Jürg Amann
Der Anfang der Angst
Aus einer glücklichen Kindheit · Prosa
HAYMON
Meinen Eltern
Auf diese Welt gekommen bin ich, als Krebs, wie man normalerweise aus ihr hinausgeht, mit den Füßen voran. Steißlage. Ob das schon ein schlechtes Zeichen gewesen ist, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß mein Leben die Mutter beinahe das ihre gekostet hat; so viel Blut hat sie an mir und also an mich verloren, daß von allem Anfang an unsere Leben sehr eng eines am anderen hingen. Als etwas Teures hat sie mich darum so spät und ungern aus den Händen gegeben, weil sie fast mit dem Leben für mich bezahlt hat.
Ob aber die Pechgeburt meines Bruders, der sich, schon auf dem Weg in die Welt, den Kopf schon im Licht, das übrige noch in der Finsternis, vor lauter Angst sozusagen gleich in die Hosen gemacht hat, die er noch gar nicht anhatte, besser gewesen wäre, ist nicht zu sagen. Jeder hat seine Geburt.
Kaum war ich auf der Welt, mußte ich lernen, allein zu sein. Nachts, wenn ich erwachte und schrie, weil ich Angst hatte vor der Dunkelheit, die ich nicht sah, in meinem Stubenwagen, in meinem Zimmer neben dem Schlafzimmer der Eltern, ließ man mich schreien. Eine ganze Nacht hätten sie mich durchschreien lassen, erzählte der Vater später mit Stolz, dann sei ich für immer ruhig gewesen.
‹Vatis Stolz› sei ich gewesen, lese ich heute tatsächlich unter einem alten, vergilbten Bild, auf dem mich der Vater zur Hochstrecke bringt. Eigentlich gleicht es ihm gar nicht, denke ich, nicht das Kind, aber das vorgezeigte Familiengefühl. Ich habe an diese ganz frühe Zeit keine Erinnerung, aber als etwas Warmes, Schönes spüre ich sie, wenn ich von ihr spreche oder in ihren Bildern blättere im Album.
Daß ich eigentlich eine Tochter hätte sein sollen, bekam ich lange zu spüren. Wenn du ein Mädchen wärst, würdest du mich verstehen, sagte die Mutter. Ihr Männer, sagte sie auch zu uns, drei gegen eine einzige Frau, wie soll ich mich wehren? (Warum hatte sie den Eindruck, daß wir gegen sie waren ?) Aber auch, als ich ein Jüngling geworden war, immer wieder, bewundernd, du wärst ein schönes Mädchen geworden. Und obwohl ich, damals, ganz und gar ein Mann sein wollte, mir zum Beispiel das Weinen schon abgewöhnt und zudem die ersten Enttäuschungen durch Frauen (Mädchen) schon hinter mir hatte, war ich durch solche Sätze geschmeichelt, denn ich hatte, hinter der Enttäuschung, noch immer ein schönes Bild von den Mädchen (Frauen), und schön sein wollte ich auch. Daß mir die Mutter, die ja eine Frau war, und für mich wohl die wichtigste damals, sagte, ich sei so schön wie das, wonach ich mich sehnte und was mir als das Liebenswerteste auf der Welt vorkam, erfüllte mich mit einer – wie mir jetzt klar ist – gefährlichen Freude. Im Grunde war es die Freude, der Mutter ähnlich zu sein.
Meine erste klare Erinnerung ist die an die Taufe meines Bruders, zu der ich im beigen Opel fahren durfte, der meinem Patenonkel gehörte. Ein gleiches Modell hatte auch unser Bäcker, Herr Kern aus Seen, der uns täglich das frische Brot ins Haus brachte. Kurz vor der Geburt wurde ich von Mädi, einer Freundin der Mutter, aus dem Haus geholt. Ein paar Tage mußte ich bei ihr verbringen. Als ich wieder nach Hause durfte, war mein Bruder da. Für mich war das sehr geheimnisvoll. Er lag im rohrgeflochtenen Stubenwagen mit dem blauweiß karierten Stoffbogendach, in welchem, wie ich damals erfuhr, auch ich meine erste Zeit verbracht habe und der jetzt mit wackligen Rädern bei uns in einem Winkel des Dachbodens steht. Ich erinnere mich an das Täfelchen, das an seinem Griff hing, auf dem in roter Zierschrift stand, ‹Urs Christoph›. Ich wollte mit meinem Bruder sprechen, aber man sagte mir, er könne mich jetzt noch nicht sehen, seine Augen würden erst später aufgehen, es läge noch ein Schleier darüber. Gespannt wartete ich darauf. Als sie aufgingen, waren sie blau. Meine waren braun.
Später erfuhr ich, daß mein Bruder krank auf die Welt gekommen war und beinahe mit einer schweren Lungenentzündung wieder von ihr gegangen wäre. Man mußte ihn auf der Stelle mit Penicillin behandeln. Ich weiß nicht warum, aber es erfüllte mich mit Stolz, auf diese Weise von allem Anfang an einen besonderen Bruder zu haben, und ich erzählte es allen meinen Freunden weiter. Dabei wußte ich natürlich noch gar nicht, daß Goethe auch so begonnen hat.
Was ich auch gern und mit Stolz erzählte, war, daß ich, nach meiner Herkunft, gar nicht eigentlich ein Schweizer war, sondern als solcher nur sozusagen die Mitte von Norden und Süden, in der sich meine Eltern eben begegnet seien. Denn die Spuren des Vaters führten nach Süddeutschland und Österreich zurück, jene der Mutter nach Norditalien an den Comersee, obwohl beide in der Schweiz, beide in Winterthur, geboren worden oder wenigstens aufgewachsen waren. Besonders stolz, weiß Gott warum, war ich auf das italienische Blut der Mutter, das da also in meinen Adern floss und das ich immer dann vor allem zu spüren meinte, wenn mir bei Spiel und Sport schneller als anderen der Schweiß herunterrann. Dies und auch die Schuld an meinem häufigen, raschen Erröten schob ich auf diese Herkunft.
Meinen Eltern machte ich auf doppelte Weise, eben auf ihre doppelte Weise, die sich in mir vereinigt hatte, doppelt zu schaffen, dem kühlen, allzu ruhigen Vater mit der Hitze der italienischen Mutter, der temperamentvollen, impulsiven Mutter mit dem kalten, scharfen Verstand des Vaters, derart verdoppelnd, was ihnen an sich selber gegenseitig schon genug zu schaffen machte.
Ein Freund, ein Psychologe, sagte mir viel später einmal, ich käme ihm vor wie einer, der rittlings auf der Spitze der Alpen sitze, ein Bein nach Norden, eines nach Süden. Das Bild gefiel mir auf Anhieb. Aber er fügte hinzu, ich sollte mir überlegen, wo das zuerst zu schmerzen beginne.
Der Vater des Vaters, mein Großvater, war einer der wichtigsten Menschen in meinem frühen Leben. Nicht nur weil, wie ich später begriff, ich ohne ihn nicht wäre. Da gibt es ja keinen in der langen Galerie der Ahnen, ohne den ich wäre. Er war nach dem Ersten Weltkrieg, der ihm die Deutsche Idee samt ihrer Verkleidung in die militärische Uniform gründlich verleidet hatte, mit seiner Frau von Konstanz nach Winterthur gezogen. Als der Großvater schon tot war, fand ich im Schreibtisch meines Vaters zufällig seine Kriegsaufzeichnungen, die ich heimlich las und für mich abschrieb. Sie endeten in A. an der französischen Westfront damit, daß der Großvater bei einem Gegenangriff mit einem Schuß im Ellbogen liegen blieb, ob vor Schreck oder aus List, und sich nicht rührte und nur dadurch, daß er sich tot stellte, am Leben blieb. Genaugenommen hat dieser Schuß in seinen Ellbogen mein Leben gerettet. Wem ich dafür zu danken habe, weiß ich nicht. Auch ich habe auf diese Weise meinen Unbekannten Soldaten.
Dieser Großvater war sehr stolz auf die Familie. Da meine Mutter keine Familie hatte, lehnte sie sich gegen ihn wie im Grunde auch gegen seinen Sohn, meinen Vater, ihren Mann, zeitlebens auf.
Mein Großvater mütterlicherseits wollte partout, daß ich Zahnarzt werde. Wenn ich ihn fragte, was ich davon hätte, andern Leuten in den Zähnen herumzubohren, sagte er: das Geld.