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Jesper Juul

Das Familienhaus

Wie Große und Kleine gut miteinander auskommen

In Zusammenarbeit mit Monica Øien

Aus dem Norwegischen von Knut Krüger

Kösel

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Titel der Originalausgabe:
»Rom for familien«
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Copyright © für die deutsche Ausgabe 2012 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Weiss Werkstatt, München
Umschlagmotiv: Mauritius/cultura
ISBN 978-3-641-06100-5
V002
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Vorwort

Es ist Mitte Juni, 32 Grad im Schatten, und das ganze Dorf Poreč an der kroatischen Adriaküste steht in voller Blüte, während ich gemeinsam mit dem erfahrenen und zum Reden aufgelegten Familientherapeuten Jesper Juul auf einem Balkon sitze. Alles um uns herum ist grün und fruchtbar. Zikaden sirren, Vögel zwitschern, Eidechsen flitzen durch die Blumenbeete.

Ich bin TV-Moderatorin, Journalistin, Studienrätin, Mutter und lebe in einer Patchworkfamilie. Mein eigener Sohn Max ist 13 Jahre alt. Der 14-jährige Carl-Fredrik und der elfjährige Johan entstammen einer früheren Beziehung meines Mannes. Gemeinsam mit Jesper Juul habe ich den Entschluss gefasst, ein Familienbuch für Eltern und Stiefeltern zu schreiben. Ein Buch, in dem ich sowohl meine Neugier als auch meine Gedanken als Mutter und Teil dieser Gesellschaft zum Ausdruck bringen kann. Ein Buch, das mir hoffentlich Fragen beantwortet, die mich lange Zeit vor große Probleme gestellt haben. Denn woher sollen Eltern eigentlich wissen, was in der Kindererziehung gut oder schlecht ist? Sollen wir moralischen, religiösen oder sozialen Prinzipien folgen? Warum sollen wir Grenzen setzen? Wann sollen Kinder ins Bett gehen? Wie verhalten wir uns zu ihrer sexuellen Entwicklung, ihrer Abgrenzung von uns, ihren Komplexen und Sehnsüchten?

Jesper und ich beginnen unser Gespräch, indem wir uns das Haus oder die Wohnung einer typischen Familie vorstellen. In solch einem Haus hat jedes Zimmer ganz bestimmte Funktionen und kann verschiedene Gefühle wecken. Dort begegnen wir nicht nur unseren Mitbewohnern, sondern auch uns selbst. Oft wiederholen wir genau das, was uns am Verhalten unserer Eltern missfallen hat. Bestenfalls bemerken wir das selbst und versuchen, die eingefahrenen Verhaltensmuster zu ändern. In der Begegnung mit dem Partner und unseren Kindern sehen wir unsere Schwächen und hoffentlich auch unsere Stärken, was unser Selbstwertgefühl positiv beeinflussen kann.

Schon nach wenigen Stunden mit Jesper Juul ist mir klar, dass sich das Familienleben nicht starr nach Zimmern oder den verschiedenen Phasen im Leben eines Kindes aufteilen lässt. Denn unabhängig vom Alter des Kindes begegnen wir immer wieder denselben Herausforderungen: Herausforderungen, was Nähe und Authentizität betrifft. Das gilt auch für die intensivsten Liebesverhältnisse. Können wir dem Menschen, den wir lieben, wirklich unser Herz öffnen? Schenken wir ihm genug Beachtung und eine spürbare Aufmerksamkeit? Wie steht es um unsere Ausdrucksweise? Kommt das, was wir sagen wollen, auch wirklich an? Sollten wir uns in Diskussionen mehr auf uns selbst besinnen? Denn hier kann einiges schiefgehen. Wer ständig »Du« statt »Ich« sagt, gibt dem Partner oder den Kindern leicht das Gefühl, die Ursache eines Problems zu sein. Das lässt sich am besten verhindern, wenn wir über uns selbst, unsere eigenen Gefühle und Ansichten sprechen.

Bei Familiengesprächen kommt es weniger darauf an, was wir sagen, sondern wie und warum wir etwas sagen. Dies ist der Schlüssel zu einer gelungenen Kommunikation.

Jesper Juul spricht viel darüber, dass man das Eisen schmieden solle, solange es kalt ist. In der Praxis bedeutet das, dass wir warten sollten, bis die größten Turbulenzen vorbei sind, ehe wir anfangen, darüber zu reden. Lassen sich auf diese Weise große Missverständnisse und schmerzhafte Streitigkeiten vermeiden? Bei Familiengesprächen kommt es weniger darauf an, was wir sagen, sondern wie und warum wir etwas sagen. Dies ist der Schlüssel zu einer gelungenen Kommunikation. Jesper Juul fordert uns auf, besonnen, engagiert, authentisch und mutig zu sein. Darin besteht unsere Verantwortung innerhalb der Familie. Im Grunde ist die Sache ganz einfach: Das Glück der Familie hängt vom eigenen Glück ab, denn je glücklicher man selbst ist, desto fröhlicher und ausgeglichener werden auch die anderen Familienmitglieder sein.

Im Lauf der Jahre habe ich alle Bücher von Jesper Juul gelesen. Sie haben mich stets fasziniert, hin und wieder auch provoziert. Doch vor allem war ich immer wieder erstaunt darüber, wie sehr es Wirkung zeigte, wenn ich seine Worte beherzigte. Es ist tatsächlich möglich, alte Verhaltensmuster und negatives, unreflektiertes Verhalten zu ändern. Ich hoffe, dieses Buch trägt dazu bei, dass Sie den Menschen, die Ihnen am meisten bedeuten, ehrlich und liebevoll gegenübertreten und mit ihnen zusammenarbeiten.

Monica Øien

Ein Haus mit allen Gefühlen

Was ist heute eine Kernfamilie? Ein Haus wird oft mit der sogenannten Kernfamilie in Verbindung gebracht, in der Kinder und Eltern unter einem Dach leben. Doch angesichts der vielen Tummelplätze eines Hauses, das genug Raum für Liebe, Sex, Spiel, Nahrung und Wachstum bietet, frage ich mich, was ein Haus eigentlich zu einem Zuhause macht, in dem man lebt und atmet.

Jedes Haus hat seine eigene Persönlichkeit. Die Wertvorstellungen einer Familie spiegeln sich in den Menschen, die darin leben, in ihren Gewohnheiten, ihrem Beruf und sozialen Status. Welche Angewohnheiten und Erlebnisse begegnen uns in den verschiedenen Räumen eines Hauses? Was geschieht mit uns in der Familie, wenn wir die Schwelle des Hauses überschreiten und von Raum zu Raum gehen?

Monica Øien: »Was ist eigentlich ein Zuhause? In der Regel bringt man damit wohl die Kernfamilie in Verbindung, in der Mutter und Vater unter einem Dach leben und wo alles gut und schön ist.«

Jesper Juul: »Ich glaube, eines der größten Missverständnisse in Verbindung mit dem verständlichen Aufruhr der Frauen in der 70er-Jahren war die Tatsache, dass die häuslichen Tätigkeiten einer Frau ausschließlich unter praktischen Gesichtspunkten betrachtet wurden. Damit hat man die wichtigste Funktion außer Acht gelassen, nämlich Atmosphäre zu schaffen. Ganz gleich, ob die Hausarbeit von einer Frau oder einem Mann erledigt wird, schafft man damit doch eine bestimmte Atmosphäre, und das zählt im Haus einer Familie zu den allerwichtigsten Dingen. Darin liegt das Problem, wenn man fremde Dienstleistungen in Anspruch nimmt, eine Putzhilfe engagiert, sich das Essen liefern oder das Haus von einem Innenarchitekten einrichten lässt. Damit bekommt man vielleicht den Haushalt in den Griff, doch es fehlt die persönliche Atmosphäre. Was also macht eine bestimmte Atmosphäre aus? Es ist schon in Ordnung, es sauber und ordentlich zu haben, doch wenn die Dinge nicht mit einer gewissen Hingabe erledigt werden, sind sie nicht viel wert. Sensible Menschen können die spezifische Energie eines Hauses spüren, sobald sie zur Tür hereinkommen. Wenn beide Eltern arbeiten, ähnelt die Familie oft einer Firma, in der alles geplant und organisiert werden muss. Für Kinder ist es unglaublich wichtig, dass zwischen ihrem Zuhause einerseits sowie Kindergarten und Schule andererseits ein Unterschied besteht. Wenn die Familie nichts anderes als eine Firma ist, geht es den Kindern nicht gut, dann werden sie gestresst und unzufrieden. Setzt man dieses Muster sieben bis acht Jahre fort, stirbt auch die Beziehung unter den Erwachsenen, die sich nur noch beim Leben zuschauen. Das erste Symptom besteht darin, dass im Schlafzimmer nur noch geschlafen wird.

Was also macht eine bestimmte Atmosphäre aus? Es ist schon in Ordnung, es sauber und ordentlich zu haben, doch wenn die Dinge nicht mit einer gewissen Hingabe erledigt werden, sind sie nicht viel wert.

Statistisch betrachtet wachsen die meisten Kinder in der Kernfamilie auf, zumindest in den ersten acht bis neun Jahren ihres Lebens. Es ist richtig, dass es immer mehr alleinerziehende Eltern und Patchworkfamilien gibt. Das liegt schon daran, dass wir immer älter werden, wodurch sich die Zeitspanne einer Ehe ›bis dass der Tod uns scheidet‹ automatisch verlängert. Ein Kind durchläuft in der Regel mindestens drei Lebensphasen, womöglich verbunden mit drei verschiedenen Formen von Kindergarten oder Schule, drei verschiedenen Familien, wer weiß ... Die Voraussetzung einer Paarbeziehung besteht darin, dass sie etwas bedeutet, einen Sinn hat. Sie mag ziemlich stürmisch verlaufen – entscheidend ist, dass sie uns bereichert. Ist das nicht der Fall, kann man ebenso gut allein bleiben. Dass uns die Paarbeziehung bereichern soll, ist eine verhältnismäßig neue Prämisse und die größte Veränderung, was das Familienleben betrifft.«

»Ja, denn im Grunde wünschen wir uns doch alle, den einzig Richtigen zu finden und zusammen durch dick und dünn zu gehen. Das muss doch auch das Ideale sein.«

»Das ist richtig. Aber für diejenigen, die in den 90er-Jahren erwachsen wurden, ist es sehr üblich, mehrere längere Beziehungen zu haben, ohne Kinder zu bekommen. Man kann schon den Eindruck gewinnen, dass Paare sich heute aus den nichtigsten Anlässen trennen. Manchmal stimmt das wohl auch, doch meiner Erfahrung nach wird eine Trennung heute immer noch sehr ernst genommen, wenn man gemeinsame Kinder hat. Ich glaube nicht, dass dabei die Anzahl der Konflikte als Maßstab genommen wird. Entscheidend für den Fortbestand einer Beziehung ist vielmehr die Frage, ob sie als sinnvoll erlebt wird.«

»Aber wie sinnvoll soll sie denn sein? Viele haben große Erwartungen und legen die Latte sehr hoch. Wir können nicht erwarten, dass wir unsere Beziehung 24 Stunden am Tag als sinnvoll und bereichernd empfinden. Wir müssen doch auch daran arbeiten, dass sie funktioniert.«

»Vollkommen einer Meinung. Sinnvoll heißt ja auch nicht permanente Harmonie und ständiges Glück. Eine Beziehung ist dann bereichernd, wenn sie uns dazu herausfordert, uns als Mensch und Mitmensch weiterzuentwickeln. Diese Herausforderungen treten meist überraschend an uns heran, und wir mögen es nicht besonders, wenn sie plötzlich auftauchen. So ist es mit all unseren Liebesverhältnissen, auch gegenüber unseren Kindern.

Sinnvoll heißt in einer Beziehung nicht permanente Harmonie und ständiges Glück. Eine Beziehung ist dann bereichernd, wenn sie uns dazu herausfordert, uns als Mensch und Mitmensch weiterzuentwickeln.

Wir wünschen uns, dass unsere Beziehung unser persönliches Leben bereichert, und das ist doch ein völlig neuer Maßstab. So haben unsere Großeltern nicht gedacht. Auch empfinden wir heute andere Dinge als sinnvoll. Viele fühlen sich durch persönliche Herausforderungen bereichert, während andere – vor allem Männer – Ruhe und Frieden haben wollen. In diesem Fall wird die Harmonie natürlich zum Symbol des Erfolgs. Ich glaube, dass alle Menschen ihre eigenen Kriterien haben, was das Gelingen betrifft. Viele, die mir schreiben, werfen die Frage auf, wie viel Schmerz man eigentlich erdulden müsse, ehe man aufgibt, und wie lange man an seinen Problemen arbeiten solle. Es besteht kein Zweifel, dass man in jeder Liebesbeziehung ein gewisses Maß an Schmerz akzeptieren muss, doch wenn dieser Schmerz nicht von positiven Dingen begleitet wird – Erkenntnis, Einsicht, Entwicklung –, sondern sich nur Monat für Monat wiederholt, dann verliert er seinen Sinn. Aber man muss daran arbeiten, dass es funktioniert, denn wir reden hier vom intimen Zusammenleben mit einem Menschen, den man zunächst nicht kennt.«

»Ja, man kann sich in einer Paarbeziehung schnell einsam vorkommen, wenn man sich nicht verstanden fühlt.«

»Vor 30 Jahren hat eine Kollegin zu mir gesagt: ›Jesper, in meinem Leben gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder lebe ich mit einem Mann zusammen oder mit der Sehnsucht nach einem Mann.‹ Sie gehörte zur ersten Generation jener Menschen, die die Ehe nicht mehr als soziale Notwendigkeit, sondern als existenzielle emotionale Entscheidung betrachteten. Sie wollte nicht mit einem Mann zusammenleben, der ihr Leben nicht fundamental bereichert. Das war damals eine völlig neue Forderung.«

»Ist eine Familie ohne Konflikte eine ideale Familie?«

»Nein, in keiner Hinsicht. Ein Konflikt definiert sich dadurch, dass zwei Menschen verschiedene Wünsche oder Bedürfnisse haben. Doch fassen wir inzwischen Konflikte als etwas sehr Negatives auf. Das stammt aus einer Zeit, als die Familie streng hierarchisch und totalitär organisiert war. In einem totalitären System sind Konflikte unerwünscht, während ein demokratisches System mit ihnen leben muss. Der moralische Konsens ist in der heutigen Gesellschaft verschwunden, also muss jede Familie Pionierarbeit leisten. Viele finden eine Sicherheit darin, vermeintliche Wahrheiten zu verkünden. Wenn das Stillen als das einzig Richtige gilt, beobachten wir, dass junge, intelligente Mütter diejenigen mobben, die nicht stillen – plötzlich werden die als schlechte Mütter betrachtet, weil sie ihren Kindern die Flasche geben. Genauso verhält es sich mit dem Thema Scheidung. Früher war es in Ordnung, sich scheiden zu lassen, doch plötzlich wird dies als großer Fehler betrachtet. Es ist bedauerlich, dass der öffentliche Raum keine komplexen Probleme behandeln kann. Entweder man sucht einen Sündenbock oder will eine schnelle Lösung haben. Ich glaube, dass es unmöglich ist, eine Lösung zu finden, die das ganze Leben umfasst. Doch wenn wir daran arbeiten, können wir zumindest einen gewissen Sinn erkennen. Alles hat seinen Preis, und es hat keine Zweck, vom Staat zu erwarten, dass er ihn bezahlt, denn das kann er nicht.«

»Ich denke, dass die Lösungen oder Antworten erst dann aufscheinen, wenn ich sterbe. Erst ganz am Ende wird man wohl begreifen, was das Ganze für einen Sinn hatte. Es geht darum, ein bewusstes Leben zu führen, Herausforderungen anzunehmen, zu vergeben und zu wachsen.«

»All unsere Normen und Wertvorstellungen wurzeln in der Mangelgesellschaft. Wir wissen nicht, wie wir uns in einer Überflussgesellschaft verhalten sollen. Wir können es verurteilen, dass Kinder von Anfang an zu Konsumenten werden, doch so etwas nehme ich sehr gelassen, weil ich weiß, dass irgendwann eine Gegenbewegung entstehen wird. So entwickelt sich eben die Geschichte. Es fragt sich allerdings, ob wir etwas daraus lernen.«

•••

Die Statistik besagt, dass heutzutage mehr als die Hälfte der Ehen geschieden wird. Ich selbst war niemals verheirat. Mein Partner und ich haben uns getrennt, als unser Sohn ein Jahr alt war. Danach hatte er seinen Lebensmittelpunkt bei mir, die langen Wochenenden aber verbrachte er meistens bei seinem Papa. Für uns war es so das Beste. Als getrennte Familie funktionieren wir sehr gut. Die großen Herausforderungen beginnen meist erst dann, wenn einer der beiden einen neuen Partner mit eigenen Kindern hat, mit dem er auch zusammenziehen möchte. Dann kommt dem eigenen Zuhause eine völlig neue Bedeutung zu. Dann wird Kindern eine Gemeinschaft mit Stiefeltern und Stiefgeschwistern aufgezwungen, um die sie nicht gebeten haben, die sich aber dennoch harmonisch gestalten soll.

»Wie sollen sich die Stiefeltern in einer neuen Familiensituation, vor allem gegenüber ihren Stiefkindern, verhalten?«

»Kinder lassen sich von niemand erziehen, der nicht zu ihrer Familie gehört. Sie weisen denjenigen ab, ganz gleich ob sie drei oder 13 Jahre alt sind. Wir lassen es nicht zu, dass Menschen uns so nahe kommen, dass wir verletzt werden könnten, wenn sie nicht zu unserer Familie gehören. Wenn neu zusammengesetzte Familien von Anfang an so tun, als seien sie eine Familie, dann wird keine Familie daraus. Das ist ein Paradox, das vielen nicht bewusst ist. Wir können nicht damit beginnen, uns von Anfang an wie eine Familie aufzuführen.

Für die Stiefeltern, die ich lieber als Bonuseltern bezeichnen möchte, kommt es darauf an, sich mit den Bonuskindern anzufreunden – nicht um sich vorschnell anzubiedern, sondern um zu prüfen, ob man eines Tages eine richtige Familie werden kann. Wenn man sich in einen anderen Erwachsenen verliebt, kommen einem die Chemie und die Hormone zu Hilfe. Nach vier bis fünf Jahren sieht man dann, ob es zu einer Freundschaft reicht. Mit Kindern ist es umgekehrt: Man muss sich erst einmal anfreunden, damit später daraus unter Umständen eine Familie entstehen kann. Ich habe viele Kinder im Alter von fünf oder sechs Jahren kennengelernt, deren Eltern geschieden wurden, als sie noch sehr klein waren. Jetzt besitzen sie eine Bonusmutter oder einen Bonusvater, die sie sehr lieb haben, und fragen, ob sie Mama oder Papa zu ihr oder ihm sagen dürfen. Damit bestätigen sie, dass aus der neuen Gemeinschaft eine Familie geworden ist.«

»Wenn man verheiratet ist oder einen festen Partner hat und mit seiner zweiten oder dritten Familie zusammenlebt, hat man vielleicht ein anderes Gefühl gegenüber seinem Partner entwickelt. Man ist womöglich erwachsener, erfahrener und reifer geworden, und das überträgt sich dann auch auf die Kinder. Was soll man ihnen antworten, wenn sie neugierig sind und fragen, ob Mama oder Papa Sex mit dem neuen Partner hat?«

»Ich finde, man sollte mit Ja antworten, wenn es so ist. Aus Ursachen, die mir nicht ganz klar sind, ist es für Kinder stets schwierig gewesen, sich ihre Eltern beim Sex vorzustellen. Jugendliche finden diese Vorstellung sogar schrecklich peinlich. Die Frage taucht auf, weil Kinder über das Leben philosophieren. Sie philosophieren in gleicher Weise über Sex, wie sie sich mit der Frage beschäftigen, was passiert, wenn man stirbt. Und dann vergessen sie die Antworten, sobald sie diese bekommen haben. Wenn man ihnen vermitteln kann, dass Sex etwas Schönes ist, macht man ihnen ein großes Geschenk. In der Öffentlichkeit ist Sex oft ein problematisches Thema.«

»Neue Gesetze in verschiedenen europäischen Ländern räumen homosexuellen Paaren weitgehend dieselben Rechte ein wie heterosexuellen Paaren, was zum Beispiel Adoptionen betrifft. Von daher entstehen noch weitere Typen der modernen Familie. Wir kennen die Sehnsucht von Adoptivkindern, ihre leiblichen Eltern kennenzulernen. Was denken Sie über diese neuen Familien, in denen Kindern mit zwei Eltern desselben Geschlechts aufwachsen und vielleicht niemals ihren biologischen Vater oder ihre biologische Mutter kennenlernen? Ist es ein Menschenrecht, Kinder zu bekommen, oder ist ein Menschenrecht, Eltern zu haben?«

»Meiner Erfahrung nach unterscheidet sich das Leben in einer homosexuellen Partnerschaft nicht wesentlich vom Leben in einer heterosexuellen Partnerschaft. Ich hatte zwischen 50 und 100 homosexuelle Paare bei mir in der Therapie, Männer und Frauen. Die grundlegenden Mechanismen sind dieselben, und ich habe keinerlei Bedenken, diesen Paaren Adoptivkinder anzuvertrauen. Es gibt auch keine Forschungsergebnisse, die belegen würden, dass sie schlechtere Eltern sind oder die Kinder irgendeinen Schaden nehmen.

Ich glaube jedoch, dass wir heute dem Irrglauben aufsitzen, ein jeder Mensch habe das Recht, ein Kind zu bekommen. In Dänemark haben wir diesen Irrglauben in das allgemeine Bewusstsein gehoben, als wir allen Paaren das Recht auf drei Fruchtbarkeitsbehandlungen zustanden. Das erzeugt bei den Leuten das Gefühl, unbedingt ein Kind haben zu müssen. Wir wollen ein Kind haben, damit wir spüren, dass wir wertvoll sind und gebraucht werden. Das ist schon in Ordnung, doch sollten wir uns vergegenwärtigen, dass Kinder genau dasselbe Bedürfnis haben, nämlich sich wertvoll für ihre Eltern zu fühlen. Ich glaube nicht, dass alle Menschen Eltern werden sollten.«

»Ist das ein genereller Gedanke von Ihnen, der homo- und heterosexuelle Paare gleichermaßen betrifft?«

»Absolut! Ich bin nicht besonders religiös, doch hier glaube ich, dass wir uns in dieser Hinsicht mehr zumuten, als wir tragen können. Die meisten Menschen meiner Generation haben eben eine gewisse Anzahl von Kindern bekommen, ohne zu verhüten. Der Verwissenschaftlichung dieses Prozesses stehe ich höchst skeptisch gegenüber. Ich zweifle daran, dass es uns Menschen zukommt, solche Entscheidungen zu treffen.

Ich habe mal einen etwa 70-jährigen Chinesen in San Francisco kennengelernt. Er war Mönch und in traditioneller chinesischer Medizin ausgebildet. Mein Freund Ken Dychtwald und seine Frau Maddy wollten ein Kind, also ging sie zu diesem Arzt in Behandlung. Nach ein paar Monaten wurde sie sehr ungeduldig. Ich begleitete sie zum Arzt, und der alte Chinese sagte zu mir: ›Mr. Jesper, I need your help, I cannot speak to Maddy and Maddy cannot hear me, so if you please ...‹ Dann sagte er mir, warum Maddy kein Kind bekommen könne: ›Maddy wants baby too much.‹ Sie wolle es zu sehr. Ich sollte sie bitten, die Behandlung zu beenden. Zwei Jahre später kam das erste Kind und weitere zwei Jahre später ein weiteres Kind. Das war’s.

Ob es gelingt, schwanger zu werden, hängt unter anderem vom Zusammenspiel zwischen Körper und Seele ab. Wir alle kennen doch Beispiele von Frauen, die es lange vergeblich versucht haben, schließlich ein Kind adoptierten und dann plötzlich schwanger wurden.«

»Können wir das in Gottes Hand legen beziehungsweise es dem Schicksal überlassen?«

»Ja, ich denke, damit ist uns am besten gedient, wenngleich westeuropäische Politiker ja gern darauf hinweisen, dass wir mehr Kinder produzieren sollen, um das wirtschaftliche Wachstum zu sichern. Davon fühlen sich die Leute unter Druck gesetzt.«

»Kinder zu haben ist ja nicht zuletzt eine Statusfrage.«

»Das ist ein Thema voller Widersprüche. Ein Kind zu haben, wird als persönlicher Erfolg verbucht, wohlgemerkt ein gesundes Kind. Andererseits soll man den Eltern, vor allem den Frauen, nicht ansehen, dass sie Kinder bekommen haben. Das Leben soll am besten so weiterlaufen wie bisher. Ich will niemand kränken, der sich ein Kind wünscht, aber unterstreichen, dass die Beziehung zu einem Kind keine Einbahnstraße ist. Das Kind soll nicht nur das entgegennehmen, was wir ihm geben wollen. Wir müssen auch bereit sein, das entgegenzunehmen, was unsere Kinder uns geben, im Positiven wie im Negativen. Sind wir dazu nicht in der Lage, ist den Kindern besser damit gedient, nicht geboren zu werden.«

Die Beziehung zu einem Kind ist keine Einbahnstraße. Das Kind soll nicht nur das entgegennehmen, was wir ihm geben wollen. Wir müssen auch bereit sein, das entgegenzunehmen, was unsere Kinder uns geben, im Positiven wie im Negativen.

•••

Ich bin mit einer Großmutter aufgewachsen, die Künstlerin und Schneiderin war. Ich konnte ihr meine Lieblingskleider in irgendwelchen Modezeitschriften zeigen, dann hat sie genau diese Kleider für mich genäht. Allerdings hat es ein paar Wochen gedauert, bis ich damit stolz zu einer Weihnachtsfeier oder einem Geburtstagsfest gehen und mir topmodern vorkommen konnte. Es brauchte also eine gewisse Geduld. Heute sind die meisten Leute finanziell besser gestellt und kaufen ihren Kindern im Großen und Ganzen alles, was diese sich wünschen – trotz der Finanzkrise in der Welt. Es fragt sich, ob es sich nicht eher um eine Wertekrise handelt, in der Gefühle wie Dankbarkeit und Bescheidenheit allmählich verloren gehen.

»Kinder bekommen ihre Wünsche heute allzu rasch erfüllt. Damit berauben wir sie der Möglichkeit, sich freuen zu können. Was geschieht mit einem Kind, das niemals auf etwas warten muss?«

»Es verliert die Fähigkeit, sich zu freuen und zu warten. Vor allem gewöhnt es sich daran, dass jeder Wunsch sofort befriedigt wird. Es ist ein naheliegender Gedanke, dass solche Kinder später dazu neigen werden, ihre Frustration mit Alkohol, Drogen oder Medikamenten zu betäuben. Heutzutage werden Kinder vor jeder Art von Entbehrung, Schmerz und Frustration bewahrt. Sie leben wie Teletubbies. Wenn man auf diese Art aufwächst, fühlt man sich natürlich hilflos und verloren oder sucht die Extreme, um zu spüren, dass man lebt.«

»Liegt es an unserem schlechten Gewissen als Doppelarbeitende und an unserem unrealistischen Perfektionsstreben, dass wir unseren Kindern zu viel kaufen? Kompensieren wir damit unsere mangelnde Zeit für die Familie?«

»Der Zeitmangel ist etwas, das wir uns selbst zufügen. Es ist eine Tatsache, dass zwei arbeitende Eltern heutzutage mehr Freizeit haben als je zuvor. Es geht nicht so sehr darum, wie viele Stunden im Monat wir beisammen sind. Es geht eher darum, wie viel Zeit wir haben, wenn wir erst einmal beisammen sind. Wenn man zwei bis drei Stunden zusammen ist und über das gesprochen hat, worüber man sprechen musste, kehrt erst einmal Stille ein. Danach beginnt man, Dinge zu sagen, die man sich selbst noch nicht sagen gehört hat. Erst in diesem Moment entsteht Nähe und Intimität, alles andere ist in der Regel oberflächliches Geschwätz.

Darum kommen viele mit neuer Energie und Nähe aus dem Urlaub zurück. Oder sie kommen zurück und lassen sich scheiden. Wenn wir ineinander und in unsere neugeborenen Kinder verliebt sind, geschieht alles in rasender Fahrt, und vieles, das wir sagen, sollte man nicht so ernst nehmen. Dann kommt der Alltag mit seinen vielen kleinen Anforderungen und der unglückseligen Neigung vieler Eltern, ihre Kinder regelrecht abzufragen, wenn sie aus dem Kindergarten abgeholt werden oder von der Schule nach Hause kommen. Auch wenn man ein aufrichtiges Interesse an seinen Kindern hat, ist diese Interviewform wenig geeignet, um Wesentliches zu erfahren. Man erfährt nicht, wer der andere ist, wenn man nur Fragen stellt. Außerdem ist das Risiko groß, dass man die falschen Fragen stellt.«

Wenn man mit einem Kind ein paar Tage in den Bergen ist, beginnt es irgendwann damit, sich spontan zu äußern. Dann bekommen Sie Dinge zu hören, die das Kind selbst überraschen. Auf diese Weise lernen wir einander kennen.

»Dazu bedarf es eines Gesprächs.«

»Ganz genau. Wenn man mit einem Kind ein paar Tage in den Bergen ist, beginnt es irgendwann damit, sich spontan zu äußern. Dann bekommen Sie Dinge zu hören, die das Kind selbst überraschen. Auf diese Weise lernen wir einander kennen. Es ist paradox, dass es uns in einem Restaurant leichter fällt, uns intim zu äußern, als zu Hause in der Küche. Kinder lieben das. Ich gehe oft allein in ein Restaurant und beobachte die Leute. Die Eltern haben die Kinder nicht die ganze Zeit im Blick und beginnen plötzlich, über wichtige Dinge zu reden. Den Kindern geht es glänzend, wenn die Erwachsenen voneinander in Anspruch genommen werden. Kinder haben es nicht gern, ständig im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.«

•••

Niemand hat es gern, ständig im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Dann fühlt man sich irgendwann bedrängt und belästigt. Wie kann man sich in einer Familie sicher genug fühlen, um Freude und Kummer zum Ausdruck zu bringen, ohne sich bedrängt zu fühlen?

Beim Fernsehen habe ich eine Weile mit einer Mutter von zwei Töchtern zusammengearbeitet. Während eines Mittagessens erzählte sie mir einmal, dass sie zu Hause ein Klo-Tagebuch hätten. In dieses Buch, das tatsächlich auf der Toilette liegt, kann jeder seine Gedanken zum Familienleben eintragen. Niemand braucht diese Eintragungen zu kommentieren. Alle Familienmitglieder können in Ruhe darin lesen.

»Oft wollen wir schnelle Antworten, Erklärungen und Lösungen haben. Vielleicht ist das kontraproduktiv. Was halten Sie von solch einem Klo-Tagebuch? Ein eigener Ort, an dem man seinem Herzen Luft machen, Trauer und Freude zum Ausdruck bringen kann?«

»Das ist eine sehr gute Idee. Ich habe oft einen israelischen Familientherapeuten zitiert, der sagte, man solle das Eisen schmieden, solange es kalt ist. Genau das sollte man bei Konflikten tun. Konflikte lassen sich selten lösen, solange der Sturm noch tobt. Man sollte lieber abwarten, bis der Sturm sich gelegt hat.

Schmiede das Eisen, solange es kalt ist.

Wer eine möglichst ehrliche Reaktion seiner Kinder haben will, der sollte Folgendes zu ihnen sagen: ›Ich würde gerne von euch hören, was ihr für meine drei schlechtesten Eigenschaften als Vater oder Mutter haltet.‹ Wenn Sie ein offenes und vertrauensvolles Verhältnis zu Ihren Kindern haben, werden Sie zwei Dinge zu hören bekommen. Es ist wichtig, dass die sogenannten negativen Eigenschaften zuerst genannt werden, sonst schmiert man sich nur Honig um den Mund. Danach können Sie Ihre Kinder fragen, was diese gern tun würden oder ob sie selbst ein paar gute Ideen haben: ›Was meint ihr, wie wir unsere Situation zu Hause verbessern können? Bald ist Ostern – was sollen wir da machen?‹ Solch ein Gespräch kann 30 bis 45 Minuten dauern, nicht zu lange. Die Eltern dürfen nicht vergessen, sich danach bei den Kindern für ihre Hilfe zu bedanken.

Es gibt nur wenige Konflikte, auf die man wirklich viel Zeit verwenden sollte, ganz gleich ob sie zwischen Eltern und Kindern oder in einer Paarbeziehung stattfinden. In den ersten 15 Minuten hat man in der Regel alle wichtigen Dinge gesagt. Das Weitere sind meistens Streitigkeiten, in denen alle Sätze mit ›Du‹ anfangen. Ein Großteil unserer Konflikte dauert deshalb so lange, weil wir enorm egozentrisch sind. Wir müssen uns die Zeit nehmen, um in Ruhe über den Konflikt nachzudenken. Dabei lohnt es sich, kurz innezuhalten und sich zu fragen: ›Worum geht es eigentlich? Und was ist es, das ich will?‹

Liebe allein hält die Familie nicht zusammen. Dazu bedarf es des großen Einsatzes aller Familienmitglieder.

Es zeichnet die Kernfamilie aus, dass Liebe allein nicht ausreicht. Es geht nicht alles von allein, nur weil wir uns zugetan sind. Wir müssen nicht weiter zurückgehen als zu meiner ersten Ehe – zu dieser Zeit wurden die meisten Frauen schrecklich wütend, wenn der Partner kein Gedankenleser war. Sie dachten, wenn er mich liebt, dann versteht er mich auch und weiß, welche Bedürfnisse ich habe. Seit Tausenden von Jahren durften Frauen ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht äußern und mussten daher darauf hoffen, dass der Mann sie ihnen ›von den Augen ablas‹.

Liebe allein hält die Familie nicht zusammen. Dazu bedarf es des großen Einsatzes aller Familienmitglieder. Was die Patchworkfamilie betrifft, halte ich es für klug, von Anfang an regelmäßige Familientreffen abzuhalten. Was funktioniert und was funktioniert nicht? Als Erwachsener muss man sich um größte Offenheit bemühen und alle Familienmitglieder zu Wort kommen lassen.«

»Es ist bestimmt wichtig, dass die Kinder sich gesehen und beachtet fühlen, auch wenn sie selbst nicht viel sagen. Wie macht man das auf solchen Treffen?«

»Die Kinder müssen wissen, dass sie sich jederzeit äußern können, wenn sie etwas auf dem Herzen haben. Vielleicht müssen sie solche Familientreffen ein paar Jahre lang erleben, bevor sie damit beginnen, einen eigenen Beitrag zu leisten, doch Kleinkinder haben in der Regel eine ebenso große Freude daran wie Jugendliche. Es gibt keine Familie, in der alles reibungslos funktioniert.

Auch für Paare ist es eine gute Idee, drei, vier Mal im Jahr das Handy und den Fernseher auszuschalten oder eine kleine Reise zu unternehmen, um in Ruhe darüber sprechen zu können, wie es einem in der Beziehung geht und was man gegebenenfalls verändern könnte. Das Anziehendste auf der Welt ist ein Mensch, der seine Seele entblößt. Wie es darin aussieht, ist zweitrangig. Die gegenseitige Offenheit weckt das Begehren.