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Zwei Seelen und ein Geist
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Zwei Seelen und ein Geist
© 2013 Fabian Kleiker
Umschlaggestaltung, Illustration:
Fabian Kleiker
Korrektorat:
Saskia Schulte
www.Text-wird-Buch.de
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-8495-7429-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Der Autor
Fabian Kleiker wird 1986 in Eschweiler im Rheinland als Sohn eines Starkstromelektri kers und einer Buchhalterin geboren. Er ist der Jüngste der Familie und hat zwei Brüder. Seine Leidenschaft für Bücher und Geschichten zeigt sich von Kindesbeinen an und prägt seine Kindheit und Jugend, wird jedoch später vom Computer abgelöst.
Nach der zehnten Klasse verlässt er das Gymnasium und besucht die Höhere Handelsschule. Nach erfolgreichem Schulabschluss beginnt er eine Ausbildung zum Informatikkaufmann bei einem regionalen Energieversorger, für den er bis heute tätig ist. Schließlich entdeckt er das Medium Buch erneut.
Nachdem er einige Werke liest, die ihm nicht zusagen, fasst er den Entschluss, selber ein Buch zu verfassen. In seinem Erstlingswerk fackelt er ein Feuerwerk aus Tragödie, Romantik und Fantasy ab, bei dem auch der Humor nicht zu kurz kommt.
„Spannung und Kurzweil sind für mich sehr wichtig. Ich möchte den Leser überraschen und eine Story erzählen, die er so nicht erwartet. Wenn er das Buch nicht mehr weglegen will, zwischendurch lacht und auch mal eine Träne fließt, dann habe ich mein Ziel erreicht.“ – Fabian Kleiker
Kapitel 1
Da sind wir nun. Der Vorhang geht auf, der Film beginnt und wieder geht eine wertvolle Stunde meines Lebens ins Land. Wieder einmal sitze ich hier alleine im Kino und schaue mir etwas an, was ich bereits gesehen habe, was mich nicht interessiert oder was mich berieseln sollte. Die primäre Frage ist ja: Warum gehe ich hier eigentlich hin?
Nun, die Antwort darauf weiß ich auch nicht so genau. Ich könnte mir vorstellen, dass mein kaputtes Weltbild daran schuld ist. Vielleicht möchte ich einfach auf diesem Wege Abstand vom Alltag gewinnen. Ja, das wird es sein. Vielleicht ist es aber auch die nette Dame am Empfang, die mit wahrer Liebe Popcorn in Papiertüten füllt. Diese Frau ist ein wahres Talent am Flaschenöffner und ein Leckerbissen für mein Auge. Anders als dieser Typ, der die Karten abreißt. Der sieht aus und benimmt sich, als wäre 1948 sein Verstand verheizt worden.
Mein Name ist Jonas, ich bin 32 und das ist schon mehr, als ich über mich erzählen sollte.
Der Film ist Mist. So eine Liebesschmonzette, die mich wirklich langweilt. Immer wieder toll sind diese Liebesszenen. Man sieht nichts! Drei Sekunden vorher bumsen die die Polster aus der Matratze. Dann steht sie auf und hält sich die Decke vor die Brüste. Was soll der Scheiß? „Danke, dass du es mir gerade so geil besorgt hast, aber ich finde meine Titten hässlich und halte mir jetzt die Decke davor, damit Du nicht sehen kannst, welches Elend du gerade flachgelegt hast.“ Die stellen sich an. Aber so ist es nun mal. Heute hält sie sich die Decke vor den Euter und morgen Mittag ist sie auf dem Cover vom Playboy. Da sprechen dann alle über ihre schönen Brüste und der Film ist vergessen.
Man muss ja keinen Sex im Film sehen, dafür gibt es bessere… Dokumentationen. Andererseits: Warum filmen die zwei Leute, die, vermutlich mit Klamotten, unter einer Bettdecke liegen und rhythmische Bewegungen machen drei Minuten lang? Zu viele Details, bei denen man nichts sehen kann. Relevant für den „Höhepunkt“ des Films ist das ohnehin nicht.
Ja, wir leben in Deutschland. Meine Heimat hat keinen Platz für Sexismus und wenn ein Fetzen Bettdecke in einem Film auftaucht, wird das Ding erst ab 18 freigegeben. Sieht man eine weibliche Brust (auch nur ansatzweise), landet der Streifen auf dem Index. Er wird verboten oder radikal zensiert.
Bei Harry Potter fehlen auch massenhaft Szenen und wer die Bücher gelesen hat, kann nicht verstehen, wie man den Film gut finden kann. Klar, lustig gemacht. Aber entweder fehlte das Geld für die Produktion oder die Version war nicht deutsch genug. Vielleicht musste der auch zwingend 89 Minuten lang sein, damit er genau in angegebener Bildqualität auf den Silberling passt.
Ich verlasse das Kino. Mir ist stinklangweilig. Ich leere die Cola-Flasche in einem Zug, gehe am Abreißer vorbei, der auch so riecht, als hätte er gerade einen abgerissen, und stelle die leere Flasche auf den Tresen beim Popcorn-Mädel ab. Scheinbar etwas unsanft; zumindest dreht sie sich um. „Noch eine?“, fragt sie. Ich überlege kurz. „Ja, bitte.“ Ich setze mich an den Tresen. „Wollen Sie den Film nicht weiter schauen?“ Schauen … sie benutzt das Wort „schauen“. Sie scheint nicht von hier zu sein. Hier sagt man „gucken“ oder „sehen“. „Nein“, sage ich. „Der ist bestialisch langweilig.“ „Oh“, sagt sie. Sie scheint betroffen zu sein. „Gut zu wissen. Ich wollte mir den Film am Samstag mit einer Freundin anschauen. Jetzt werde ich mir das wohl noch mal überlegen.“ Sie sagt wieder „schauen“. Wo kommt die her? Und … heute ist nicht Samstag? Mir scheint, ich habe mein Zeitgefühl ein bisschen verloren. Irrelevant.
„Na ja … ich fand ihn bis dato nicht gut. Kann sein, dass es noch eine dramatische Wendung gibt. In Hollywood ist alles möglich.“ Sie lächelt. Sagen tut sie nichts und ich sitze vor ihr am Tresen, weiß nicht mehr, was ich nun noch sagen soll und halte mich an einer Cola-Flasche fest. Ich trinke sie leer. Jetzt lacht sie. Ja, die Flasche war schon leer. „Noch eine?“ „Gern, danke.“ Wenn ich hierbleiben möchte, wird es diesen Dialog wohl noch öfter geben. Mittlerweile tauchen ein paar mehr Menschen im Vorraum auf. Das Foyer füllt sich. Scheinbar beginnt gleich die Abendvorstellung. Und richtig: Die Ersten kommen aus dem Saal, den ich eben verlassen habe. Ein Knabe im geschätzten Alter von 62 Jahren kommt zum Tresen. Er war in derselben Vorstellung wie ich. Ich frage ihn: „Und?“ Er sagt: „Jo.“ „Wie war das Ende?“ „Jo.“ Ich korrigiere mich innerlich auf 72.
„Klong“, macht es und eine weitere Cola-Flasche steht nass vor Kälte und frisch von Meisterhand geöffnet vor mir. Sehr gut. Den Koffeinhaushalt kann man hier prima ausgleichen. Wenigstens dafür ist der Schuppen gut. Der Knabe verlässt die Theke wieder. Warum war der eigentlich hier? Er hatte kein Leergut, keinen Müll und hat auch nichts mitgenommen. Ich habe ihn vermutlich aus dem Konzept gebracht. Ich muss pinkeln.
Ich nehme die Cola vom Tresen, nicke der lächelnden Flaschenöffnerin zu und nehme Kurs Richtung Abort. Aha. Da ist der Knabe ja wieder. „Scheiße“, sagt er. Er steht vor dem Pinkelbecken an der Wand. Ich stelle mich daneben und packe aus.
„Die Schuhe getroffen?“ „Nein, der Film.“ „Den Film getroffen?“ „Nein, der Film war Scheiße.“ Interessant. Noch jemand, der meine Meinung teilt. Ich bin vor ihm fertig. Er schüttelt sehr intensiv ab. Ich gehe zum Waschbecken und wasche mir die Hände. Warum macht man das eigentlich? Entweder pinkeln man sich nicht auf die Hände, dann kann man direkt rausgehen. Oder man pinkelt sich über die Hände, dann braucht man nur noch abzutrocknen. Eigentlich würde dieser Papierhandtuchspender völlig reichen. Die sollten das Becken abmontieren und eine weitere Pipischüssel aufhängen. Ich schaue in den Spiegel und sehe den schüttelnden Knaben hinter mir.
Na ja … die Schuhe hat er wohl doch getroffen. Es sieht so aus, als habe er sogar die Wand getroffen. Soll mir egal sein. Er dreht sich um und packt dann seinen Lurch weg. Kennst Du Mettenden? Ich weiß, zu viele Details. Seine Hose hat auch gelitten. Gut imprägniert, schießt es mir durch den Kopf. Die Tropfen haben sich alle durch den Lotuseffekt den Weg nach unten gekämpft und dabei eine durch die Leuchtstoffröhren an der Decke gut sichtbare, schimmernde Spur gezogen.
„Ich geh’ noch auf ein Bier“, sagt er, als er sich neben mir die Hände anfeuchtet. Er macht es auch. Und er geht auf ein Bier. Der kommt von hier. Wo kommt die Cola-Flaschen-Öffnerin bloß her?
„Wo?“ Hierzulande ist es quasi ein „Ich geh’ noch ein Bier trinken. Gehste mit?“, wenn man sagt: „Ich geht noch auf ein Bier.“ „Alte Post“, ist die Antwort. Ohne weitere Worte zu verschwenden, verlassen wir die sonst so stille Örtlichkeit. Er geht zur Tür. Ich gehe zurück. Meine Cola-Flasche steht noch auf dem Absatz über dem Becken. Da steht einer und pinkelt. Ich stelle mich daneben, sage „Entschuldigung“ und greife zu. Er schaut mich verwundert an. „Nach unten gucken“, sage ich und gehe hinaus. Ich gehe zurück zum Tresen. Mein Platz ist noch frei. Überhaupt sind alle Plätze frei. Ein paar Kinder toben auf einem der Treppenabsätze herum oder rennen im Kreis um den Abreißer herum. Der sieht aus, als würde er gleich gehen und mit einem Wehrmachtskarabiner zurückkommen. Er bleibt aber stehen.
„Wieder da?“ Das Popcornmädel hatte ich bis dato aus den Augen verloren. Aus den Augen, aus dem Sinn. Jetzt schaue ich sie an. Wunderschön ist sie. Und so freundlich. Die kommt wirklich nicht von hier. Sie scheint sich zu freuen, dass ich wieder da bin. Klar. Sonst hätte sie nichts zu tun. Die meisten bringen hier ihre Fressalien und Getränke sowieso in Hosen- und Jackentaschen in den Saal. „Vorne is’ zu teuer.“ „Ja“, sage ich.
Gedanklich bin ich schon gar nicht mehr bei ihr. Gedanklich bin ich in ihr. Wie hätte sie in der Filmszene ausgesehen? Hätte sie sich auch die Decke vor die allem Anschein nach sehr schönen Brüste gehalten? Machen alle Frauen das? Ich habe da nie drauf geachtet. Ist auch irrelevant. Wenn man fertig ist, wird geschlafen. Oder Bier auf und noch einen Film gucken oder so. Vielleicht auch Fußball. Je nach dem, was grade kommt, nachdem man gekommen ist. Die Damen der Schöpfung, so ist meine Erfahrung, möchten sich danach immer „ein bisschen frisch“ machen. Macht Janine auch.
Manchmal glaube ich, das ist eine Manie, die sie in früher Kindheit bekommen haben. Jede Mutter, die eine Tochter hat, leuchtet abends das Bett vor dem Schlafengehen mit einer UV-Lampe ab, um alle Körperflüssigkeiten sichtbar zu machen. Da! Ein Fleck auf dem Kissen! Vielleicht hat sie nur gesabbert. Vielleicht hat sie aber auch ihrem Bruder einen gekaut? Das weiß die Mutter nicht und seit diesem Moment steht die zarte, acht Jahre alte Tochter unter pausenloser Beobachtung. Sowas brennt sich im Geiste ein. Der prüfende Blick beim Frühstück. „Sie sieht müde aus. Ob sie letzte Nacht nicht geschlafen hat? War sie lange wach?“ Und dann kommt laut: „Was hast du letzte Nacht gemacht?“ „Geschlafen, Mami!“ „Sprich nicht so zu mir, du kleine verzogene Göre! Du hattest Verkehr!“
Klingt alles weit hergeholt. Ich weiß. Aber werd’ mal arbeitslos und beobachte die Flimmerkiste nachmittags zu Hause. RTL hat mir ein anderes Bild von meinen Mitmenschen gegeben. Während sich abends bei Beckmann die Elite der Menschheit versammelt, gruppiert sich der gesellschaftliche Abschaum mittags bei Britt. Guter Lerneffekt. Das ist schließlich die Zeit, in der die Kinder von der Schule nach Hause kommen, Ranzen in die Ecke werfen und dreizehn Schokoriegel auf der Couch vor der Glotze verdrücken. Da kommt Bildungsfernsehen. Wem die Pisa-Studie Sorgen macht, sollte mal die Fernsehsender anschreiben und Programme von NTV und N24 bundesweit zwischen 13 und 21 Uhr fordern. Dann sind die Gören nämlich, laut Angabe ihrer Eltern unter Eid um 14:14 bei ZDF zuletzt gesehen, im Bett. So lautet die offizielle Stellungnahme.
„Kann ich noch eine Cola haben, bitte?“ „Klar. Sie scheinen sehr in Gedanken zu sein.“ Was bleibt mir auch anderes übrig, als zu denken. Ist das Einzige, was man in diesem Leben noch machen darf, ohne dass es horrende Summen kostet. Man darf es bloß nie laut aussprechen, was man denkt.
Kapitel 2
Ich habe mich bereits von der Süßigkeiten-Schönheit verabschiedet und stehe auf der Treppe vor dem Kino-Eingang. Es ist kalt geworden in Deutschland, stelle ich fest. Während ich dort stehe, höre ich, wie hinter mir die Türe ins Schloss fällt. Jetzt, wo der warme Luftstrom im Rücken ein jähes Ende gefunden hat, wird mir wirklich kalt zumute. Ich habe Hunger. Ich hätte vielleicht noch ein Pfund Erdnüsse essen sollen. Habe ich aber nicht. Ich schaue mich um. Gegenüber ist eine Frittenbude in türkischer Hand. „Euro-Grill“ steht an und über der Türe. Auch die Beklebung des großen Schaufensters und die in Blau mit gelben Sternen gehaltene Innenausstattung lassen auf europäisches Outing hindeuten. Interessant ist: Die Türkei ist noch nicht EU-Mitglied. Wenn man sich die Wahlergebnisse der Europawahl anschaut (jetzt sage ich das auch schon!), interessiert den Großteil der Bundesbevölkerung das aber ohnehin nicht. Wieso kommen also die sonst so nationalbewussten Türken auf die Idee, ihren Imbiss „Euro-Grill“ zu nennen. In der Türkei würde das vermutlich besser funktionieren als hier, wo jeder glaubt, die EU sei der Untergang. Quasi die Neuauflage des tausendjährigen Reichs unter der Führung von Franzosen, mit Sitz in Belgien und Englisch als Hauptsprache.
Vielleicht kriegt man in diesem Schuppen auch alles „für’n Euro.“ Ich weiß es nicht.
Ich sehe mich weiter um. Ein Taxistand und drei Wagen vor der Tür. Bringen mir nicht so viel. Mein Auto steht in der Seitenstraße geparkt. Eine Pizzeria. Klingt schon besser als ein kurioser Grill. Hier prangen die italienischen Nationalfarben an der Hausfassade. Italienisch. Ich habe nichts gegen Italien. Nichts Wirksames. Ernsthaft: Ich mag Pizza für mein Leben gern. Aber bei den meisten Italienern ist der Boden dünn und knochentrocken. Das gefällt mir nicht so. Dann lieber die amerikanische mit Käse im Rand oder so eine fetttriefende von Griechen.
Ich setze mich in Bewegung und bin weiter auf der Suche nach einem Fraßschuppen. Irgendwas muss es doch geben, das meinen Geschmack heute trifft. Da. Ein Ladenlokal, das ich bis dato noch nicht kannte. Da steht im Fenster: „Neueröffnung! Wir sind Montag bis Samstag von 09:00 bis 22:00 für Sie da!“ Klasse. Würdet ihr mir nun bitte verraten, was ich bei euch futtern kann!? Vielleicht ist das auch ein Waschsalon, und ich habe es nicht bemerkt … ich schaue an dem Schild vorbei in das Ladenlokal. Eine sympathisch wirkende Mittvierzigerin lächelt mich an. Ja, ich könnte dein Sohn sein. Sie hat einen Schriftzug auf der Schürze. Bloß ist die eng um ihren wahrhaft riesigen Busen gebunden und dieses Band liegt genau darüber. Warum bindet die die Schürze auf ihren Brüsten fest? Das erschließt sich mir nicht. Ich schaue hoch. Über ihr hängen eine Preistafel und der Name des Ladens. Damit hat sich die Nummer auch schon erledigt. „Die Suppenküche“. Alles klar. Dann kann ich auch zu Mama fahren. Die hat immer Dosen im Keller, die sie dann als Grundlage nehmen kann und verfeinert. Ja, mit Maggi und Erasco zum Michelinstern. Könnte funktionieren. Sie muss bloß noch entdeckt werden.
Was nun, sprach Zeus und kackte auf den Olymp. Ich gehe zurück Richtung Kino. Kurz überlege ich, ob ich reingehen soll. Da ist es wärmer als hier und bei dem Cola-Mädchen wird mir warm ums Herz. Ich will eigentlich nach Hause. Aber ich habe Hunger. Ich kann nicht hungrig nach Hause fahren. Dann muss ich mir da was machen und ehrlich gesagt ist da nix. Wir haben neun Uhr. Die Kirchenglocken machen mich darauf aufmerksam. Die Supermärkte haben teilweise bis 22 Uhr auf. Ich könnte also sogar noch einkaufen gehen.
Ich gehe am Kino vorbei und werfe einen Blick hinein. Da steht sie. Wunderschön sieht sie aus. Soll ich reingehen? Wenn ich reingehe, was sage ich dann? Ich weiß es nicht. Bin sowieso vergeben. Warum denke ich überhaupt darüber nach? Kranke Welt.
Wider Willen schreite ich voran auf meinem Weg. Es ist aber auch kalt geworden. Ich biege in die Seitenstraße ab. Da steht mein Auto geparkt. Ein Zettel pappt unter dem Scheibenwischer. Dabei ist kein Parkscheinautomat zu sehen. Mich ärgert so was. Kein Automat in Sicht und trotzdem bekommt man ein Ticket für Falschparken. Ich stehe nun vor dem Wagen und nehme den Zettel unter der Scheibe hervor. Es muss kurz geregnet haben. Eine Hälfte pappt noch auf der Scheibe. Ich ziehe sie ab und setze das Puzzle wieder zusammen. Es ist ein Flyer von einer Diskothek. Da werde ich ohnehin nicht hingehen. Praktischerweise steht neben dem Auto ein Mülleimer. Ich schließe die Tür von meinem Kombi auf und werfe den Zettel in den Beifahrerfußraum.
Ich schaue mich um. Jetzt weiß ich auch, warum hier kein Parkscheinautomat steht. Hier ist Parkverbot. Kann passieren. Ich schmeiße den Motor an. Mit einem Stottern setzt sich die Maschine in Bewegung. Ich schnalle mich an. Ich schalte das Licht ein und setze den Wagen in Bewegung. Wahrhaft filigran lässt sich heute die Kupplung bewegen und mit sanft schleifenden Geräuschen bewegt sich mein Klimakiller Richtung asphaltiertem Feldweg. Ich biege in die Straße ab, in der das Kino ist. Langsam fahre ich daran vorbei. Hinter mir hupt jemand. Ich hebe unter dem Innenspiegel dezent den Mittelfinger und schaue durch die Türen in den sanft beleuchteten Vorraum des Kinos. Sie ist immer noch da. Ich bin ein bisschen verwundert, muss aber auch mal feststellen: Es ist ihr Job, da zu sein. Warum sollte sie also nicht da sein. Irrelevant.
Ich gebe Gas. Der Wagen beschleunigt auf satte 50 Stundenkilometer laut Tacho. Wenn ich jetzt mit Navi fahren würde, würde ich gerade mal 43 Sachen auf der Uhr haben. Immer wieder interessant, wie uns die Autohersteller hintergehen. Fahr’ mal neunzig auf der Autobahn. Da setzen die Laster direkt zum Überholen an. Apropos Autobahn. An der Auffahrt gibt es einen BurgerKing. Da könnte ich vorbeifahren. Gutes Essen zum kleinen Preis. Gutscheine kann ich selber drucken.
Ich fahre durch die Innenstadt. Hier ist es leer geworden. Das ist typisch. Mittags ein Menschenmeer, abends ein Lichtermeer und nachts geht hier gar nichts mehr. Es ist kurz vor Weihnachten, scheint mir. Lichterketten hängen über der Straße und tauchen alles in ein behagliches Licht. Warum steht da eigentlich „Merry Christmas“. Was soll das? Hallo, wir leben in Deutschland. Schon vergessen? Frei nach dem Motto: Die Welt zu Gast bei Freunden. Ich kann mir allerdings nur schwerlich vorstellen, dass sich ein paar Leute aus der Elfenbeinküste zum Mordsevent „Weihnachten in der Kleinstadt“ hierher verirren. Als Auswanderer höchstens. Aber die meisten, die ich kenne, sprechen eigentlich recht gut Deutsch. Besser als Englisch. Whatever. Ich fahre weiter. Es beginnt zu regnen. Die Scheibenwischer meiner CO2-Schleuder beginnen nach meinem Befehl damit, die Wassermassen von der Scheibe zu räumen. War doof. Merke ich jetzt auch. Statt den Regenguss zu entfernen, schieben sie bloß einen Großteil über die A-Säule in mein geöffnetes Fenster. Den Rest fassen sie zu wahrlich herrlich anmutenden Schlieren und Schmierstreifen zusammen und hinterlassen ein undurchsichtiges, Dreck beinhaltendes Chaos auf der ohnehin schon matt gewordenen Scheibe. Ohne wirklich was zu sehen, erreiche ich das Schnellrestaurant an der Autobahn.
Ich platziere das Kraftfahrzeug ohne Kraft auf einem der eingezeichneten Parkplätze, die so groß sind, dass man da locker ein halbes Auto hinein parken kann, und entziehe dem Motor seine Lebensenergie. Mit einem Poltern geht der Wagen aus. Innen drehen sich einige Leute zum Fenster, sehen die Wolke hinter meinem Auto verziehen und gehen wieder ihrer Daseinsberechtigung nach. Sie essen.
Ich steige aus. Es regnet immer noch. Ich steige wieder ein. Ich drehe mir eine Zigarette. Ich benutzte den Zigarettenanzünder des Autos. Die Zigarette wartet derweil zwischen meinen Lippen auf eine Befeuerung. Es vergehen die Minuten. Ich stelle fest: Der Anzünder meines Kombis scheint nicht zu funktionieren, solange nicht zumindest die Zündung des Fahrzeugs aktiv ist. Der Schlüssel steckt. Ich drehe ihn und benutze mein Feuerzeug. Anschließend nehme ich den Schlüssel und steige wieder aus. Laut fällt die Tür ins Schloss und wieder drehen sich einige Leute zum Fenster. Ich nicke Richtung Scheibe und gehe zum Kofferraum. Drinnen ist es hell, hier draußen ist es dunkel. Warum gucken die eigentlich raus. Dank der ganzen leuchtenden Ausstattung des Restaurants können die im Fenster doch ohnehin nur sich selber vor der verspiegelten Reklame sehen. Nicht drüber nachdenken. Ich öffne den Kofferraum mit dem Schlüssel. Da liegt mein Servicekoffer. Ich öffne ihn, klappe den Laptop auf und schalte ihn ein. Während die Festplatte deutlich hörbar ihren Dienst antritt und sich ein Bild auf dem Display zeigt, nehme ich auf der Kofferraumkante Platz. Die Heckklappe schützt vor dem Wasser von oben. Ich schalte den Laptopdrucker ein. Der Laptop ist mittlerweile hochgefahren. Dank Satellit oder Funk oder Was-weiß-denn-ich-Technologie schafft es der Laptop, sich in eins der Mikrowellennetze einzuschleusen. Ich navigiere auf die Internetseite des Restaurants, auf dessen Parkplatz ich stehe. Dort tackere ich meine Benutzerdaten ein und melde mich im Portal an. Dann stelle ich mir eine DIN-A4-Seite mit Gutscheinen zusammen und füttere meinen portablen Drucker mit einem Blatt Papier. Es druckt. Kurze Zeit später halte ich in gestochen scharfem Druck die völlig verpixelte Version der Werbebeschriftung in meinen Händen. Laptop und Drucker aus. Koffer zu. Kofferraum zu. Ich falte das Blatt in sämtliche Richtungen und reiße es auseinander. Nun stehe ich glücklich auf dem Parkplatz mit vier mittlerweile angefeuchteten Gutscheinen in der Hand und gehe dann zielstrebig auf die Eingangstür zu.
Ich betrete die Lokalität. Ich begutachte die Menschen, die dort sitzen. Ein Pärchen, Mitte zwanzig, eine Frau mit ihren zwei Töchtern und ein älteres Ehepaar. Ein junges Mädchen steht in Braun gekleidet hinter der Theke. Auf die Bedeutungen der Farben habe ich hier nie geachtet; ich hoffe, sie sind nicht politisch gemeint. „Guten Abend!“ Ihre Stimme klingt reichlich maskulin für eine solch filigrane, circa 1,53 m große Persönlichkeit. Wortlos reiche ich ihr den Gutschein. „Getränk Cola?“ „Ja.“
Ich glaube, dass von zehn Kunden die Frage neun mit „Ja“ beantworten. Anders kann ich mir nicht erklären, warum immer nur Cola zur Auswahl steht. „Getränk Fanta?“ klingt auch ein bisschen komisch. Andererseits: Es klingt vermutlich für den einzelnen Betrachter merkwürdig, weil man es nicht anders gewohnt ist. Man hat sich im Laufe der Jahre doch wirklich damit abgefunden, dass Cola das Getränk dieser Fressketten ist. Egal, ob McDonalds, BurgerKing oder Subway … immer Cola. Manchmal auch Pepsi. Bei Kentucky zum Beispiel. Eine kleine Portion Pommes, eingetütet in eine braun beschriftete Papiertüte, wird nun, abgedeckt mit einer Serviette, von der braun-maskulinen Bedienung auf dem blauen Tablett abgelegt. Darauf liegt ein Flyer, auf dem irgendwelche neuen Produkte angepriesen werden. Soll mir egal sein. Ich werde ihn vielleicht lesen, wenn ich gegessen habe. Vorher ergibt es keinen Sinn. Dann müsste ich das Tablett abräumen oder das Papier mit einem Ruck darunter wegziehen. Das sieht dann blöd aus. So gewalttätig. Ich werde es später lesen.
Zwei Burger folgen dem Beispiel der Pommes und begeben sich auf das Tablett. Zuletzt kommen ein Pappbecher mit gut einem halben Liter Cola und ein Strohhalm dazu. „Danke“, sage ich und suche mir einen Platz, auf dem die roten Lederpolster noch nicht kaputt sind. Es gibt keinen. Ich stelle das Tablett am Versorgungsschrank ab. Ich nenne den so. Hier gibt es alles. Salz, Pfeffer, Zucker und Süßstoff in kleinen Tütchen, Strohhalme und Servietten. Ich nehme ein paar davon und ein paar Tütchen mit Salz. Die kann man immer prima brauchen.
Ich nehme Platz an einem der Fenstertische. Aha. Ich kann eben nicht auf den Parkplatz gucken. Viel zu dunkel da draußen. Die Leute haben also in die Richtung geguckt, weil sich dort akustisch etwas abgespielt hat. Die konnten das Wölkchen meines Autos nicht mal sehen. Vermutlich sahen sie nur die Rückscheinwerfer meines Wagens und die Bremslichter.
Ich öffne eines der Salztütchen. Ich drehe die Frittentüte um und entleere sie auf dem Tablett. Anschließend verstreue ich den gesamten Inhalt Salz ruckartig darüber. Das war so eigentlich nicht geplant. Macht aber nichts. Was mir auffällt: Diese Tütchen sind so klein, dass man meinen könnte, das reicht nicht mal für ein Viertel dieser Portion. Deswegen nimmt ja auch jeder immer sieben Tütchen pro Portion mit. Diese kleine Menge reicht jedoch aus, um die größte Portion des Portfolios völlig zu versalzen. Wieder was dazugelernt und jetzt verstehe ich, warum die Cola-Becher so groß sind. Anders geht es halt nicht. Bin wohl nicht der Einzige, dem so was passiert. Die Burger sind frisch und heiß. Ein wahrer Genuss. Ich mag diese Hähnchendinger. Immer wieder nippe ich an der Cola. Dann kommt mir ein Gedanke …
… Salz für die Pommes. Hier gibt es Kaffee. Zucker und Süßstoff also dafür. Servietten und Strohhalme haben auch eine Daseinsberechtigung. Aber warum zur Hölle gibt es hier Pfeffer? Wofür braucht man den hier? Chili könnte ich verstehen. Das passt zu den Burgern. Vielleicht noch Röstzwiebeln und Instant-Knoblauch. Aber Pfeffer? Wieder eine Frage für den Schöpfer. Pfeffer ergibt hier weniger Sinn als die Papierfähnchen und die Luftballons.
Ich bin fertig mit Essen. Es war lecker. Ich bin satt. Ein wenig durstig bin ich noch. Ich trinke die Cola leer. Die war sehr süß. Genau richtig, um den selbstverschuldeten Salzgehalt der Pommes zu kompensieren. Ich bin jetzt glücklich. Allein, aber glücklich. Ich stehe auf, nehme das Tablett und gehe zum Ausgang. Während ich die Autotür aufschließe, stelle ich fest:
Ich halte das Tablett noch in der Hand. Was tun? Zurückgehen? Ich steige ein und schütte den Inhalt des Tabletts in den Beifahrerfußraum. Das Tablett stelle ich auf den Beifahrersitz. Ich lasse den Motor an. Angegurtet bin ich, das Licht ist an und der Rückwärtsgang geht sogar schon beim vierten Versuch rein. Ich mache mir nicht die Mühe nachzusehen, wie viele Leute gerade auf den Parkplatz blicken beziehungsweise es versuchen. Ich fahre vom Parkplatz und gedankenversunken steuere ich meinen Dieselfresser Richtung Heimat.
Kapitel 3