Per Petterson

 

Ist schon in Ordnung

Roman

 

Aus dem Norwegischen

von Ina Kronenberger

 

Carl Hanser Verlag

 

Die norwegische Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel Det er greit for meg bei Forlaget Oktober in Oslo.

 

Die Übersetzung wurde von NORLA in Oslo gefördert.

 

eBook-ISBN 978-3-446-23827-5

© Forlaget Oktober A/S 1992

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2011

Satz: Gaby Michel, Hamburg

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

I.

1

Ich war dreizehn und sollte in der siebten Klasse an der Veitvet-Schule beginnen. Meine Mutter wollte mich am ersten Tag begleiten, wir waren neu hier, und sie hatte ohnehin keine Arbeit, aber ich wollte sie nicht dabeihaben. Es war der achtzehnte August, der Himmel wolkenverhangen, und als ich das Tor aufmachte und den Schulhof betrat, fing es an zu regnen. Ich schob die Sonnenbrille näher an die Augen und überquerte den großen Platz. Er war menschenleer. Auf halbem Weg blieb ich stehen und sah mich um. Rechts standen zwei rote Pavillons, direkt vor mir lag das niedrige blaue Hauptgebäude. Ein Fahnenmast stand auch da mit einer Fahne, die schwer an der Stange herunterhing. Hinter den Fenstern konnte ich Gesichter erkennen, und diejenigen, die drinnen saßen, drückten die Nasen an die Scheibe und betrachteten mich, der ich draußen im Regen stand. Es goss in Strömen. Ich kam am ersten Tag zu spät.

Als ich den Eingang erreichte, trieften meine Haare, und mein Hemd war durchnässt. Ich streifte es ab und wrang es aus, die Sonnenbrille trocknete ich an der Jeans, bevor ich sie wieder aufsetzte und das Hemd über den Kopf zog. Dann ging ich hinein.

Das erste, was ich sah, war die Verfassung. Sie hing gerahmt und hinter Glas gleich rechts an der Wand. Das zweite, was ich sah, war das Büro des Rektors. Man konnte es nicht verfehlen, denn an der Tür hing ein Schild. Ich ging geradewegs auf das Schild zu, ohne den Schritt zu verlangsamen, es konnte ja sein, dass mich jemand sah, und keiner sollte denken, dass ich nicht wusste, wohin ich zu gehen hatte. Ich klopfte und hielt das Gesicht an die Tür, wartete ab, und als eine Stimme HEREIN rief, machte ich die Tür auf, ohne nach rechts oder links zu schauen.

Es war ein großes Zimmer mit Regalen an der Wand, einem Matrizendrucker in der Ecke und einem Schreibtisch. Hinter dem Schreibtisch saß ein großer und ziemlich dicker Mann. Er blickte von einem Stapel Papier hoch und sah mich an. Durch die Sonnenbrille war es schwer zu erkennen, ob er lächelte, aber ich glaube es nicht.

»Mach den Rand an deinen Gummistiefeln hoch«, sagte er. Ich betrachtete meine Stiefel. Wie die meisten anderen hatte ich hohe braune Gummistiefel, deren Rand umgekrempelt war, und auf dem hellen Rand stand in Großbuchstaben BEATLES. Ich bückte mich und klappte den Rand hoch.

»Die sind für mich das Allerschlimmste«, sagte er.

Ich zuckte mit den Schultern und wartete. Er starrte mich an, und es war lange still, bis er sagte:

»Und dann setzt du die Sonnenbrille ab. Ich möchte wissen, mit wem ich mich unterhalte.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein?«

Noch einmal schüttelte ich den Kopf.

»Darf man fragen, warum?« Sein Gesicht war ein Ballon, ein Mond mit dunklen Flecken.

»Ich habe Narben.«

»Narben?«

»Schreckliche Narben um die Augen.«

»Aha.« Er nickte bedächtig mit seinem runden Kopf und fuhr sich über das Kinn. »Darf ich mal sehen?«

»Nein.«

»Neiiin?« Er war entgeistert. Trommelte mit einem Bleistift auf der Tischplatte. »So so, und wie heißt du?«

»Audun Sletten. Ich soll hier in der Siebten anfangen.«

»Aha, du bist also Audun Sletten. Ich habe dich vor einer halben Stunde erwartet.«

»Ich habe mich verlaufen.«

»Du hast dich verlaufen?«

»Ja.«

»Kann das sein? Es gibt doch nur eine Straße hierher.«

Ich zuckte mit den Schultern. Er war jetzt unsicher, ich wusste, dass er meine Augen nicht sehen konnte. Ich war das Phantom. Er seufzte und stand auf.

»Du kommst in die Sieben B. Das ist eine gemischte Klasse. Wir haben in der Siebten eine Mädchenklasse, eine Jungenklasse und eine gemischte Klasse. Komm mit.«

Mit raschen kleinen Schritten ging er zur Tür, obwohl er groß und schwer war wie John Wayne, er hatte leichte X-Beine, und ich sprang zur Seite, damit er an mir vorbeikam, schon standen wir auf dem Flur. Ich trottete hinter ihm er. Verglichen mit meiner früheren Schule, wirkte diese hier unendlich groß. Auf halbem Weg blieb er stehen und drehte sich um.

»Bist du sicher, dass die Narben so schlimm sind?«

»Sie sind verdammt schlimm«, sagte ich. Seine Hand war auf dem Weg zu meiner Brille, und ich trat einen Schritt zurück und nahm die Fäuste hoch. Die Reaktion kam ganz von allein. Er ließ die Hand wieder sinken.

»Pass auf, wie du sprichst«, sagte er, »hier bei uns wird nicht geflucht.«

Ich gab keine Antwort, und wir liefen bis zum Ende des Korridors, wo er stehenblieb, an eine Tür klopfte und sie öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten. Er hielt sie auf und winkte mich hinein. Alle sahen uns an. Ein Mädchen kicherte. Ich spürte ihn dicht hinter mir und hielt mich bereit, falls er auf dumme Gedanken kommen sollte.

»Das hier ist Audun Sletten, der neue Junge in eurer Klasse, von dem ihr sicher schon gehört habt. Er kommt von weit her, vom Land, ich möchte, dass ihr ihn freundlich aufnehmt. Auch er mag die Beatles. Die Sonnenbrille braucht ihr nicht zu beachten. Die sitzt fest.«

Das Mädchen kicherte erneut. Sie hatte halblange schwarze Haare. Bevor er ging, beugte er sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr.

»Wegen der Narben rufe ich deine Mutter an, das mache ich gleich.«

»Wir haben kein Telefon«, sagte ich laut, aber er war schon weg.

»Telefon haben nicht alle«, sagte der Lehrer, »aber gut zu wissen.« Die halbe Klasse lachte.

»Du kannst dich an das freie Pult am Fenster setzen.« Er trug eine Brille mit Goldrand, seine Haare waren vorne ziemlich dünn, aber er sah aus, als würde er Sport treiben, denn das Hemd spannte über der Brust und an den Oberarmen. Ich ging nach vorn, am Katheder vorbei, dann die Reihe nach hinten durch und setzte mich an das Pult am Fenster. Die Tasche hängte ich an einen Haken auf der Seite. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Sonne schien durch die Wolken, und das Licht machte den Schulhof zu einem See, blank, langgezogen, und ich stellte mir Flöße und eine Angel und einen Damm vor wie am Aurtjern, dort konnte man stehen und die Angel auswerfen, denn oft schwammen die Fische dicht an die Mauer heran. Als ich mich zur Tafel drehte, war auf einen Schlag alles schwarz, und erst allmählich wurde deutlich, was dort mit Kreide stand. Schließlich konnte ich es sogar mit Sonnenbrille lesen. WILLKOMMEN!, stand dort. Ich tauchte unter das Pult und krempelte den Rand der Stiefel wieder um.

 

Es klingelte, und ich ging als letzter hinaus, wollte niemanden im Rücken haben. Der Lehrer hieß Levang. Er wollte mir die Hand geben und nett sein, also gab ich ihm auch die Hand, murmelte etwas, was ich selbst nicht verstand, und ging rasch weiter. Draußen auf dem Schulhof lief ich sofort zur anderen Seite und lehnte mich mit dem Rücken an den Zaun. Dahinter lag ein Fußballplatz, aber er war leer, von dem dunklen Kies stieg Dampf auf. Rechts von mir, auf dem Platz vor den Pavillons, liefen kleine Kinder hintereinander her, spielten Fangen und spritzten mit Wasser. Links vor dem Hauptgebäude standen die Großen in Gruppen und unterhielten sich. Ein paar Mädchen hüpften Gummitwist und hatten das Gummi unter den Achseln, und ein Junge mit Krücken kam direkt auf mich zu. Ich hatte ihn im Klassenzimmer etwas weiter vorn in der rechten Reihe gesehen. Jetzt sah ich mich um, aber am Zaun stand sonst niemand. Er hatte dunkle Locken und die gleichen Stiefel wie ich. Auf dem einen Rand stand KINKS und auf dem anderen HOLLIES. Das waren Popgruppen, aber ich hatte von ihnen keine Platten. Ich hatte überhaupt keine Platten. Zu Hause hatten wir nur Jussi Björling, aber ich besaß ein kleines Radio, das ich nachts anstellte.

Er blieb ein paar Meter vor mir stehen, stützte sich auf die Krücken und lächelte.

»Schicke Brille«, sagte er.

Schicke Krücken, dachte ich, aber zum Glück sagte ich es nicht. In gewisser Weise waren sie tatsächlich schick, Teil seines Körpers bei jeder Bewegung, etwas, was er nicht beachtete, was einfach da war.

»In zwei Monaten bin ich damit durch«, sagte er und folgte meinem Blick. »Ich habe sie seit einem Jahr. Mittlerweile komme ich ganz gut damit klar, aber ich habe die Schnauze voll.«

»Was ist mit deinem Bein?«

»Ein Autounfall.«

»Und wie sah das Auto aus?«

Er lachte so sehr, dass er fast von den Krücken fiel.

»Keine Ahnung, ich habe es nicht gesehen. Ich wurde von hinten angefahren, dann war ich bewusstlos und wachte bei meiner Oma in der Kammer wieder auf.« Er lachte noch einmal, sein ganzes Gesicht lachte. »Und ich dachte, ich wär im Himmel, das erste, was ich beim Aufwachen sah, war nämlich eins dieser Bilder, auf dem JESUS LEBT steht.«

»Glaubst du denn an Gott?«

»Nein, an Gott habe ich noch nie geglaubt, aber als ich bei meiner Oma in der Kammer aufwachte, dachte ich, ich hätte mich vielleicht geirrt. Zum Glück fiel mir wieder ein, wo ich war und dass das Bild schon immer dort gehangen hatte.«

Er stützte sich auf die Krücken, ließ das eine Bein über dem Bügel baumeln und lachte die ganze Zeit. Ich hatte mir vorgenommen, mich in dieser Schule mit niemandem anzufreunden, aber bei ihm hier könnte es schwierig werden.

»Stimmt was nicht mit deinen Augen?«

»Ich vertrage kein Licht«, sagte ich und bereute es sofort, weil es nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber es entsprach mehr der Wahrheit als andere Sachen, die ich gesagt hatte. »Ich muss dann sofort kotzen.«

»Das ist nichts wofür man sich schämen müsste«, sagte er daraufhin, und dann stockte das Gespräch, und ich fühlte mich wie ein Verräter. Zum Glück kam ein Ball angerollt. Ich sah ihn zuerst und wollte ihn gerade wegkicken, aber da sah er ihn auch, nahm Schwung, nutzte die Krücken als Seitpferd und trat mit dem gesunden Bein so fest gegen den Ball, dass dieser bis zum anderen Ende des Schulhofs flog und dort an den Zaun knallte. Ein beeindruckender Schuss, auch wenn er auf dem Fußballplatz bestimmt nicht erlaubt war.

»Nicht schlecht«, sagte ich, und er grinste und sagte:

»Ich heiße übrigens Arvid«, und dann läutete die Pausenglocke.

 

Diesmal fiel es mir leichter, den Klassenraum zu betreten, ich ging nicht als letzter hinein, aber die Brille behielt ich auf. Wenn sie mich in Ruhe ließen, wäre dieser Tag vielleicht erträglich.

Als alle an ihren Pulten Platz genommen hatten, ging Levang zum Katheder und setzte sich ebenfalls, legte die Hände übereinander und ließ den Blick über die Klasse schweifen, bis er bei mir innehielt. Er lächelte breit, ich spürte, wie mein Nacken steif wurde, und dann sagte er mit richtig freundlicher Stimme:

»Du, Audun. In der ersten Stunde blieb uns ja nicht mehr viel Zeit, aber ich dachte, du könntest uns jetzt vielleicht ein bisschen davon erzählen, wie es dort aussieht, wo du herkommst. Die meisten in der Klasse haben ja noch nie woanders als in Veitvet gewohnt. Wie heißt die Gegend, in der du aufgewachsen bist?«

Ich hätte es wissen müssen. Er würde mich nicht in Ruhe lassen. Er war ein freundlicher Mann, das war von weitem zu erkennen, er wollte, dass ich mich wohlfühlte, dass sie mich besser kennenlernten. Ich zog die Schultern hoch.

»Ich meine, es könnte für uns ganz interessant sein. Kommst du von einem Hof?«

»Da gibt’s nichts zu erzählen«, sagte ich laut. Das schwarzhaarige Mädchen kicherte schon wieder.

Levang lächelte, leicht rot im Gesicht. »Das kann nicht sein«, sagte er, »du bist dreizehn, du hast bestimmt schon eine Menge erlebt, wovon wir hier keine Ahnung haben.«

»Da gibt’s nichts zu erzählen, hab ich doch gesagt!«

»Bist du sicher?«, fragte er. Da stand ich auf, nahm meine Tasche vom Haken und ging zur Tür. Jetzt kicherte keiner mehr. Arvid drehte sich um und sah mich an, aber seine Augen verrieten nicht, was er dachte.

»He, he, wo willst du hin?«, fragte Levang und stand ebenfalls auf, er machte ein paar Schritte, als wollte er mir den Weg zur Tür versperren. Meine Brust schnürte sich zusammen. Ich sah über seine Schulter zur Tür, begriff aber, dass ein Versuch sinnlos wäre.

»Ich habe immer meine Hausaufgaben gemacht«, sagte ich, »habe im Unterricht immer aufgepasst. Sie können gern mein Zeugnisheft sehen, wenn Sie wollen, aber Sie haben nicht das Recht, mich nach Sachen zu fragen, die nichts mit der Schule zu tun haben.«

»Aber Audun, ich glaube, du hast mich völlig missverstanden. So war es doch nicht gemeint«, sagte er und versuchte, meinen Blick einzufangen, aber ich sah an seinem Ohr vorbei und gab keine Antwort.

»Okay, darüber reden wir ein andermal. Bitte setz dich wieder an dein Pult.« Ich drehte mich um und ging zwischen den Pulten hindurch, schaute kurz in Arvids Gesicht, bevor ich mich auf meinen Platz setzte, die Tasche zurückhängte und aus dem Fenster starrte.

II.