Raylan
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Kirsten Riesselmann
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Raylan
bei William Morrow, New York.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Deutsche Erstausgabe
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Copyright © Elmore Leonard, 2012
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Umschlag: cornelia niere, münchen
eISBN 978-3-518-79240-7
www.suhrkamp.de
Für Graham und Tim
Raylan Givens hatte einen Haftbefehl in der Hand, der einem im Marihuanageschäft tätigen Mann, bekannt als Angel Arenas, siebenundvierzig, geboren in den USA, aber hundert Prozent Hispano, zugestellt werden sollte.
»Den kenne ich«, sagte Raylan, »von damals, als ich in Miami Dienst am Gericht hatte und er angeklagt war, weil er mit Kath gedealt hatte. Diese arabische Pflanze, auf der man rumkaut und high wird.«
»Nur mittelhigh«, sagte Rachel Brooks auf dem Beifahrersitz des SUV, Raylan saß am Steuer, hinter ihnen schob sich die Morgensonne über den Horizont. »Kath breitet sich gerade überall aus, wird in Kalifornien angebaut, große Sache bei den echten Afrikanern in San Diego.«
»Wenn man das Zeug kauft, sollte man sichergehen, dass es erst am Vormittag gepflückt wurde«, sagte Raylan. »Dann ist man einen Tag lang high, und das war’s.«
»Ein paar Freunde von mir«, sagte Rachel, »kauen es auch hin und wieder. Aber auf dumme Gedanken kommen die nicht davon, es scheint ihnen Spaß zu machen. Sieht immer so aus, als ob sie sich einfach extrem entspannen damit.«
»Ein bisschen träumen«, sagte Raylan.
»Weswegen muss Angel in den Knast?«
»Hat nach sechsunddreißig von vierzig Monaten wieder Gras verkauft. Seine Bewährungsauflagen verletzt. Den Deal soll er über den Rastafari, der diese Kirche gegründet hat, eingefädelt haben, wie heißt die noch?«
»Temple of the Cool and Beautiful J. C.«, sagte Rachel. »Israel Fendi, der mit den Dreads, dieser Äthiopier aus Jamaika. Und, war er wirklich an dem Deal beteiligt?«
»Nicht im Entferntesten. Aber irgendjemand hat Angel die Sache angehängt, so ein Kiffer, der auf ein milderes Urteil hofft. Schwört, dass Angel gestern Abend eine Lieferung entgegengenommen hat. Ich bezweifle, dass Angel noch was dahat, wenn wir kommen.«
Vom Rücksitz ließ sich Tim Gutterson vernehmen: »Diesmal kriegt er zwanzig Jahre.« Tim ging einen Aktenordner mit Bildern von Angel Arenas durch und blieb bei einem Fahndungsfoto hängen.
»Seht euch das Grinsen an. Der wirkt doch harmlos, als hätte er im Leben noch keine Waffe angerührt.«
»Soweit ich weiß«, sagte Raylan, »trägt er auch nie eine Waffe. Und mit bewaffneten Gangstern umgeben tut er sich ebenfalls nicht.«
Der SUV folgte den Funkwagen der Staatspolizei durch einen flachen Teil von East Kentucky, am Ufer eines Sees entlang, der, so wie er sich abwärts in Richtung der Grenze nach Tennessee schlängelte, eher wie ein Fluss aussah. Kurz vor sechs Uhr morgens hielten sie vor dem Cumberland Inn.
Zu viert sahen die Polizisten zu, wie Raylan und seine Mannschaft kugelsichere Westen anlegten, die Marshal-Sakkos wieder darüberzogen und ihre Pistolen überprüften. Raylan sagte zu den Beamten, er erwarte keine Gegenwehr von Angel, aber ganz sicher sein könne man nie. Er fügte hinzu: »Wenn ihr Schüsse hört, kommt ihr sofort, okay?«
Einer der Polizisten erwiderte: »Wenn Sie wollen, sprengen wir die Tür für Sie auf.«
»Das würdet ihr wohl gern«, sagte Raylan. »Ich hatte eigentlich vor, mir an der Rezeption einen Schlüssel geben zu lassen.«
Die Polizisten mochten den Marshal, der früher Bergmann in Harlan County gewesen war, aber mittlerweile klang, als sei er sein Leben lang Bulle gewesen. Ihnen gefiel seine Einstellung zum Beruf. An diesem Morgen sahen sie dabei zu, wie er das Motelzimmer eines flüchtigen Kriminellen betrat, ohne die Waffe zu ziehen.
Alles war ruhig, nur die Klimaanlage brummte. Sonnenlicht fiel durch die Fenster auf das ungemachte Kingsize-Bett, die Tagesdecke war flüchtig über Bettzeug und Kissen geworfen worden. Raylan drehte sich zu Rachel um und machte eine Kopfbewegung Richtung Bett. Er selbst ging zur Badezimmertür, die nur angelehnt war, lauschte kurz und stieß sie auf.
Angel Arenas’ Kopf lag in der Rundung der Badewanne, seine Haare trieben im Wasser, das ihm bis übers Kinn reichte, die Augen waren geschlossen, sein nackter Körper lang ausgestreckt in der bis zum Rand mit Eisstücken und sich rosa verfärbendem Wasser gefüllten Wanne.
Raylan sagte: »Angel ...?«, bekam keine Antwort und kniete sich vor die Wanne, um an Angels Hals nach dem Puls zu fühlen. »Er ist halb erfroren, atmet aber noch.«
Hinter sich hörte er Rachel sagen: »Raylan, das Bett ist voller Blut. Als ob er da drin Hühner geschlachtet hätte.« Beim Anblick von Angel zog sie scharf die Luft ein: »Oh mein Gott.«
Raylan drehte den Knopf und ließ das Wasser ab. Während es um Angel herum ablief, wurde sein Bauch zu einer Insel in der Eiswasserwanne. An zwei Stellen der Insel war Blut.
»Irgendwas ist mit ihm passiert«, sagte Raylan. »Da sind Klammern, die aussehen, als wären es Wundklammern. Oder wurde er operiert?«
»Jemand hat auf ihn geschossen«, sagte Tim.
»Glaube ich nicht«, sagte Raylan und starrte auf die beiden mit Klammern verschlossenen Schnittwunden.
Rachel sagte: »Genauso haben sie’s letztes Jahr im Krankenhaus bei meiner Mutter gemacht. Einen Schnitt haben sie unter die Rippen und einen unter den Bauchnabel gesetzt. Ich hab sie gefragt, warum da und nicht hinten am Rücken.«
Tim fragte: »Verrätst du uns vielleicht auch, was das für eine Operation war?«
»Sie haben ihr die Nieren rausgenommen«, sagte Rachel. »Beide, und sie hat noch am selben Tag zwei neue gekriegt, von einem Kind, das ertrunken war.«
Sie wickelten den zitternden Angel in eine Decke, trugen ihn ins Schlafzimmer und legten ihn aufs Bett. Sein Atem ging flach. Ohne die Augen zu öffnen, fragte er Raylan, der ihn anstarrte: »Was ist passiert?«
»Warst du hier, um einen Deal abzuwickeln?«
Angel zögerte. »Zwei Typen, die ich kenne. Bauen an. Wir haben was getrunken ...«
»Und dann bist du in der Wanne gelandet«, sagte Raylan. »Wie viel hast du bezahlt?«
»Geht Sie nichts an.«
»Haben sie das Gras dagelassen?«
»Sehen Sie doch«, sagte Angel.
»Hier ist keins.«
Angels Augen gingen auf. »Ich habe hundert Pfund gekauft, für zweiundzwanzigtausend Dollar. Hab’s selbst gesehen, hab auch was getestet.«
»Du bist abgezogen worden«, sagte Raylan. »Die haben dich außer Gefecht gesetzt und sind mit der Kohle und dem Gras verschwunden.«
Die Augen schlossen sich wieder, und während er unter der Decke seinen Bauch abtastete, sagte Angel: »Mann, tut das weh. Was haben die mit mir gemacht?«
***
Raylan fühlte wieder Angels Puls. »Er hält durch, unser kleiner, zäher, was eigentlich? Puertoricaner? Dass ihn diese Hanfzüchter abziehen, kann ich mir ja vorstellen, aber warum nehmen sie seine Nieren mit?«
»Wie in dieser alten Geschichte«, sagte Tim. »Ein Mann wacht auf, und ihm fehlt eine Niere. Hat keine Ahnung, wer sie ihm rausgenommen hat. Wird immer mal wieder erzählt, aber bisher konnte nie jemand beweisen, dass an der Story was dran ist.«
»Jetzt ist es so«, sagte Raylan.
»Ohne Nieren kann man nicht leben«, sagte Tim.
»Nur schwer«, sagte Raylan. »Es sei denn, du kriegst schnell eine Dialyse. Ich kapiere nicht, was es diesen Haschbauern bringt, den Leuten die Nieren rauszureißen. Verdienen die mit ihrem Gras nicht genug? Eine ganze Leiche, hab ich mir sagen lassen, ist, wenn man sie in Teilen verkauft, an die Hunderttausend wert. Aber wer genug Gras verkauft, verdient mehr – und macht sich beileibe nicht so schmutzig wie beim Nieren-Dealen. Ich frage mich allerdings ...« Er hielt inne, dachte nach.
Tim sagte: »Ja ...?«
»Wer hat die OP gemacht?«
Gegen Mittag kam Art Mullen, der leitende Marshal des Außendienstbüros von Harlan, im Motel vorbei. Raylan durchstöberte noch immer das Zimmer.
Art fragte: »Wonach suchst du eigentlich?«
»Die Techniker haben sich schon überall umgesehen und die Fingerabdrücke abgenommen«, sagte Raylan, »Angels Klamotten eingepackt, das blutige Verbandszeug, die Wundklammern und einen leeren Postsack. Aber keine Nieren. Wie geht’s Angel?«
»Sie haben ihn auf die Intensivstation gebracht, er hängt an den Geräten.«
»Wird er’s schaffen?«
»Obwohl halb tot, hält es ihn, denke ich, am Leben«, sagte Art, »dass er stinksauer darüber ist, von diesen Grasdealern abgezogen worden zu sein. Er behauptet, die hätten mitgenommen, was er für das Kraut bezahlt hat, und ihn dann dem Tod überlassen.«
»Und dass sie ihm die Nieren rausgeschnitten haben«, sagte Raylan, »hat er nicht erwähnt?«
»Ich hab ihn mehrfach danach gefragt«, erwiderte Art. »Ich hab zu ihm gesagt, ›verrat uns, was das für Jungs waren, und wir holen dir deine Nieren zurück.‹ Sofort fing er an zu hyperventilieren, und die Schwester hat mich rausgescheucht. Also, diese Nieren«, sagte Art, »hat jemand herausgenommen, der sein Handwerk versteht.«
Raylan sagte: »Ja, sie wurden von vorne rausgeschnitten.«
»Man nimmt sie immer vorne raus. Aber das hier ist das neueste Vorgehen. Der Schnitt ist kleiner, und man durchtrennt keinen Muskel mehr.«
»Falls du nichts dagegen hast«, sagte Raylan, »würde ich gern mal mit Angel sprechen. Ich kenne ihn ja schon seit damals, als er wegen der Khat-Dealerei angeklagt war. Als ich in Miami Dienst am Gericht hatte. Angel und ich sind ziemlich gut miteinander klargekommen«, sagte Raylan. »Ich glaube, er hält mich für seinen Lebensretter.«
»Das bist du wahrscheinlich tatsächlich.«
»Deswegen hat er sicher nichts dagegen, sich mit mir zu unterhalten.«
»Er ist in Cumberland im Krankenhaus«, sagte Art. »Vielleicht lassen sie dich zu ihm, vielleicht auch nicht. Wo sind eigentlich deine Kollegen?«
»Es gab nichts Dringendes zu tun – ich hab sie zurück nach Harlan geschickt.«
»Sie haben den SUV genommen. Womit willst du jetzt fahren?«
»Wir haben doch Angels BMW«, meinte Raylan, »oder nicht?«
Angel lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Raylan beugte sich zu ihm hinunter, strich ihm die Haare aus dem Gesicht, bekam einen Hauch Krankenhausatem in die Nase und flüsterte: »Hier ist Raylan Givens, dein alter Gerichtskumpel aus Miami.« Angels Augen öffneten sich. »Erinnerst du dich, damals, als du wegen der Khat-Sache in den Knast gewandert bist ...«
Es sah aus, als versuchte Angel zu grinsen.
»Weißt du eigentlich«, sagte Raylan, »dass ich dir heute Morgen das Leben gerettet habe? Fünf Minuten länger in dem Eiswasser und du wärst erfroren. Du kannst dem Herrgott danken, dass ich rechtzeitig da war.«
»Warum waren Sie überhaupt da? Um mich zu verhaften?«
»Du bist vielleicht ein bisschen blass, aber am Leben, Kollege, und das ist ja wohl die Hauptsache.«
Blass war untertrieben – Angel sah aus wie der leibhaftige Tod.
»Mein Arm hängt an einer Maschine«, sagte Angel, »die den Dreck aus meinem Blut holt und mich am Leben hält, solange ich auf eine Niere warte. Es sei denn, ich habe einen Verwandten, so was wie einen Bruder, der mir sofort eine spendet.«
»Und, hast du einen Bruder?«
»Jemand besseren.«
Jetzt grinste er. Sehr breit. Raylan sagte: »Du weißt, dass ich nicht weitererzähle, woher du die Niere kriegst, wenn du nicht willst.«
»Das weiß sowieso schon jeder im Krankenhaus«, sagte Angel. »Die haben mir ein Fax geschickt. Können Sie sich das vorstellen? Die Schwester kam rein und hat’s mir vorgelesen. Tanya heißt sie. Wunderschön und eine Haut wie Seide. Tanya, Mann. Hab sie gefragt, ob sie mit mir nach Lexington kommt, wenn’s mir wieder besser geht. Krankenschwestern hab ich schon immer gemocht. Denen muss man nicht so viel Honig ums Maul schmieren.«
»Das Fax«, sagte Raylan. »Wie viel sollst du zahlen, um deine Nieren zurückzukriegen?«
»Diese Arschgesichter fordern hunderttausend«, sagte Angel. »Die haben vielleicht Nerven! Bringen gestern Abend einen Chirurgen mit, um mir die scheiß Nieren rauszuschneiden, und ziehen mich gleich doppelt ab, wenn man die Kohle mitzählt, die sie mir gestohlen haben. Sie schreiben, wenn ich nur eine Niere zurückwill, kostet es trotzdem hunderttausend.«
Raylan fragte: »Wissen die vom Krankenhaus Bescheid?«
»Hab ich doch gesagt, alle wissen’s, die Ärzte, die Schwestern, Tanya. Die haben das Fax geschickt, dann hat einer von denen im Krankenhaus angerufen und die Forderung gestellt. Wer sie gebracht hat, hat niemand gesehen.«
»Das Krankenhaus weiß also, dass das deine Nieren sind?«
»Was ist daran eigentlich so schwer zu kapieren?«
»Und die machen da mit?«
»Sollen sie mich lieber sterben lassen? Die zahlen ja nicht für die Nieren.«
»Wann musst du das Geld zusammenhaben?«
»Sie sagen, sie geben mir ein bisschen Zeit, eine Woche oder so.«
»Du kennst diese Typen doch – sag mir einfach ihre Namen.«
»Dann bringen die mich um. Ganz in Ruhe, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit.«
»Und holen sich dabei gleich deine Nieren wieder zurück«, sagte Raylan. »Ich glaube, von so was habe ich noch nie gehört. Du weißt, dass das Krankenhaus die Polizei gerufen hat.«
»Die haben längst mit mir gesprochen. Hab ihnen gesagt, dass ich nicht weiß, wer die Typen sind. Hab die noch nie gesehen.«
»Und du weißt auch nicht, wer ihnen die Anweisungen gibt?«, fragte Raylan.
Angel starrte ihn an. »Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Glaubst du etwa, deine Bekannten sind selbst draufgekommen, auf diese neue Art Geld zu machen? Die könnten sich doch einfach«, sagte Raylan, »jeden x-Beliebigen von der Straße holen, während der Arzt sich schon mal die Hände für die Operation wäscht. Warum sollten sie so wählerisch sein und den nächsten Deal mit dir abwarten?« Raylan legte eine Pause ein. Dann sagte er: »Wenn du willst, helfe ich dir aus der Klemme.«
»Aus was für einer Klemme? Haben Sie in meinem Motelzimmer vielleicht was gefunden? Ich bin Opfer eines Verbrechens geworden, und Sie wollen mich ins scheiß Gefängnis stecken, Mann?«
Endlich nahm das Gespräch die gewünschte Richtung, Angel lag bereits auf der Bahre, unterwegs zum OP, Raylan lief nebenher und sagte: »Gib mir einen Namen. Ich schwöre bei meiner Großmutter, dass du für keine von beiden zahlen musst.«
Angel schüttelte den Kopf und sagte: »Sie haben keine Ahnung, wozu diese Leute fähig sind.«
»Vielleicht habe ich ja eine Ahnung, wenn du mir verrätst, wer sie sind.«
»Um die zu finden, müssen Sie aber raus in die Berge fahren.«
»Das, mein Freund, ist mein Job.« Sie kamen zu einer Tür, die vor ihnen aufschwang. »Ich gebe Lexington telefonisch die Namen durch, und die mailen mir dann die Akten. Eventuell kenne ich die Typen sogar.«
Angel sagte: »Sie bauen Gras an, von hier bis nach West Virginia.«
Raylan sah ihn an: »Es sind die Crowes, oder?«
Südlich von Barbourville verließ Raylan den vierspurigen Highway und fuhr Richtung Osten, durchquerte auf namen- und nummernlosen Teerstraßen und Schotterwegen die geschundenen Berge von Knox County, wo die Gipfel skalpiert und, der Kohle durch Tagebau beraubt, zu Abraumhalden geworden sind, die Bäche verfärbt vom Grubenwasser. Raylan folgte dem Stinking Creek bis zu der Gabelung, an der die Siedlung Buckeye in Sicht kam, und da war er auch schon, oben hinter dem Friedhof, der Lebensmittelladen der Crowes, der Name stand auf einem Coca-Cola-Schild über der Tür: Crowe’s Groceries & Feed.
Raylan ließ Angels BMW an der offenen Ladentür vorbeirollen und hielt an. In Somerset hatte er den Wagen waschen lassen, außerdem trug er für seinen Besuch einen dunklen Anzug und Krawatte, damit Mr. Crowe gleich den richtigen Eindruck von ihm bekam. In der Newsweek-Reportage über die Gegend des Stinking Creek war Pervis ›Speed‹ Crowe als der größte Marihuanabauer in East Kentucky bezeichnet worden. Das Magazin zitierte Crowe: ›Das müssen Sie erst mal beweisen. Ich betreibe einen Laden für diese armen Leute, die mit ihren Lebensmittelgutscheinen aus dem Tal hochkommen. Hat mich jemals irgendjemand Hanf anbauen sehen?‹
Und tatsächlich stand er hinter der Theke, an einer altmodischen Waage, mit der er Kartoffeln und Speck wog, auf den Regalen hinter ihm stapelten sich Säcke mit Mehl und Maisgrieß. Eier waren von zehn Cent das Stück herabgesetzt auf einen halben Dollar das Dutzend.
Für Raylan sahen diese Art Läden immer gleich aus, überall kauften die immergleichen Leute wortlos das Lebensnotwendigste und überlegten eine Ewigkeit, ob sie noch neunundneunzig Cent für einen Biskuitkuchen, ein paar Süßigkeiten und Kool-Aid für ihre wartenden Kinder ausgeben sollten.
Ein junges Mädchen saß in Shorts auf Säcken mit Viehfutter und trank RC Cola. Als Kind hatte sich Raylan in solchen Läden abgelaufene Babygläschen gekauft, weil er so schnell wie möglich groß werden wollte, um Bundesbeamter werden zu können, einer, der bewaffnete Bösewichter verfolgte.
Das Mädchen auf den Viehfuttersäcken fixierte Raylan von unten, so, als wüsste es nicht, wo es ihn einordnen sollte und dächte lange darüber nach, was es zu ihm sagen könnte. Schließlich fragte es ihn sehr höflich: »Sir, fänden Sie es sehr dreist von mir, wissen zu wollen, was für einen Beruf Sie ausüben?«
Raylan lächelte. »Und was ist jetzt die Frage, wie ich das fände oder was ich beruflich mache?«
Pervis Crowe, der in der Newsweek nur ›Speed‹ genannt worden war, sagte: »Ein Mann im Anzug ist immer von der Drogenfahndung, das weißt du doch, Loretta. Kommen her und schnüffeln rum.«
»Sie liegen falsch«, sagte Raylan. »Ich bin vom Marshals Service. Wir spazieren durch die Gegend und schnuppern an Blumen, bis man uns irgendwann mal auf Verbrecherjagd schickt. Soweit ich weiß, Mr. Crowe, haben Sie zwei Söhne, die illegale Geschäfte machen.«
Pervis fragte: »Haben Sie Haftbefehle gegen sie?«
»Hätte ich das, wären sie längst hinter Schloss und Riegel«, sagte Raylan. »Und Sie würden die beiden für die nächsten zwanzig Jahre nicht mehr zu Gesicht kriegen.«
»Wo leben Sie denn?«, fragte Pervis. »Ich kenne keinen Richter, der mehr als ein paar Jährchen verhängt.«
»Mir kann’s egal sein«, sagte Raylan. »Sind Sie eigentlich mit den Crowes in Florida verwandt?«
»Entfernt. Wie schlagen die sich so?«
»Sitzen oder sind tot«, sagte Raylan. »Einen von ihnen habe ich ins Gefängnis gebracht, als ich noch da unten gearbeitet habe. Ist Dewey Crowe vielleicht ein Verwandter von Ihnen? Trägt Krokodilzähne um den Hals und ist Mitglied in diesem Heil-Hitler-Club. Mir hat er erzählt, er komme aus Belle Glade.«
»Kann sein, dass ich mal von ihm gehört habe«, sagte Pervis, »aber interessieren tut er mich kein Stück.«
»Er lässt Ihnen ausrichten«, sagte Raylan, »dass er ein ganz böser Junge ist, aber darin noch besser werden muss. Und jetzt würde ich gern Ihre Söhne sprechen.«
»Die sind aus einem anderen Holz geschnitzt«, sagte Pervis. »Tragen jeden Tag saubere Klamotten und fahren Chevrolets.«
»Pick-ups«, korrigierte ihn Raylan, »mit Winchester-Gewehren, die sie in die Heckscheiben eingebaut haben. Ansonsten fahren sie Cadillacs. Ich hätte nichts dagegen, mich mit ihnen zu unterhalten, obwohl ich eigentlich nicht ihretwegen vorbeigekommen bin. Ich wollte mir eine Flasche Schnaps besorgen, um standesgemäß in Erinnerungen schwelgen zu können. Bin auf dem Weg nach Evarts, von da aus weiter Richtung Osten, wo ich als Junge nach Kohle gegraben habe.«
»Dann haben Sie also den Absprung geschafft«, sagte Pervis, »bevor sich die schlechten Angewohnheiten eingeschlichen haben.«
»Glücklicherweise«, sagte Raylan. »Zur Schule zu gehen hat mir nichts ausgemacht, ich habe gerne Geschichten gelesen.«
»Wenn nicht, würden Sie heute gesucht, weil Sie Drugstores überfallen«, sagte Pervis, »alle Beruhigungsmittel mitnehmen und an Leute verkaufen, die betäubt sein und nicht denken wollen.«
»Dürfen solche Leute bei Ihnen anschreiben lassen?«
»Die, die in ihrem Garten Hasch anbauen, dürfen. Wenn die eine Ernte verkaufen, zahlen sie ihre Schulden hier mit Hundertdollarscheinen.«
»Darf ich fragen, warum man Sie Speed nennt?«
Pervis war sehnig und gebeugt von seinen über siebzig Jahren, er trug ein Toupet, das gar nicht schlecht gemacht war, dem Raylan aber ansah, dass er es allmorgendlich aufsetzte. Der Scheitel war einfach zu sauber gezogen. Pervis legte sein Gesicht in tiefe Falten. Seit Raylan das Geschäft betreten hatte, hatte er nicht ein Mal gelächelt.
»Ich habe fünfundvierzigprozentigen Whiskey verkauft, klar wie Quellwasser, ohne eine Spur Holzkohle darin. Ich habe ihn aus einem Ford heraus verkauft, der aussah wie ein Laden mit ganz normalen Waren. Pausenlos bin ich hier durch die Hügel gefahren und so zu meinem Spitznamen gekommen. Sie müssen wissen, das ist fünfzig Jahre her. Ich bin Dirt-Track-Rennen gefahren, die Viertelmeile, und hätte es fast in die großen Rennserien geschafft. Dann traf ich auf Junior Johnson und musste mit ansehen, wie meine Zukunft zu Schrott gefahren wurde.«
»Heute verkaufen Sie Lebensmittel«, sagte Raylan, »und lassen Ihre anderen Geschäfte von Ihren Söhnen erledigen.«
Pervis erwiderte: »Jetzt kommen wir also so langsam zum Punkt.«
»Ich bin nicht von der DEA«, sagte Raylan. »Solange die von der Drogenfahndung nichts gegen Sie vorliegen haben, unternehme ich auch nichts. Aber soweit ich weiß, haben Sie Marihuanafelder, gute tausend Morgen, von hier bis nach West Virginia.«
»Was heißt hier gute tausend Morgen«, sagte Pervis. »Ein Drittel pflanzt man für die Polizei, ein Drittel für die Diebe, und den Rest verkauft man an Dealer, die dann den Reibach machen. Ich sage Ihnen das im Vertrauen, damit wir keine Zeit mit Lügen verschwenden. Ihren Vater habe ich nicht gekannt, aber ich schwöre bei Ihrem Großvater. Immerhin bin ich sechs Jahre lang nach Harlan rübergefahren und habe den gesamten Schnaps verkauft, den er gebrannt hat, und wir haben ziemlich gut daran verdient.«
Raylan sagte: »Ich dachte immer, er sei Priester gewesen.«
»Unter der Woche hat er gebrannt und sonntags gepredigt«, sagte Pervis. »Junge, Sie kennen ja Ihre eigene Familie nicht!«
»Mit Ihrem Sohn Coover bin ich zur Schule gegangen, bis er die abgebrochen hat, um in der Weltgeschichte herumzueiern und zu tun, worauf er gerade Lust hatte. Und Richard ...?«
»Wird von allen seit seiner Kindheit Dickie genannt.«
»Ich bin mit folgendem Anliegen hier«, sagte Raylan. »Ihre Söhne sollen Geld für Gras genommen, es aber nie geliefert haben.«
»Sind Sie vom Better Business Büro«, fragte Pervis, »und gehen Kundenbeschwerden nach? Das kenne ich irgendwie. Dieser Depp von der DEA kommt auch immer mit seinen Anzugschuhen her und bezahlt, bevor er das Dope überhaupt bekommen hat. Viel zu ängstlich, will die Sache schnell über die Bühne bringen. Als ob er, weil er glaubt, es käme nur Luft, losfurzt und sich dann doch vollscheißt. Ich soll Ihnen also glauben, dass meine Jungs jemanden betrogen haben?«
Mit unbewegter Miene sagte Raylan: »Ich weiß, dass Sie Ihre Söhne lieben. Hin und wieder bemerken Sie aber sicher selbst, was aus Ihnen geworden ist. Sie haben mich falsch verstanden. Kein Beamter hat den Deal gemacht, sondern ein gesuchter Krimineller. Ich bin mit dem Haftbefehl in der Tasche zu seinem Motelzimmer gefahren.«
Raylan gab Pervis Zeit, sich dazu zu äußern, aber es kam nichts.
»Im Zimmer habe ich Angel Arenas gefunden«, sagte Raylan, »ohne seine Nieren.«
Raylan wartete wieder, während Pervis ihn anstarrte.
»Nackt in einem Eisbad.«
Pervis fragte: »Der Junge vermisst seine Nieren?«
»Später, da lag er schon im Krankenhaus, wurden sie ihm zum Kauf angeboten, für einhunderttausend Dollar.«
Raylan wartete erneut und sagte dann: »Aber er wird dafür nicht bezahlen müssen.«
Pervis fragte nicht, warum, er sagte einfach gar nichts.
Raylan fuhr fort: »Wir, die Marshals, sind jetzt an dem Fall dran. Und wir werden dieses neue Geschäftsmodell unterbinden.«
»Und Sie sagen mir ins Gesicht«, sagte Pervis, »dass meine Jungs diesen Mann aufgeschnitten und seine Nieren entfernt haben?«
»Ich glaube, sie hatten jemanden dabei, der wusste, wie man das macht. Und wer auch immer das war«, sagte Raylan, »ich werde ihn finden.«
Jetzt holte Pervis doch ein Päckchen Camels aus der Hemdtasche, zündete sich eine an und stieß, als müsse er sich beruhigen, eine Rauchfahne aus. Schließlich sagte er: »Also, ich weiß nur, meine Jungs waren’s nicht. Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Der Mann, der darauf wartet, seine Nieren zurückzubekommen«, sagte Raylan.
»Er hat die Namen meiner Jungs genannt?«
»Erst wollte er nicht, aber dann schon.«
»Er hat«, sagte Pervis, »wegen dem geplatzten Deal gelogen. Meine Jungs züchten Hanf, aber sie schneiden niemandem wegen seiner Organe den Körper auf. Noch nicht mal, wenn sie wüssten, wie.«
»Die schießen doch auch Hasen«, sagte Raylan, »und wissen, wie man denen das Fell abzieht und sie ausnimmt.«
Seine Geduld mit dem alten Mann ging zu Ende, mit diesem ehemaligen Schmuggler und Dirt-Track-Fahrer, der ihn mit zwischen die Finger geklemmter Zigarette anstarrte. Raylan sagte zu ihm: »Mr. Crowe, bei allem Respekt für Ihre Gefühle, aber ich werde mit Ihren Söhnen reden müssen, gerne auch in Ihrer Gegenwart. Sollten Sie sie nicht dazu bewegen, uns morgen einen Besuch abzustatten, werde ich sie holen kommen.«
»Ich habe immer geglaubt«, sagte Pervis, »dass wir hier in Sachen Broterwerb gute zwanzig Jahre hinterherhinken. Ich mag es so. Und jetzt erzählen Sie mir, dass wir aufholen und in ein neues Geschäftsfeld vorstoßen, indem wir Körperteile verkaufen.«
»Sie haben sich mit Ihrem Marihuana-Großhandel schon selbst auf den neuesten Stand gebracht«, sagte Raylan. »Die DEA hält Ihre Söhne übrigens für Hightech-Proleten, die in Cadillacs durch die Gegend fahren und über Handy miteinander sprechen.«
»Sollten Sie meine Söhne je direkt mit diesen Vorwürfen belästigen«, sagte Pervis und holte unter der Theke eine Flasche Schwarzgebrannten hervor, klaren Whiskey, in dem ein Pfirsich schwamm, »wird das hier zumindest Ihre Schmerzen lindern.«
Pervis setzte sich den grauen Hut mit der Faltkrempe auf, den er seit Jahrzehnten trug, und ging über den Bohlenweg die fünfzig Meter hinauf zu seinem Haus, einem zweistöckigen weißen Holzhaus, das er neu streichen lassen müsste, es zeigte langsam Witterungsspuren. Er ging ins Badezimmer und pinkelte, schüttelte sich die Tröpfchen vom Schwanz und machte sich wieder auf den Weg, es half ja alles nichts.
Rita saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und sah sich Zeit der Sehnsucht an. Beim Näherkommen fiel ihm auf, dass sie schlief, in ihrer Dienstmädchenuniform, die nackten Beine ragten aus dem Rock, der ihr geradeso über den Hintern reichte.
Rita war schwarz, so schwarz wie Ebenholz, Mann, Mann, Mann, Pervis hatte in der Schlange der Bewerberinnen für den Job die Königin von Afrika gefunden. Er hatte zu ihr gesagt: »Du willst untertauchen, oder? Du weißt, wie man an Zeug kommt? Auch egal. Kannst du kochen?«
Darauf Rita: »Worauf hätten Sie denn Appetit?«
Seitdem war sie sein Hausmädchen und kochte so lala, meistens mexikanisch. Pervis bezahlte ihr hundert Dollar pro Tag, täglich beim Abendessen. Letztens hatte er sie mal gefragt: »Wie viel hast du eigentlich in deinem Koffer? Dem im Schrank?« Er dachte nach und sagte: »Himmelarsch, es müssen locker hunderttausend sein.«
»Hundertfünf«, sagte Rita. »Aber die sind nicht im Koffer.«
»Willst du kündigen?«
»Irgendwie musste ich die Kohle ja anlegen, also hab ich alles in Gras gesteckt, das ich günstig von dir gekriegt habe, weil wir uns über alles lieben. Immerhin juckt es dich mindestens einmal pro Woche im Schwanz, und wer sagt dann jedes Mal, Zeit, in die Heia zu gehen?«
Pervis fragte: »Du willst dealen?« Als ob er seinen Ohren nicht traute. »Das ist alles? Du willst, dass ich dich ins Geschäft bringe? Sag’s mir.«
Schon fühlte er sich besser, erleichtert. Er würde sie unterstützen, Hauptsache, sie bliebe bei ihm. Sie würden alles besprechen. Jetzt musste er erst mal Bob Valdez treffen. Er setzte sich neben das Telefon und wählte Bobs Nummer. Ließ es ein paar Mal klingeln, legte auf, wartete einen Augenblick und wählte erneut.
Diesmal wurde abgenommen: »Bob Valdez, was kann ich für Sie tun?«
»Bob«, sagte Pervis, »du sollst dein Handy immer bei dir haben, habe ich dir das nicht schon mal gesagt? Ich glaube, ja.« Bob bekam keine Gelegenheit, darauf etwas zu erwidern, Pervis befahl ihm, »rühr dich nicht vom Fleck, ich komme vorbei!«, und legte auf.
Bob Valdez, wie er sich zur Zeit nannte, gehörte zur mexikanischen Mafia – den Namen hatten sie sich selbst gegeben – und war an Pervis als Sicherheitsmann ausgeliehen worden, um die Felder zu bewachen und aufzupassen, dass die Mexikaner ihren Anteil bekamen. Fürs Erste nahm Pervis das so hin. Bob Valdez hatte während diverser Streiks als Sicherheitsmann für die Minenbesitzer gearbeitet. Er besaß sein eigenes Feld und fuhr einen viertürigen schwarzen Mercedes. Außerdem hatte er ein Angeberquad, so ein kleines Geländeding, das jeden Berghang hochkam. Bob war gebürtiger Amerikaner, zog es jedoch vor, sich als Mexikaner auszugeben. Heute würde Pervis Bob von diesem Marshal erzählen, der ihn behelligt hatte.
***
Sie frühstückten im Huddle House in Harlan, Art sah Raylan zu, wie er einen Speckstreifen in seine Grütze schnitt, in der schon ein Stückchen Butter schmolz, und nachsalzte. Dann fragte er ihn, wie der Schnaps schmeckte, den Pervis ihm geschenkt hatte.
»Gutes Zeug. Der Pfirsich stört überhaupt nicht. Ich habe ein paar Schlucke getrunken und die Flasche dann einem alten Knacker auf der Straße gegeben. Dem sind Tränen in die Augen gestiegen.«
Art fragte: »Weißt du, dass Marihuana die zurzeit am häufigsten angebaute Pflanze in unserem Bundesstaat ist?«
»Da kannst du stolz drauf sein«, sagte Raylan. »Wir sind Kalifornien dicht auf den Fersen, und Hawaii wahrscheinlich auch. Beweist nur, wie erfinderisch wir sind. Von siebzigtausend arbeitslosen Bergarbeitern werden eben ein paar Pflanzer. Gestern Abend hat dieser Nachrichtensprecher mit den Haaren im Fernsehen gesagt, dass der Marihuanaanbau außer Kontrolle gerät. Er sagte, wer irgendwo ein Feld sieht, soll es sofort der Polizei melden. Nicht zu fassen. Die einzigen, die sich wegen Gras aufregen, sind die, die’s nie probiert haben.«
Art sagte: »Mit Pervis’ Söhnen hast du aber nicht gesprochen.«
»Noch nicht.«
»Dir ist hoffentlich klar, dass er sie inzwischen angerufen hat«, meinte Art. »Von deinem BMW kannst du dich verabschieden, wenn sie davon erfahren. Vielleicht leihen die von der DEA dir ihren Mercedes.«
Raylan gefiel die Richtung, die das Frühstück nahm.
Er sagte: »Ich will den Arzt kriegen, und der einzige Weg zu ihm führt über die Crowes, die mir etwas über ihn erzählen können. Hat da einer freiwillig wegen des Profits mitgemacht? Oder haben die sich einen von der Straße geholt? Der Arzt im Krankenhaus hat ihn als Profi bezeichnet. Er hat nach der neuesten Methode gearbeitet, die Nieren sind genau an den richtigen Stellen entnommen worden, nur zugemacht hat er die Wunden hinterher nicht selbst. Das hat er demjenigen überlassen, der dann die Klammern gesetzt hat. Einer der Crowes? Ich würde die beiden gern irgendwo in der Öffentlichkeit befragen, damit ich nicht erschossen oder zusammengeschlagen werde.«
Art sagte: »Oder wir kriegen die Polizei dazu, sie so unter Druck zu setzen, dass sie den Arzt verraten.«
»Ich weiß nicht«, meinte Raylan, »mich beschleicht so langsam der Gedanke, dass der Arzt vielleicht sogar der Kopf dieser Sache ist. Ruft die Crowes an, wenn er jemanden fürs Grobe braucht.«
In seinem getunten Ford V8 – der Kompressor ragte aus der Kühlerhaube – fuhr Pervis raus zum Lager und sah Bob Valdez aus der Scheune kommen. Hier wohnten die Arbeiter, die die Saat ausbrachten und nach neunzig Tagen zurückkehrten, um Pervis’ Marihuana, die wichtigste Pflanze in diesem Teil von Knox County, auszulichten und zurückzuschneiden.
An dem Tag, als er Bob anstellte, hatte Pervis zu ihm gesagt: »Bob, den Ertrag deines Feldes kannst du behalten. Erwischst du einen anderen dabei, ohne mein Wissen Gras anzubauen, steck seinen Fuß in eine Tierfalle und schmeiß ihn raus.«
Um die Augen vor der Nachmittagssonne zu schützen, zog Bob Valdez seinen Strohhut tief ins Gesicht. An der Hüfte trug er einen .44er Revolver. Er liebte es, mit in den Waffengurt gehakten Daumen auf dem Hof herumzustehen und den Frauen der Truppe Sprüche hinterherzurufen. Besonders gefiel ihm diese scharfe Schwarze, Pervis’ Hausmädchen, und wenn er wusste, dass Pervis in seinem Laden war, kam er manchmal vorbei. Rita erklärte dann: »Der Mister ist nicht da.« Jedes Mal, wenn er mit viel Lärm auf seinem Quad vorfuhr, wiederholte sie diesen Satz. Vor ein paar Tagen hatte sie gesagt: »Bob, du willst mich ficken, oder? Wenn der Mister rauskriegt, dass du herkommst, lässt er dich und deinen Arsch abschieben.«
»Wovon zum Teufel redest du?«, fragte Bob. »Ich bin so amerikanisch wie Daniel Boone, geboren hier in Kentucky.«
»Dann stirbst du eben hier, wenn er rausfindet, dass du sein Dienstmädchen anmachst.«
»Willst du mich verarschen?«, sagte Bob. »Dein Mister hat bisher noch nicht mal versucht, mich anzuschreien. Er traut sich nicht.«
»Laut wird er nie«, sagte Rita, »das hat er nicht nötig.«
Diesmal kam Pervis bei Bob vorbei und sagte zu ihm: »Ich möchte, dass du was für mich tust.«
»Stets zu Diensten«, sagte Bob.
»Bei mir war ein U. S. Marshal, Raylan Givens. Weißt du, wen ich meine?«
»Glaub schon. Ja, den hat mir mal jemand gezeigt, das ist doch der mit dem gut aussehenden Hut.«
»Ich will, dass du den von meinen Jungs fernhältst.«
Bob machte: »Oh?« Und fragte: »Ist der Typ etwa pervers?« Er gab sich alle Mühe, ernst zu bleiben. Fragte: »Du möchtest also, dass ich so was wie den Babysitter mache für Coover und Dickie?«
Pervis starrte ihn an. Und sagte: »In dieser Gegend der Vereinigten Staaten von Amerika habe ich nicht zu unterschätzenden Einfluss. Sehr viel größeren als deine Taco-Mafia. Ich habe Richter, die mir einen Gefallen schulden, und Staatspolizisten unter meinen besten Freunden. Wenn ich die alle auf dich ansetze, bist du innerhalb einer Stunde im Knast. Wenn du mir noch mal dumm kommst, Bob, dann läuft das hier ganz genau so.«
Bob sagte, »hey, jetzt sei nicht so«, und rang sich ein Grinsen ab. »Hab nur Spaß gemacht.«
Pervis sagte: »Entweder du hältst diesen Marshal von meinen Söhnen fern oder ich besorge mir jemanden, der das kann.« Stieg in seinen aufgemotzten Ford und rauschte davon.
Beim Verlassen des Huddle House sagte Art: »Medizinische Fakultäten brauchen jedes Jahr zehntausende Leichen. Auf der ganzen Welt gibt’s Bedarf nach Körperteilen.«
»Warum«, fragte Raylan, »haben diese Typen dann nur Angels Nieren mitgenommen? Wenn sie sowieso sofort umgekehrt sind und sie ihm noch am selben Tag zurückverkauft haben? Vielleicht macht man das heute so. Muss man wenigstens nicht die Leiche lagern und auf Käufer warten.«
»Aber es bedarf gehöriger Planung, sich das Opfer auszusuchen«, sagte Art. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden Nervenbündel von Crowes dafür genug Geduld haben. Was anderes: Angel war bereit, sich auf den Deal einzulassen, und das Geld kriegt der sicher zusammen. Aber dann kommst du und erzählst ihm, dass er das gar nicht muss.«
»Was soll ich ihm sonst in Aussicht stellen? Aber woher wissen die beiden Dummköpfe überhaupt, dass man mit Nieren Geschäfte machen kann?«
»Steht doch ständig in der Zeitung«, sagte Art. »Dieser Typ in New Jersey hat Teile von tausend Leichen verschachert.«
Raylan sagte: »Kann mir nicht vorstellen, dass die Crowes Zeitung lesen, wenn nichts über sie drinsteht.«
»Für hundert Pfund Marihuana«, sagte Art, »kriegst du dreihunderttausend – du musst es aber erst mal pflanzen, hochpäppeln und auf den Markt bringen. Ein menschlicher Körper, dessen Teile du einzeln verkaufst, die Nieren, das Herz, die anderen Organe, die Leber, die Augen ... Knochen, Sehnen, die Haut, quadratzentimeterweise verkauft, das alles kann dir eine knappe Viertelmillion bringen.«
Raylan sagte: »In New Jersey, das war doch der Typ mit dem Krematorium.«
»Dieser Bestattungsunternehmer«, sagte Art. »Bringt die Trauerfeier über die Bühne und ruft seine Chirurgen an. Eine Stunde später haben sie alle Körperteile geerntet, die es wert sind, rausgeholt zu werden, und den Rest in den Ofen geschoben.«
»Unser Fall liegt anders«, sagte Raylan. »Unserer riecht eher nach Familienunternehmen. Aber auch hier weiß man genau, wie man den Rubel ins Rollen bringt.«
»Mal angenommen, ein Arzt verliert seine Zulassung und verkauft Rezepte aus der Hintertür«, sagte Art. »Die Crowes kennt er schon, seit sie in den Windeln lagen.«
»Und hat sie ab der Pubertät gegen ein bisschen Dope weiterbehandelt«, sagte Raylan. »Die Jungs wohnen in zwei verschiedenen Tälern und schieben sich die Mädchen hin und her. Die Drogenfahndung behauptet, Mädchen, die zu ihnen gehen, kommen schreiend zurück nach Hause gerannt.«
»Dieser Arzt betäubt also Angel«, sagte Art, »braucht aber noch Leute, um ihn in die Wanne zu kriegen.«
»Und kaum hat man sich versehen«, sagte Raylan, »sind die Crowes schon im Organhandel tätig. Ist das plausibel?«
»Für mich ja«, sagte Art. »Was ich dir noch sagen wollte: Ich habe Rachel wieder mitgebracht, damit jemand auf dich aufpasst.«
***
Raylan fuhr einen Audi quattro, den er vom Rauschgiftdezernat in Harlan geliehen bekommen hatte. Zu Rachel Brooks, die neben ihm saß, sagte er: »Diesen Wagen hatte ich schon mal. Ich mochte ihn, allerdings hat die Motorhaube bei hundertvierzig Meilen pro Stunde geklappert.«
»Hundertvierzig, auf den Straßen hier?«, fragte Rachel zweifelnd.
»Wenn wir alles aus ihm rausholen würden«, sagte Raylan, »wäre er in fünf Sekunden von null auf sechzig.«
»Wohin fahren wir?«
»Hoch zu einem Friedhof, von dem aus man Pervis’ Laden sehen kann. Da Pervis kein Treffen mit seinen Söhnen arrangieren wird, müssen wir warten, bis die beiden ihren alten Herren besuchen kommen.«
Bei der Gabelung vor Buckeye bogen sie von der Stinking Creek Road ab und fuhren einen flachen Hang hinauf zum Friedhof, einem Feld voller Grabsteine, auf denen nur die Namen Mills und Messer standen.
»Ein paar sind hier schon seit über hundertfünfzig Jahren«, sagte Raylan. »Hier liegt ein John Mills, ›Eingegangen in die Häuser der Ewigen Ruhe‹. Was willst du mal auf deinem Stein stehen haben?«
»Keine Ahnung«, sagte Rachel. »Darf ich noch ein paar Jährchen drüber nachdenken?«
»Auf dem von Gobel Messer steht ›Wir sehen uns im Himmel wieder‹. Der war zum Zeitpunkt seines Ablebens sehr zuversichtlich.« Raylan legte den Gang ein und fuhr im Schritttempo quer über den Friedhof auf die andere Seite. Dann sagte er: »Und jetzt schau genau geradeaus. Das, was man da durch die Bäume sieht, ist Pervis’ Laden. Ich würde sagen, wir sind ungefähr fünfzig Meter entfernt.«
Rachel holte ihr Fernglas heraus, hielt es sich vor die Augen und sagte: »Ich kann reinkucken, heute Morgen scheint niemand einzukaufen. Jetzt steht ein Mann in der Tür und zündet sich eine Zigarette an.«
»Eine Camel«, sagte Raylan. »Das ist Pervis. Seine Söhne sollten auf dem Weg sein. Die müssen schließlich ihrem alten Vater noch seinen Anteil geben.«
»Anteil von was?«
»Von dem Geld, das sie Angel abgenommen haben.«
»Und das wissen wir woher?« Rachel beobachtete immer noch den Laden.
»Die von der DEA gehen davon aus, dass Pervis hier der Boss ist, der Big Daddy. Die Jungs hängen rum, bekiffen sich und stellen den Mädchen nach, so lange, bis ihr Papa ihnen sagt, was sie tun sollen. Die Mexikaner erledigen die Feldarbeit für ihn. Organisieren tut er das Ganze von seinem Ramschlädchen aus. Er ist der Marihuana-König von East Kentucky, aber die DEA kann ihm das nicht beweisen.«
Rachel fragte: »Dann ist also der Vater jetzt im Organhandel tätig?«
»Nein, und ich glaube auch immer noch nicht, dass seine Söhne das sind«, sagte Raylan. »Mit dem, was ich ihm über die Nieren erzählt habe, konnte er sich partout nicht abfinden. Hat gar nicht mehr aufgehört, den Kopf zu schütteln. Niemals würden seine Söhne einen menschlichen Körper aufschneiden oder danebenstehen, wenn jemand anderes so etwas macht.«
»Glaubst du ihm?«, fragte Rachel.
»Ja, er kann sich nämlich nicht vorstellen, selbst so etwas zu tun. Ich hab ihn gefragt: ›Die wissen doch, wie man einem Hasen das Fell abzieht und ihn ausnimmt, oder?‹ Es war dämlich, das zu sagen. Pervis hatte eine Waffe, er hätte auf mich schießen können.«
Rachel sah in die andere Richtung.
»Da kommt ja endlich mal jemand. Sieht aus wie einer der Brüder, fährt einen Cadillac. Er ist alleine im Wagen.«
Sie gab Raylan das Fernglas.
Er hielt es sich vor die Augen und sagte: »In den Unterlagen der DEA stand was von einem Mann, der seit ein paar Wochen für die Jungs arbeitet. Fährt Coover und Dickie durch die Gegend. Heißt Cuba irgendwas. Findest du in meiner Mappe, zusammen mit einem Foto.«
Sie öffnete Raylans Aktenordner und las vor: »Cuba Franks, fünfundvierzig, Afroamerikaner ... Also echt, der Mann hier ist doch mindestens sechzig. Sieh dir mal die Falten an, diese alten Narben im Gesicht. Fünf Verhaftungen, zwei Schuldsprüche. Schlank, lässiger Gang.« Sie beobachtete, wie Cuba ausstieg und zum Kofferraum ging.
»Achte mal auf seine Haare«, sagte Raylan und gab Rachel das Fernglas zurück. »Hast du schon mal dermaßen glatte Haare bei einem Schwarzen gesehen?«
»Nicht hier in der Gegend«, sagte Rachel.
»Der hat auch weiße Gene, aber nicht genug, um als Weißer durchzugehen.«
»Vielleicht hat er sich früher sogar mal darum bemüht, aber mittlerweile ist es ihm scheißegal«, meinte Rachel.
»Den Rhythmus hat er nicht mehr ganz drauf«, sagte Raylan, »aber cool ist er immer noch.«
»Was er auch weiß«, sagte Rachel, »sogar sein Do-Rag passt zum Shirt. Hast du die Bügelfalte in der Hose gesehen? Der muss beim Anziehen aufpassen, dass er sich nicht schneidet.«
Raylan sagte: »Was, glaubst du, macht er für die Jungs?«
»Du meinst, außer sie rumzukutschieren?«
»Kaum taucht Cuba auf, stehlen die Crowe-Brüder Nieren.«
Rachel überlegte. »Du willst wissen, wer hier für wen arbeitet?«
»Ich will nur nichts übersehen«, sagte Raylan.
Er nahm wieder das Fernglas und beobachtete den Mann mit dem merkwürdigen Namen dabei, wie er einen Kasten Budweiser aus dem Kofferraum hob und ihn an den Fingern einer Hand gegen sein Bein baumeln ließ, während er den Kofferraumdeckel schloss. Dann nahm er den Kasten wieder in beide Hände, ging auf den Laden zu und trat gegen das Fliegengitter, damit Pervis ihm aufmachte.
Raylan ließ das Fernglas sinken.
»Was ist in dem Bierkasten?«
»So, wie er das Ding gehalten hat«, sagte Rachel, »eher kein Bier.«
»Ich glaube, der Anteil des Alten«, sagte Raylan. »Lass uns losfahren, sehen wir zu, dass Cuba auf der Straße unseren Weg kreuzt.«
***
Sie fuhren bis zu der Stelle, wo die Straße aus Buckeye auf den Weg zum Friedhof traf, und warteten an der schmalsten Stelle.
Rachel sagte: »Die Crowes fahren ihre eigenen Autos seit sie zwölf sind. Meistens schnell.«
»Ich weiß«, sagte Raylan.
»Warum setzen sie sich dann seit Neuestem auf den Rücksitz und sagen einem Chauffeur, wo’s hingehen soll?«
»Vielleicht, weil er ihnen Dinge erzählt«, sagte Raylan, »von denen sie noch nie gehört haben?«
»Über Körperteile?«, sagte Rachel. »Meinst du das?«
»Er kommt«, sagte Raylan, der zwischen den Bäumen Staub aufsteigen sah. Der Cadillac hielt direkt auf sie zu, bremste dann und kam knapp zehn Meter vor der Schnauze des Audi zum Stehen.