsen und lebe, nach Jahren des Umherwanderns, nun schon seit einer Ewigkeit in der Stadt Berlin. Wenn man mich fragen würde, ob ich ein Mainzer bin oder ein Berliner, könnte ich diese Frage nicht beantworten. Wieso soll ich mich da überhaupt entscheiden? Ich bin beides. Das geht ohne weiteres. Zu beiden Städten habe ich eine besondere, enge Beziehung, beide haben mich geprägt und gehören beide zu meinem Leben.

Außerdem bin ich Mann, Deutscher, Vater, Journalist und noch alles mögliche andere, all diese Eigenschaften sind bis ans Ende meiner Tage Teil der Persönlichkeit, beeinflussen meine Weltsicht und begründen gewisse Loyalitäten. Wenn jemand pauschal etwas gegen die Männer sagt, fühle auch ich mich gemeint, aber das Gleiche gilt, wenn jemand gegen Journalistinnen vom Leder zieht. Jede Identität ist ein Patchwork, deshalb kann ich nicht begreifen, warum manchmal von Migranten verlangt wird, dass sie sich zwischen den verschiedenen Bestandteilen ihrer Biographie entscheiden sollen.

Das geht doch gar nicht. Das ist, als ob man sich zwischen dem Herausreißen des Herzens und der Amputation des Gehirns entscheiden müsste.

Der Unterschied zwischen, beispielsweise, der Türkei und Deutschland ist natürlich größer als der zwischen Mainz und Berlin. Das ändert nichts Grundsätzliches, finde ich. Der italienische Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Pasolini war gleichzeitig ein tiefgläubiger Katholik, ein Kommunist und ein Homosexueller, das ist nun wirklich ein sehr weiter Spagat, den er schaffen musste, denn er war alles drei mit Haut und Haar. Er hat es hinbekommen, hat mal die Kirchenfeindlichkeit der Kommunisten kritisiert, mal die Schwulenfeindlichkeit der Kirche kritisiert, mal diesen verteidigt, mal jenen angegriffen und daraus ein faszinierendes künstlerisches Lebenswerk gemacht.

Ein Leben aus einem Guß ist vermutlich einfacher, aber auch langweiliger. Die Widersprüche und die Konflikte, die man in sich austrägt, können ein Motor sein, unter anderem, weil sie eine Person dazu zwingen, sich immer wieder Fragen zu stellen. Manchmal muss man sich natürlich entscheiden. Ein Fußballer kann nur für ein Land spielen, nicht für zwei. Muss er deswegen aufhören, auch das andere Land in seinem Herzen zu tragen? Auch das geht nicht.

Ich halte es für legitim, wenn bei solchen Entscheidungen pragmatische oder meinetwegen egoistische Motive eine Rolle spielen – man spielt vielleicht für das Land, dessen Team die größeren Chancen hat, Weltmeister zu werden, man arbeitet vielleicht dort, wo die Karriereaussichten besser sind. Wir alle haben, trotz mehrerer Identitäten, nur ein Leben und wollen das Beste aus unseren Möglichkeiten machen.

In diesem Buch geht es um Menschen, die ihr Berufsleben gerade beginnen oder vor kurzem begonnen haben. Von Leuten wie ihnen wird Deutschland immer stärker geprägt werden. Wir haben heute einen Parteivorsitzenden mit Migrationshintergrund (Cem Özdemir), einen der erfolgreichsten Filmemacher (Fatih Akin), einen der besten Autoren (Feridun Zaimoglu), eine Fernsehkommissarin (Sibel Kekili), überhaupt sehr viele Moderatoren und Schauspieler. Die Erfahrung lehrt, dass Minderheiten oder Gruppen mit schwierigeren Startbedingungen zuerst in den Künsten und im Showgeschäft Fuß fassen, so war es auch bei den Afroamerikanern, danach erst erobern sie Positionen in der Politik. Ganz zuletzt gelingt der Aufstieg in die Wirtschaftseliten, in die Aufsichtsräte und Vorstände.

Lesen wir in diesem Buch etwas von einem künftigen Bundeskanzler? Oder einer Konzernchefin? Es ist nicht unmöglich. Probleme gibt es, jede Menge, und auch über die Probleme muss gesprochen werden. Aber das Wichtigste ist dieses langsam wachsende Gefühl, bei euch, den so genannten Migranten, und bei uns, den so genannten Herkunftsdeutschen: Wir teilen uns dieses Land, wir gehören zusammen. Aber deswegen müssen wir nicht gleich sein, jeder darf andere Träume haben. Und nichts ist unmöglich.

Einleitung

Vor fünf Jahren habe ich Schüler porträtiert, die nach Deutschland eingewandert waren oder hier von eingewanderten Eltern erzogen wurden. Heute sind diese Schüler Studenten oder junge Berufstätige. Drei der damals Interviewten sind in diesem Buch wieder dabei: Abdel, Mojtaba und Ümmühan. Auch alle anderen der hier zu Wort Kommenden haben einst ein START-Stipendium bekommen, ein Stipendium der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung für ›Engagierte Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund‹. Heute gehören sie zu der viel umworbenen neuen akademischen Generation, die die Universitäten verlässt und hoffentlich in Deutschland arbeitet, um uns den Schrecken vor den Auswirkungen des demografischen Wandels zu nehmen.

Wollen sie in Deutschland bleiben nach einer guten Ausbildung, sehen sie hier eine Chance für sich? Was müsste sich ihrer Meinung nach ändern für ein friedvolles und erfolgreiches Zusammenleben in unserem Land? Das herauszufinden war eine der Ausgangsintentionen dieses Buchs. Denn klar ist, wir brauchen diese Talente dringend. Aber brauchen sie uns?

Ein letztes Mal wollten wir im Untertitel das Wort ›Migranten‹ benutzen, als Eyecatcher sozusagen. Danach sollte es aus unserem Bewusstsein verschwinden. Gesellschaftliche Vielfalt und Teilhabe mit Verantwortung, das muss in unserer von neuem bürgerschaftlichem Engagement geprägten Ära mit Leben gefüllt werden. Jedenfalls ist dies der Wunsch der meisten Porträtierten, denen mit zu verdanken ist, dass die START-Stiftung auf zehn Jahre erfolgreiche Integrationsarbeit zurückblicken kann. Ausgewählt wurden ehemalige Stipendiaten der Förderjahrgänge 2003-2010, die gerade am Ende des Studiums stehen und/oder erste Berufserfahrung haben, sowie junge Studierende, die sich ihren Weg durch die Universität gerade bahnen und sich Fragen nach dem Sinn ihres Studiums und dessen Verwertbarkeit stellen.

Mit Unterstützung der START-Stiftung habe ich sechs junge Frauen und sechs junge Männer ausgesucht. Vielfalt und Spannweite sollten sichtbar werden, doch es kann natürlich keine repräsentative Auswahl sein. Unbestritten ist, dass diese Menschen in gewisser Weise Ausnahmen und Vorbilder sind, aber ihre Zahl wächst. Man kann es an den Stipendiatenzahlen von START ablesen. Es begann 2003 mit 20 Plätzen, heute werden über 700 Stipendien finanziert. Durch ehemalige Stipendiaten, die Lehrer werden, und durch eigeninitiierte Projekte, die sich an Schüler und Eltern wenden (wie ›Young United Cultures‹ und ›InteGREATer‹), lassen sich immer mehr Jugendliche für einen höheren Bildungsweg mit sozialem Engagement entdecken, erreichen und motivieren.

Welche Unterschiede kann man feststellen unter diesen jungen Vorbildern, und welche Gemeinsamkeiten gibt es? Ohne vorzugreifen, lässt sich sagen: Die persönlichen Wünsche an ein erfülltes Leben sind fast immer mit Familie und Karriere verbunden – und oft mit sozialem Engagement. Wobei eine konkrete sozialpolitische oder soziale Arbeit neben dem Studium mehrheitlich von den jungen Frauen geleistet wird, bei den Männern ist sie eher als Zukunftsvision vorhanden.

Ansonsten leben die Porträts von den Charakter- und Temperamentsunterschieden der Interviewten, auch vom unterschiedlichen Umgang mit Leistungsdruck und Leistungsansporn. Unterschiedliche Lebensformen wie Wohngemeinschaften, Ehe oder Herkunftsfamilie kommen zur Sprache, es zeigt sich, dass niemand allein oder in einem Studentenwohnheim lebt.

Deutschland – meine Option? will in die Debatte über Integration eingreifen, indem es Menschen zu Wort kommen lässt, die Betroffene, Reflektierende und Aktivisten zugleich sind. Sie sind nicht nur porträtiert worden, ich wollte nicht nur über sie schreiben, sondern mich interessierten ihre Expertenmeinung zum Prozess der Integration, ihre Erfahrung mit Deutschland, ihre Ideen, wie man andere junge Menschen und deren Eltern in engeren Kontakt mit Deutschen und den gesellschaftlichen Orten der Partizipation bringen kann.

Wenn junge Menschen früh einen zielgerichteten und leistungsorientierten Weg einschlagen, besteht bei allem Bewundernswerten, das dieses Unterfangen hat, auch die Gefahr, dass sie sich überschlagen oder übernehmen und dass sich ihre Erwartungen, anerkannt und belohnt zu werden, nicht erfüllen oder dass sie in der Selbstüberforderung, im Burnout landen. Aus diesem Grund bietet die START-Stiftung ihren Schüler-Stipendiaten Seminare und Workshops zu Kreativität, lebensphilosophischen Fragen und Persönlichkeitsbildung an. Es ist beruhigend für mich gewesen, bei den Interviews auch kritische Töne gegenüber einseitiger Leistungsorientiertheit zu hören. Viele fänden es wünschenswert, wenn auch ihnen, den Studenten, noch solche Seminare angeboten würden. Manche der Geförderten stehen unter enormem Druck, oft ist Sport ihr einziger Ausgleich.

In diesem Buch werden auch die Förderer, Vorbilder und Motivatoren der jungen Leute in die Interviews einbezogen und geschildert. Die Porträtierten konnten sich zwei, drei Menschen aussuchen, die auf ihrem Lebensweg besonders wichtig waren. Als Erstes fielen den meisten die Eltern ein, dann Lehrer, Mentoren, Sporttrainer, Erzieher, Geschwister oder Freunde – und START-MitarbeiterInnen. Immer zeigt sich, welches Netzwerk und wieviel frühe Unterstützung dazugehören, damit sich die Anlagen, die in jungen Menschen liegen, tatsächlich entfalten können.

Das gilt übrigens für alle Kinder und Jugendlichen: Vielen Schülern aus deutschen Familien fehlen heute die Förderer und Mutmacher. Aus eigener positiver Erfahrung wollen die meisten der Porträtierten gern diese Motivatoren für Jüngere, deutsche wie zugewanderte, sein.

Die Lebensberichte der Interviewten werden weitgehend unkommentiert gelassen. Erst im Ausblickskapitel ›Vielfalt und Partizipation‹ geht es darum, herauszufiltern, welches die Momente sind, die die Biografien der jungen Akademiker so vielversprechend machen, was sie weitergehen ließ auf ihrem nicht immer einfachen Weg. Wie könnte eine Strategie gesellschaftlicher Teilhabe breitenwirksamer entwickelt werden, damit es wirklich zu einem Umbildungsprozess in Deutschland kommt, der einerseits die Ressourcen Jugendlicher gesellschaftlich nutzt und ihnen gleichzeitig die Chance zu individueller Entwicklung und einem befriedigenden Berufsweg gibt? Und welche Rolle spielen diese engagierten, manchmal fast irritierend stark motivierten Vorbilder dabei? Ich möchte mich bei ihnen für ihre Offenheit, Nachdenklichkeit und ihre Anregungen bedanken.

Leidenschaftliche Aufklärer

»Alles fing mit einem Lehrer an«

Mohamed Rhounan

Fing wirklich alles mit einem Lehrer an? Oder nicht eher mit den Schülern? Mohamed aus Ratingen bei Düsseldorf wollte schon als Schüler Lehrer werden, und zwar Spanischlehrer. Heute studiert er Spanisch und Englisch im zweiten Semester und hat gerade sein erstes vierwöchiges Schulpraktikum hinter sich. Schon seine Mitschüler sagten: »Ey Mohamed, du musst Lehrer werden, du kannst echt mitreißen!« Was bringt einen großen, sportlich schlanken jungen Mann dazu, sich, kaum ist er der Schule entronnen, wieder der Schule zu widmen? »Ich möchte das, was ich bekommen habe, weitergeben«, sagt er, ohne länger zu grübeln. Was war denn so begeisternd an der Schule?

»Ich hatte einige Lehrer, die an mich glaubten, die mein Talent erkannt und mich von der Hauptschule über die Realschule bis ins Gymnasium gefördert haben.« Bei denen scheint der junge Deutsche mit dem braunen gewellten Haar und dem leicht gebräunten Teint zum Glück an die Richtigen geraten zu sein. Er lächelt fast versonnen, wenn er von ihnen erzählt, während er stolz mit mir durch sein Ratingen schlendert. »Das kenne ich wie meine Westentasche«, sagt er, als wir zum Schreibwarenladen seiner Kindheit kommen, der noch genauso aussieht wie in den 90er Jahren, mit Schulmappen und Buntstiften, Tuschkästen vor der Tür, der 50er-Jahre- Schrift auf dem Schaufenster. »Mein Vater hat in mir die Begeisterung für diese kleine Stadt mit der schönen Altstadt geweckt.« Sie wohnen am Rande der Altstadt.

Mohamed Rhounan

Mohamed, dessen Eltern aus Marokko stammen – Vater Bergarbeiter und Baggerfahrer, Mutter Hausfrau und Reinigungshilfe –, hat schon früh die Gabe entwickelt, seine Umwelt genau zu beobachten und von ihr zu lernen. Seine Eltern können wenig Deutsch, er aber ist im evangelischen Kindergarten von den Sprösslingen des Vororts Hösel, in dem sie damals wohnten, sprachlich sehr bald kaum zu unterscheiden.

Die Mutter ist von Anfang an in der Familie die Innen- und Bildungsministerin. Sie hat nie Deutschunterricht erhalten, da sie in Deutschland nicht berufstätig war, außer als Putzhilfe im Kindergarten, in den Mohamed vor der Schulzeit ging, als zweites von zwei Ausländerkindern in den 90er Jahren. Die Mütter dieser beiden Kinder, eine Türkin und Latifa, Mohameds Mutter, wurden von der damaligen Erzieherin Frau Weinszieher angesprochen, ob sie nicht aushelfen könnten beim Kita-Reinigen.

Latifa (übersetzt: die Sanftmütige) hatte in Marokko das Abitur bestanden und zwei Jahre als Erzieherin gearbeitet. Nun kam sie endlich aus ihrer häuslichen Isolation heraus und nahm den Job mit Freude an. So konnte sie ein nahes Verhältnis zu der neuen Bezugsperson ihres Sohnes aufbauen, was ihr gelegen kam. Denn Mohameds Mutter war eine sehr behütende Mutter. Zuerst wollte sie dem Kleinen verbieten, an größeren Ausflügen teilzunehmen. Erst als die Erzieherin ihr erklärte, wie wichtig das für Entwicklung und Integration der Kinder in die Gruppe sei, gab sie nach. »Aber nur, wenn Sie besonders auf ihn aufpassen!« »Und seitdem habe ich eben eine besondere Beziehung zu Sohn und Mutter aufgebaut«, sagt die Erzieherin. »Er ist auch ein bisschen mein Sohn geworden.« »Und sie ist wie eine Schwester für mich«, sagt Latifa lachend, die fünfzigjährige resolute und herzliche Marokkanerin mit der Hornbrille, dem langen hochgebundenen Haar und dem jung gebliebenen Gesicht.

Ihr Mann ist zwanzig Jahre älter. Mohamed hat aber damit keinen alten Vater gehabt, sondern er spielte mit ihm Handball, wanderte mit ihm durch die Wälder und pflanzte Gemüse an im Schrebergarten in Hösel. Das tut Herr Rhounan noch heute, und Mohamed hilft ihm dabei, wenn er Semesterferien hat, oder er zielt mit dem Handball ins dort aufgestellte Tor.

Der Vater war der Außenminister, er verdiente das Geld für die Familie. Als es keine Arbeit in der Zeche mehr gab für den hochgewachsenen, stattlichen Mann, arbeitete er in Essen als Baggerführer und Fahrer. Der Garten, »bloß keine Schreberkolonie«, sondern frei am Stadtrand liegend, ist sein Ausgleich. Auch jetzt als Rentner nutzt er ihn, um sich zu erholen und zur Bereicherung der Küche – so gern, wie er isst und gelegentlich kocht. Couscous mit Hühnchen, Hirse und Gemüse, das Nationalgericht, wird auch mit mir geteilt und von einer großen Platte gemeinsam gelöffelt, die Hähnchenteile nimmt man in die Hand.

Latifa ist es, die trotz mangelnder Deutschkenntnisse Mohameds Haltung zur Schule prägt – das meiste Deutsch hat sie in den drei Monaten, die sie während der Schwangerschaft im Krankenhaus liegen musste, gelernt. Lernen macht Spaß, und die Schulsachen müssen immer in Ordnung sein, damit man loslegen kann und schnell mitkommt, ist ihre Devise. Und erst macht man die Schulaufgaben, dann wird gespielt. Mit wem ihr Sohn spielt, das will sie genau wissen, um schlechten Einfluss von ihm abzuhalten.

Schon in der Hauptschule wird Mohameds Talent entdeckt, ihm fallen alle Fächer leicht, aber besonders fällt auf, dass er sich gut im Mündlichen ausdrücken kann, interessierte Fragen stellt und seine Hefte immer in Ordnung sind. Dabei sitzt er nicht auf seinem Wissen, sondern lässt auch Schüler abschreiben. Lieber, sagt er heute, habe er aber mit ihnen zusammengearbeitet.

»Herr Schelhaas, mein Hauptschullehrer, hat uns nicht nur viel Wissen, sondern auch Arbeitsorganisation beigebracht. Der hat mir früh geraten, alles zu machen, worauf ich Lust habe, Sport, Musik, Wandern und Lesen, mit Leuten über das Leben reden. Er hat mich wohl bei den Gruppenarbeiten beobachtet und gesehen, dass ich andere mitreißen und anregen kann.«

Die siebte Klasse, in die Mohamed ging, war sehr »vielfältig«, wie der junge Student das ausdrückt.

»Wir hatten auch vor Herrn Schelhaas, der dann zu uns kam, eine sehr gute junge Lehrerin, aber die kam mit der Stimmung dort nicht so zurecht.«

Der neue Klassenlehrer schaffte es mit unkonventioneller und direkter Art, die Aufmerksamkeit der Klasse zu bekommen. »Der hatte wirklich eine gute Performance, manchmal zum Totlachen, wenn er zum Beispiel Dehnübungen bei Klausuren machte, die Füße dabei von seinem Pult aus auf meinem Tisch abdrückte. Er spielte richtig gut Basketball mit uns, und er konnte unsere Sprache!«

Ich frage skeptisch: Ist das nicht etwas peinlich?

»Nein, das empfanden wir als cool. Es kommt immer darauf an, wer das wie macht. Es muss authentisch sein, und das war es bei Herrn Schelhaas, der machte das so lässig.«

Heute hat sich Mohamed zur Lehrerrolle natürlich weitere Gedanken gemacht. Er findet es grundsätzlich positiv, wenn Erwachsene sich an die Jugendlichen anpassen können, ohne sich selbst zu verraten. Man müsse es schaffen, sich in ihr Bewusstsein einzufädeln, um zu dem vorzudringen, was man berühren will. Was man an Bildung und an Eigenmotivation in ihnen verankern kann fürs Leben.

»Der Lehrer ist ja Motivator, Freund und Autorität, also ein großes Vorbild – der kann sehr viele Akzente setzen, was Integration betrifft, indem er es vorlebt. Indem er selbstverständlich als ›Ausländer‹ unterrichtet und indem er mehr die Gemeinsamkeiten hervorhebt als die Unterschiede. Es geht darum, das zu betonen, was uns verbindet, und nicht das, was uns unterscheidet, ist meine Meinung. Konflikte entstehen immer aus dem Betonen der Unterschiede.«

Hier klingt eine gewisse Harmonie-Sehnsucht heraus, die, unter Umgehung von Konflikten, manche der zukünftigen Akademiker mit Migrationshintergrund auszeichnet, besonders dann, wenn sie keine diskriminierenden Erfahrungen in Deutschland oder ihren Herkunftsländern gemacht haben. Das klingt ganz anders bei jungen Menschen mit Rassismus-Erfahrungen, die sich einsetzen wollen gegen Ausgrenzung, Gewalt und Überheblichkeit und dabei auch die Thematisierung und Bearbeitung der Vorurteile fordern.

Mittlerweile gibt es in mehreren Bundesländern Vereinigungen von Lehrkräften mit Migrationshintergrund. Sie wollen ihr Potential nutzen, ihre Muttersprache, ihre Nähe zu Kindern mit ähnlichem Hintergrund, ihre Möglichkeit, zu schlichten und zu motivieren. Es gibt besondere Stipendien für Lehramtsstudenten mit diesen Ressourcen (Horizonte Stipendium), und es werden immer mehr dieser Studierenden auch wirklich Pädagogen.

Mohamed hat ein Stipendium von der Heinrich-Böll-Stiftung, und er ist von der Vereinigung ›Lehrer mit Migrationshintergrund in NRW‹ schon häufiger zu Veranstaltungen eingeladen worden, auch aufs Podium. Trotzdem sagt er: »Ich war jetzt zum Beispiel an einer Schule, wo kaum ausländische Schüler waren, als unterrichtender Praktikant. Und die waren von meiner Unterrichtsart begeistert, egal, ob ich Marokkaner bin oder Deutscher. Und ich bin ja auch Deutscher und fühle mich so. Ich versuche immer die Menschen zu sehen, nicht die Nationalität. Mein Ehrgeiz ist, auch die deutschen Schüler wieder mehr zu motivieren, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Man sollte es mit der Betonung von ›migrantischen‹ Lehrern nicht übertreiben, ich stehe nicht auf dieses Separieren. Man lebt ja nicht in einer marginalen Gesellschaft, sondern ist Teil einer großen gemischten Gesellschaft und sollte da kommunizieren.«

Mohamed ist seit kurzem in der ›Agentur Neues Handeln‹ als freier Mitarbeiter, neben dem Studium, beschäftigt. Die Agentur richtet unter anderem Seminare für START-Stipendiaten aus. So kann er sein Wissen aus der eigenen Förderzeit und aus dem jetzigen Studium kombinieren und an die Schüler weitergeben, die wie er aus multikulturellen Familien kommen.

Inzwischen sind wir nicht mehr in Ratingen, von der Einkaufsstraße bis zum Marktplatz, unterwegs, sondern in der Wohnung von Familie Rhounan angekommen, in der Mohamed noch sein Zimmer hat. Seine Mutter ruft aus der Küche:

»Mohamed zieht erst aus, wenn er eine eigene Familie gründet. Dann ziehe ich mich zurück, aber so lange unterstütze ich ihn!« Mohamed, der sich aufs Sofa an den Esstisch setzt, lacht: »Egal was passiert, meine Mutter hält immer zu mir. Egal wie perfekt etwas ist, sie macht es perfekter. Es muss eine Sache geben, die nicht perfekt ist, damit sie auch Hand anlegen kann!«

Ich frage, ob er ihr manchmal hilft, wie seinem Vater im Garten. »Ja, wenn sie mich lässt. Sie will mir immer den Rücken fürs Lernen freihalten. Aber sie hat mir beigebracht, was man im Haus eben alles machen muss. Ich stehe gar nicht so darauf, verwöhnt zu werden. Aber ich bin halt ihr einziges Kind. Meine Mutter wird auch eine große Rolle spielen, wenn ich einmal Kinder habe. Sie wird nah dran sein, aber das finde ich gut so. Ihre Liebe hat mich sehr geprägt, und die will ich später meiner Familie dann zukommen lassen.«

Inzwischen sind die frühere Erzieherin und sein Hauptschullehrer zu Besuch gekommen. Mit Herrn Schelhaas, der ihn für das Schülerstipendium für begabte Zuwanderer empfohlen hatte, verbindet ihn heute eine Freundschaft. Der inzwischen pensionierte ›Alt-68er‹ unterstützt den angehenden Lehrer mit einem privaten Stipendium von 50 Euro im Monat. Sie begrüßen sich mit Schulterklopfen. Gegenüber im Sessel sitzt schon länger Frau Weinszieher, die heute Kita-Leiterin bei der evangelischen Kirche in Hösel ist: »Ich habe Mohamed auch nach der Kindergartenzeit erlebt. Die Familie kam oft zu Kirchenfesten und unseren Veranstaltungen, auch um mich zu besuchen. Er war für mich ein Schüler par excellence, das kennt man ja sonst gar nicht. Super ehrgeizig, äußerst höflich und dabei fröhlich. Da habe ich immer gesagt, das mit dem Lernen muss man auch mal ausbremsen. Der muss auch mal am Leben teilnehmen! Er wird sehr erfolgreich sein, aber er darf das normale Leben nicht verpassen. Da muss er auch dabei sein. Er ist sonst zu idealistisch!«

Mohamed widerspricht: Neben Fußball, Handball, Fitness mit Freunden vergesse er, je älter er werde, auch das »schöne Leben« nicht. »Ich bin oft mit Freunden in Düsseldorf zum Chillen und Diskutieren.« Es sind noch immer die besten Schulfreunde aus der Schulzeit, ein angehender Polizist und ein Wirtschaftsstudent. Mit denen kann er über alles reden, auch über Ängste. »Ich hatte nach dem Abi so eine Art Leere und Schmerz in mir, habe oft an den Tod gedacht, habe Angst gehabt, wie schnell alles vorbei sein kann. Dann habe ich angefangen zu beten, das kannte ich vorher nicht. Denn meine Eltern hatten mich nicht dazu gezwungen. Und dann ist etwas in mir ›geswitcht‹ worden. Ich habe mich erst dann intensiv mit dem Islam auseinandergesetzt. Jetzt versuche ich, mich an dessen Grundsätze zu halten. Ich habe, gerade weil es mir gut geht und ich nur ein Leben habe, die Pflicht, anderen Menschen zu helfen, denen es nicht so gut geht. Keiner kann mir sagen, ich wurde hier eben geboren, es ist ein schöner Zufall, und das war’s. Wer so denkt und immer nur danach strebt, noch mehr zu haben, der wird früher oder später auf die Nase fallen! Bei meinen engsten Freunden aus Düsseldorf habe ich mein Herz ausschütten können damals. Sie kannten das, waren in einer ähnlichen Phase.«

Jetzt hat sich Lehrer Schelhaas auf dem Familiensofa mir zugewandt.

Er habe schon früh seine Unterrichtsformen an den Ressourcen der Schüler ausgerichtet und Gruppenarbeit praktiziert, damit sich die Schüler gegenseitig unterstützen können. »Heute wird das ja als der letzte Schrei zur Lernverbesserung propagiert.« Sein Credo ist: So lange wie möglich im Klassenverbund lernen, bundesweite Lehrpläne, durchlässige Schulsysteme zum jederzeitigen Transfer nach oben. Auch Mohamed hatte er die Gesamtschule empfohlen, die diese Möglichkeiten bietet. Der ging dann allerdings erst auf eine Realschule mit Öffnung zum Gymnasium. Was aber Herr Schelhaas nicht übel nahm.

Die Ressourcen auch der lernschwächeren Schüler müssten zur Geltung kommen, sagt der Lehrer – auch auf Gebieten, die nicht zum klassischen Bildungskanon gehören. Damit sie darüber entdeckt und gestärkt werden und damit diese Schüler sich dann auch ihren ›schwächeren‹ Fächern nähern können mit selbstgesetzten Zielen. Darüber hinaus gehe es darum, verstärkt ältere oder leistungsstärkere Schüler als Mentoren oder Multiplikatoren einzusetzen.

Und solch ein Schüler war Mohamed schon früh.

Da das Schülerstipendium soziales Engagement verlangte, sah der Klassenlehrer in Mohamed ein Paradebeispiel für gelungene Integration und gab ihm in der 10. Klasse den Prospekt von START. Mohamed füllte sofort den Fragebogen aus und schrieb auf, was er bisher geleistet hatte, und seine Familiengeschichte. Herr Schelhaas überarbeitete es etwas stilistisch und fügte sein Gutachten hinzu. Und ab ging die Post. Eine Woche später bekam Mohamed die Einladung zum Bewerbungsgespräch bei START. Er musste etwas mehr aus seinem Leben erzählen und über sein Engagement. Er organisierte und inszenierte damals Comedy-Veranstaltungen an der Schule, deren Eintrittsgelder Terre des hommes oder Unicef für Kinderprojekte in Afrika gespendet wurden. Inspiriert hatten ihn die Kinder in Marokko, die durch Zigarettenverkauf selbst für ihr Schulgeld sorgen oder die Familien unterstützen mussten.

Er selbst war bei diesen Comedy-Abenden das größte Unterhaltungstalent.

Die beiden START-Koordinatoren und -Pädagogen aus NRW, die damals in der Aufnahmekommission saßen und ihn jahrelang als Sänger und Entertainer bei den »Bunten Abenden« der Stipendiaten auf der Bühne erlebten, sagten mir später in Wuppertal: »Mohamed hat eine große Gabe, Leute mitzureißen, auch bei den Jahrestreffen unserer Stipendiaten sahen wir das. Allein auf der Bühne, bringt er bis zu 600 Jugendliche aus ganz Deutschland dazu, mitzusingen, mitzutanzen. Man muss ihn fast von der Bühne tragen, um ihn zu stoppen. Er kann da bis heute eine einzigartige Gabe ausleben, vielleicht etwas, das er im Lehrerstudium nicht so verwirklichen kann. Eventuell ist es auch ein Ventil für seine enormen Aufstiegsleistungen, die er seit Jahren bringt. Er hat einfach Charisma, das überspringt. Er ist dabei so natürlich und voller Freude, wenn er die Lieder aus seiner nordafrikanischen Heimat mit ihren Botschaften singt, rhythmisch, emphatisch, manchmal stampfend – das finden die jungen Leute toll.«

Herr Schelhaas hat ein Lerntagebuch zu unserem Treffen bei den Rhounans mitgebracht, das Mohamed ihm zum Schulabschied geschenkt hat. »Es war keine einfache Klasse, in der Mohamed damals war, als ich dort Klassenlehrer wurde. Die Kinder hatten viele Probleme wie Gewalt, Kiffen, Lernbarrieren und schwere häusliche Probleme.« Im Lerntagebuch stehen viele philosophische Gedanken und ein Gedicht zum friedlichen Umgang miteinander, rhythmisch gereimt wie für ein poetry slam. Mohamed zeigt daraufhin ein Fotobuch, das ihm Herr Schelhaas geschenkt hat zum Abschied von der Hauptschule. Man sieht einen großen sportlichen Jungen, immer in Kontakt mit anderen, der manchmal mit seinen schwarzen Locken und dem braunen Teint wie ein brasilianischer Jungsportler aussieht, aber auch verletzlich. Ich kann jetzt verstehen, dass Mutter Latifa manchmal Angst um ihren Jungen hatte.

Mohamed dazu: »Meine Eltern haben mich immer mit dem Auto abgeholt, sie und ich sind ein sehr eingespieltes Team. Meine Mitschüler haben mich natürlich dafür auch mal gehänselt, Kinder sind ja grausam«, er lacht.

»Es gab Momente, da war ich sehr wütend und wollte mit dem Bus allein fahren, jedes Kind fuhr mit dem Bus. Am ersten Tag, als ich endlich allein auf die S-Bahn nach Düsseldorf wartete, da merkte ich auf einmal, dass eine Frau hinter einem Baum mich beobachtete. Ich habe sie am Kopftuch erkannt, meine Mutter. Sie hat sich weggelacht, als ich sie entdeckt habe. Da konnte ich nicht mehr wütend sein. Sie kann immer so gut auch über sich selbst lachen.«

Auch Herr Schelhaas frozzelt in Anwesenheit der Familie Rhounan über die enge Bindung der Mutter an Mohamed. Der Vater, Herr Rhounan, lächelt.

Frau Weinszieher und Frau Rhounan antworten jetzt gemeinsam, dass die heutige Kita-Leiterin manchmal von Mohameds Mutter beauftragt wurde, aus ihrem Sohn herauszubekommen, wie es ihm ginge. Das gelang ihr auch meist, weil der Junge ihr vertraute. Sie hat ihn mit Kleidungs- oder Sportausrüstungs-Einkäufen ab und an unterstützt, und dabei kam man locker ins Gespräch. Aber der Mutter sagte sie dann anschließend nur am Telefon: »Soweit alles okay, Latifa, alles okay, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen!«

Was denkt der angehende Pädagoge über häusliche Kindererziehung, darüber, wie er seine eigenen Kinder einmal erziehen will?

»Ich bin ja von meinen Eltern sehr viel zuhause behalten worden, immer abgeholt worden von allen Unternehmungen mit dem Auto, und selten durfte ich in anderen Familien spielen. Das war wirklich ein Rundumservice, aber auch na ja … Ich finde die Ganztagsschule sehr gut für Kinder und Jugendliche. Und ich finde es wichtig, dass Kinder andere Familien kennen lernen. Dann stellt man doch privat die Fragen, die wichtig sind, um sich zu verstehen. Dann muss das nicht so viel in der Öffentlichkeit thematisiert werden.«

Mohamed setzt in seinen Praktika viel von dem um, was er bei seinem Lehrer und Mentor gut fand: Spaß, Humor, Emotion, Fairness – und echtes Interesse.

»Während meines Schulpraktikums habe ich festgestellt, dass Kinder gar nicht so diese Vorurteile haben wie Erwachsene. Die gehen einfach vom Menschen aus, ob er ihnen gefällt, wenn sie neben ihm sitzen oder mit ihm spielen wollen. Die haben nicht diese Berührungsängste, die eher von den Erwachsenen kommen. Vielleicht, weil sie nicht so beladen sind. Sie haben eben nicht ›alles‹ schon in den Medien erfahren über Türken zum Beispiel oder Araber.«

Zum Lehrerstudium in NRW gehören drei Praktika à vier Wochen in der Schule. Mohamed leistete sein zweites Praktikum am Gymnasium ab, einmal die Woche vier Monate lang in Mönchen-Gladbach, parallel zum Studium.

»Heute hatte ich dort meine letzte Unterrichtsstunde in Spanisch«, erzählt er. »Gestern und heute ging es je eine Stunde um die Mehrsprachigkeit in Spanien. Ich habe die Form einer Debatte gewählt, damit mehr Emotionen und Spaß reinkommen. Dazu habe ich auf einer Kartenskizze einfach mal Barcelona und Madrid vertauscht. Das sollte Überraschung und Emotionen erzeugen. Über Nationalsprachen und Bilingualität wollten wir sprechen – über Katalanen zum Beispiel, ihre Sprache, ihre nationale Identität. Gestern sollten die Schüler die Konflikte für die Debatte ausarbeiten. In Gruppenarbeit, um sich eine bestimmte Position zu erarbeiten. Ich habe dann heute den Part als Moderator wie in einer Show übernommen, und sie haben debattiert. Und es zeigte sich, dass Schüler, die sonst nicht oft zu Wort kommen, hier sehr lebendig waren. Es hat denen wohl Spaß gemacht.« Mohamed betont, dass er in seinen Englisch- und Spanischunterricht auch Philosophisches und Gesellschaftliches einbaut, Interkulturelles auf jeden Fall. »Im Spanischunterricht möchte ich den Schülern auch das tolerante Zusammenleben von Christen, Muslimen und Juden unter der Vorherrschaft der Araber in Granada, in Andalusien nahebringen. Washington Irvings »Tales of the Alhambra«, das Buch liebe ich sehr. Der hat dort länger gelebt. Darin befindet sich eine Geschichte über die letzten Tage der Alhambra, bevor die spanischen Katholiken sie eingenommen haben. Da sagt die Mutter zum letzten arabischen König Boabdil: ›Heul nicht wie eine Frau über das verlorene Königreich, das du nicht verteidigt hast wie ein Mann.‹

Andalusien ist für mich als Marokkaner ästhetisch sehr faszinierend, aber der Frieden, der von dort ausgeht, der berührt mich am meisten.«

Wenn Mohamed wie jedes Jahr nach Marokko mit seiner Familie fährt, weil sie in Deutschland keine Verwandten haben, sagen sie dort, dass man an seiner Art erkenne, dass er Deutscher sei. Es ist das übliche Erlebnis für Migranten der dritten Generation, die bei uns aufgewachsen sind. »Obwohl ich akzentfrei spreche, so aussehe wie sie und auch die einheimische Art der Witze und Bemerkungen verstehe. Sie können nicht sagen, warum, aber es sei meine Art. Auch ich fühle mich dort als Deutscher, fühle stark meine deutsche Erziehung. Ich habe dann Heimweh nach zwei, drei Wochen nach einer eigenen gesellschaftlichen Verortung, die ich in Deutschland ja habe. Man spürt dann schon die andere Mentalität.«

Was ist es, was er dann vermisst?

»In Deutschland finde ich die Gerechtigkeit, die Einforderung der Wahrheit und die Direktheit gut. In Marokko ist Direktsein unhöflich. Ich bin es aber auch dort, und sie sagen dann: Auch wenn es dein Recht ist, du musst es anders verpacken. Ich versuche, denen dort auch Klarheit, Offenheit und Gerechtigkeitssinn zu vermitteln. Ich dulde es zum Beispiel nicht, wenn jemand hinterhältig behandelt wird. Über Menschen schlecht zu sprechen, aber nicht mit ihnen, das halte ich nicht aus. Auch wenn Menschen nicht offen sind, bin ich zunächst offen. Der Mensch blüht einfach auf, wenn man mit ihm gerecht und offen umgeht. So verschwindet auch die Angst vor Fremdheit in der Gesellschaft. Aber man muss manchmal auch signalisieren, mit mir kannst du nicht so umgehen! Früher habe ich manchmal gespürt, wenn andere negativ über mich gesprochen haben. Oder es wurde mir durch Dritte mitgeteilt. Ich habe dann damals gesagt, das interessiert mich nicht! Ich finde, man hat genug Probleme im Leben zu meistern, und wenn man sich mit solchen Scheinproblemen auseinandersetzen muss, macht es nur das Leben schwerer.«

Woher kam Mohameds Motivation im Gegensatz zu seinen Mitschülern auf der Hauptschule? Woher kam seine Gabe zu Konzentration und Aufnahmefähigkeit?

Und was wird Mohamed Rhounan für ein Lehrer, für ein Ehemann, ein Familienvater und Gemeindemitglied sein später?

Zunächst einmal war Mohamed ein geliebtes Einzelkind. Der Vater hat die zwanzig Jahre jüngere Latifa aus Marokko geholt und geheiratet, nachdem seine deutsche Frau in Essen gestorben war. Latifa hat sich diesem Sohn ausgiebig gewidmet, mit Zuwendung und Erziehung und ihm den Rücken frei gehalten, sodass er sich sorglos auf die Schule konzentrieren konnte. Und dazu brauchte es nicht deutschsprachige Vorbilder zuhause, die hatte er im Kindergarten, in den er zum Glück früh kam, und in der Schule. Mohamed wird an seine eigenen Kinder einmal beide Vorteile weitergeben, eine freiere deutsche Erziehung und eine sorgende Familienbindung – mit einer selbstbewussten Frau an seiner Seite.

Als Lehrer, denke ich, wird er weitergeben, was er an Förderung und Aufmerksamkeit erfahren hat. Er wird mit Humor und Konsequenz fachlich und sozial seine Schüler beeinflussen und sie zu der Selbständigkeit und Toleranz führen, die er selbst als Lebenselixier erlebte. Er ist Deutscher mit marokkanischen Wurzeln, möchte in Deutschland arbeiten. Sein Fernziel allerdings ist, als Bildungsmanager Projekte in Europa oder sogar in Nordafrika, vielleicht Marokko zu implementieren. Nach Jahren der Lehrerpraxis könnte er da seine Erfüllung finden mit seinem kommunikativen und sozialen Talent. Er denkt in internationalen Maßstäben und möchte gern an einem Austausch zum gegenseitigen Vorteil mitwirken.

»Mein Onkel war mein Vorbild, jetzt bin ich selbst eins«

Sevin Isikli

Zehn Uhr vormittags an einem sonnigen Märztag. Bettlaken und Tücher hängen vor der Europaschule Liebig-Gymnasium in Frankfurt-Praunheim. Bemalt mit Motivations- und witzigen Durchhaltesprüchen. Der erste Tag des schriftlichen Abiturs 2012, der erste Doppeljahrgang in Hessen tritt an. Ein Teil der Schule ist abgesperrt. Ich brauche etwas Zeit, um das Lehrerzimmer zu finden, in dem ich mich melden soll. Die freundliche Schulleiterin will wissen, wie ich mir die Beobachtung des Unterrichts der Praktikantin Isil-Sevin Isikli vorgestellt habe. Ich werde keine Fotos schießen von den Schülern, nein, und auch keine ihrer Namen nennen in meinem Porträt der angehenden türkisch-deutschen Lehrerin. Heute geht es um sie und ihre Fähigkeit, eine Klasse zu motivieren.