Nagel & Kimche E-Book
Micheline Calmy-Rey
Die Schweiz, die ich uns wünsche
Aus dem Französischen von Irma Wehrli
Mit einem Vorwort von Charles Lewinsky
Nagel & Kimche
© 2014 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann
ISBN 978-3-312-00627-4
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Paul Ronga
Unser gesamtes lieferbares Programm
und viele andere Informationen finden Sie unter:
www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur
Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Charles Lewinsky: Das Zehnfingersystem der Außenpolitik
Einleitung
1. Die Schweiz: Paradox eines Landes, das sich der Welt öffnet und verschließt
2. Der langsame Todeskampf des Bankgeheimnisses
3. Oberst Ghadhafi und sein Sohn Hannibal
4. Manövrieren wir uns in eine Sackgasse?
5. Die K18
6. Die Neutralität, eine Illusion?
7. Freudentag in Wil
8. Die Politik des Friedens und des Dialogs
9. Teheran oder das Foto mit Kopftuch
10. Sind Wirtschaft und menschliche Sicherheit unvereinbar?
11. Von Flaschen und anderen spitzen Gegenständen im Bauch
12. Eine Krise der Freiheit
13. «Verschweizerung» oder die Modernität des Schweizer Föderalismus
14. Auf der Suche nach einer verlorenen Neutralität
15. Ein kleines Flugzeug zwischen zwei großen
Schluss
Anmerkungen
Literaturliste
Dank
Wir lernten uns in der Jury eines Filmfestivals kennen, und eine kleine Situation aus dieser gemeinsamen Arbeit scheint mir Micheline Calmy-Rey besser zu beschreiben als jede langfädige Analyse:
Der Preisträger war nach einigen Diskussionen bestimmt, und es ging jetzt nur noch darum, die Laudatio in möglichst einprägsamen Worten zu formulieren. Sie setzte sich an den Computer, die Finger schon über der Tastatur gespreizt, und sagte: «Diktiert mir einfach!»
Wir andern wollten jemandem, der noch vor kurzer Zeit das höchste Amt unseres Landes innegehabt hatte, diese manuelle Arbeit nicht zumuten, aber sie bestand darauf, unsere Schreibkraft zu sein. «Ich habe schließlich die Handelsschule besucht», sagte sie, «und beherrsche das Zehnfingersystem immer noch.» Man konnte in diesem Moment das Gefühl haben, die Fähigkeit, ohne hinzusehen die richtigen Tasten zu treffen, sei für sie die wichtigste Errungenschaft ihrer ganzen Karriere. «Solang ich im Bundesrat war», fügte sie hinzu, «durfte ich ja nichts mehr selber machen. Ständig waren Sekretäre und andere Hilfskräfte da. Nach meinem Rücktritt genieße ich es, selber wieder zupacken zu dürfen.»
Wir begannen also zu diktieren – und merkten sehr schnell, dass Micheline Calmy-Rey keine Frau ist, die sich etwas diktieren lässt. Mit freundlicher Sturheit änderte sie jede unserer Formulierungen ab, hinterfragte jedes Argument und legte jedes einzelne Wort auf den Prüfstand.
Am Schluss war der Text genau so, wie sie ihn haben wollte. Sie hätte ihn auch ganz allein schreiben können, aber ich bin sicher, es hätte ihr sehr viel weniger Spaß gemacht. Sie ist keine Frau, die gern allein vor sich hinwerkelt. Am liebsten arbeitet sie im Team – solang dieses Team genau das ausführt, was sie für die richtige Lösung hält.
Und: Was sie anfasst, das tut sie gründlich. Unsere Laudatio für einen preisgekrönten Film war am Ende so sorgfältig abgefasst, als ob es um einen Staatsvertrag zwischen zwei verfeindeten Ländern ginge und ein falsches Wort den ganzen Friedensprozess gefährden könnte. Sie sah sich – wie sie es in ihrer ganzen politischen Karriere getan hat – in der Funktion einer Vermittlerin. Einer sehr hartnäckigen Vermittlerin, die auch in den verfahrensten Situationen noch daran glaubt, dass sich irgendwo eine vernünftige Lösung finden lassen müsse.
Es kann für die Diplomaten, die ihr in ihrer Funktion als Außenministerin unterstanden, nicht immer einfach gewesen sein, mit einer Chefin klarzukommen, die vom korrekten Protokoll stets weniger hielt als von sinnvollen Resultaten. Ich erinnere mich an einen Empfang in einer schweizerischen Botschaft (nein, ich werde in diplomatischer Diskretion nicht hinschreiben, in welchem Land es war), bei dem mir ein Botschaftsangehöriger nach ein paar Gläsern Wein wortreich klagte, wie furchtbar es doch sei, eine Departementsvorsteherin zu haben, die bei Problemen einfach selber beim zuständigen Minister anrufe, statt sich an die erprobten Kanäle zu halten. Die Probleme seien dann zwar oft gelöst, sagte er und schenkte sich das nächste Glas ein, aber so könne man es doch einfach nicht machen. Weil man es nämlich noch nie so gemacht habe.
Micheline Calmy-Rey hat sich nie dafür interessiert, wie man es immer gemacht hat. Sie fand es immer spannender, sich zu fragen, wie man es besser machen könnte. Jetzt hat sie ein Buch mit politischen Erinnerungen, Analysen und Rezepten geschrieben, in dem sie die Richtung beschreibt, in der sich die Schweiz ihrer Meinung nach bewegen müsste. Es wird nicht jeder mit ihren Thesen einverstanden sein. Aber es wird sich niemand dem Reiz der Auseinandersetzung mit ihren Gedanken entziehen können. Und für Auseinandersetzungen ist sie, auf höchst friedfertige Weise, immer zu haben.
Charles Lewinsky
Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, einmal Bundesrätin zu werden. Als Mitglied der Genfer Regierung wollte ich für meinen Kanton etwas bewirken und verfolgte beharrlich meine Ziele: die desolaten Kantonsfinanzen sanieren, die Steuerverwaltung und ihre veraltete Informatik reorganisieren, die Kantonalbank und ihre geplagten Kleinsparer retten. Ich hatte viel zu tun und kaum Zeit für eine nationale Berufung.
Dabei hatte ich schon gelegentlich Lust, gegen die allgemeine Unbeweglichkeit aufzubegehren. Die kantonalen Grenzen sind ziemlich eng, und die Tore Berns schienen für Ideen aus dem recht fernen Genf verschlossen. Trotzdem hat mich Christiane Brunner, damals Präsidentin der SP Schweiz, gebeten, für einen Sitz in der Landesregierung zu kandidieren. Ihr und der Sozialdemokratischen Partei verdanke ich meine erfolgreiche Wahl, aber kurioserweise auch ein wenig Kofi Annan, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen. Als der Kanton Genf ihn zum Ehrenbürger ernannte, empfingen wir ihn in Genf, und da lernte ich ihn persönlich kennen. Im September 2002 trat die Schweiz den Vereinten Nationen bei, und ich war als Regierungsrätin des Kantons, der den europäischen Sitz der Uno beherbergt, Mitglied der Delegation nach New York. Dabei waren auch einige einflussreiche Bundesparlamentarier. Auf diese Parlamentarier kommt es an, denn sie wählen den Bundesrat. Kofi Annan empfängt uns im 38. Stock des Hauptsitzes der Uno. Er begrüßt die Mitglieder der Delegation der Reihe nach. Ich bin als Letzte dran. Er küsst mich mit breitem Lächeln auf beide Wangen: «Bonjour Micheline.» Die Parlamentarier zucken überrascht zusammen: Wer ist denn diese Genferin, die den Uno-Generalsekretär persönlich kennt? Von da an wurde man auf mich aufmerksam, und mein Name war unter der Bundeshauskuppel zu hören.
Wenn die Kandidierenden um die Nachfolge eines Bundesrats derselben politischen Familie angehören, wird zunächst weniger auf ihre Ideen als auf ihre Persönlichkeit, Kantonszugehörigkeit, Sprache und Konsensfähigkeit geachtet. Haben sie vorher ein Exekutivamt bekleidet? Kennen sie die großen Themen der Bundespolitik? Sprechen sie Deutsch? In den Wochen vor der Wahl gab ich mir Mühe, Sendungen im Deutschschweizer Fernsehen zu schauen, mit einer Freundin Deutsch zu sprechen und die nationale Politik zu studieren, um für die Fragen der Journalisten und der Parlamentarier gewappnet zu sein. Die Bundesratskandidaten werden in einem harten internen Auswahlverfahren bestimmt. Da ich als kompetente Regierungsrätin galt, die aber in Bern völlig unbekannt war, fühlte ich mich zur Anwesenheit im Bundeshaus während der Herbstsession verpflichtet. In einem Raum etwas abseits im Erdgeschoss konnte ich mich mit zahlreichen Parlamentariern treffen. Da die SP der Vereinigten Bundesversammlung zwei Kandidatinnen vorschlug, wurden wir beide von den Fraktionen der im nationalen Parlament vertretenen Parteien angehört. Dort galt es bis zur letzten Minute zu überzeugen, zu diskutieren, zuzuhören und Werbung in eigener Sache zu machen. Es galt die Stimmen der SP zu holen, die Genfer Stimmen und die aus dem Wallis, meinem Heimatkanton, wie auch die der Frauen, für die ich mich so stark engagierte, und es galt auch Vertrauen zu schaffen. Am Vorabend der Wahl rief mich eine Mitarbeiterin im Genfer Finanzdepartement in Tränen aufgelöst an: «Wenn Sie nicht gewählt werden, bin ich vielleicht schuld.» Und sie erklärte, sie habe bei einer Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren vor einigen Monaten in Genf, bei der auch Kaspar Villiger anwesend war, den Bundesrat in einem lärmigen Hotel im Ausgehviertel von Genf untergebracht, wo man auf seine Position keinerlei Rücksicht nahm. Man habe am Empfang tatsächlich seinen Pass verlangt, worüber Kaspar Villiger sehr verärgert gewesen sei.
Am Tag der Wahl, dem 4. Dezember 2002, finden wir beiden SP-Kandidatinnen uns im selben Raum vor einem Fernsehapparat wieder, wo wir den Ausgang der Wahl abzuwarten haben. Ich trug zu diesem Anlass und zum großen Kummer meines Papas, der seine Tochter in klassisches Schwarz gekleidet erwartet hätte, ein rotes Kostüm mit weißem Pullover, zu Ehren der Landesfarben. Ich muss gestehen, dass ich mich ungern an diese Stunden erinnere: Da waren wir beide, Ruth Lüthi und ich, gleichzeitig Konkurrentinnen und Parteikolleginnen, beide nervös und voreinander gehemmt. Die Spannung im Raum war mit Händen zu greifen. Und es dauerte endlos lange: ein, zwei, drei, vier, fünf Wahlgänge insgesamt, auch wenn ich nach der dritten Runde vor der Anspannung auf die Toilette entfloh und mit einer Dame zusammenstieß, die mich umarmte und ausrief: «Gott ist mit Ihnen», worauf ich dachte, wenn das so ist, werde ich wohl gewählt werden!
Bevor das Ergebnis des fünften Wahlgangs bekannt wird, klopft ein Mitarbeiter der Bundeskanzlei an die Tür und tritt ein. Er kommt feierlich auf mich zu, verbeugt sich und sagt: «Frau Bundesrätin, folgen Sie mir bitte.» So erfuhr ich von meiner Wahl, mit gemischten Gefühlen: erleichtert, dass es zu Ende war, zufrieden, dass ich gewählt worden war, traurig für Ruth Lüthi. Und zugleich wusste ich, dass dies die glücklichsten Momente meiner Bundesratskarriere waren, denn die Wahl und die Ausübung des hohen Amtes würden mein Leben verändern. Es war fast so, als falle die Last der Verantwortung mit einem Schlag auf meine Schultern, und als hätten die Schweizerinnen und Schweizer mich in ihren Dienst gerufen.
Mir ist im Leben nichts geschenkt worden, ich musste immer für meine Ideale kämpfen, und ich erwartete sicher nicht, dass es leicht werden würde.
Mein Look – was hat man nicht über meinen Look gelästert: diese Mèches, mein Gott, wie schrecklich! Die Absätze, die Hosen, die großen Handtaschen und so weiter; selbst an den Haaren hat man mich auf der Straße gezupft: «Nein, es ist keine Perücke!»
Man hat bei mir oft den Stil anstelle des Inhalts beurteilt und auf Äußerlichkeiten abgestellt. Ich erinnere mich an eine Pressekonferenz, an der ein Bundesratskollege und ich eine Abstimmungsvorlage zur Europapolitik der Schweiz vorstellten. Wie perplex ich war, als ich am nächsten Morgen eine beliebte Deutschschweizer Zeitung aufschlug und feststellen musste, dass meine neue Brille einen guten Teil des Berichts ausmachte und für die politischen Argumente ausschließlich mein Kollege zuständig war. Man hat mich aufgrund vorgefasster Meinungen beurteilt: Es ist schließlich sattsam bekannt, dass die Frauen zickig und oberflächlich, wenn nicht hysterisch oder bösartig autoritär sind. Noch in jüngster Zeit konnte ich in der Presse lesen, wie verdienstvoll mein Staatssekretär gewesen sei, weil er die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Departements vor den Launen ihrer Chefin beschützt habe.
Rücksichtslos und abrupt in den Bärengraben geworfen, mitten in die Parlaments- und Parteiintrigen hinein, habe ich mich kraft meiner Überzeugungen und mit dem Wunsch, überzeugen zu wollen, auf den unbequemen Stuhl eines Bundesrats geschwungen. Zunächst galt es, richtig darauf Platz zu nehmen. Es galt sich daran zu gewöhnen, bedient zu werden: Weibel, Chauffeur, Sekretäre, persönliche Mitarbeiter, Generalsekretär, Staatssekretär, Direktoren und Botschafter: eine Bundesrätin wird von zahlreichen Personen umgeben. Man erstellt ihre Agenda, man geleitet sie zu Fuß, eskortiert von einem Weibel, zu ihrem Wagen mit Chauffeur oder in diesem Fall mit Chauffeurin, man stapelt auf ihrem Schreibtisch die Akten, die sie unterschreiben und die Berichte, die sie lesen muss, man sagt ihr, was sie denken soll und erwartet von ihr Entscheidungen. Einer der härtesten Kämpfe, die ich in meinen Anfängen ausfechten musste, betraf mein Zeitmanagement. Ich konnte einer widerwilligen Sekretärin nur mit viel Mühe verständlich machen, dass mein Wunsch, selbst über meine Agenda zu bestimmen, kein Misstrauensvotum ihr gegenüber war, sondern tatsächlich der Wille, selbst über die Dringlichkeit meiner Termine und deren Abfolge zu entscheiden, um mir Zeiten zum Arbeiten und Nachdenken freizuhalten. Eines Abends, am Rand eines offiziellen Besuchs in Bern, als wir es uns an einem warmen Sommerabend im Garten des Landguts Lohn gemütlich gemacht hatten, gestand der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki mir gegenüber ein, dass er dieselben Schwierigkeiten erlebt habe.
Ein offizielles Amt ausüben heißt, seine Unabhängigkeit ein Stück weit zu verlieren und die Notwendigkeit anzuerkennen, dass man in dieser Funktion andere Bedürfnisse hat. Ein Departement ist eine gut geölte Mechanik. Wenn man sie nicht in Gang zu setzen weiß, kann man lange Ideen vorbringen, Befehle geben, aufbrausen und mit der Faust auf den Tisch klopfen, es geschieht gar nichts. Dagegen war ich Anfang 2003, als man beschlossen hatte, in Genf am Vorabend einer militärischen Intervention ein humanitäres Treffen zur Situation im Irak1 zu organisieren und die Bedürfnisse abzuschätzen, überrascht, wie effizient die Mechanik sein kann: Im Handumdrehen war man bei den Botschaften und Konsulaten aktiv geworden und hatte die schweizerische humanitäre Hilfe mit ihrer großen Erfahrung aufgeboten. Binnen vierzehn Tagen hatte man die regionalen Akteure, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und das Verbindungsbüro der Uno für humanitäre Hilfe kontaktiert und eingeladen und die Konferenz organisiert.
Zudem musste man ein gut geführtes Departement unter starker Leitung überhaupt erst einmal wollen (und das ist nicht einfach, wenn man weiß, wie viele Mitarbeitende – und Botschafter – wenig geneigt sind, sich führen zu lassen). An den ersten Tagen lernte ich meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennen und schüttelte viele Hände, irrte aber auch durch die langen, düsteren Gänge zu meinem Büro, nach meinen flüchtigsten Gesten und Worten taxiert, isoliert und mit dem Gefühl, dass man von den Politikern und demnach von mir nicht viel mehr erwartete, als die von der Verwaltung ausgearbeiteten Botschaften zu vertreten. Ich gebe zu, dass ich manche zurechtweisen und einige Gewohnheiten kappen musste, um denen, die es nicht hören wollten, begreiflich zu machen, dass das Schicksal des Außendepartements nun in meinen Händen lag. Ich bin damit manchmal angeeckt und habe sicherlich irritiert. Doch konnte ich wahrhaftig nie begreifen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf höchster Regierungsebene nicht dazu da sein sollten, um zu dienen, sondern vor allem, um ihr Notizbuch mit Adressen zu füllen und Karriere zu machen.
Wenn ich mich heute, nach neun Jahren an der Spitze des Departements für auswärtige Angelegenheiten, mitteile, dann deshalb, um darzulegen, wie schwierig es war, einem Land die Nützlichkeit der Außenpolitik verständlich zu machen, das auf dem internationalen Parkett keine Großmacht ist und sich nicht wirklich für Außenpolitik interessiert, einem Land, das es angesichts von Problemen auf internationaler Ebene nicht fertigbringt, mit einer Stimme zu sprechen. Die Europafrage ist ein gutes Beispiel dafür, wie stark Partikularinteressen die Positionierung der Schweiz bestimmen.
Ich habe in letzter Zeit wiederholt die Einschätzung gelesen, die Schweiz sei politisch schwach.2 Das stimmt. Die Schweiz ist keine Großmacht und mischt im Kräftespiel der Nationen nicht an vorderster Stelle mit.
Ich hatte zu Beginn meiner Amtszeit große Mühe, Interesse für die Positionen der Schweiz zu wecken und bei den einflussreichen Akteuren vorsprechen zu können. Das ging so weit, dass es einige diplomatische Bemühungen brauchte und konkret der Botschafter der USA in der Schweiz von unserem Interesse an einer Begegnung mit Außenminister Colin Powell überzeugt werden musste, als er 2003 nach Davos kam.3 Dabei war dieser Wunsch aus meiner Sicht völlig normal: Die Schweiz hatte als Gastgeberland etwas zu sagen zu einer explosiven internationalen Lage, dem Irakkrieg, der nur wenige Wochen später ausbrechen sollte. Doch ein großer Medienwirbel entstand; im besten Fall wurde das Ganze als persönliche PR-Aktion gesehen und im schlimmsten als Einmischung in die internen Angelegenheiten der Großmächte, die uns den Zorn unseres amerikanischen Partners zuziehen könnte. Was hatte ich da losgetreten? Mir bleibt ein freundliches Treffen in Erinnerung, bei dem Colin Powell mich bei meinen ersten Schritten in der Diplomatie unterstützte und mir alle Finessen des Händeschüttelns und Benehmens erklärte, wenn man sich plötzlich einer Wand aus Fotografen und Kameraleuten gegenübersieht. Er hörte mir zu und informierte mich über die Position der Vereinigten Staaten. Ich verdeutlichte ihm die Wertschätzung der Schweiz von Verhandlungslösungen für internationale Streitigkeiten und ihre Sorge um das Schicksal der Zivilbevölkerung.
Ich habe bei diesem ersten diplomatischen Treffen gelernt, dass es möglich war, einer Großmacht die Position der Schweiz darzulegen, und dass man ihre Stellungnahme anhörte. Ich wollte eine engagierte Schweiz, eine aktive Schweiz, eine Schweiz, die von der Rolle der Gastgeberin, die ihre Guten Dienste anbietet, zur Rolle der Vermittlerin übergeht. Ich habe gelernt, dass die Schweiz, wenn sie die Stimme erhob und präsent war, manchmal störte, sich jedoch Respekt verschaffte. Ich nutzte die Gelegenheit der Irakkrise und meiner Begegnung mit dem amerikanischen Außenminister, um auf neue Weise zu versuchen, die Schweiz bei den großen internationalen Fragen einzubringen. Die Schweiz verfügt über ein gewisses Ansehen, auf das sie bauen kann, um ihren Einfluss in der Welt zu verstärken.
Als ich mein Amt übernahm, sprach ich von öffentlicher Diplomatie, weil es mir wichtig schien, zu erklären und auszusprechen, was der Nutzen der Diplomatie sein kann. Das Bild der Diplomaten, die mit einem Glas in der Hand einen Empfang nach dem andern besuchen, wird schließlich den wichtigen Aufgaben nicht gerecht, die sie im Dienst des Landes erfüllen. Es schien mir wichtig, Transparenz zu schaffen und zu kommunizieren, um Zustimmung zu erlangen: zum einen, weil wir in einer halbdirekten Demokratie leben und das Schweizervolk durch seine Voten an der Urne mitbestimmt, zum andern, weil es nicht a priori einen nationalen Konsens zur Stellung der Schweiz in der Welt gibt und man informieren, debattieren und überzeugen muss.
Mir ist nicht nach Lächeln zumute, wenn ich mitansehe, wie sehr manch eine und manch einer an seinen Gewissheiten hängt und, unbekümmert um aktuelle Entwicklungen, den Rückzug auf unsere wirtschaftlichen Interessen propagiert und darüber hinaus in den Beziehungen zur Europäischen Union den Status quo hochhält, aus Angst vor den Reaktionen, die eine Weiterentwicklung innenpolitisch auslösen könnte. Was für ein gefährliches Programm! Die Schweiz ist nicht Mitglied der Europäischen Union. Sie muss allein dem rauen Wind auf offener See trotzen. Unser Finanzplatz ist erschüttert. Und Europa hat immer weniger Lust, Zeit zu verlieren durch schwierige Diskussionen mit diesem Störenfried, als den sie die Schweiz wahrnimmt. Und auch wenn unsere Wirtschaft äußerst leistungsfähig ist, braucht sie doch Europa und wird vom Weltgeschehen beeinflusst. Unsere Berge bieten uns da keinen Schutz.
Als ich an einem von einer deutschen Stiftung organisierten Seminar vor rund dreißig Studenten eine Rede hielt, verbargen sie ihr Erstaunen nicht, als ich ihnen erklärte, dass unser neuer Bundespräsident so wenig wie möglich ins Ausland reisen wolle.4 Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ihre Kanzlerin Angela Merkel so etwas sagen würde.
Und dabei hat die Schweiz doch ihre Trümpfe: Offenheit und Vielfalt, Neutralität und eine lange humanitäre und demokratische Tradition, die uns Anerkennung eintragen. Warum sollten wir dann denken, dass wir nichts sind und nichts bewegen können? Wenn ich Fernsehnachrichten schaue, Radio höre oder Zeitung lese, fällt mir auf, wie stark wir uns abseits halten und das Engagement der andern lobend oder kritisch beurteilen, ohne etwas von uns preiszugeben, als ob es uns nicht gäbe oder wir in den Augen der andern politisch nicht existieren wollten.
Unsere Vorfahren sahen weise voraus, dass Gewaltverzicht im Umgang mit anderen im Interesse des Überlebens unseres Landes wäre. Als Land des Ausgleichs par excellence ist die Schweiz, ob sie es will oder nicht, abhängig von den bestehenden Machtverhältnissen, den europäischen und internationalen Gleichgewichten und der Entwicklung des Völkerrechts. Sie verfügt zur Verteidigung ihrer Interessen über etliche Vorteile, die sie erhalten und stärken muss. Sie leidet jedoch auch unter gewissen Begrenzungen, die es sorgfältig anzuschauen und hinter sich zu lassen gilt.
Die Welt, in der wir leben, ist schon eine ganz andere als jene, die wir vor kaum zehn Jahren noch kannten. Das macht es schwierig, die Probleme, die sich uns heute stellen, auf eine normierte Art dialektisch anzugehen. Die Geschichte als sicherer Weg, der einem klaren Ziel entgegenzugehen schien,5 ist komplexer geworden, so dass sie eher einer Konstellation als einer überschaubaren Strecke gleicht. Viele und ganz verschiedene Wertsysteme bestimmen die Welt von heute. Und wenn ich die Außenpolitik der Schweiz und ihre Begrenzungen und Probleme in den Blick nehmen will, dann deshalb, um einiges Erhellendes zu ihren Fähigkeiten beizusteuern und dazu, wie es gelingen könnte, sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen.
Die Anfänge der Menschheitsgeschichte waren von Landstreitigkeiten, Kriegen, blutigen Überlebenskämpfen, mangelnder Menschenwürde, Diktatur, Despotismus, Sklaverei und Leibeigenschaft, Ungerechtigkeit und Rechtlosigkeit geprägt. Ökonomisch gesehen stützt sich der griechische Stadtstaat, den wir so bewundern und der so bedeutende Theoretiker des politischen Denkens wie Plato und Aristoteles hervorgebracht hat, auf die Sklaverei. Ein großer Teil seiner Bewohnerinnen und Bewohner war aller bürgerlichen und politischen Rechte beraubt. Sie gehörten nicht sich selbst, sondern waren das Eigentum anderer. Siebenunddreißig Jahrhunderte hat es gebraucht, bis die Menschheit die Sklaverei verurteilte.
Wir haben die Menschenrechte in der Gesetzgebung verankert. Wir arbeiten am weltweiten Frieden mit. Wir wollen Sicherheit für alle Menschen erreichen und orientieren uns am Prinzip der «responsibility to protect».1
Wir kommen manchmal dank eines Konzerts oder einer Radiosendung in den Genuss von Beethovens Neunter Sinfonie, deren wundervoller Schlusschoral an das friedliche Zusammenleben der Menschen appelliert. «Alle Menschen werden Brüder», hat Schiller geschrieben. Dabei müssen wir allerdings anerkennen, dass unsere Ideale und edlen Ziele uns nicht vor Rückschlägen bewahren.
In diesem postmodernen 21. Jahrhundert verändern wundersame technische Entdeckungen in atemberaubendem Tempo das Leben. Während es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein manchmal eine ganze Tagesreise brauchte, um von einem Dorf ins nächste zu gelangen, bewegen wir uns heute in der Wirklichkeit des globalen Dorfes. In wenigen Sekunden können wir uns mit den entlegensten Weltregionen verbinden, und die Information aus einer europäischen Hauptstadt erreicht ein Reisbauerndörfchen im hintersten Asien beinahe augenblicklich. Die Lebensbedingungen haben sich in den letzten Jahrzehnten für viele Menschen verbessert; wir haben Krankheiten ausgerottet, an denen unsere Großeltern noch starben. Und wir sind die erste Generation, die sich in diesem Ausmaß um unsere Umwelt und das Überleben unseres Planeten kümmert und es zu einer der dringlichsten Aufgaben der weltweiten Politik gemacht hat. Und trotzdem lebt eine Frau in Mosambik nicht wie ich, isst nicht wie ich, arbeitet zwölf Stunden am Tag, über die Erde gebeugt, und erntet doch nur ganz wenig, leidet unter der Trockenheit und dem Ressourcenmangel.2
Es ist Mittag. Kein Lüftchen weht. Die Sonne ist wie aus Blei. Wir wandern in der drückenden Hitze zu einem Brunnen, der von der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit finanziert wurde.3 Der Boden ist weich und sandig, das Gehen anstrengend. An einer Wegbiegung zwei weiße Plastikstühle unter einem Baum, ein Gemüsegarten, ein Viereck aus Backsteinen, eine Hütte und eine Frau. Ich frage sie, ob ich mich setzen darf, sie bringt mir Wasser. Ich frage sie nach dem Zweck der kleinen Mauer. Sie antwortet, dass sie ein gemauertes Häuschen bauen will, aber damit nicht vorankommt, weil sie sehr wenig verdient. Ich habe umgerechnet etwa zwanzig Dollar in meiner Handtasche und gebe sie ihr. Sie sagt: «Mit diesem Geld werde ich genug Backsteine und Zement kaufen können, um mein Haus fertig zu bauen.» Sie lacht und ruft ihre Freundinnen und Nachbarn zusammen. Und sie tanzen. Sie hat zwölf Stunden täglich gearbeitet und weniger als fünfzig Cent pro Stunde verdient. Und so tanzen und tanzen sie. Ich saß da, schaute ihnen zu und schämte mich.
Wir wissen heute, dass das Übel, dieses alte Gift der Menschheit, nicht ausgerottet worden ist. Immer noch gibt es Menschen, die verhungern, Kriege folgen auf Kriege, manche Gruppen hassen andere gnadenlos, die Ressourcen des Planeten werden geplündert, das Klima erwärmt sich, ohne dass wir uns darauf verständigen können, der Sache ein Ende zu machen.
Wem soll man die Schuld geben, wenn Millionen von Männern und Frauen nichts zu essen haben und Zehntausende von ihnen jeden Tag verhungern?4 Wenn selbst die elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigt werden und das Unrecht herrscht? Wenn die natürlichen Ressourcen geplündert werden und das Klima sich ändert? Eine Frau in Burkina Faso kann wegen der Ausbreitung der Wüste keine Felder mehr bebauen.5 Ein Bauer aus dem Mekong-Delta verkauft seine Tochter an Menschenhändler und kauft mit dem Geld Saatgut, um jenes zu ersetzen, das von den Fluten mitgerissen wurde.6 Hat die Menschheit denn jeden Sinn für Werte verloren?
Die Welt verändert sich, und wir wissen, dass systematische Verletzungen der Menschenrechte und der desolate Zustand des Rechtsstaats häufig am Anfang der Konflikte stehen. Und wir wissen auch, dass die Fronten sich auf den Schlachtfeldern verwischen: Bewaffnete Regierungs- und Nichtregierungssoldaten mischen sich, Terroristen und kriminelle Banden übernehmen das Kommando, Soldaten und Zivilpersonen tauschen ihre Rolle, und die Waffenlager, wo altes neben modernstem Kriegsgerät liegt, schießen aus dem Boden. Der Krieg von heute wird mit Messern und leichten Waffen in den Elendsvierteln der Metropolen geführt, und man setzt dafür auch die neueste Technik und raffinierte Waffen ein. Der Krieg wird mit Linienflugzeugen geführt, die man in Wolkenkratzer hineinrasen lässt, oder mit Bomben in den Metrostationen und Bushaltestellen der großen Stadtzentren.
Hier reißen Warlords Unschuldige in den Tod, und Zivilpersonen sterben im Bombenhagel der hypermodern ausgerüsteten Armeen. Dort rekrutieren machtbesessene Herrscher Kindersoldaten, und marodierende Truppen vergewaltigen Frauen in den Kampfgebieten. Der Krieg wird aus der Ferne geführt, man macht seine Ziele auf dem Bildschirm aus und tötet per Tastendruck. Soldaten sterben jetzt keine mehr, dafür Frauen und Kinder, denn neu sind diese Kriege nicht nur ihrer Hauptakteure und der verwendeten Waffen wegen, sondern auch wegen der Zerstörung und Verheerung, die sie unter der Zivilbevölkerung anrichten.7
Die internationalen Beziehungen laufen nach anderen Gesetzen ab, als wir sie vor kaum zehn Jahren kannten. Die Globalisierung ist Realität geworden. Sie beeinflusst die Gewissheiten, an denen wir uns orientieren, und unsere Entscheidungen. Wir können nicht mehr ignorieren, was von außen kommt und uns manchmal unangenehm und gefährlich scheint. Alles betrifft und berührt uns direkt: Lehman Brothers zum Beispiel, eine Investment-Bank, die als Synonym für Qualität, Solidität und Vortrefflichkeit galt. Und dann kracht die Bank am 15. September 2008 zusammen, infolge einer Entwicklung, die noch wenige Wochen zuvor undenkbar schien. In den USA waren die Auswirkungen der Subprime-Krise verheerend, aber auch die übrige Welt wurde davon erfasst. Auch Europa und die Schweiz blieben nicht verschont, und wir spüren die Erschütterungen noch.
Die globalen Herausforderungen betreffen uns alle, ob reich oder arm. Wir leben heute in einer polyzentrischen Welt, wo die lokalen, nationalen, regionalen und globalen Prozesse miteinander verbunden sind. In einer vernetzten Welt haben die Entscheidungen eines Staates auch Auswirkungen auf die Bevölkerung anderer Länder und nicht nur auf die eigene.
Die Welt verändert sich. Die Welt wird globaler, und damit geht eine Verschiebung der politischen und ökonomischen Kräftefelder einher. Die Vorherrschaft des Westens ist zu Ende. Im Jahr 2050 werden die Europäer, gemäß einigen Schätzungen, nur noch sieben Prozent der Weltbevölkerung stellen.8 Heute sind China und Indien in den Kreis der Großmächte aufgestiegen und zu wahren Lokomotiven des weltweiten Wirtschaftswachstums geworden. Der Anteil der westlichen Länder an der Weltwirtschaft wird von heute 56 Prozent auf 25 Prozent im Jahr 2030 sinken, hält ein CIA-Bericht fest.9
Binnen einem Jahrhundert ist aus einer Welt, die vom europäischen Kontinent dominiert wurde, ein multipolares Universum geworden. Darunter verstehe ich eine Welt, in der die Entscheidungsinstanzen sich vervielfacht haben und dezentraler geworden sind. Eine Welt, in der globale Gouvernanz10 immer wichtiger wird. Eine Welt, wo selbst der mächtigste Staat auf Erden nicht alle Probleme ganz allein lösen kann.11
Diese Entwicklungen haben auch die Rolle des Staates beeinflusst. Hatte dieser die internationalen Beziehungen in den vergangenen Jahrhunderten weitgehend dominiert, so hat der heutige Staat kein Monopol mehr darauf. Aus politischer Sicht sind die internationalen Organisationen sehr sichtbar geworden, und auch andere Akteure sind stärker geworden. Wie sollte man die Aktivitäten der Zivilgesellschaft nicht erkennen? Sie verfügt über soziale Netze und eine stetig wachsende Macht, die selbst etablierte Regime erschüttern kann. Wie könnte man den Einfluss der Weltmultis auf globaler Ebene bestreiten? Wie sollte man das wachsende Verlangen nach mehr Demokratie verkennen? Wie könnte man nicht spüren, wie wichtig dem Staat funktionierende Finanzmärkte sind, zum Wohlstand von uns allen? Unser Finanzsystem ist aber nicht stabil. Der Börsenhandel war zeitweise extrem volatil und es gab starke Schwankungen. Was sich da in den letzten Jahren auf den Finanzmärkten abgespielt hat, kann nicht mehr als normal bezeichnet werden. Das World Economic Forum kommt in seiner Studie von 2013 über die weltweiten Risiken zum Schluss, dass eine allfällige größere Störung des Finanzsystems die für uns folgenreichste Bedrohung wäre.12
Der technologische Fortschritt, die Handelsbeziehungen, die Globalisierung und die sozialen Netzwerke haben die Weltbürgerinnen und -bürger einander näher gebracht wie noch nie zuvor. Und doch suchen wir immer noch nach besseren Formen der Zusammenarbeit. Sicher ist nur, dass der Multilateralismus an mehreren Fronten gescheitert ist. Er hat sich als unfähig erwiesen, die Armut zu beenden. Die paar Fortschritte wurden von wachsender Ungleichheit begleitet.13 Es bleibt viel zu tun. Ungerechtigkeiten, Hunger, Menschenrechtsverletzungen, Selbstmordattentate und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von heute bilden den Nährboden für die Traumata und politischen Schwierigkeiten von morgen. Die Anzahl Menschen in prekären Lebensverhältnissen nimmt zu, auch in entwickelten Ländern. Neue Epidemien breiten sich aus, und täglich tragen wir mit unserem Verhalten zur Plünderung der Ressourcen unseres Planeten bei. Der Club of Rome warnt: Die Treibhausgasemissionen sind doppelt so hoch wie die Absorptionsfähigkeit der Wälder und Meere.14
Es ist offensichtlich, dass unsere alte Logik vom selbstregulierenden Markt und Wachstum, das Arbeitsplätze schafft, nicht wirklich funktioniert. Unsere Sicherheiten zerbröckeln vor den Auswirkungen der Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und menschlichen Krisen. Die Klimaverhandlungen stocken. Die internationale Gemeinschaft kann nicht länger ignorieren, dass der einzig mögliche Ausweg in der Kooperation liegt. Die Suche nach gemeinsamen Lösungen und die Entdeckung gemeinsamer Interessen sind das Beste, was wir hoffen können.
Trotz der gewaltigen seither erzielten Fortschritte unterscheiden sich unsere Probleme nicht wesentlich von jenen, die sich schon früheren Generationen stellten: Damals wie heute möchten die Männer und Frauen in Frieden und Freiheit leben. Sie wollen ihre und die Bedürfnisse ihrer Familien befriedigen und ohne Angst leben können. Diesen immer gleichen Herausforderungen muss sich jede Epoche stellen. Doch in unserer globalisierten Welt geht die Unsicherheit um: Unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Werte und Religionen, unterschiedliche Kleidungssitten stoßen aufeinander und geraten aneinander, lösen Befürchtungen und Ängste aus, und stets und immer noch wird «der andere», dieses fremde Wesen von anderswo, abgewiesen.
Wie soll man die Menschheit dazu bringen, in Frieden, Freiheit und Würde zusammenzuleben? Diese ewiggleiche Frage bleibt drängend. Und wo ist der Platz der Schweiz in dieser Welt im Umbruch?
Die Schweizer wollen Einfluss haben in der Welt, wir wollen zählen und ernstgenommen werden, unsere Trümpfe ausspielen, unsere Ideen einbringen und unsere Interessen verteidigen.
Gleichzeitig wollen wir auch, dass die «große Politik» uns in Ruhe lässt. Wie lässt sich dieses Paradox eines Landes, das sich der Welt gleichzeitig öffnet und verschließt, erklären?
Als Land im Herzen des Kontinents, das wirtschaftlich und kulturell zu Europa gehört, muss uns die Sicherheitspolitik zwangsläufig mit Europa verbinden. Allerdings halten wir zu den beiden Hauptakteurinnen in diesem Bereich, dem Nordatlantischen Bündnis (Nato) und der Europäischen Union, kritisch Distanz. Wir sind assoziiertes Mitglied des Schengen-Raums und klagen trotzdem dauernd darüber. Wir haben zum freien Personenverkehr Ja gesagt und stellen ihn gleichzeitig in Frage. Wir reagieren zu spät.
Wir begegnen anderen zunächst einmal skeptisch. Wenn wir von unserer Geschichte sprechen, malen wir das Bild einer universellen Schweiz, der alle gleichen sollten. Wir sind anders als alles um uns herum, unsere Kultur und unser politisches System sind einmalig, wir sind uns unserer Tüchtigkeit und unserer Errungenschaften bewusst. Wir sehen auf die anderen von unseren Berggipfeln herab, oft überzeugt davon, dass wir nichts davon haben, uns in fremde Händel einzumischen.
Natürlich wollen wir einen möglichst breiten Zugang zum großen europäischen Markt und überhaupt zu den Weltmärkten. Wir wollen auch größtmögliche Entscheidungsfreiheit bewahren, und um dies zu bekunden, setzen wir Spezialregeln in Kraft auf Gebieten, wo wir uns den anderen überlegen fühlen. Wir glauben kämpfen zu müssen um die Bewahrung von Praktiken, Gesetzen und Reglementen, die als typisch schweizerisch gelten: Jeder kennt das Beispiel des Bankgeheimnisses. Und wir bleiben in der Defensive, wenn die Schweiz sich zum Geschehen in Europa äußern soll.
Wir sehen uns gerne als Verteidiger der Menschenrechte und des internationalen Völkerrechts. Wir zitieren Henri Dunant und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und lancieren und genehmigen gleichzeitig Vorstöße wie die Minarettverbots-Initiative15 oder die Initiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer,16 von der man mindestens sagen muss, dass ihre Vereinbarkeit mit den Normen des Völkerrechts fraglich ist.
Man spricht über Außenpolitik und debattiert darüber. Dabei wird manchmal etwas geklärt, oft polemisiert, und es bleiben Widersprüche. Es kommt mir vor, als sei man unfähig, das Weltgeschehen zur Kenntnis zu nehmen und zu begreifen. Wir sind ein introvertiertes Land, wir schauen als Beobachter zu, was anderswo geschieht, und beglückwünschen uns zu unseren Erfolgen. Wie sonst sollte man all das Auf und Ab erklären, diese Bekräftigungen, gefolgt von spektakulären Rückzügen? Wie sollte man sonst unseren zumindest akrobatischen Umgang mit den Problemen beim Austausch von Steuerdaten und unseres Finanzplatzes erklären? In den Spannungen, die dabei zutage treten, offenbart sich die Verschiedenheit unseres Gemeinwesens. Sie sind auch und vielleicht vor allem der Ausdruck unterschiedlicher Interessen, die wir nicht auf einen Nenner bringen. Ist unsere Haltung vielleicht eine Art Gegengift zu der Globalisierung, die wir erleben? Oder eine Möglichkeit, unsere «Swissness» zu leben?
Und doch ist die Schweiz kulturell und wirtschaftlich präsent und erfolgreich. Sie teilt mit ihren Nachbarn die Sprachen und Kulturen und führt regelmäßig die Rangliste der wettbewerbsfähigsten Länder an; auch in der Forschung gehört sie zur Spitzengruppe, und ihre technischen Hochschulen und Universitäten nehmen in den Rankings vordere Plätze ein. Gemessen an ihrer Wirtschaftskraft, belegt sie Platz 20 unter den stärksten Volkswirtschaften und investiert traditionell kräftig. Sie ist ein bedeutender Finanzplatz. Die paar Staaten mit ähnlich niedriger Arbeitslosenquote lassen sich an einer Hand abzählen. Ihr Staatshaushalt ist gesund und ihre Verschuldung im europäischen und internationalen Vergleich gering. Ihre Einwohnerinnen und Einwohner sind privilegiert: Sie nehmen bezüglich Lebensqualität und Human Development Index eine Spitzenposition ein. Die Schweiz gehört zu jenen Ländern, die am stärksten von der Globalisierung profitiert haben.
Die Schweiz hat sich lange von internationalen Bewegungen ferngehalten. Erst vor wenigen Jahren – 2002 – ist sie den Vereinten Nationen beigetreten. Zum Gefühl, dass aus der Fremde nichts Gutes kommen könne, gesellte sich lange Zeit die Überzeugung, dass die Außenpolitik letztlich nicht entscheidend sei, auch deshalb, weil sie uns zu einer ständigen Neudefinierung unserer Interessen zwingt und zur Suche nach einem gemeinsamen Nenner im Bemühen, uns bestmöglich zu behaupten. Leider gibt es jedoch heute keinen Konsens darüber, wie wir uns in der Welt positionieren sollen.
Wir bekunden Mühe damit, einen internen Konsens über allgemeine politische Leitlinien zu schmieden: Eine internationale Strategie für unseren Finanzplatz, die Europapolitik der Schweiz und ganz allgemein den Platz der Schweiz in der Welt – das sind Themen, die polarisieren. Der Druck von außen hat zudem Spaltungspotential und macht es darum sehr schwierig, nach einer klaren, offensiven Logik vorzugehen. So intervenieren wir in internationalen Angelegenheiten nur, um offensichtliche und kurzfristige konkrete Interessen zu wahren.
Der Botschafter und Essayist Jean-Pierre Ritter erkennt «in der schweizerischen Mentalität bis heute sämtliche von Rousseau gepredigten Tugenden: die Überzeugung des Einzelnen, niemandem etwas zu schulden und einen Selbstwert zu haben, der auf keine äußeren Zuwendungen angewiesen ist, den Kult der Einfachheit und Abscheu vor Förmlichkeit, die Zurückhaltung gegenüber anderen und den Widerwillen gegen etablierte Größen und gegen Regeln, die ihr Benehmen und ihre Beziehungen bestimmen wollen.»17 Ist also Rousseau schuld?
Der Historiker Hans Ulrich Jost versucht in einem an mich gerichteten Schreiben vom 1. Juni 2013 eine Erklärung: In der alten Eidgenossenschaft des 16., 17. und 18. Jahrhunderts war die Außenpolitik die Domäne der bedeutenden Familien oder Notabeln, denn die Eidgenossenschaft war kein Staat und verfügte über keine zentrale Exekutivgewalt. Diese «Diplomaten» verteidigten folglich ihren Kanton und ebenso ihre Privatinteressen. Mit der Ausweitung des Söldnerwesens bot die Führung der Außenbeziehungen in beträchtlichem Maß Gelegenheit zu Bereicherung und Korruption. Diese Diplomatie der «Kronenfresser» (nach dem Fürsten und Königen vorbehaltenen Münzregal für Goldmünzen) wurde im Volk immer wieder kritisiert. Zu den Schwergewichten unter diesen «Diplomaten» gehörten der Berner Niklaus von Diesbach von der Handelsgesellschaft Watt-Diesbach, der häufig am französischen Königshof weilte, und der Walliser Kardinal Matthäus Schiner. Er wahrt die Interessen des Papstes und beeinflusst die Außenpolitik der Schweizer Kantone stark. Schiner ist zu einem guten Teil verantwortlich für die Niederlage von Marignano und die Verwicklung der Eidgenossen in die kriegerischen Auseinandersetzungen in Italien. Im 19. Jahrhundert war Johann Jakob Kern, Doyen der Diplomatie des Bundesstaats von 1848, der Freund und Geschäftspartner von Alfred Escher, des Gründungspräsidenten der Thurgauischen Hypothekenbank. Auf zeitgenössischen Karikaturen sieht man ihn gelegentlich auf den Knien Napoleons III. sitzen und ihm den Bart kraulen.
Seitdem liegt die Außenpolitik mit der Innenpolitik und ihren Partikularinteressen im Clinch.
In den letzten Jahren hat die Außenpolitik verschiedentlich die Agenda der Innenpolitik diktiert, ob man nun an die Europapolitik, die Finanz- und Steuerpolitik, die nachrichtenlosen Vermögen oder die Libyenaffäre denkt. Wir haben erfahren, wie schwierig es ist, selbst marginale Probleme alleine und ohne dauerhafte Allianz zu lösen. Wir haben erfahren, wie mühsam es ist, unsere Interessen zu wahren, ohne uns mit Ländern mit ähnlichen Interessen zu verbünden. Wir wissen heute, wie wichtig eine gemeinsame Sicht der einzelnen Departemente des Bundes ist, aber auch der Einbezug der kantonalen Behörden, zum Beispiel eines Kantons, der international so exponiert ist wie Genf. Wir mussten das Gewicht der Machtpolitik anerkennen, die Bedeutung der fremden und der eigenen Position in der Welt, unserer Glaubwürdigkeit und unseres Rufs und der daraus entstehenden Konsequenzen, nicht zuletzt für die Verhandlungen, die uns ganz direkt betreffen.