Roman
Für Gottfried
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
Anmerkungen des Autors
Natürlich ist er es. Natürlich ist er es nicht. Fest steht jedenfalls, dass beide zur selben Zeit am selben Ort geboren wurden und am selben Ort starben. Dazwischen liegen die Leben, ein erzähltes, ein gelebtes.
Sie haben verschiedene Nachnamen, das wohl. Der eine einen längeren, in dem der des anderen enthalten ist. Auch kein Zufall. Verkürzt wie ein erzähltes Leben, noch dazu ein so schillerndes, ist der Name Fritz Bitter.
Schon die Romanfigur führt, als die Städte und Millionen von Menschen in Trümmern liegen, als wieder andere das Sagen haben, exemplarisch vor, wie man erfolgreich falsche Fährten legt und Nebelgranaten wirft, wie man kaltschneuzig, vor allem aber halbwegs plausibel umdeutet, was wirklich geschah, wie man sich unangenehme Fragen geschickt vom Leib hält, treuherzig tragische Missverständnisse geltend macht und aus scheinbar einsichtigen Formalgründen keinesfalls dabeigewesen sein, gar Schuld auf sich geladen haben kann.
Zur Not, da kennt der durchtriebene Jurist Dr. Friedrich Bitter keine falsche Scham, zur Not lässt er die vielbeschworene Ehre eben Ehre sein, dementiert er sich bis zur Lächerlichkeit selbst, um den Kopf irgendwie aus der Schlinge zu ziehen, sobald es eng wird. Seine Lebensauffassung, charakterisiert ihn der Personalbericht des Sicherheitsdienstes des Reichsführers-SS, sei natürlich und praktisch. Dem ist wenig hinzuzufügen. Der andere, der echte Fritz dürfte da noch wesentlich begabter gewesen sein, das zu vermuten ist kein großes Wagnis.
Niemand will übrigens die wahre Identität des hintergründigen Doppelgängers verschleiern. Ehrlich gesagt, es hätte auch wenig Sinn, im dritten Jahrtausend führen ein paar Klicks ohnehin zuverlässig und bequem auf die richtige Spur, denn Bitter und er haben sich zwar klein gemacht nachher, aber eben doch nicht klein genug.
Nein, es geht lediglich um altmodische Redlichkeit, wenn die beiden hier fein säuberlich voneinander geschieden werden: Fritz Bitter ist das gewissenhaft zusammengetragene Produkt von Dokumenten und Selbstzeugnissen, von Erinnerungen der Lebenden und der Toten, vor allem der Toten, zu denen sich während des langsamen Entstehens dieses Buches noch weitere gesellen, denn aus dem Ärmel schütteln lässt sich bei solch einer Ausgangslage nichts.
Schon auf ihn selbst ist wie gesagt kein rechter Verlass, und die meisten, die sich äußern über ihn, verbinden bewusst oder unbewusst – wer will es ihnen verargen – Interessen mit dem, was sie aufschreiben, zu Protokoll geben, ins Mikrophon sagen, was sie lieber auslassen, als Frau, als Schwester, als Tochter, als Nichte, als Enkelin, als Freund, als Untergebener, als Vorgesetzter, als Untersuchungsrichter, als Ankläger, als Verteidiger, als Zeuge. Es ist ratsam, das mitzudenken. Die Wirklichkeit dieses Romans speist sich aus dem, was war, und einem komplexen Gemenge des Ermittelten.
Niemand will selbstgefällig zu Gericht sitzen auf den folgenden gut zweihundert Seiten, doch ist es nötig, dem Mann nicht alles durchgehen zu lassen und einen Ton dafür zu finden, den er versteht. Sonst wikkelt er einen um den Finger. Vor allem gilt es zu vermeiden, dass er das Gefühl bekommt, um seiner selbst willen im Mittelpunkt zu stehen. In Wahrheit ist die Person Bitter nur als Folie von Belang, als schmerzliche Illustration für einen bemerkenswerten, keineswegs aber einzigartigen Sachverhalt.
Dem anderen, dem hier Nachnamenlosen und ab sofort nur noch Mitgedachten, dürfte noch weit mehr zuzuschreiben sein als seinem eigenen belegbaren und doch nicht immer deckungsgleichen Ausschnitt Fritz Bitter. In Nuancen mag er vielleicht sogar tatsächlich anders gewesen sein.
Bei solchen wie ihnen heißt der Juli Heumond. Welch volksverbindendes Großspektakel das doch war im letzten Sommer, ein rechter Lichtblick in schlimmen Zeiten. Mit Sonderzügen und Schiffen, sogar auf geschmückten Donauplätten waren begeisterte Massen aus allen Himmelsrichtungen herbeigeströmt. Schon etliche Wochen davor hatten kameradschaftlich gesinnte Briefeschreiber beim Kuvertieren mit Wonne eine Extramarke abgeschleckt, die diente nicht zum Frankieren, sondern als augenfällige Reklame für das große Ereignis.
Neben dem Text fand sich auf dem gezackten Stückchen gummierten Papiers noch ausreichend Platz für einen stolzen Adler mit ausgebreiteten Schwingen, für ein blankes Schwert sowie für ein seltsames rundes Ding, wie es idealistisch gesinnte deutsche Männer in Österreich mehr als eine Dekade danach gern unter dem Rockrevers tragen werden. Auch das Hakenkreuz auf dem Ding schaut schon fast so aus wie dann: Deutscher Turnerbund (1919) – 1. Bundes-Turn-Fest in Linz – 21.-23. Heumond 1922. Wer jetzt bemängelt, ein muskelbepackter Ringturner im Kreuzhang hätte für diesen Anlass doch wohl ein passenderes Motiv abgegeben, verkennt den tieferen Sinn der Unternehmung.
Noch wesentlich deutlicher wird eine illustrierte Werbepostkarte, die im Brach- und im Heumond zwecks Festankündigung ebenfalls eifrig verschickt wurde. Das runde Ding in den Klauen des Adlers gibt da aufdringlich viel Glanz ab, alte Burgen und gotische Dome stehen ganz in seinem Schatten: Wenn auch noch tief versunken – Die alte Herrlichkeit – In Aschen glimmt ein Funken – Wir wecken ihn zur Zeit: Rassereinheit – Volkeseinheit – Geistesfreiheit. Das nennt man auf den Punkt gebracht.
Der junge Fritz Bitter ist einer von Tausenden Hingerissenen, ein Erweckungserlebnis ist der Linzer Riesenauflauf jedoch nicht für ihn. Als SS-Sturmbannführer wird er in einem Lebenslauf, der sich von späteren erheblich unterscheidet und ihn offensichtlich für seine einschlägige Verwendung in der sowjetischen Ukraine qualifizieren soll, stolz festhalten können, bereits als zehnjähriges Kind Mitglied des deutsch-völkischen Turnvereins geworden zu sein, der schließlich 1919 im Deutschen Turnerbund aufging. Auf die Goldwaage sollte man seine Selbstzeugnisse aber besser nicht legen, Bitter neigt zu Über- wie zu Untertreibungen, je nachdem, wie es gerade opportun ist.
Erst nach sechs Volksschuljahren setzte es der unterforderte Knabe endlich durch, ins Gymnasium wechseln zu dürfen. Als dominierende gesellschaftliche Strömung überwog zu diesem Zeitpunkt noch jener Hurrapatriotismus, mit dem die meisten Soldaten im Sommer zuvor siegesgewiss in den Weltkrieg gezogen waren. Auch der besonders treue Untertan Seiner hochbetagten k.u.k. apostolischen Majestät Adolf Bitter, zu alt schon für den aktiven Einsatz beim Militär, hatte sich davon anstecken lassen. Wie lange das jetzt schon her ist, obwohl erst ein paar Jahre vergangen sind! Kein Stein ist auf dem anderen geblieben.
Auf Geheiß seines Vaters, der für deutschnationales Treiben nur wenig Verständnis zeigt, besucht Fritz, er selbst hat mit dem staatlichen im nahen Ried geliebäugelt, jetzt zu seinem Leidwesen schon seit geraumer Zeit das Stiftsgymnasium Wilhering, ziemlich idyllisch, aber reichlich abgeschieden etliche Kilometer donauaufwärts vor der Landeshauptstadt gelegen. Dass die auffällige Unrast, die ihn das ganze Leben begleiten wird, nicht zuletzt von den vielen Ortswechseln seiner Jugend herrührt, ist sicherlich eine Überlegung wert. Denn bis zum Ende der Volksschulzeit des Knaben war Vater Bitter dreimal versetzt worden, ehe er sich beruflich so weit emporgearbeitet hatte, um in Schärding am Inn auf Dauer sesshaft werden zu können.
Vom Barockstädtchen Schärding ist es ein weiter Weg nach Wilhering, und daher musste Fritz zu allem Überdruss im stiftseigenen Schulinternat Aufenthalt nehmen, von Anfang an war ihm das widerwärtig und peinlich. Vater Adolf hingegen hoffte inständig, es möge den Zisterzienserpatres gelingen, dem frühreifen einzigen Filius die nationalen Flausen auszutreiben und ihn wieder rechtschaffen katholisch zu machen.
In seiner Spinnstube – so nennen Mutter und Kinder augenzwinkernd das Herrenzimmer des Familienoberhauptes – wird bis zu Vaters Ableben mit fast achtzig an prominenter Stelle, und zwar gegenüber dem ausgestopften Auerhahn, das Bildnis einer ewig jungen, von ihm angebeteten Frau hängen, der ermordeten Gemahlin des vorletzten Habsburgerkaisers Franz Joseph des Ersten, Elisabeth. Den von allen anständigen Deutschen erwarteten täglichen Blick auf das fotografische Antlitz seines aufdringlichen Vornamenvetters wird Adolf Bitter sich hingegen ersparen, wenn es soweit ist. Zeit seines Lebens bleibt er standhaft Monarchist und ein guter, keineswegs jedoch bigotter Christ obendrein, mag da kommen, was will.
Wie seine nur wenig ältere Schwester Annemarie wurde Fritz tatsächlich auf, präziser wohl: in einem echten Schloss geboren. Zufällig residierten nämlich die Eltern zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gerade dort, allerdings bloß in einer ziemlich bescheidenen Dienstwohnung. Einst hatte Wildshut, auf Karten diesseits der Salzach im äußersten Südwesten des seit 1779 oberösterreichischen Innviertels keine fünfhundert Meter von der deutschen Reichsgrenze verzeichnet, den bayerischen Kurfürsten als Jagdschloss gedient, aber bereits im Mittelalter siedelte sich, weil die erlauchte Herrschaft nur höchst selten vorbeikam und genügend Platz vorhanden war, mit dem Landgericht ein Pfleger an. Seither wurde an diesem Ort ununterbrochen Recht gesprochen oder was man jeweils dafür hielt.
Als dem pflichtbewussten Staatsdiener Adolf Bitter, den es aus seiner Tiroler Heimat nach Oberösterreich verschlagen hatte, mit Anfang dreißig die Ehre widerfuhr, zum Kommandanten des mittlerweile im Schloss direkt neben dem Bezirksgericht eingerichteten Gendarmeriepostens ernannt zu werden, lag die letzte von etlichen hundert Hinrichtungen auf dem nahen Galgenhügel keine achtzig Jahre zurück.
Dabei hätte sich der erst im zweiten Versuch erfolgreich Gehängte sein trauriges Ende bequem ersparen können, weiß die Chronik. Neben Regina Reschs übel zugerichteter Leiche war nämlich eine blutige Ofengabel aufgefunden worden, und weil die unangepasste Frau schon lange als Hexe verschrien war, entschied sich die ermittelnde Behörde in Abwägung der Güter dafür, nur wenig Aufwand zu betreiben, um Licht ins Dunkel des Mordgeschehens zu bringen. Für die meisten Leute in der Gegend war ob des sichergestellten, eindeutig zuordenbaren Tötungswerkzeuges ohnehin sonnenklar, der Fürst der Hölle höchstpersönlich müsse seine treue Dienerin, aus einer bei ihm jederzeit zu gewärtigenden bösen Laune heraus wohl, gewaltsam abberufen haben. Dass viele Monate später, Anfang 1821, dann plötzlich aus dem Nichts ihr eigener Sohn kleinlaut vor dem Richter erschien und um eine gerechte Strafe für die Untat ersuchte, kam für alle überraschend.
Erst 1940, und damit lange nach Adolf Bitters Amtszeit, wird die Obrigkeit hier am Ort wieder Menschen aktiv aus dem Leben befördern, diesmal fraglos vollkommen Unschuldige und ganz ohne gesetzliche Grundlage. Kurz nach Weihnachten wird da in ferner Zukunft der Gemeinde- und Lagerarzt Dr. Alois Straffner bei einem der Nachfolger Bitters im Schloss Wildshut vorstellig werden und Anzeige erstatten, in dem nahegelegenen Arbeitserziehungslager des Reichsgaus Oberdonau würden Inhaftierte qualvoll getötet. Auch der Mediziner will wie weiland Anton Resch sein Gewissen erleichtern, und auch er wird sich bewusst sein, dass ein solcher Entschluss für ihn, mitten im Dritten Reich, böse Folgen haben kann. Aber diese Geschichte steht auf anderen Blättern und führt doch irgendwie zu Fritz zurück.
Der jedoch steuert als Klassenbester momentan erst einmal auf die Matura zu, sechzehn Monate liegen noch vor ihm. Da seine Eltern sich, wie gesagt, lange nicht dazu entschließen konnten, ihn einen Studierten werden zu lassen, ist der junge Mann deutlich älter als die meisten, mit denen er die Schulbank drückt. Der mittlerweile beinahe Zwanzigjährige nutzt übrigens weiter jede sich bietende Gelegenheit, den Vater zu beknien, in ein staatliches Gymnasium wechseln zu dürfen, unerträglich sei ihm das pfäffische Wilhering. Vergeblich.
Die außerordentliche Begabung des Juniors zeigt sich in allen Fächern, der Lernaufwand hält sich dabei in Grenzen, seine schnelle Auffassungsgabe wird sich auch später bei vielen Gelegenheiten bewähren. Nicht weniger als sechs Musikinstrumente spielt er inzwischen, und trotzdem bleibt ihm ausreichend Zeit für sein liebstes Hobby, das Turnen in der Gemeinschaft und alles, was damit so zusammenhängt.
Zwischen Wilhering und der Landeshauptstadt müht sich der breite Donaustrom knappe zehn Kilometer durch einen engen Einschnitt. Der tiefe Schock über Napoleons glorreiche Feldzüge wirkte noch nach, als Erzherzog Maximilian Joseph einen bald wieder völlig zwecklosen, weil anachronistischen Ring von zweiunddreißig massiven, nach ihrem Erbauer benannten Wehrtürmen rund um Linz hochziehen ließ, die als solche auch nur lächerlich kurz in Verwendung standen und, von Adelgunde bis Winfriede, Frauennamen zugeordnet erhielten.
Am bekanntesten sind wohl zwei von den runden Befestigungen auf dem Pöstlingberg mit seiner doppeltürmigen barocken Wallfahrtsbasilika, dem weithin sichtbaren Wahrzeichen im Norden der Stadt. An Wochenenden und zu den Feiertagen zieht das beliebte Ausflugsziel ihre Bewohner schon während Fritz Bitters Internatszeit in Scharen an. Einer dieser beiden Rundtürme, Maria geheißen, dient jetzt der steilen Bergbahn aus dem Stadtteil Urfahr als idyllische Endstation, der andere, Beatrix, beherbergt die bunt beleuchtete Märchengrottenbahn und darunter im Maßstab eins zu sieben eine faszinierende unterirdische Replik des Linzer Hauptplatzes bei Nacht, im Moment gerade als Platz des zwölften November bekannt, ab 1934, wie schon zu Monarchiezeiten, wieder als Franz-Joseph-Platz und dann ebenso vorübergehend als Adolf-Hitler-Platz.
Eine weitere dieser maximilianischen Wehranlagen, markant am Fluss direkt neben der Straße gelegen und mit ihrem Pendant Kunigunde am nördlichen Ufer ursprünglich zur Verankerung einer Donaukettensperre gerüstet, passiert Gymnasiast Bitter regelmäßig und ausgesprochen gern, wenn er zügig die zwei Stunden entlang steiler und schattiger Waldhänge Richtung Stadt oder zurück marschiert. Zuweilen ist der trutzige, längst vergangene Epochen vortäuschende Steinkoloss Adelgunde auch das eigentliche Ziel für ihn und Gleichgesinnte.
Von einem vermögenden deutschnationalen Reichsratsabgeordneten extra zu diesem Zweck angekauft und zunächst einmal provisorisch instandgesetzt, dient der Klausenturm den Burschenschaftern seit 1917 als Gedenkort für die Toten des Weltkriegs. Nur wenig später wurden in dieses Gedenken auch die durch das schändliche Friedensdiktat vorläufig verlorenen deutschen Hochschulstandorte einbezogen.
Der edle Stifter der Stätte dürfte beim Erwerb der Liegenschaft im schon bedenklich trudelnden Habsburgerreich mit dem sinnigen Hintergedanken zugegriffen haben, das im Volksmund seit jeher unter der Bezeichnung Anschlussturm bekannte Bauwerk gefahrlos als weithin sichtbares Fanal für eben diesen Zweck einzusetzen, obwohl sich die Begriffe Anschlussmauer und Anschlussturm ursprünglich bloß auf die Warte Walpurga hoch oben am Hang bezogen, mit der die Klause Adelgunde direkt verbunden war.
Mitte der zwanziger Jahre wird die martialische Anlage in Etappen folgerichtig zum Anschlussdenkmal ausgebaut, 1932 unter den wachsamen Augen von Fritz Bitters Schwager endlich feierlich eröffnet werden und der Pöstlingbergkirche als Wallfahrtstätte Konkurrenz machen. Gar nicht so wenige, heißt es, können sich trotz heftiger Polemiken der jeweiligen Gottsoberen gegeneinander sogar für beide Heilslehren gleichzeitig erwärmen. Als Anschluss- oder Burschenschafterturm wird die Anlage auch im neuen Jahrtausend noch bekannt sein, an ihrer Bestimmung wird sich bis dahin im wesentlichen nicht viel geändert haben.
Dass mehr und mehr Schüler radikal großdeutsch eingestellt sind, missfällt den meisten Zisterzienserpatres von Wilhering zwar, immerhin lässt diese Sorte Studiosi bei jeder Gelegenheit deutlich durchscheinen, Gott und seiner Kirche den nötigen Respekt aufgekündigt zu haben. Ihr Treiben wird freilich geduldet, solange alles in halbwegs zivilisierten Bahnen und vor allem möglichst unsichtbar abläuft. Doch heutzutage drängt der Zeitgeist die Jungen vehement hinaus in die Öffentlichkeit, gemeinsam fühlen sie sich stark und zu starken Ansagen berufen, ihre Prozessionen heißen halt Aufmärsche, Turnfeste aller Art sind in Mode gekommen, und als im Jahr nach dem ganz großen in Linz ein studentisches angesetzt ist, formiert sich eine Wilheringer Riege, die nicht nur sportlich von sich reden macht.
Aufgekratzt und wohl nicht mehr ganz nüchtern grölen Fritz und etliche seiner Kumpane bei der Heimkunft vom Turntriumph auf einem pferdebespannten Leiterwagen im Stiftshof einschlägige Heil-Parolen und wollen gar nicht mehr aufhören damit. Zur Gefahr für die ordentliche Schülerschaft hätten sich diese radikalen Elemente entwickelt, begründet der aufgebrachte Pater Direktor am nächsten Tag die dringende Einladung an den Schärdinger Gendarmerie-Bezirkskommandanten Adolf Bitter, seinen missratenen Sohn unverzüglich von der Anstalt zu nehmen, um ihm den unehrenhaften Rausschmiss als Rädelsführer der garstigen Umtriebe zu ersparen.
Nun bleibt dem Vater nichts mehr übrig. Der hartnäckige Fritz ist, für ihn selbst völlig unerwartet, endlich am Ziel seiner Wünsche. Adolf Bitter muss einsehen, dass kein katholisches Internat im ganzen Land solch einem radikalen Element fürderhin Unterschlupf bieten wird.
Ried im Innkreis, nur drei Dutzend Kilometer von Schärding entfernt und mit der Bahn bequem zu erreichen, ist Sitz eines staatlichen Bundesgymnasiums, das Fritz Bitter ohne große Umstände den Schulabschluss ermöglicht. Er bezieht zu diesem Zweck ein kleines Untermietzimmer in der Linzer Gasse und fühlt sich sofort wie im siebten Himmel in der neuen Umgebung.
Sein Rieder Klassenvorstand, Religionsprofessor Peter Kitlitzko, hat übrigens vor zwanzig Jahren an der Linzer Realschule mit Missvergnügen, wie er bekennt, einen gewissen Adolf Hitler unterrichtet, der schon ein paar Monate später draußen in München Schlagzeilen machen wird. Sein rechtsgerichteter Putschversuch wird Anlass für hitzige Diskussionen in Bitters neuem Freundeskreis geben.
Die kleine Bezirksstadt Ried im Zentrum des Innviertels gilt als Hort des Deutschnationalismus, viele Gymnasiasten vertreiben sich ganz offen als weithin sichtbare Mitglieder der conservativen Semestralverbindung Germania die Zeit, meist in geselliger Wirtshausrunde bei den Kneipen oder auch auf dem Fechtboden. Bei dieser Burschenschaft und im Alldeutschen Verband heuert Fritz umgehend an, mit dem Verstekkenspielen hat es sich aufgehört.
Indiskretionen würden es sogar erlauben, ausführlich aus dem Mensurbuch der Germania zu zitieren und etwa genau aufzulisten, im wievielten Gang am ersten Hornung 2037 der Unparteiische Stich konstatierte, worauf Germania in der Auseinandersetzung mit Arminia Gmunden den unterlegenen Paukanten, Fuchs Bitter, für abgeführt erklärte.
Neben den Monatsnamen wirken für Nichtverschworene auch die in solchen Kreisen gebräuchlichen Jahreszahlen ziemlich gewöhnungsbedürftig. Des Rätsels Lösung: In der Schlacht bei Noreia 113 vor Christi Geburt durchstoßen die Germanen, wie fleißige Historiker ermittelt haben, erstmals urkundlich den geschichtlichen Nebel, eine wahre Stunde null sozusagen für die gesamte Menschheit.
Im christlichen Jahr 2000 wird zu ihrem Neunziger eine Festbroschüre der Germania erscheinen, würdig einbegleitet durch sehr herzliche Dankesworte und aufrichtige Glückwünsche des aktuellen oberösterreichischen Landeshauptmanns. Im Inneren des Druckwerks wird man einerseits über die schlimme Meinungsdiktatur der Gegenwart, etwa die planmäßige Vergiftung von Dichtung, Theater, bildender Kunst, Architektur aufgeklärt werden, doch lassen sich auch aufschlussreiche Details über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der so bitter endete, in Erfahrung bringen: Die ersten Nachkriegsjahre brachten für viele Bundesbrüder Unbill und Verfolgung. Viele wurden aus ihren Ämtern gejagt, viele interniert und insgesamt fast alle verfolgt und verfemt.
Ein einziges fotografisches Einzelporträt aus den Blütetagen der Verbindung zwischen 1919 und 1933 wird in diesem historischen Abriss mehreren anonymen Gruppenaufnahmen früher Mitglieder beigegeben werden. Die Bildunterschrift in der Jubiläumspublikation wird verraten, es handle sich bei dem unter allen anderen Kommilitonen auffällig Hervorgehobenen um den seinerzeit aktiven Burschen Fritz Bitter, aufgenommen am zwölften Nebelung 2036, wie nur auf der Rückseite des erhaltenen Originals zu lesen steht.
Der aber erwirbt sich seine zweifelhafte Reputation, es wird ausführlich davon die Rede sein müssen, ausschließlich während der Herrschaft des Nationalsozialismus, und das in einer so bedenklichen Weise, dass sogar Ernst Klees einschlägiges ›Personenlexikon zum Dritten Reich‹ ihm einen Klartext sprechenden Eintrag widmen wird, wenngleich einen ziemlich unvollständigen, der allerdings auf die richtige Spur führt. Regelmäßig wird Bitters Name bei Ermittlungen zu Massakern der SS von früheren Untergebenen ins Spiel gebracht werden, und das hin bis zur Jahrtausendwende. Würdigt die Germania also diesen Umstand?
Womöglich ist Fritz auch nur beliebt wie kein zweiter und wird allein deshalb bei seiner schlagenden Verbindung noch ein Menschenalter später so hoch im Kurs stehen. Dass ihm alle Herzen zufliegen, ist ein Standardsatz derer, die ihn kurz charakterisieren sollen, das gilt für den Freundeskreis wie für die Verwandtschaft. Er wird ein Leben lang Nutzen daraus ziehen. Als es nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und Bitters glimpflicher Verurteilung zu beweisen gilt, was unverbrüchliche Treue bedeutet, werden ihm Kameraden aus den alten Seilschaften für die Zeit nach seiner Entlassung ihre Beziehungen antragen. Es würde ihnen, auf dass der arme Fritz beruflich schnell wieder Boden unter die Füße bekäme, eine Ehre sein, sich für ihn verwenden zu dürfen. Und sie werden sich überzeugt geben, ihn dann auch gleich bei einer ordentlichen Firma unterzubringen.
Schon dem strahlenden Lausbuben daheim in Schärding konnte niemand richtig böse sein. Regelmäßig kam er etwa zu spät zum Essen, weil er als geborener Anführer nach der Schule häufig dringende Geschäfte zu erledigen hatte, die ihn aufhielten. Mit der Wahrheit nahm er es schon damals nicht übermäßig genau, denn früh hatte das aufgeweckte Kind gelernt, dass gute Ausreden in den meisten Fällen ihren Zweck erfüllten, solange man sich kein Gewissen machte und sie überzeugend vortrug. Auf die ein Jahr ältere Schwester Annemarie, richtig vernarrt in den kleinen Bruder, war dabei absolut Verlass, sie stand ihm stets bei, versuchte dem aufgebrachten Vater geduldig zu erklären, den Fritz treffe nun wirklich keine Schuld oder wenn, dann nur am Rande, und meist gelang es mit vereinten Kräften – denn auch die Mutter tendierte grundsätzlich zur Begnadigung –, Adolf Bitter zu besänftigen, auch wenn er schon zur Ohrfeige ausgeholt hatte.
Fritz ist für die Anni zeitlebens ein richtiger Tausendsassa, er kann buchstäblich alles, nur wollen muss er. Kaputtes Spielzeug im Nu heil machen, unbekannte Lieder ansatzlos vom Blatt spielen, alles kein Problem schon für den Achtjährigen. Liebend gern dachte er sich die abenteuerlichsten und phantasievollsten Geschichten aus, mit denen er die Schwester und anderes kindliches Publikum stundenlang in seinen Bann zu ziehen wusste. Und auf die verwegenen Streiche wäre niemand sonst auch nur im Traum gekommen, davon ist Annemarie felsenfest überzeugt. Für deren Ausführung spannte Fritz als lieber im Hintergrund agierender Spiritus rector gewöhnlich seine Anhängerschaft ein. Manchmal fielen sie freilich so arg aus, dass sich der Vater, wurden sie aufgedeckt, denn doch nicht von einer ordentlichen Tracht Prügel abbringen ließ. Wer Fritz, dem Strategen, die Suppe einbrockte, etwa weil er sich verplappert hatte oder gar auf frischer Tat ertappt worden war, musste dann seinerseits die Rache des Häuptlings fürchten. Und die konnte heftig ausfallen.
Nur höchst selten unterläuft Fritz selbst ein Denkfehler, der alles auffliegen lässt. Ausgerechnet bei der schriftlichen Matura 1924 am Rieder Gymnasium wendet jedoch auch ein zweiter Schüler, als mathematisches Untalent bekannt, virtuos ein völlig unübliches Verfahren an, das zwar zur richtigen Lösung führt, aber nur in Wilhering gelehrt wurde. Dem Geständnis des Überführten, der mithin nicht bestanden hat, folgt eine lange Beratung der Kommission, wie mit dem Ezzesgeber zu verfahren sei. Fritz kommt mit einem blauen Auge davon, das wird noch oft so sein in seinem bewegten Leben.
Kein Wunder, dass sich der leidlich fesche Jüngling mit seinen auch jenseits einschlägiger Metaphern blitzblauen Augen und dem dunkelblonden Haar in diesen Jahren trotz aller Männerbündelei zum Frauenschwarm entwickelt. Ihm fehlt es weder an Selbstbewusstsein noch an Charme, und seine forsche Schlitzohrigkeit gestattet ihm sogar, bequem zwei- oder sogar mehrgleisig zu fahren, wenn es ihn danach gelüstet. Nicht körperlich, nur was die Gefühle anlangt, die wirklichen nämlich, nicht die taktisch eingesetzten, wird er auch später konsequent auf reichlich Distanz zur Damenwelt setzen. Er ist, das lässt sich nicht leugnen, auf seine Art ein äußerst disziplinierter Mensch.
Die Dynamik, die überbordende Lebenslust hat Fritz von der Mutter geerbt, einer Wirtstochter aus dem Mühlviertel. Die war in ihrer Jugend ein rechter Tanzkittel. Das elterliche Gasthaus lag unmittelbar neben dem Gottesacker, legendär im Dorf ihr gewagter Auftritt während einer zünftigen Unterhaltung, als sie im wallenden Tanzgewand die mächtige steinerne Friedhofsmauer erklomm und sich oben auf der schmalen Standfläche zur Musik aus dem Saal geschmeidig im Kreis drehte, heftig beklatscht von einer Schar erhitzter Burschen, die das glutäugige, schwarzhaarige Mädchen mit dem überschäumenden Temperament abwechselnd mit den Gräbern im Blick hatte.
Karoline Bitter weiß genau, wie sie ihren Angetrauten nehmen muss. Er ist eine Respektsperson, Uniform- und Amtsträger mit festen Prinzipien, ernsthaft, aber gutmütig, von leisem, feinem Humor, keine Stimmungskanone. Scheinbar hat der Herr im Haus mit seinem anfangs kunstvoll nach oben gezwirbelten, später nüchtern getrimmten Schnurrbart das Sagen in der Familie, doch laufen in Wahrheit bei ihr die Fäden zusammen, geschieht im allgemeinen, was sie will. Gut möglich, dass manche der hier berichteten Entscheidungen des Adolf Bitter eigentlich solche seiner besseren Hälfte sind.
In der Brusttasche von Adolfs Rock verbirgt sich sein altes ledernes Portemonnaie. Wöchentlich zückt es der Vater, um das Haushaltsgeld herauszurücken. Wird es dazwischen eng oder hat sie Sonderwünsche, setzt sich die Mutter umstandslos auf seinen Schoß, legt den einen Arm um seine Schulter, beginnt, ihn zärtlich zu streicheln, an seinem Ohrläppchen zu nagen und Süßholz zu raspeln, das hat sie schon so gehalten, als die Kinder noch klein waren und zuschauten, da kannte sie nichts. Und dann, von hinten, der blitzschnelle Griff nach der begehrten Brieftasche, der Vater hat es kommen sehen, es ist ein Ritual, das er sichtlich genießt. Jetzt zählt sie stumm die Summe ab, vor dem Krieg vielleicht zwei, drei Kronen, vor der Währungsreform mehrere zehn- oder hunderttausend, blickt ihn fragend an, und das mit ihrem umwerfenden Lächeln. Nie handelt es sich um wirklich bedeutende Beträge. In Gottes Namen, brummt Adolf und bekommt dafür noch einen dicken Schmatz auf die Wange gedrückt. Die zwei sind füreinander geschaffen.
Fritz möchte unbedingt studieren. Der Vater argumentiert, das lasse sich in elenden Zeiten wie diesen aus finanziellen Gründen beim besten Willen nicht bewerkstelligen. Er rät ihm stattdessen, anlässlich der demnächst bevorstehenden Musterung doch gleich für die Sicherheitswache zu optieren. Wachmänner würden zu allen Zeiten gebraucht, bei seinen Talenten werde er es sicherlich noch weit bringen, da habe er überhaupt keine Zweifel.
Auf diese Weise versucht Gendarmerie-Bezirkskommandant Adolf Bitter, den schwierigen Sohn behutsam in vertrautes Fahrwasser zu lotsen. Insgeheim hofft er, spätestens als frisch verheirateter, einigermaßen wohlbestallter, vor allem aber unkündbarer Revierinspektor werde das Energiebündel Fritz sich die Hörner abgestoßen haben und diesem aus der Not geborenen Kleinstaat, der sich dank einer Völkerbundanleihe endlich zu konsolidieren beginnt, loyal dienen. Denn die großdeutsche Option, da braucht der Junior sich nichts vorzumachen, ist vorläufig in weite Ferne gerückt.
Die jetzt noch lauthals den Anschluss verlangen, führen nichts Gutes im Schilde, ist Vater Bitter überzeugt. Fritz werde sich, wenn er denn vorhat, im Staatsdienst Karriere zu machen, sicherlich über kurz oder lang aus den einschlägigen Kreisen zurückziehen. Er ist ja nicht dumm und entwickelt, wie es scheint, einen gesunden Ehrgeiz, der letztlich befriedigt werden will.
Die Rechnung scheint vorerst aufzugehen. Der Sohn erklärt sich tatsächlich einverstanden, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Allerdings will er unbedingt sofort nach Wien ziehen, um sich, wie er argumentiert, die Möglichkeit offenzuhalten, nach der Ausbildung neben seiner Berufstätigkeit doch noch ein selbstfinanziertes Jusstudium in Angriff zu nehmen, sobald er es sich leisten kann.
Wien ist Adolf Bitter gar nicht recht, nur kann er bei soviel Strebsamkeit des Sprösslings schwerlich nein sagen. In der roten Großstadt wurde kürzlich mit dem Republikanischen Schutzbund eine weitere bis an die Zähne bewaffnete paramilitärische Truppe aufgestellt, als defensives Gegengewicht zu den bereits bestehenden Heimwehren, wie es hieß. Aber was heißt schon defensiv, wenn auf allen Seiten wie wild marschiert wird, auch auf der ganz rechten, wo freilich zum Glück der Spaltpilz wütet. Da genügt ein Funke, und das ganze Pulverfass fliegt in die Luft.
Fritz Bitter zieht sein Vorhaben also durch, und wie. Schon ab dem ersten Juli 1924, er wird einundzwanzig an diesem Tag, lebt der junge Mann in der Bundeshauptstadt. Als braver Sohn hält er die Eltern anfangs auf dem laufenden und kann einen Erfolg nach dem anderen berichten: Die Grundausbildung schließt er binnen zwei Jahren mit Vorzug ab, als Wachmann und später als Oberwachmann versieht er sodann in Währing umsichtig Streifendienst.
Obwohl er seine Ankündigung wahrmacht und parallel tatsächlich an der juridischen Fakultät zu studieren beginnt, bildet Fritz sich auch als Polizist intensiv weiter: Er absolviert den Telegraphen- und den Revierinspektorkurs; als die berittene Sicherheitswache zum Reitunterricht einlädt, schwingt er sich sofort begeistert aufs Pferd; außerdem heuert er bei einer Spezialtruppe für Krisen aller Art an, der sogenannten Alarmabteilung, wofür er sich in eine avancierte militärische Ausbildung stürzen muss. Als MP-Schütze bei der fünften Reservekompanie harrt er sodann der Dinge, die spätestens im Februar 1934 und im darauffolgenden Sommer kommen werden.
Frauen, man muss es wohl so ausdrücken, garnieren dieses ausgefüllte Leben, sein Mittelpunkt sind sie nicht, werden es nie werden, selbst die beiden Gattinnen werden sich da noch eine Ewigkeit nach seinem Tod etwas vormachen, aber gegen die Blindheit der Liebe ist eben kein Kraut gewachsen. Der junge Mann genießt es sichtlich, dass er so gut ankommt bei den Damen, wobei es ihm vor allem ums Erobern geht, den Nervenkitzel, die Bestätigung, also letztlich um ihn selbst. Andererseits blendet er sogar die ihm am nächsten stehenden weiblichen Wesen komplett aus, wenn er sich in jener geschlossenen Männerwelt uniformierter Organe bewegt, die ihn fasziniert, für die er sich abrackert, von der er sich im Gegenzug natürlich ebenfalls regelmäßige Belohnungen erwartet, Titel, Ämter, Geld, Macht.
1941 wird dem Vater zweier kleiner Töchter und seit zwölf Jahren verheirateten Ehemann, Herrn Regierungsrat SS-Sturmbannführer Dr. Friedrich Bitter zum Beispiel mühelos das Kunststück gelingen, auf vollen vier Seiten seines maschingeschriebenen, ansonsten penibel verfassten Lebenslaufs den Eindruck zu erwekken, die Erschaffung des Weibes aus Adams Rippe stünde noch bevor. Solche Geschöpfe scheint es für ihn überhaupt nicht zu geben. Gleich zu Beginn kommt er am ersten Juli 1903 ausschließlich als Sohn des Adolf Bitter zur Welt, wahrscheinlich bringt ihn der Storch.
Wirklich lieben tut Fritz die Bewegung, aber blauäugig ist er nicht. Er setzt viel, aber keineswegs alles auf die Karte Hitler. Das Risiko, das er auf sich nimmt, geht er mindestens so sehr um des Risikos, seiner Spielleidenschaft willen ein wie aus Idealismus für die große Sache. Von Anfang an reizt ihn aus dem gleichen Grund in erster Linie eine Geheimdienstkarriere. Dafür stellt er schon jetzt, wo die Hitlerei in Österreich noch so gut wie keine Rolle spielt, die ersten Weichen.
Im November 1930 gehen die Nazis bei der Nationalratswahl gänzlich leer aus, gerade einmal drei Prozent der Stimmen können sie auf sich vereinigen. Erst jetzt werden in Österreich richtig professionelle Strukturen etabliert, und Fritz Bitter ist ein Mann der ersten Stunde. Am zehnten März 1931 tritt er der NSDAP, Ortsgruppe Gersthof II bei. Die wird gleich als reine Polizeigruppe aufgebaut und verhält sich daher verständlicherweise konspirativ.
Man begegnet dem umtriebigen Endzwanziger in diesen Jahren natürlich auch, freilich mit abnehmender Tendenz, im traditionellen Burschenschaftermilieu, wesentlich öfter jedoch in den Hörsälen der altehrwürdigen Universität. Um die nötigen Lehrveranstaltungen besuchen zu können, muss Fritz häufig Dienste tauschen. Seine Vorgesetzten unterstützen den ehrgeizigen Gendarmensohn vom Land dabei nach Kräften, denn sein Engagement ist in allen Bereichen vorbildlich.
In der kargen Freizeit büffelt der Studiosus daheim meist dicke Vorlesungsskripten. Er ist fester denn je entschlossen, das Doktorat zu erwerben und, akademisch wie praktisch gleich gut qualifiziert, der Partei und ihrem charismatischen Führer, einem engeren Landsmann aus dem Innviertel übrigens, nach der Machtergreifung dort zu dienen, wo ein Fritz Bitter der eigenen Einschätzung nach hingehört, weit oben. Sehr lange kann es jetzt wohl nicht mehr dauern
Rückschläge bleiben indes nicht aus. Während draußen im Reich Anfang 1933 die ersehnte neue Zeit anbricht, kommt es in Österreich im Juni zu einem NSDAP-Betätigungsverbot, das Fritz nötigt, noch vorsichtiger zu agieren als bisher und schließlich sogar der eben gegründeten Vaterländischen Front beizutreten. Immerhin ist er Staatsdiener. Fünfzehn Jahre danach wird der Angeklagte Bitter dem Volksgericht weismachen wollen, den Nazis von nun an bis zum Anschluss tatsächlich den Rücken gekehrt zu haben. Wenigstens dieses Märchen wird ihm nicht geglaubt werden.
1934 geht es so richtig los, es wird zum Schlüsseljahr für Österreich und den späteren Alten Kämpfer Fritz Bitter. Die Ereignisse überschlagen sich: Zuerst der Bürgerkrieg, in dem er die verachtete austrofaschistische Diktatur mit der Waffe gegen die verhasste, judendurchsetzte Sozialdemokratie und anderes linkes Gesindel stabilisieren helfen muss. Dabei schlägt er sich offenbar so hervorragend, dass er noch im blutigen Februar zum Revierinspektor, zum stellvertretenden Kommandanten des Kommissariatswachzimmers in der Währinger Kreuzgasse sowie zum Zugskommandanten bei seiner Reservekompanie der Alarmabteilung befördert wird.
Dann, am achten Juni, promoviert Friedrich Bitter zum Doktor beider Rechte, was der Rieder Volkszeitung einen eigenen Artikel wert ist und dem Bürgermeister von Schärding ein ausführliches Gratulationsschreiben an den stolzen Vater, der mit Karoline extra zur Promotionsfeier angereist kommt und auf den aus diesem Anlass aufgenommenen Fotos strahlt wie ein frisch lackiertes Hutschpferd. Es folgt der Juliputsch der Nationalsozialisten, bei dem der Bundeskanzler umkommt.
Bitter schätzt die Lage richtig ein: Er hält die Zeit noch nicht für gekommen und verzichtet auf eine aktive Beteiligung an dem gescheiterten Umsturzversuch, auch wenn er mit logistischer Unterstützung seines Turnerbundes erfolgt und von der Turnerbundhalle in der Wiener Siebensterngasse ausgeht. Immerhin kann Fritz dafür sorgen, dass ihm ein Einsatz gegen seine kämpfenden NS-Kameraden erspart bleibt. Er hat sich rechtzeitig Urlaub genommen und ist verreist, als man losschlägt.
Ungeachtet aller ideologischen Vorbehalte möchte er schon im Ständestaat unbedingt als vollwertiger Jurist Beschäftigung finden, beantragt zunächst einmal die Überleitung in den Konzeptsdienst. Mit Verweis auf seine trotz aller Vorsicht kürzlich durchgesickerte dubiose politische Einstellung werden ihm nach dem Dollfuß-Mord auf Beamtenebene aber alle weiteren Karriereschritte verwehrt. Stattdessen muss der Herr Doktor auch in Zukunft als gewöhnlicher Revierinspektor Streifendienst schieben, eine Demütigung ist das.