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Henry David Thoreau

Über die Pflicht
zum Ungehorsam
gegen den Staat

und andere Essays

Übersetzung, Nachwort und
Anmerkungen von
Walter E. Richartz

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Originaltitel lauten:

›The Resistance to Civil Government‹, 1849

›Life without Principle‹, 1863

›The Last Days of John Brown‹, 1860

Die deutsche Erstausgabe des Titelessays

erschien 1966 als Handpressendruck

im Galerie Patio Verlag, Frankfurt am Main;

1967 im Diogenes Verlag;

die Essays ›Leben ohne Prinzipien‹

und ›Die letzten Tage des John Brown‹

erschienen erstmals vollständig in

deutscher Sprache 1973 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto: Aldermaston Marchers

(Kampagne für nukleare Abrüstung),

Berkshire/UK, 6. April 1958

Copyright © Getty Images

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 20063 8 (15. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60409 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

[7]

Leben ohne Prinzipien

[37]

Die letzten Tage des John Brown

[63]

Über Henry David Thoreau

[71]

Anmerkungen

[85]

[7] Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

Ich habe mir den Wahlspruch zu eigen gemacht: »Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert«; und ich sähe gerne, wenn schneller und gründlicher nach ihm gehandelt würde. Wenn er verwirklicht wird, dann läuft es auf dies hinaus – und daran glaube ich auch: »Die beste Regierung ist die, welche gar nicht regiert«; und wenn die Menschen einmal reif dafür sein werden, wird dies die Form ihrer Regierung sein. Eine Regierung ist bestenfalls ein nützliches Instrument; aber die meisten Regierungen sind immer – und alle sind manchmal – unnütz. Die Einwände, die man gegen ein stehendes Heer vorgebracht hat – und davon gibt es viele und gewichtige, die sich durchsetzen sollten –, können letztlich auch gegen eine ständige Regierung erhoben werden. Das stehende Heer ist doch nur ein Arm der ständigen Regierung. Diese Regierung aber, die nichts weiter als die Form ist, welche das Volk zur Ausführung seines Willens gewählt hat, kann leicht mißbraucht und verdorben werden, bevor das Volk Einfluß darauf nehmen kann. Der Krieg in Mexiko1 beweist es, das Werk einer vergleichsweise geringen Zahl von einzelnen, welche die ständige Regierung als ihr Werkzeug benutzt: das Volk hätte dieser Maßnahme von vornherein nicht zugestimmt.

Was ist die amerikanische Regierung anderes als eine Tradition – und noch dazu eine recht junge –, die danach strebt, sich selbst ohne Machteinbuße für die Nachwelt zu erhalten, die dabei aber in jedem Augenblick mehr von ihrer Glaubwürdigkeit verliert? Sie hat ja nicht einmal die Lebenskraft und Energie eines einzigen lebensvollen Mannes; denn ein einzelner kann sie nach seinem Willen zurechtbiegen. Sie ist eine Art Holzkanone für das Volk; wenn man sie je im Ernst gebrauchen würde – sie würde ganz sicher platzen. Deshalb ist sie aber nicht weniger notwendig; die Leute brauchen einfach irgendeine umständliche Maschine, [8] sie wollen ihr Geräusch hören, um die Vorstellung zu befriedigen, die sie von einer Regierung haben. Regierungen führen uns also vor, wie leicht man die Menschen betrügen kann, ja, wie sie sich sogar selbst betrügen – und zwar zu ihrem eigenen Vorteil. Wir müssen zugeben: es ist eindrucksvoll; nur, von sich aus hat diese Regierung noch nie irgendeine Unternehmung gefördert, höchstens durch die Behendigkeit, mit der sie ihr aus dem Weg gegangen ist. Sie bewahrt nicht die Freiheit des Landes. Sie besiedelt den Westen nicht. Sie erzieht nicht. Alles, was erreicht wurde, verdanken wir dem eingewurzelten Charakter des amerikanischen Volkes; und der würde mehr ausgerichtet haben, wenn die Regierung nicht so oft im Wege gelegen hätte. Denn die Regierung ist ein Instrument, mit dessen Hilfe sich die Menschen endlich gegenseitig in Ruhe lassen könnten; und sie ist, wie gesagt, um so nützlicher, je mehr die Regierten von ihr in Ruhe gelassen werden. Wie aber ist es in Wirklichkeit? Wenn sie nicht aus Gummi wären, könnten Handel und Wirtschaft niemals die Hindernisse überspringen, welche die Gesetzgeber ihnen unaufhörlich in den Weg legen; wenn man diese Leute nur nach ihrer Wirkung und nicht teilweise auch nach ihren Absichten beurteilte, dann verdienten sie, zusammen mit jenem Gesindel eingestuft und bestraft zu werden, das Hindernisse auf Eisenbahnschienen legt.

Ich will sachlich reden, und nicht wie die Leute, die sich überhaupt gegen jede Regierung erklären. Ich sage nicht: von jetzt an keine Regierung mehr, sondern: von jetzt an eine bessere Regierung. Jedermann soll erklären, vor welcher Art von Regierung er Achtung haben könnte, und das wird ein Schritt auf dem Weg zu ihr sein.

Der praktische Grund, warum die Mehrheit regieren und für längere Zeit an der Regierung bleiben darf, wenn das Volk die Macht hat, ist schließlich nicht, daß die Mehrheit das Recht auf ihrer Seite hat, auch nicht, daß es der Minderheit gegenüber fair ist, sondern ganz einfach, daß sie physisch am stärksten ist. Aber eine Regierung, in der die Mehrheit in jedem Fall den Ausschlag gibt, kann nicht auf [9] Gerechtigkeit gegründet sein, nicht einmal soweit Menschen die Gerechtigkeit verstehen. Könnte es nicht eine Regierung geben, in der nicht die Mehrheit über Falsch und Richtig befindet, sondern das Gewissen? – in der die Mehrheit nur solche Fragen entscheidet, für die das Gebot der Nützlichkeit gilt? Muß der Bürger auch nur einen Augenblick, auch nur ein wenig, sein Gewissen dem Gesetzgeber überlassen? Wozu hat denn dann jeder Mensch ein Gewissen? Ich finde, wir sollten erst Menschen sein, und danach Untertanen. Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit. Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist, jederzeit zu tun, was mir recht erscheint. Man sagt, daß vereinte Masse kein Gewissen hat – und das ist wahr genug; gewissenhafte Menschen aber verbinden sich zu einer Vereinigung mit Gewissen. Das Gesetz hat die Menschen nicht um ein Jota gerechter gemacht; gerade durch ihren Respekt vor ihm werden auch die Wohlgesinnten jeden Tag zu Handlangern des Unrechts.

Ein allgemeines und natürliches Ergebnis dieses ungebührlichen Respektes vor dem Gesetz sieht man zum Beispiel in einer Kolonne von Soldaten: Oberst, Hauptmann, Korporal, Gemeine, Pulverjungen und alles, wie sie in bewundernswerter Ordnung über Tal und Hügel in den Krieg marschieren, wider ihren Willen, ja wider ihre gesunde Vernunft und ihr Gewissen – weshalb es ein recht anstrengender Marsch wird und beträchtliches Herzklopfen verursacht. Sie zweifeln nicht daran, daß es ein verdammenswertes Geschäft ist, mit dem sie sich da befassen; sie möchten alle friedlich sein. Aber was sind sie denn eigentlich? Sind sie überhaupt Männer, oder kleine bewegliche Verschanzungen und Waffenlager, und irgendeinem skrupellosen Menschen, der gerade an der Macht ist, zu Diensten? Geht doch einmal zu einem Kriegshafen und seht euch einen Matrosen an, eine Art Mensch, wie nur die amerikanische Regierung sie zustande bringt, ein Ding, das sie mit ihren bösen Künsten aus einem Menschen macht – es ist nur noch ein Schatten und eine schwache Erinnerung [10] von Menschentum, ein Mann, lebendig aufgebahrt und aufrecht, doch sozusagen schon unter Waffen begraben und von einem Leichenzug begleitet, obgleich es auch noch anders sein kann:

Kein Begräbnis, kein Trommelgruß,

Als wir seinen Leichnam zu den Wällen trugen.

Kein Soldat gab einen Abschiedsschuß

Über dem Grab, in das wir unsern Helden legten.2

Die Mehrzahl der Menschen dient also dem Staat mit ihren Körpern nicht als Menschen, sondern als Maschinen. Sie bilden das stehende Heer und die Miliz, die Gefängniswärter, die Konstabler, Gendarmen etc. In den meisten Fällen bleibt da kein Raum mehr für Urteil oder moralisches Gefühl; sie stehen auf derselben Stufe wie Holz und Steine; vielleicht könnte man Holzmänner herstellen, die ebenso zweckdienlich wären. Solche Wesen flößen nicht mehr Achtung ein als Strohmänner oder ein Dreckklumpen. Sie sind nicht mehr wert als Pferde oder Hunde. Und doch hält man sogar solche Menschen gewöhnlich für gute Bürger. Andere, wie die meisten Gesetzgeber, Politiker, Advokaten, Pfarrer und Würdenträger dienen dem Staat vor allem mit ihren Köpfen; doch weil sie selten moralische Unterschiede machen, könnten sie – ohne es zu wollen – ebensowohl dem Teufel dienen wie Gott. Nur wenige Helden, Patrioten, Märtyrer, wirkliche Reformer und Männer, dienen dem Staat auch mit dem Gewissen; sie werden gewöhnlich von ihm als Feinde behandelt. Ein Weiser wird immer nur als Mensch dienlich sein wollen, er wird sich nicht dazu hergeben, ›Lehm‹ zu sein, um ›ein Loch zu stopfen, um den Wind abzuhalten‹, sondern er wird diese Aufgabe dem Staub überlassen:

Zu hoch geboren bin ich, um jemands Eigentum,

Der Zweite nur zu sein am Steuer,

Nützlicher Dienstmann und Werkzeug

Für irgendeine Macht auf dieser Erde.

[11] Wer sich ganz seinen Mitmenschen hingibt, erscheint ihnen nutzlos und eigensüchtig; wer sich aber nur zum Teil gibt, wird zum Wohltäter und Menschenfreund erklärt.

Wie also soll man sich heutzutage zu dieser amerikanischen Regierung verhalten? Ich antworte, daß man sich nicht ohne Schande mit ihr einlassen kann. Nicht für einen Augenblick kann ich eine politische Organisation als meine Regierung anerkennen, die zugleich auch die Regierung von Sklaven ist.

Alle Menschen bekennen sich zum Recht auf Revolution; das heißt zu dem Recht, der Regierung die Gefolgschaft zu verweigern und ihr zu widerstehen, wenn ihre Tyrannei oder ihre Untüchtigkeit zu groß und unerträglich wird. Aber fast alle sagen, das sei jetzt nicht der Fall. Wohl aber glauben sie, während der Revolution von ’75 sei es der Fall gewesen. Nun, wenn mir jetzt jemand damit käme, unsere Regierung sei schlecht, weil sie gewisse ausländische Waren besteuerte, die in ihre Häfen gebracht worden sind, dann würde ich wahrscheinlich kein großes Lamento darüber anstimmen, denn ich kann ohne diese Waren auskommen. Alle Maschinen haben eine gewisse Trägheit, und das würde wahrscheinlich genügen, um das Übel aufzuheben. Auf jeden Fall ist es ein großer Fehler, deshalb solchen Lärm zu schlagen. Wenn aber die Trägheit einen eigenen Apparat erhält, wenn Unterdrückung und Raub organisiert werden, dann sage ich: wir wollen solch einen Apparat nun nicht länger dulden. Mit anderen Worten, wenn ein Sechstel der Bevölkerung einer Nation, die sich selbst zu einer Zuflucht der Freiheit gemacht hat, versklavt ist, und wenn ein ganzes Land widerrechtlich überrannt, von einer fremden Armee erobert und dem Kriegsrecht unterworfen wird, dann, meine ich, ist es nicht zu früh für ehrliche Leute, aufzustehen und zu rebellieren. Und es wird nur noch dringender zur Pflicht durch die Tatsache, daß es nicht unser Land ist, welches man derart überrannt hat, und daß es unsere Armee ist, die dort einfällt.

Paley, eine bekannte Autorität für Fragen der Moral, führt in seinem Kapitel über die ›Pflicht zur [12] Unterwerfung unter die Staatsgewalt‹ alle Bürgerpflicht auf die Zweckmäßigkeit zurück; dann fährt er mit den Worten fort: »Solange das Interesse des Ganzen es erfordert, das heißt, solange wie man sich der bestehenden Regierung nicht widersetzen oder sie ohne allgemeine Unbequemlichkeit verändern kann, ist es Gottes Wille, daß man der bestehenden Regierung gehorcht – und nicht länger.« – »Läßt man dieses Prinzip zu, dann kann man jeden einzelnen Fall von Widerstand zurückführen auf eine Aufrechnung der Größe der Gefahr und des Ärgernisses auf der einen, gegenüber der Erfolgschance und den Kosten auf der anderen Seite.« Er sagt, darüber solle jedermann selbst urteilen. Aber Paley hat anscheinend niemals die Fälle bedacht, auf die man das Gesetz der Zweckmäßigkeit nicht anwenden kann, die Fälle, in denen ein Volk, ebenso wie der Einzelmensch, Gerechtigkeit üben muß, koste es, was es wolle. Wenn ich einem Ertrinkenden das Holzbrett entrissen habe, mit dem er sich über Wasser gehalten hat, dann muß ich es ihm zurückgeben, und wenn ich dabei selbst ertrinke. Paley zufolge wäre das unbequem. Wer aber in solcher Lage sein Leben rettet, der wird es verlieren. Dieses Volk muß aufhören, Sklaven zu halten und in Mexiko Krieg zu führen, und wenn es seine Existenz als Volk kosten würde. In der Praxis verfahren die Nationen nach Paleys Rezept; glaubt aber jemand, daß Massachusetts in der gegenwärtigen Krise das Richtige tut?

Ein miserables Land,

Eine rechte Talmi-Schlampe

Läßt sich die Schleppe tragen und

Die Seele schleift im Schmutz.

Die Gegner einer Reform in Massachusetts sind in Wirklichkeit nicht hunderttausend Politiker im Süden, sondern hunderttausend Krämer und Bauern bei uns, die sich mehr für Handel und Landwirtschaft interessieren als für die Menschlichkeit und die nicht bereit sind, den Sklaven und dem Lande Mexiko gerecht zu werden, koste es, was es [13] wolle. Ich kämpfe nicht gegen Feinde an, die weit weg sind, sondern gegen die Feinde hier, in der Nähe, die mit denen im Süden Zusammenarbeiten, den Fürsprechern jener, ohne die sie machtlos wären. Wir sagen gewöhnlich, die Masse der Menschen sei unreif; aber dieser Zustand bessert sich nur deshalb so langsam, weil die ›Wenigen‹ nicht wesentlich besser oder klüger sind als die ›Vielen‹. Es ist nicht so wichtig, daß die große Menge ebenso gut ist wie ihr, sondern daß es überhaupt irgendwo vollkommene Güte gibt; denn das wird die Masse mitreißen. Es gibt Tausende, die im Prinzip gegen Krieg und Sklaverei sind und die doch praktisch nichts unternehmen, um sie zu beseitigen; die sich auf den Spuren Washingtons oder Franklins glauben und zugleich ruhig sitzen bleiben, die Hände in den Taschen, sagen, sie wüßten nicht, was zu tun sei, und eben auch nichts tun; Menschen, für die die Frage der Freiheit hinter der des Freihandels zurücktritt und die nach dem Essen in aller Ruhe die Tagespreise zugleich mit den letzten Nachrichten aus Mexiko lesen und vielleicht über dieser Lektüre einschlafen. Wie hoch steht heute wohl der Tagespreis für einen Ehrenmann oder Patrioten? Sie zögern, sie bedauern, und manchmal unterschreiben sie auch Bittschriften, aber sie tun nichts ernsthaft und wirkungsvoll. Sie warten – wohlsituiert –, daß andere den Übelstand abstellen, damit sie nicht mehr daran Anstoß nehmen müssen. Höchstens geben sie ihre Stimme zur Wahl, das kostet nicht viel, und der Gerechtigkeit geben sie ein schwaches Kopfnicken und die besten Wünsche mit auf den Weg, während sie an ihnen vorübergeht. Es gibt neunhundertneunundneunzig Gönner der Tugend auf einen tugendhaften Mann. Aber es ist besser, mit dem wirklichen Besitzer einer Sache zu verhandeln, als mit ihrem zeitweiligen Hüter.

Alle Wahlen sind eine Art Spiel, wie Schach oder Puff, nur mit einem winzigen moralischen Beigeschmack, ein Spiel um Recht und Unrecht, um moralische Probleme; natürlich setzt man auch Wetten darauf. Doch für den Wähler steht nichts auf dem Spiel. Ich wähle so, wie es mir eben recht erscheint; ich versteife mich nicht darauf, daß die Billigkeit [14] Rechte stimmen,nichts dafür tun.Sie