Ein junger Radmachermeister zu Bremen, mit Namen Rumpf, hatte dort in der Pelzerstraße 1825 ein Wohnhaus gekauft. An Warnungen von seiten seiner Freunde, daß er den Kauf unterlassen möge, hatte es nicht gefehlt. Man sagte, das Haus wäre ein Unglückshaus, worin die Männer stürben. Vor allem aber solle er sich vor der bisherigen Besitzerin in acht nehmen und sie nicht im Hause wohnen lassen. Denn wenn auch keiner der Madame Gottfried etwas Böses nachzusagen wußte, so herrschte doch bei vielen, die sie näher kannten, eine gewisse Furcht vor ihr, die allerdings einigen Grund hatte.
In dem Hause, das die verwitwete Madame Gottfried bis jetzt besessen hatte, waren in den letzten Jahren nicht wenige Todesfälle vorgekommen. Sie hatte ihren ersten Mann, dann ihre Mutter, ihren Vater, ihre Kinder, ihren Bruder, den zweiten Mann, nach einem kurzen Krankenlager, plötzlich verloren. Ja, wenn man es zusammenzählte, so hatte die unglückliche Witwe im Verlaufe von vierzehn Jahren nicht weniger als dreizehn Särge bei dem Tischler Bolte, der ihr gegenüber wohnte, bestellen müssen, alle für liebe, teure Angehörige; und so auffällig war das ungewöhnliche Unglück dieser Frau geworden, daß ein hochberühmter Kanzelredner in Bremen auf der Kanzel für die »christlich starke Dulderin« öffentliche Fürbitte hielt.
Gegen die anständige, allgemein geliebte und wohltätige Frau selbst konnte kein Verdacht aufkommen. Ihr Ruf war, wenn nicht ganz unbescholten, doch durch einen exemplarischen Wandel gegen alle Verdächtigungen wirklicher Verbrechen gekräftigt. Wenn einige meinten, daß sie schon bei Lebzeiten des ersten Mannes mit dem zweiten in vertrauterem Umgange gelebt hätte, als erlaubt ist, so wußten sie zugleich, daß ihr jener durch sein wüstes Leben Anlaß dazu gegeben hätte; ja, daß er, in Erkenntnis seiner eigenen Schuld dem reinen Weibe gegenüber, diesen Umgang gewissermaßen als Ersatz für seine Untugenden zugelassen und nicht ungern gesehen hätte; vielleicht habe er sogar auf dem Totenbette gewünscht, daß der Hausfreund seine Witwe heirate und gutmache, was der Ehegatte ihr unrecht tat. Und wenn sie da gefehlt, so hatte sie durch ihre unerhörten Leiden gebüßt. Durch ihre religiöse Gesinnung, durch ihre christliche Wohltätigkeit, wie sie die Lager der Kranken besuchte, sie liebevoll pflegte und Spenden über ihre Kräfte austeilte, sowie durch ihr bescheidenes Benehmen gegen Höhere und ihre Leutseligkeit gegen Untergebene war sie überall beliebt und gern gesehen. Viele wußten überdem von der Schönheit und Lieblichkeit der ehemaligen Jungfrau, die das Ziel der Wünsche achtbarer Jünglinge gewesen war; und auch jetzt, im angehenden Matronenalter, hatte sie eine Anmut sich zu bewahren gewußt, daß man sie überall gerne sah.
Madame Gottfried, von Geburt mehr dem mittleren Bürgerstande angehörend, zählte durch ihre Heiraten, ihre anscheinende Bildung und ihren Umgang schon zu den Höheren. Im hannoverschen Nachbarlande verkehrte sie freundschaftlich mit angesehenen Familien und wurde, ihres Charakters wegen, nicht allein gern gesehen, sondern man fand sich durch den Besuch der liebenswürdigen Frau geschmeichelt, und sie konnte nicht genug den wiederholten Einladungen nachkommen.
Dennoch stand ihr furchtbares Schicksal als nicht wegzuleugnende Tatsache da: die in ihrer Nähe sich immer wiederholenden Todesfälle. Einige hielten sie für schwere, unergründliche göttliche Prüfungen; andere flüsterten sich zu von einem pestartig giftigen Atem, der der eigentümlichen Frau als ein krankhaftes Übel anhafte.
Rumpf aber war ein entschlossener Mann, ein entschiedener Feind jedes Aberglaubens, wofür er jene Meinungen und Warnungen hielt. Er kaufte nicht allein das Haus, sondern behielt auch Madame Gottfried als Mieterin in ihren bisher bewohnten Zimmern. Außerdem ließ er ihr den kontraklich ausbedungenen Mietsertrag zweier Nebenhäuser.
Zu Anfang schien er allen Grund zu haben, mit seinem Entschlüsse zufrieden zu sein. Man konnte sich kein angenehmeres Verhältnis zwischen der jungen Familie des Käufers und der früheren Besitzerin denken. Die freundliche Witwe, die für nichts in der Welt zu sorgen hatte, lebte nur für die Rumpfsche Familie. Aber kaum acht Wochen, nachdem sie eingezogen war, starb die Gattin im Wochenbette. Sie hatte die Entbindung glücklich überstanden, als ein heftiges Erbrechen und Durchfall sich einstellten, die den Tod zur Folge hatten.
Niemand konnte sich trostloser und liebevoller zeigen als Madame Gottfried. Sie war nicht vom Krankenlager der Leidenden gewichen. Die Sterbende sah in der Todesnähe nur darin einen Trost, daß sie eine solche Pflegerin für ihr verwaistes Kind, für ihren armen Mann zurückließ. Sie ließ ihr das teure Vermächtnis, für beide zu sorgen, und die Gottfried erfüllte redlich den Willen der Gestorbenen. Sie pflegte das Kind, sie besorgte die Wirtschaft, die Küche; sie heiterte durch Unterhaltung und religiöse Zusprüche den tiefbetrübten Mann auf. ›Tante Gottfried‹ hieß sie in der Familie.
Aber das Unglück, das die Freunde prophezeiten, war doch im Anmarsche. Bald darauf erkrankte, ebenfalls an Durchfall und Erbrechen, die für den Säugling in Dienst genommene Amme, dergleichen die Hausmagd. Die Amme erklärte, in dem Hause könne sie nicht gesund werden, und ging in ihre Heimat zurück.
Nun erbrachen sich Gesellen und Lehrlinge. Rumpf selbst fing wenige Monate nach dem Tode seiner Frau an demselben Übel zu leiden an. Was für Speisen er zu sich nahm, sie erregten ihm das fürchterlichste Erbrechen.
Eine niederdrückende Schwäche hatte sich seines Körpers bemeistert. Der kräftige, rüstige Mann war mutlos und träge geworden. Er scheute die geringste körperliche und geistige Anstrengung. Zehen und Fingerspitzen hatten das Gefühl verloren, und ihn quälte die entsetzliche Angst, daß er wahnsinnig werden könnte. Er glaubte weder an eine Vergiftung noch an unerklärliche Einflüsse; er wollte einen natürlichen Grund auffinden, und in diesem unermüdlichen Bestreben gewann seine schon geisterhafte Erscheinung selbst etwas Gespensterhaftes.
Gleich als suche er einen verborgenen Schatz, von dessen Dasein er dunkle Kunde hatte, durchkreiste er sein Haus vom Keller bis zum höchsten Boden. Er wollte in der Örtlichkeit den geheimen Grund entdecken, warum er krank sei und so viele vor ihm krank geworden waren. Er dachte an eine verderbliche Zugluft und schloß und öffnete alle Türen, stopfte alle Ritzen. Vielleicht dunstete der Fußboden, irgendein vermodernder Stoff brütete dort Gift. Er roch, öffnete und lüftete die Dielen; alles vergebens.
Fast erlag er schon dieser doppelten Pein und kämpfte einen neuen Kampf, ob es wirklich geheimnisvolle Mächte gäbe, die die Sinne der Menschen verrückten und ihren Körper heimlich verwüsteten. Da erschien die ›Tante Gottfried‹ als einziger Trost des armen Leidenden. Sie pflegte ihn mit mehr als mütterlicher Sorgfalt. Jeden Morgen war sie die erste, sich zu erkundigen, wie er geruht hätte, und wenn sie hörte, daß er wieder eine schmerzenvolle Nacht durchwacht habe, wünschte sie ihm nur etwas von dem sanften Schlafe, womit Gott sie erquicke.
Dieses Leiden dauerte jahrelang, ohne daß in Rumpfs Seele der geringste Verdacht aufstieg. Später entsann er sich wohl, daß, etwa zwischen Ostern und Pfingsten 1827, die Magd ihm Salat gebracht, auf dessen Blättern er etwas Weißes, Zuckerähnliches bemerkt habe. Da er süßen Salat nicht liebte, schalt er und ließ ihn wegwerfen. Später hatte er auch in einer Tasse Bouillon einen dicken weißen Bodensatz bemerkt; nach der Bouillon hatte er an heftiger Übelkeit gelitten. Erst im März 1828 sollte die Entdeckung erfolgen.
Er hatte sich für seine Haushaltung ein Schwein schlachten lassen. Von einem ausgesuchten Stücke, das ihm der Schlächter brachte, genoß er einen Teil und verschloß das übrige in einem Schrank. Das Fleisch war ihm, wider Gewohnheit, sehr wohl bekommen; also wollte er am folgenden Tage den Rest verzehren. Als er den Schrank öffnete, bemerkte er, daß der Speck nicht mehr die gestrige Lage hatte. Er hatte ihn, die Schwarte nach unten, gelegt; jetzt findet er die Schwarte oben. Als er den Speck umkehrt, entdeckt er zu seinem Erstaunen darauf wieder solche weißlichen Körner, wie früher auf dem Salat und in der Bouillon. Tante Gottfried, die herbeigerufen wird, erklärt es für Fett. Aber jetzt steigt eine Ahnung in dem Unglücklichen auf, er schweigt und ruft in der Stille seinen Hausarzt. Die weiße Substanz wurde abgestreift, durch einen geschickten Chemiker untersucht, und es findet sich darin eine nicht unbedeutende Beimischung Arsenik.
Dies geschah am 5. März, schon am 6. wurde dem Kriminalgericht Anzeige gemacht, und nachdem es eine summarische Vernehmung der Zeugen veranlaßte, begab sich eine Kommission in das Rumpfsche Haus. Die Gottfried wurde, angeblich krank, im Bette gefunden. Nach einem Verhör, das sie noch verdächtiger machte, wurde sie beim Eintritt des Abenddunkels, zur vorläufigen Verhaftnahme, ins Stadthaus abgeführt.
Noch am selben Abende verbreitete sich das Gerücht davon. Eine in allgemeiner Achtung stehende Frau hatte ihre Hand in Gift getaucht, um das Leben eines Familienvaters zu verderben, mit dem sie in den freundschaftlichsten Beziehungen stand. Staunen und Schrecken bemächtigte sich aller Bewohner einer friedlichen, wegen ihres Religionseifers berühmten Stadt, in deren Mauern so selten ein Kapitalverbrechen vorfällt. Aus dem Schrecken aber wurde Entsetzen, als man mit dem einen ausgesprochenen Falle die bisherigen dunklen Todesfälle in dem Unglückshaus in Verbindung brachte. Ahnungen stiegen auf, die man auszusprechen zauderte, und doch sollte die Wirklichkeit noch diese Ahnungen an Gräßlichkeit übertreffen und ein Ungeheuer ans Licht gezogen werden, das an Scheinheiligkeit, Mordlust und Furchtbarkeit alle bisher bekannten Verbrecherinnen weit hinter sich ließ.
Im Stadthaus versuchte die Gottfried anfänglich zu leugnen; aber ihr gebrochenes Wesen verriet die Verbrecherin, deren Kraft und Mut dahin war mit dem Scheine, den sie durch so lange Jahre aufrechterhalten konnte. Mit Erstaunen und Entsetzen zogen die Wärterfrauen der wohlgebildeten Madame Gottfried, als sie sie, dem Reglement zufolge, entkleiden mußten, dreizehn Korsetts, eins über dem ändern, aus. Ihre lieblichen roten Wangen waren Schminke, und nachdem alle Toilettenkünste entfernt, stand an der Stelle der blühenden, wohlbeleibten Dame vor den erschreckten Weibern ein blasses, angstvoll verzerrtes Gerippe. Aber mit dem äußeren Scheinbild sank zu gleicher Zeit das moralische Trugbild zusammen, das sie, seit zwanzig Jahren und mehr, vor den Menschen zur Schau getragen hatte. Sie bekannte, aber nicht mit einem Male, es war ein fortgesetztes zweijähriges Bekennen, und auch dies Bekennen war ein fortgesetztes neues Lügengewebe; nicht mehr jene großartige Lüge, die sie vorm Untergang hätte retten können, sondern ein kleinliches Ableugnen, um, nachdem das Gräßlichste heraus war, noch hier und dort einen Anhalt, eine kleine Entschuldigung zu gewinnen.
Das ungeheure Leichentuch, unter dem eine noch jetzt vielleicht nicht ganz bestimmt ermittelte Zahl von Opfern ruht, konnte weder sie selbst mit einem Male aufdecken, noch wagten es ihre Richter, deren Pflichteifer durch den Schauder von der Größe des verbrecherischen Tatbestandes gern selbst dämonischen Einflüssen so Unerhörtes beigemessen hätte. Die Gottfried hatte nach den ersten Verhören schon genug bekannt, um das Leben zehnfach verwirkt zu haben; die Untersuchung wurde deshalb nicht mit der Eile geführt, die bei anderen Verbrechen nötig ist, um Spuren, die verlorengehen könnten, zu verfolgen. Man durfte vielmehr, da der rächenden Gerechtigkeit auf jeden Fall ihr Recht ungeschmälert blieb, den wissenschaftlichen und menschlichen Rücksichten nachgehen, um das furchtbare Rätsel eines so entarteten menschlichen Wesens gründlich zu studieren. Rechtsgelehrte, Theologen, Mediziner experimentierten an dieser Rarität, und eben um dieser Eigenschaft willen hegte man das moralische Scheusal und pflegte es mit einer rücksichtsvollen Menschlichkeit, die weit über das Verhältnis zwischen Richter und Verbrecher früherer Jahrhunderte hinausging.
In der Pelzerstraße in Bremen lebte die Familie eines ehrbaren Frauenschneiders namens Johann Timm, die sich den Ruf der Arbeitsamkeit und treuen Rechtschaffenheit in der ganzen Nachbarschaft erworben hatte. Vater Timm war so fleißig in seinem Berufe, daß sie von ihm sagten, er halte beim Nähen den Atem an, um mehr Nadelstiche in einer Minute zu machen. Zu eigentlichem Wohlstande brachte er es trotzdem nie; aber er konnte es doch auf seinen guten Ruf wagen, das Haus, in dem er später starb, anzukaufen; und so viel blieb und mußte bei seinem Verdienst übrigbleiben, daß die Armen jede Woche ihren Teil erhielten.
Am 6. März 1785 gebar Timms junge Frau Zwillinge, einen Sohn und eine Tochter. Bei diesen Kindern blieb es. Der Sohn, Johann Christoph getauft, machte später den Eltern wenig Freude. Auf der Wanderschaft geriet er unter liederliche Bekanntschaften, wurde verführt, krank, kostete den Eltern, was ihnen als schwere Sünde galt, viel Geld, ließ sich endlich als Husar unter Napoleon anwerben, bis er, nach langen Jahren, wieder als Krüppel in seiner Vaterstadt erscheint.
Das Mädchen, Gesche Margaretha, wurde bald die Freude und der Augapfel beider Eltern. Schwächlich war sie, doch nicht kränklich. Anmutig und leicht in ihrer Bewegung, lieblich in ihrem Benehmen, mit einem freundlichen, hübschen, offenen Gesicht, war das Kind überall gern gesehen und wurde von den Erwachsenen geliebkost und anderen als Muster gezeigt.
Schon im frühen Alter von drei Jahren mußte die kleine Gesche die Schule besuchen, damit sie an ein äußeres gesetzmäßiges Wesen gewöhnt werde. Ihre Schulgespielinnen hatten Taschengeld von den Eltern und benutzten es zu Näschereien. Margaretha Gesche hatte nur leere Taschen. Ohne die größte Not gaben ihre kargen Eltern keinen Groten, etwas mehr als ein reiner Kreuzer, aus. Sie half sich selbst. Wenn sie von der Mutter ausgeschickt wurde, um Weißbrot zu holen, brachte sie unter den größeren einige kleinere und erübrigte dadurch manchen Groten zu jenem Zwecke. Gesche war damals sieben Jahre alt.
Der Betrug wurde nicht entdeckt. Das war eine Aufmunterung zur Wiederholung. Glücklich darüber, daß es nie herauskam, ging sie zu eigentlichen Diebereien über. Sie nahm aus der unbewachten Tasche der Mutter einen, zwei bis zwölf Groten. Der Verlust blieb zwar nicht unbemerkt; welche Mutter sollte aber einen Verdacht werfen auf ihr liebliches, offenes Kind, auf den »Engel von Tochter«, wie beide Eltern ihre Margaretha nannten. Das verschlossene, menschenscheue Wesen ihres Bruders lenkte ihn weit eher auf sich – und die Schwester schwieg zur Verdächtigung ihres Bruders!
Fünf Jahre setzte sie diese Diebereien fort, ohne daß ein Verdacht auf sie fiel, fünf Jahre heuchelte sie bei diesen kleinen Sünden ein unschuldiges Wesen, das nach wie vor belobt, gestreichelt und belohnt wurde. Sie vergriff sich, elf Jahre alt, an fremdem Eigentum und entwendete einer alten Mamsell, die bei Timms zur Miete wohnte, eine bedeutendere Summe als jemals vorher, etwa zum Betrage von einem Taler. Der Diebstahl wurde entdeckt, die Täterin nicht. Das Haus geriet in, Aufruhr. Alles wurde vergebens durchsucht, der Vater schloß schon auf seinen Sohn, da rief die Mutter: »sWarte nur, Vater, ich weiß schon ein Mittel und will gleich hinter die Wahrheit kommen.« Nach einer halben Stunde kam sie zurück und sprach mit zuversichtlicher Miene: »sIch habe den Dieb gesehen. Einer klugen Frau in der Neustadt habe ich’s geklagt. Die holte einen Spiegel, und wie ich hineinsehe, steht der Dieb und guckt über meine Schulter.« Die Mutter hatte ihre Tochter dabei scharf ins Auge gefaßt, und wie ein Schwert drangen der die Worte ins Herz. ›Das ist dein Gesicht gewesen‹, dachte sie und hat nie mehr im elterlichen Hause etwas zu entwenden gewagt. Mit einer kleinen Erschütterung ging die Krisis vorüber; aber es war nicht herausgekommen, sie stand, in der Verstellungskunst früh geübt, vor der Welt so rein da als vorher und war nach wie vor der Engel ihrer Eltern.
In ihrem zwölften Jahre hatte Gesche, nach Ansicht ihrer Eltern, genug gelernt. Sie wurde aus der Schule genommen und mußte im Hause, statt der abgeschafften Dienstmagd, alle nötigen Arbeiten verrichten, zugleich aber auch für den Vater nähen und an Wochentagen außer Hause arbeiten; das Erworbene wurde ihr in der Sparbüchse aufgehoben. Der nächste Antrieb nach fremdem Gute war also fortgefallen. Dagegen erhob sie ihr Fleiß bei der Arbeit in den Augen des Vaters zu einem Ideal von Vortrefflichkeit, und ihre Fortschritte im Rechnen machten sie dem Vater bei seinen Kassenabschlüssen fast unentbehrlich.
Die Tochter schien vollkommen in die Begriffe ihrer Eltern von Ordnungsliebe und Ehrbarkeit einzugehen. Sie zeigte sich genügsam und erfreut über die kleinsten Freuden, war über das Kuchenbrot, das ihr als Geburtstagsgeschenk gereicht wurde, entzückt und betete alle Gebote, mit buchstäblicher Treue, die die Mutter sie bei allen Verrichtungen des Lebens gelehrt hatte. Sie trug die Almosen für Vater und Mutter aus, und schon früh war es ihr eingeprägt, daß solche Taten der Wohltätigkeit hohen Wert hätten und die Danksagung der Armen zu Verheißungen göttlicher Vergeltung würden; ein Wahn, der später von furchtbarem Einfluß auf ihr Leben wurde. Aber sie gehörte auch zu den weichen, reizbaren Seelen, die jedem Gefühl und aufregendem Einfluß offen sind und leicht zu Tränen gerührt werden. Des Vaters frommes Morgenlied, die stille Ordnung des Hauswesens erfüllten oft das Herz des Mädchens mit lebhafter Rührung; auch religiösen Eindrücken blieb sie nicht verschlossen.
Gesche war ein schönes Mädchen geworden. Von den Müttern wurde sie ihren Töchtern als Muster vorgestellt, von diesen selbst darum nicht beneidet, sondern innig geliebt. Die Nachbarn und Bekannten sagten, daß der alte Timm sich einen Schatz aufziehe.
Gern hätte Margaretha Gesche musikalischen Unterricht gehabt und Klavierspielen gelernt, das war aber von den Eltern zuviel gefordert, die nur für Notwendiges und Nützliches Geld ausgaben. Auch schien es unpassend für ein Bürgermädchen, das als Magd im Hause arbeitete. Und dennoch entschlossen sich die Eltern, ihr französischen Unterricht geben zu lassen; weil sie meinten, ein so außerordentliches Kind müsse bei seinen seltenen Geistesgaben wenigstens eine besondere Kenntnis vor anderen Töchtern gleichen Standes voraushaben. Aber schon hier betrog sie. Der wissenschaftliche Unterricht war viel zu ernsthaft für ihr leichtlebiges Gemüt. Die aufgegebenen Exerzitien langweilten sie, und sie ließ sich dieselben von einem befreundeten Tischlergesellen, der vollkommen französisch sprach, aufschreiben, korrigierte aber sorgsam einige Fehler hinein, um den Betrug nicht zu auffällig zu machen. Sie erntete für ihre vortrefflichen französischen Aufsätze das größte Lob, das sie in Bescheidenheit hinnahm und doch nicht französisch lernte.
Bei einer sogenannten Korporals-Mahlzeit – einem jährlichen Vereinigungsschmause der nach altertümlicher Weise in eine Miliz eingeteilten Bürger – trat die Gesche, damals sechzehn Jahre alt, zum ersten Male in die Welt. Jubel, Tanz und Spiel begleitete mehrere Tage lang diese Feier. Sie zog aller Augen auf sich und nach sich. Schon in diesem sechzehnten Jahre kamen Heiratsanträge. Drei wurden ohne weiteres von Vater und Tochter zugleich abgelehnt; ein vierter, lockenderer, da der Freiwerber ein junger, wohlhabender Meister des Gewerkes war, nur auf Überredung des Vaters. Gegen Person und Vermögen des Werbers hatte der alte Timm nichts einzuwenden, wohl aber gegen das Metier, weil es sein eigenes war. Da Gesches Bruder dereinst in Bremen Meister werden sollte, fürchtete der fern in die Zukunft rechnende Alte einen Brotneid zwischen den Geschwistern. Gesche hatte ihn nicht gerade geliebt, aber es durchzuckte sie mit Eiseskälte, als sie den abgewiesenen Werber an der Hand einer anderen jungen Braut dahinschreiten sah.
Eines Abends war Gesina, wie sich das junge Mädchen jetzt nennen ließ, im Theater in Begleitung ihrer Freundin Marie Heckendorf, die in ihrem Leben eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Es war das erste Mal, daß sie das Theater besuchte, und dieser Besuch sollte für ihr Leben von großem Einfluß werden; aber die Gottfried erinnerte sich später, trotz, ihres vortrefflichen Gedächtnisses, weder des Namens noch des Inhalts des Stückes und wußte nichts davon, als daß eine sehr schöne Person, Elise Bürger, darin mitgespielt habe. In die Loge des zweiten Ranges, wo sie saß, drängte sich ein dicker vornehmer Herr an Gesina, der sie mit Artigkeiten überschüttete und auch nachher, obwohl umsonst, dem schönen Mädchen nachstellte. In der Person eines Nachbarn, des jungen Miltenberg, erschien aber zugleich ein Beschützer, der sich während der Aufführung zwischen den galanten Herrn und das hübsche Mädchen drängte und dann aus nachbarlicher Pflicht Gesinen aus dem Theater bis in ihr Haus begleitete.
Vom Augenblick dieses ritterlichen Dienstes an entspann sich zwischen beiden eine stumme Beobachtung und Aufmerksamkeit; Miltenberg ging immer vor des alten Timm Hause vorüber, wenn Gesina mit dem Besen davor kehrte, und unterließ nie zu sagen: »So fleißig?« Gesina dagegen fand, daß das Wasser im Miltenbergschen Brunnen das beste in der Straße sei, und holte es daher für die Wirtschaft von dort, was nicht auffällig war, da Miltenbergs Haus dem ihrer Eltern schräg gegenüber lag. Auch kaufte sie im Gürtlerladen, wenn der junge Miltenberg verkaufte, Kleinigkeiten, und Miltenberg geleitete sie hinaus. Liebe war auf ihrer Seite nicht im Spiel, aber Eitelkeit und für ihre Lage eine glänzende Aussicht.
Der junge Miltenberg war kaum berufen, ein Beschirmer der Unschuld und Sittlichkeit zu sein. Der verzärtelte, einzige Sohn eines wohlhabenden Vaters, hatte schon vor seiner ersten Verheiratung ein wüstes Leben geführt. Eine ältere Buhlerin hatte ihn in ihre Netze zu locken gewußt und, nachdem sie Madame Miltenberg war, keinen Grund gesehen, noch länger die Larve des Anstandes vorm Gesicht zu behalten. Wollüstig, dem Trunk ergeben, jähzornig, widerwärtig in jeder Beziehung, hatte sie dem jüngeren und schwächlichen Gatten das Leben unerträglich gemacht und seine Kräfte ausgesogen. Von einem gewaltigen Körperbau, hatte sie ihn nicht selten im trunkenen Zustande untergekriegt und mißhandelt, ja diese Familienszenen nicht in der Verschwiegenheit der vier Wände abgetan, sondern vor Zeugen, ja auf der Straße wiederholt.
Der Tod dieser Frau hatte nun zwar Miltenberg befreit, aber mit seiner Gesundheit schien auch seine Ehre, sein moralisches Wesen zerstört. Sein Vater, ein wohlhabender Mann, galt, obwohl er nur Sattlermeister war, für einen vornehmen Herrn. Er besaß das größte Haus in der Straße, das mit sieben kleinen Nebengebäuden einen eigenen Hof, »Miltenbergs Hof«, bildete. Seine Zimmer waren schön möbliert, und eine Sammlung Ölgemälde, die man für wertvoll hielt, brachte ihn mit angesehenen Leuten und mit Senatoren in nahe, freundschaftliche Verbindung. Vater und Sohn gerieten oft in heftigen Streit. Endlich soll der Alte dem Jungen erklärt haben, das einzige, was ihn wieder mit ihm aussöhnen könne, sei eine anständige Heirat und die einzige anständige Heirat, die ihm gefalle, mit Timms wohlgeratener Tochter.
Der Sohn hatte seinerseits nichts dagegen einzuwenden; nur fürchtete er sich, bei seinem bekannten ausschweifenden Leben, vor dem Antrage. Dazu wurde als Mittelsperson ein Mitgifter ausersehen, der mit seiner lateinischen Gelehrsamkeit und seiner stilistischen Kunst schon oft zu Rat und Hilfe in beiden Familien gezogen worden war und auch noch später als Vermittler in manchen schwierigen Fällen auftrat.
»Fein schwarz gekleidet, damals jung und von sehr ehrbarem Ansehen«, wie sich die Gottfried, bei ihrem lebhaften Gedächtnis für alles Äußerliche, noch im Gefängnis entsann, erschien der Brautwerber beim alten Timm und brachte in zierlich-steifen Worten seinen Antrag vor. Der künftige Reichtum des einzigen Erben, das große Miltenbergsche Haus, wofür schon einmal 20000 Taler geboten wären und worauf nur 1000 hypothekarisch hafteten, das köstliche Mobiliar, die Gemäldesammlung, darunter Stücke von 300 Talern Wert, glänzten dergestalt als Lichtpunkte in der Rede, daß Vater und Mutter Timm vor Freude zitterten und auch nicht an die Möglichkeit einer abschlägigen Antwort dachten. Die Tochter wurde hereingerufen, um ihr ihr Glück zu verkünden, und die Tränen, die sie vergoß, galten als Einwilligung, an der die Eltern nicht im entferntesten zweifeln konnten.
Das glücklichste Ereignis ihres Lebens, wofür die drei es hielten, wurde nicht von jedermann so angesehen. Timms Freunde schüttelten bedenklich den Kopf und hielten es für eine große Torheit, daß er das tugendhafte, schöne Mädchen um Geldes willen mit dem leichtsinnigen Menschen kuppele. Die Mutter erwiderte: »Wenn die jungen Leute nur Brot hätten, würde alles übrige schon von selbst kommen.«
Der Haushalt bei Miltenbergs verlangte eine schnelle Änderung. Die Heirat wurde am 6. März 1806 feierlich begangen.
Miltenberg, so oft durch die Schande seiner ersten Frau vor den Leuten aufs tiefste beschämt, setzte seinen Stolz darein, die junge, schöne, zweite Frau zu einer vornehmen Dame zu machen.
Margaretha Gesche konnte nichts für diesen Mann empfinden, sie mußte im Stolz auf ihre äußerliche, glückliche Lage, in ihrer befriedigten Eitelkeit den Ersatz suchen.
Auch ihre Eltern erkannten zu spät, was ihrer Tochter in dem neuen Glücke fehlte. Auch sie bemühten sich, es sie vergessen zu machen, indem sie ihre Miltenbergin, wie sie von der Mutter genannt wurde, um den gemein klingenden Namen Gesche zu beseitigen, selbst zu lärmenden Lustbarkeiten geleiteten. So besuchten sie zu diesem Zwecke wieder die Korporals-Mahlzeiten.
Der junge Miltenberg hatte von ungefähr beim Glase Wein mit einem lebensfrohen jungen Weinreisenden namens Gottfried Freundschaft geschlossen. Gottfried war bei der Korporals-Mahlzeit der gefällige, liebenswürdige Nachbar der Madame Miltenberg; nachher beim Tanze wurde er ihr Tänzer, ihr alleiniger Tänzer während des ganzen Balls. Die Mutter flüsterte ihr warnend zu: »Ich glaube, dein Mann ist unzufrieden über dich.« Der Vater kam am andern Morgen zur Tochter und machte ihr die heftigsten Vorwürfe über ihr Betragen auf dem Tanzboden: »Du hast deinen Mann ganz vernachlässigt. Solange ich lebe, gehst du nicht wieder in eine solche Gesellschaft. Eine Frau muß nicht ihren Mann zurücksetzen, wie du gestern tatest.« Aber der Mann selbst war gestern abend ganz zufrieden gewesen; in brüderlicher Herzlichkeit, Arm in Arm mit dem Freunde und der Frau, war er nach Hause gegangen. Was konnte nur der Vater dagegen einwenden? Deshalb gingen sie schon an diesem Tage wieder auf denselben Tanzboden, dieselbe Gesellschaft fand sich zusammen, Miltenberg, der selbst nicht tanzte, führte seiner Frau den Freund als Partner zu, und das Spiel von gestern wurde fortgesetzt, nur daß Madame Miltenberg nach ihrem Bekenntnis »sich vor den Leuten geniert« und ihrem Tänzer zu verstehen gab, daß »auch er sich genieren möge«.
Von diesem Tage an richtete sich ihr Sehnen und Wünschen auf Gottfried. Ihre Sucht, vornehmer, gebildeter, besser zu erscheinen, ihr Hang zu Putz und prächtigen Kleidern, bekam neue, mächtige Triebfedern. Stundenlang lebte sie vor dem Spiegel, um zu wissen, wie Gottfried sie am schönsten finden möchte.
Miltenberg sah die nähere Bekanntschaft Gottfrieds mit seiner Frau offenbar gern und beförderte sie. Eifersucht war ihm von Natur fremd, er fühlte vielleicht, daß er ihr einen Ersatz schuldig war, mehr noch freute er sich, ungestört seinen Vergnügungen nachgehen zu können, während Gottfried seiner Frau die Zeit vertrieb. Endlich war Miltenberg ein Freund des Weins und liebte, frei zu trinken. Gottfried aber setzte so manche Flasche auf den Tisch oder brachte sie sogar unter dem Mantel mit ins Haus.
Das geschah jedoch erst später. Anfangs schien Gottfried selbst sein Glück nicht verfolgen zu wollen. Gerade diese Zurückhaltung entzündete aber immer mehr die Glut im Herzen der jungen Frau. Das heftige Verlangen ging in stillen Schmerz über, in einen Unmut, der ihr ganzes Wesen durchdrang. Ihren Angehörigen, die es merkten, log sie vor, es sei die Furcht, kinderlos zu bleiben. Auch diese Lüge, wie alle ihre bisherigen, fand nicht allein Glauben, sondern wurde auch belobt. Sie war und blieb das Schoßkind der Eltern, mit denen das frühere kindliche Verhältnis merkwürdigerweise fortdauerte, und auch der Schwiegervater, der sie um ihre treffliche Pflege der Küche überaus liebte, sah ihr ihre Wünsche ab.
Im Winter 1807 zeigte sich die junge Frau, zur unsäglichen Freude der ganzen Familie, guter Hoffnung. Man trug sie auf den Händen. Mutter Timm, abergläubische Natur durch und durch, ließ eine Kartenlegerin holen, um das künftige Schicksal der Tochter zu erfahren.
Die Mutter hatte in den Rock der Schwangeren eine wundertätige Wurzel genäht, auch ins Kopfkissen ihres Bettes Knoten geschlungen, eine Vorsicht, die sie später bei jedem Wochenbette in Anwendung brachte. So gebar die Miltenberg denn im September 1807 eine Tochter, die den Namen Adelheid erhielt.
Inzwischen hatte sich statt des noch immer zaudernden Gottfried ein anderer Tröster eingefunden, abermals ein Weinhändler, abermals ein Freund von Miltenberg. In der Biographie der Gottfried wird er mit Rücksicht auf seine noch lebende Familie mit dem Pseudonamen Kassow aufgeführt.
Kassow war verheiratet, Vater, nicht schön und mit einem starken Bauche ausgestattet. Er war wie Gottfried ein Kaufmann; er liebte Lust und Aufwand und war ein jovialer Lebemann. Miltenberg war sein Busenfreund geworden, denn auch Kassow spendete aus dem Weinlager gegenüber, dessen Aufseher er war, an den durstenden Ehemann Flasche um Flasche. Miltenberg lud ihn täglich ins Haus: Er konnte es wagen, der feinen Madame Miltenberg Geschenke mit Weinflaschen zu machen, die in der Regel ihr Mann leerte, der sie bat, sie möge Kassow nichts anderes wissen lassen, als daß sie selbst den Wein ausgetrunken habe!
Kassow arrangierte Partien über Land, wobei die ländlichen Freiheiten benutzt wurden. Sie kam solcher Aufmerksamkeit mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln entgegen. Geschenke und Briefe wurden später ein täglich angewandtes Mittel ihrerseits, sich die Freundschaft und Liebe ihrer alten und neuen Bekannten zu sichern. Sie schenkte Kassow eine Tuchnadel mit einer Haarlocke, wollte aber gern das Geschenk mit einigen bedeutungsvollen Zeilen begleiten. Noch war sie in der Kunst des Briefschreibens nicht geübt – auch später bediente sie sich der Hilfe von diesem und jenem; denn sie hatte immer unsichtbare Vertraute hinter jeder Kulisse stehen – Miltenberg war aber sehr geschickt darin, ihn bat sie, für eine Freundin einen Brief aufzusetzen, die ihrem Freunde eine Tuchnadel schenken wolle. Der Brief lautete: »Nicht die Locke sei Ursach, daß Sie sich meiner erinnern; nein, das Gefühl für Freundschaft und Tugend mehre sich täglich in Ihnen, wie ich nie aufhören werde, mich zu nennen usw.«
Und doch gelangte Kassow noch immer nicht zu dem erstrebten Genuß. Eine zweite, zwar glückliche Niederkunft, aber mit einem toten Kinde, kam störend dazwischen. Sie blickte mit Schaudern ihre Magerkeit an und fürchtete, daß dieser Mangel ihr Wohlgefallen vor den Leuten herabsetzen könnte. Die Auspolsterung eines einfachen Kleidungsstückes könne, fürchtete sie, sich leicht verschieben und entdeckt werden. Deswegen verfiel sie auf den Gedanken, sich Korsetts über Korsetts anzuziehen, was sicherer war und zugleich den Vorteil bot, daß, indem sie noch gerade eins über das andere tat, der Schein einer natürlich anwachsenden Fülle ihres Körpers gewonnen wurde. Sie kam bis zur Zahl dreizehn! So glücklich fiel diese, wie alle ihre betrügerischen Handlungen aus, daß es erst in zwanzig Jahren bei ihrer Gefangensetzung entdeckt wurde.
Das Volk in Bremen schrieb damals diesen Korsetts eine magische Kraft bei. Die Gottfried habe sich dadurch unsichtbar machen, ja fliegen können. Dennoch wurden bei der öffentlichen Versteigerung ihrer Effekten die siebzehn wohlerhaltenen Korsetts für ein Paar Groschen verkauft.
Im Herbste desselben Jahres, nach ihrer zweiten Niederkunft, blühte das Verhältnis zwischen ihr und Kassow wie vorher. Kassow hatte eine vorteilhafte Geschäftsreise nach Berlin vor; in der Stunde der Trennung, bei Punsch und Küssen, reifte die von beiden Seiten genährte Neigung zur Tat. Madame Miltenberg mußte sich, des Anstandes willen, untröstlich stellen; aber Kassow beschwichtigte ihre Tränen durch das Versprechen eines schönen und großen Geschenks, das er ihr aus Berlin mitbringen wolle.
Um diese Zeit erschien Gottfried wieder. Eine jährliche Geschäftsreise hatte ihn aus Bremen entfernt. Dieser Michael Christian Gottfried wird uns so geschildert: eine kerngesunde, kräftige Natur, zwar nicht schön, aber von keiner unangenehmen Gesichtsbildung, gewandt in seinem Benehmen, ein guter Tänzer, Reiter, Gitarrenspieler und Sänger, mit männlich kräftiger, klangreicher Stimme. Dagegen bezeichnen ihn seine nächsten Bekannten als einen gutmütigen, aber charakterlosen Menschen von verliebter Natur, obwohl als Eigenheit an ihm bemerkt wird, daß er seine Eroberungen beim weiblichen Geschlecht selten bis zum letzten Angriff ausdehnte, vielmehr vor dem Siege sich abwandte. Ihm war es mehr um ein eitles Spiel, um eine sentimentale Unterhaltung zu tun, was, wie man meinte, in einer phlegmatischen Organisation seines Körpers den Grund hatte; wie denn auch seine Witwe selbst von ihm sagte: »Selbiger Gottfried war nicht wollüstig.« Den Mangel wahrer geistiger Vorzüge verdeckte seine Jovialität, ein gewisser Grad äußerer, doch nur im geselligen Verkehr glänzender Bildung, die er seinen Reisen und seiner Belesenheit verdankte. Er besaß eine elegante Bibliothek der damaligen Klassiker von Kotzebue und Lafontaine bis zu Klopstock hinauf, auch geistliche Morgen-und Abendopfer darunter; nur vermissen wir in dem uns mitgeteilten Verzeichnisse merkwürdig genug Goethes Werke, wogegen eine Menge Gedichte und Liedersammlungen vorkommen, durch seine große Liebhaberei für Gesang und gesellige Freuden erklärt. Gottfried war in dieser Beziehung selbst Schriftsteller, indem er zwei Sammlungen Lieder mit Gesängen herausgegeben hat.
Der alte Miltenberg hatte sein Haus dem Sohne übertragen. Es wurden die Zimmer darin an einzelne Herren vermietet. Der Zufall wollte, daß Gottfried, bald nach seiner Rückkehr, ausziehen mußte, und Miltenberg nahm ihn in sein Haus auf, ja, er gab ihm die Vorderstube, die bis zu diesem Zeitpunkt seine Frau bewohnt hatte, natürlich mit ihrer vollen Einwilligung.
Gottfried hatte von Kassows Verkehr mit der Miltenberg gehört und strebte jetzt noch weniger nach ähnlichem. Ihm schmeichelte die Aufmerksamkeit der schönen jungen Frau; zudem liebte auch er, auf fremde Kosten zu zehren und zugleich ein gemütliches, häusliches Leben, ohne dafür viel auszugeben. Beides fand er bei Miltenberg; er war in den Schoß der Familie aufgenommen, verbrachte dort die Abende oft an ihrem Tische und gab die Klubs und Wirtshäuser auf. Durch seine Aufmerksamkeiten gegen die schöne Frau, indem er ihr Serenaden brachte, ihr Blumenbrett schmückte, den kleinen Garten bestellte, suchte er, es zu vergelten. Er verführte nicht, er wurde verführt.
Die junge Frau hielt es für dienlich, in Schwermut zu verfallen, sie klagte über den rohen Mann, der sie stets verlasse, und daß er, wie ihr Gemüt, auch ihre Kasse leer lasse.
Gottfried war leicht zu rühren; er schenkte ihr nicht allein Mitleid, sondern gab ihr auch dann und wann ein Darlehn zur Bestreitung ihrer angeblich nötigsten Bedürfnisse für die Haushaltung. Er sang abends vor ihrem Fenster: »Beglückt, beglückt, wer die Geliebte findet«, »Wen ich liebe, weiß nur ich«, »Süßer Traum, wie bald bist du entschwunden«, »Weine nicht, es ist vergebens«, »Das Grab ist tief und stille«. Einsame Spaziergänge folgten, ein erster Kuß an einem alten steinernen Kreuze, und das gemeinschaftliche Besitztum schien schon vollkommen angedeutet, wenn Miltenberg beim Nachhausekommen mit seinem Busenfreunde Gottfried fragte: »Was mag nun wohl unsere kleine Frau machen?«
Da kam Kassow aus Berlin zurück; brachte der Geliebten ein Geschenk von 10 Louisdor und forderte seine alten Rechte, die sie ihm nicht versagte. Ihr kam es darauf an, daß weder Gottfried von ihrer Vertraulichkeit mit Kassow noch Kassow etwas von der mit Gottfried erführe.
Kassow hatte sich bei den alten Timms einzunisten gewußt, er wurde ein Hausfreund, brachte dann und wann auch dorthin eine Flasche Wein, lieh ihnen Geld, um die Schulden ihres ausschweifenden Schwiegersohnes zu bezahlen. Wohl hob die alte Timm drohend den Finger. »Hör mal, Miltenbergin, das geht nicht mit der Freundschaft von Kassow!« Aber es war nur in freundlicher Art, in Erwartung, daß die Tochter sie beruhige, die oft über Miltenberg klagte.
Daß er arbeitsscheu war und seine Vermögenszustände verfielen, war ihnen bekannt. Auch seine Saufereien, seine Spiele und seine Liederlichkeit waren nur zu stadtbekannt; aber sie log auch, daß er sie aufs grausamste mißhandle, wenn sie nicht stets für die feinste Tafel sorge, und er lasse es ihr doch stets am nötigsten Gelde dazu fehlen. Um seiner Brutalität zu entfliehen, habe sie einmal eine ganze Nacht in einem Kutschenkasten zubringen müssen. Kurz, sie müsse namenlos leiden, aber sie sei fest entschlossen, still und gelassen alles zu dulden, und beschwor ihre Eltern, ebenfalls zu schweigen.
Im Jahre 1810 genas sie, nach einer dritten Niederkunft, so leicht als früher, von einem wohlgebildeten Knaben, der den Namen Heinrich erhielt. Man flüsterte, daß Kassow sein Vater sei.
Gesina blühte wieder und – brauchte Geld. Sie ließ unter einem Vorwande durch den Schlosser das Pult Miltenbergs öffnen, entwandte 10 Taler. Die unentdeckte Tat lockte zur Wiederholung. Ihr Mieter Th. mußte viel Geld haben. Mit einem kleinen Schlüssel versuchte sie, sein Pult zu öffnen. Zu ihrem Schrecke hielt sie einen Beutel mit 90 Talern in Händen.
1812 lieh sie von einem Bekannten eine Summe, angeblich um ihren armen Bruder in der Fremde zu unterstützen. Es war vergeudet, und als es wieder zurückgezahlt werden sollte, mußte der Mann dafür aufkommen, der ihr verzieh. Sie bog sich einen Dietrich zurecht, erbrach das Pult Gottfrieds und nahm daraus etliche 20 Taler. Gottfried geriet in Feuer und Flammen; die Miltenberg war aber am aufgebrachtesten, sie wollte nicht ruhen, bis der schändliche Dieb entdeckt wäre. Dabei ließ sie gegen einen Lehrling und eine Wärterin Verdacht fallen. Die Untersuchung, bei der sich beide Angeschuldigten heftige Vorwürfe machten, gab zu öffentlichen Auftritten Anlaß, die für die Verbrecherin nicht schmeichelhaft waren, wobei ihr Verhältnis zu Kassow zur Sprache kam.
Im Oktober 1812 hatte sie ein Kind geboren, das bald darauf starb; im Januar 1814 kam wieder eine Tochter zur Welt, deren immer mehr entwickelte Züge Gottfried als Vater zu bezeichnen schienen.
Als sich Kassow jetzt mehr und mehr zurückzog, steigerte sich ihre Neigung für Gottfried. Miltenberg, infolge seiner Ausschweifungen kränker noch als vorher, siechte dahin. Um seinen hinkenden Gang zu beschönigen, hatte man ausgesprengt, es sei ihm ein schwerer Kutschenkasten auf den Leib gefallen. Dieser Mann war das einzige Hindernis zu dem heißersehnten Glück, das ihre Phantasie im Besitze Gottfrieds erblickte.
Die Miltenberg fing an, ihren Ehemann zu hassen. Er wurde bei den Eltern aufs neue verklagt. Die Eltern sahen ihre Tochter im Geiste bereits mit zerrütteter Gesundheit am Bettelstabe. Der alte Timm fühlte sich gedrungen, alles mögliche zu tun, dem Übel abzuhelfen. Er drang darauf, daß seine Tochter eine vom Manne abgesonderte Schlafstelle einnehme, er sann, wie es zu verhindern wäre, daß Miltenberg neue Schulden mache und auf sein Haus eintragen lasse. Miltenberg, in seiner physischen und moralischen Schwäche, ließ sich alles gefallen; schon sollte deshalb mit dem alten Miltenberg eine Vereinbarung getroffen werden, als der am 2. Januar 1813 plötzlich starb.