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PETER BERCZELLER
DER KLEINE WEISSE MANTEL

PETER BERCZELLER

DER KLEINE
WEIßE
MANTEL

Aus dem Englischen von
Elisabeth M. Bartosch

METROVERLAG

© 2013 Metroverlag

Verlagsbüro W. GmbH

www.metroverlag.at

Alle Rechte vorbehalten

Printed in the EU

ISBN 978-3-99300-154-4

Für Bapo und Mutti

ERSTER TEIL

ERSTES KAPITEL

Ich erinnere mich heute in Schwarzweiß oder besser gesagt in Dunkelgrau. Mein Vater hilft meiner Mutter in unser Auto – ein Opel-Steyr der frühen Dreißigerjahre –, und ein junger Mann, den ich noch nie zuvor gesehen habe, wirft die Kurbel an, um das Auto zu starten. Kurze Zeit später wird die Autotür zugeworfen, ein paar Worte werden in letzter Minute durch das halb offene Beifahrer-Fenster geflüstert, und wir beide, Bapo (so nannte ich ihn von Anfang bis zum Schluss) und ich, bleiben allein auf dem hügeligen, erdigen Gehsteig vor dem Haus zurück.

Ich weiß nicht, wann sie wiederkam, es muss später am selben Tag gewesen sein.

Sehr bald nach diesem Ausflug verschwand unser Auto. Ich war mit zweieinhalb Jahren zu jung, um diese zwei Begebenheiten in Verbindung zu bringen, aber zur selben Zeit hörte mein Vater auf, mich zu seinen Hausbesuchen mitzunehmen. Nicht, dass er seine Patienten nicht weiter besucht hätte, aber nun ging er allein, zu Fuß. Seine Schuhe waren fast weiß vom Staub, wenn er von diesen langen Fußmärschen zurückkam, meine Mutter ermahnte ihn unermüdlich, seine Schuhe auf der Matte vor der Tür abzutreten. Niemand dachte daran, mir zu erklären, warum ich meine liebste Beschäftigung plötzlich aufgeben musste. Deswegen quälte ich mich ich ständig mit dem Gedanken – und machte mir Sorgen –, ob ich etwas falsch gemacht und diese Veränderung selbst hervorgerufen hätte.

Früher hatte mich Bapo auf seinen Schoß gesetzt und mich das Lenkrad hin- und herdrehen lassen, wir taten beide so, als würde ich fahren. Wenn er ausstieg, um seine Patienten zu sehen, blieb ich im Auto sitzen, mein Kopf reichte kaum über das Lenkrad. Nach einigen Minuten hupte ich in der Hoffnung, er würde schneller kommen. Irgendwann einmal verstand ich, dass ich ihn in Ruhe lassen musste, denn was da drinnen vorging, war wichtiger als meine Ungeduld.

Soweit ich von den Leuten, die aus dem Haus rein und raus rannten, hören konnte, hatte Jossele, der jüngste Sohn des Bäckers, einen Topf mit kochendem Wasser umgestoßen und schwere Verbrühungen erlitten. Die Geschichte war schon deswegen dramatisch, weil der Patient schrie und dabei vom Jammern seiner Mutter begleitet wurde. Innerhalb kürzester Zeit konnte ich auch das immer lauter werdende Heulen einer Sirene hören, das das Ankommen der einzigen Ambulanz des Ortes ankündigte.

Soweit ich mich zurückerinnern kann, haben mich Ambulanzen immer geängstigt – hier liegt vielleicht der Anfang begründet. Möglicherweise erinnern sie mich an Leichenwagen, was nicht allzu überraschend ist, da sie oft beide Funktionen erfüllen. Wann immer ich eines dieser Beförderungsmittel sehe, denke ich daran, wie beängstigend es sein muss, so knapp unter dem niedrigen Dach mit der furchteinflößenden dunklen Decke zu liegen – sie kommt mir vor wie Erde, die einen Sarg bedeckt – direkt über dem unfreiwilligen Fahrgast. Sogar jetzt, wenn ich eine Ambulanz in voller Fahrt vor mir sehe, ertappe ich mich dabei, einen kurzen Blick auf den Kopf des Patienten werfen zu wollen. Zuckt er und windet er sich hin und her, vielleicht mit einem kleinen Lächeln im Gesicht? Oder sieht man den Kopf gar nicht, weil er niedriger liegt als der Rest des Körpers, was zumindest auf einen Schock oder Schlimmeres hindeutet? Und dann kommt die unvermeidliche Frage auf: Machen all dieser Lärm und die Blinklichter irgendeinen Unterschied? Wird es nicht sowieso zu spät sein, wenn dieser vorübergehende Zufluchtsort sein Ziel erreicht? Das sind keine sehr professionellen Gedanken für jemanden, der einen kühleren, viel leidenschaftsloseren Zugang dazu haben sollte. Diese Gefühle müssen ein Rest aus meiner Kindheitsbeobachtung sein: Wenn die Ambulanz kommt, gleicht das einem Todesurteil.

Als sie Jossele aus dem Haus trugen, war er in feuchte Tücher gewickelt und schrie noch immer. Als ein Tuch herunterfiel, konnte ich sehen, dass seine Haut überall grell rot war, wie ein gekochter Hummer. Es war 1934. Die Straßen waren schlecht, Plasma-Erweiterer waren noch nicht erfunden, und als die Ambulanz eine Stunde später das Spital in Wiener Neustadt erreichte, war Jossele tot.

Ich konnte mir nur ausmalen, was passierte, wenn Bapo in einem dieser Häuser verschwand, die dunkelbraune Doktortasche mit dem Henkel in der Mitte unter die Achsel geklemmt. Sie ähnelte in nichts dem großen schwarzen Koffer, den ich später in der Fünfzigern benutzte, wenn ich Hausbesuche auf der Lower East Side von Manhattan machte, wo ich schwarz arbeitete, während ich Arzt in Ausbildung war. In meinem Koffer hatte ich Flaschen mit intravenöser Flüssigkeit dabei, zusammen mit kleinen Kannen mit tragbarem Sauerstoff, die mir erlaubten, einen Patienten unter Schock oder mit pulmonalem Ödem, also Wasser in der Lunge, zu behandeln, während ich auf das Eintreffen der Ambulanz wartete. Im Gegensatz dazu hatte mein Vater relativ wenig anzubieten: nur Morphium und einige der simplen Medikamente, die damals benutzt wurden.

Ich selbst hatte keinerlei Erfahrungen mit den Krankheiten von Erwachsenen; ich hatte nur Schnupfen und Halsweh erlebt. Jedes Mal, wenn mein Vater mich im Auto ließ, dachte ich deshalb, dass der Patient, den er besuchte, eben diese Symptome hätte: Niesen, Husten und ein wenig Fieber würden die Beschwerden sein. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie Bapo dem Kranken den Befehl gab, laut „Ahhh“ zu sagen, und ihm dann einen kalten Teelöffel in den Mund steckte.

Die Behandlung war auch immer dieselbe in meiner Fantasie; eine Mischung von Tee und Rum, ein beliebtes Heilmittel zu dieser Zeit.

Nur einmal drang ich tatsächlich durch die Tür ein, hinter der mein Vater verschwunden war, um selbst zu sehen, was ich mir bis dahin immer nur vorgestellt hatte. Wahrscheinlich musste ich draußen länger warten als üblich und war dadurch mehr und mehr verärgert. Mutti hatte Bapo immer wieder gesagt, er solle mit seinen Patienten weniger tratschen: „Wie willst du deinen Lebensunterhalt verdienen, wenn du so viel Zeit mit ihnen vergeudest?“ Daher nahm ich an, dass dies der Grund für seine lange Abwesenheit war. Da mein Hupen keine Reaktion hervorrief, stieg ich aus dem Wagen. Die Tür war halb offen, und ich konnte sie einfach aufdrücken. Es war eine ärmliche Wohnung im Erdgeschoß eines der sehr alten Häuser in der Judengasse, die Hauptdurchzugsstraße im alten Getto.

Es gab kein Vorzimmer. Sobald ich hineinkam, stand ich im Küche-Wohn-Schlafzimmer dieser Behausung. Zur Abwechslung tratschte mein Vater überhaupt nicht. Im Gegenteil, er sagte nicht viel. Alles, woran ich mich erinnere, ist das Hinterteil des Patienten. Eine bleiche Ausdehnung von Fleisch, die da entblößt auf dem Bett lag. Ich hatte noch nie den Hintern eines Fremden gesehen; er kam mir total anders vor als alle, die ich bisher gesehen hatte. Hin und wieder konnte ich unser Hausmädchen Antschi erwischen, wenn sie sich aus- oder anzog; und ihr Hinterteil hatte ein tiefes Rosa, das sehr warm und einladend aussah. Aber dieses auf die Seite gedrehte und auf die Nadel, die mein Vater gleich hineinstechen würde, wartetende, sah traurig, kalt und schutzlos aus. Gleich nach der Injektion hob mich Bapo auf und trug mich zurück zum Auto. Ich hatte Angst, er würde böse sein über mein Eindringen, aber er schien zu beschäftigt zu sein, um irgendetwas zu sagen.

Glücklicherweise war das einer der beiden Tage in der Woche, an dem wir unseren Ausflug zu den Zigeunern machten, deren Enklave einige Kilometer außerhalb von Mattersburg lag. Mattersburg ist die kleine österreichische Stadt an der ungarischen Grenze, in der wir wohnten. Der Zeltplatz war schäbig und bot Platz für etwa fünfzig Wohnwagen, die ohne besondere Ordnung herumstanden und die von Einzäunungen für die kleinen Pferde, die die Waggons im Herbst in die Siedlung hineinzogen und im Frühling wieder heraus, umgeben waren. Dunkler Rauch stieg aus den Schloten und verbreitete den Geruch eines Torf-Holz-Gemischs. Sobald wir ankamen, gab mich mein Vater bei Janos ab, dem Primas oder Oberhaupt der Siedlung. Er war klein, dunkelhäutig, mit langem rötlich-schwarzem Haar und einer gebogenen Pfeife, die ewig in seinem Mundwinkel hing. Der Rauch, den er ausstieß, vermischte sich mit dem, der bereits in der Luft hing, und umhüllte seinen Kopf mit einem nebeligen Glorienschein. Er sprach mit ganz tiefer Stimme, und ich konnte kaum verstehen, was er sagte, weil sein Deutsch einen starken ungarischen Einschlag hatte. Oft schnitzte er für mich kleine Tierfiguren aus Holz, das er vom Boden aufhob, oder er erzählte mir Geschichten von seinen Reisen durch die Puszta, die Attila der Hunnenkönig vor Jahrhunderten durchquert hatte.

Egal wie sehr ich mich auf meinen Besuch bei Janos freute, die An- und Abreise zum Zigeunerlager mochte ich am liebsten. Da lag eine schmale einspurige Fahrbahn auf einer Brücke am Weg, die sich nach oben schlängelte und dann wieder abwärts führte, um die Straße auf der anderen Seite eines kleinen Flusses zu erreichen. Am höchsten Punkt hob das Auto einen Moment ab, flog plötzlich durch die Luft und landete wieder mit einem kleinen Bums auf dem Boden. Für meinen Vater und mich war das das Signal, laut „ho-ruck“ zu schreien. Ein Ausdruck, der nur uns gehörte und der von einem langen Luftauslassen begleitet war, um den Augenblick des Abhebens und des Landens zu feiern. Über die Jahre bekam der Ausdruck eine neue Bedeutung für uns: Er war der Rettungsanker in gelegentlichen Notfällen, wenn unsere Beziehung auseinanderzubrechen drohte. Den Moment herbeizurufen, als unsere Liebe zueinander noch instinktiv und urteilsfrei war, ersparte immer die Konfrontation.

Die folgenschweren Veränderungen in meinem Leben begannen mit dem „12. Februar“. Für mich nur Worte, da ich noch keinen Begriff vom Kalender hatte. Alles, was ich damals wusste, war, dass sich jedes Mal, wenn ich dieses Datum hörte, die Stimmung in unserem Hause änderte. Nichts Offensichtliches, aber das Grinsen, das immer im Gesicht meines Vaters versteckt war, verschwand von einem Augenblick zum anderen. Meine Mutter, die ohnedies nicht besonders fröhlich war, wurde dann auffallend still. Dies geschah relativ oft, und dadurch bekamen die Worte eine bedrohliche Bedeutung für mich.

Der 12. Februar war der Tag im Jahr 1934, an dem die Austrofaschisten mit Gewalt an die Macht gelangten. Innerhalb weniger Tage wurden ihre politischen Opponenten eingesperrt, vor allem Mitglieder der Sozialistischen Partei, der meine Familie angehörte. Mein Großvater, der seine Frau und seine Kinder am Ende des Ersten Weltkrieges von Ungarn nach Österreich gebracht hatte – er betreute die Sozialmedizin in der Provinz, in der wir lebten –, wurde sofort entlassen. Ebenso mein Vater, der eine lange Liste von Patienten mithilfe der Sozialfürsorge betreute. In den nächsten vier Jahren, bis die Nazis alles übernahmen und die Kampagnen der einheimischen Faschisten zu Ende brachten, war Bapo nun von den Privatpatienten abhängig. Meistens waren das Bauern, die zu stolz waren, staatliche Sozialmedizin in Anspruch zu nehmen, oder ortsansässige Juden, die einen nur einen jüdischen Arzt aufsuchen wollten.

Später fand ich auch den Grund für den Ausflug meiner Mutter heraus, an den ich mich so gut erinnerte. Er wurzelte in den verzweifelten Versuchen meines Vaters, die neuen Machthaber davon zu überzeugen, seine Entlassung rückgängig zu machen. Vielleicht würden sie zu ihr höflicher sein. Aber am Ende kam immer dasselbe heraus: kommt nicht in Frage. Die beiden anderen Ärzte der Stadt, Strobl und Sedoch, waren die Nutznießer vom Scheitern meines Vaters. Als Mitglieder der herrschenden Partei teilten sie seine Patienten untereinander auf.

Die Judengasse, die unerklärlicherweise heute noch so genannt wird, obwohl dort keine Juden mehr existieren, war eine kleine, kurvige und abschüssige Durchfahrtsstraße, die am einen Ende von der Mikve, dem rituellen Bad, und am anderen Ende von der Synagoge aus dem Mittelalter begrenzt wurde. Alle jüdischen Familien der Stadt wohnten hier – außer eine oder zwei: Als mein Vater 1930 hier ankam, erwarteten alle in der kleinen Gemeinde, dass er – so wie sein Vorgänger Doktor Max – seine Praxis und seine Wohnung in einem der alten Gebäude des ehemaligen Gettos einrichten würde. Stattdessen mietete er sich am Hauptplatz 2 ein, mitten im Zentrum, wo Herr Freiberger, der Besitzer, hinter dem Haus seine Schweine und Kühe in einem Stall hielt.

Die Judengasse nahm dieses Arrangement nicht sehr freundlich auf, was anfangs zu einem schweigenden Boykott meines Vaters führte. Das erklärt auch, warum nur sehr wenige Patienten aus diesem Teil der Stadt zu ihm in die Praxis kamen. Diese Situation war aber sehr rasch behoben, als er in einer dramatischen Rettungsaktion um drei Uhr früh den fünfjährigen Sohn des Rabbi von einem besonders schweren Fall von Kehlkopfdiphtherie befreite. Diese morgendliche Rettung war wahrscheinlich der Grund dafür, dass man den erleichterten Vater des Kindes nach diesem Zwischenfall immer sagen hörte: Der neue Doktor ist zwar nicht fromm, aber ein geheimer Zaddik, ein Gerechter, der seine Neigung verheimlicht. Da der Rabbi keiner war, der Komplimente so einfach verteilte, hatte dies in seiner Gemeinde eine umso größere Wirkung. Mein Vater wurde akzeptiert. Hatte er nicht sogar die Zustimmung des Rebbe? Ziemlich bald begann man, ihn „Doktor Leben“ zu nennen, ein Zeichen des Respekts, das im Schtetl zu dieser Zeit nicht leichtfertig vergeben wurde.

Bapo war auch für einen der größten Skandale verantwortlich, den es je in einer jüdischen Gemeinde, mit Wurzeln im Mittelalter, gegeben hat. Mattersburg war der Sitz einer der wichtigsten Yeshivas in Österreich, junge Männer im Teenageralter kamen von weit her, um den Talmud unter der Obhut des Oberrabbiners Samuel Ehrenfeld zu studieren. Sie wohnten bei ortsansässigen Familien, und am Sabbat, dem Tag der Ruhe, sah man kleine Gruppen von Yeshiva Bocherem (Yeshiva-Schülern) bedächtig durch die Landschaft der Umgebung wandern. Mit ihren zotteligen Bärten, den Pejes (Schläfenlocken) und den Zizits (rituelle Fransen), die aus ihren Hosen ragten, gaben sie den Einheimischen Grund zum Lachen.

Mein Vater war ein begeisterter Fußballfan, er spielte während seiner medizinischen Ausbildungszeit sogar in einem semiprofessionellen Team. Er brannte darauf, sich wieder dafür zu engagieren. Was lag also näher, als die Yeshiva-Burschen in zwei Teams zu organisieren, die gegeneinander antreten? Nachdem er die Erlaubnis des Rabbis eingeholt hatte, der darin nichts Sündhaftes sah, arrangierte er die Benützung des Stadions der Stadt am Sonntagmorgen, während die christliche Bevölkerung in der Kirche war. Nach einigen Trainingswochen waren die Schüler für ihr erstes Spiel bereit. Bapo coachte beide Teams, aber er (und die Spieler) hatten ein Problem: Da die Buben nur die schwarzen Anzüge hatten, in denen sie die Talmud-Klassen besuchten, konnte man die Teams nicht voneinander unterscheiden. Die Jarmulkes, ihre Kopfbedeckung, waren ebenfalls schwarz. Deshalb mussten sie einen anderen Weg finden, um die Teams für die Spieler und auch für die Zuschauer zu unterscheiden. In der Nähe des Stadions war ein Klubhaus, wo sich die Spieler versammelten. Mein Vater tauchte mit einer Schere auf. Er hatte eine Möglichkeit gefunden, das Identitätsproblem zu lösen: Er ließ eines der Teams in einer Linie antreten und schnitt allen rasch die rechte Schläfenlocke ab.

Als die Teams aufs Feld liefen, ging ein Aufschrei durch die Menge. Anscheinend bemerkten alle gleichzeitig die fehlenden Pejes. Reb Sobelstein, der Dekan der Yeshiva, traf eine Entscheidung: Er zitierte die Spieler vom Feld und setzte dem Spiel ein Ende, noch bevor es überhaupt begonnen hatte. Mein Vater versuchte zu erklären, aber Sobelstein drehte ihm den Rücken zu und ging weg. Das war das Ende der kurzen Geschichte des internen Yeshiva-Fußballs in Mattersburg.

Überraschenderweise gab es kein Nachspiel für Bapo. Zu der Zeit hatte er bereits treue Anhänger; abgeschnittene Pejes oder nicht, keiner der Juden der Stadt dachte daran – Gott behüte –, zu den nichtjüdischen (gojischen) Ärzten Strobl oder Sedoch zu gehen. Dennoch ging diese Episode nicht ohne die Diskussion vorbei, ob mein Vater das Etikett eines „geheimen Zaddiks“ noch verdiene. Die Angelegenheit wurde schließlich vor den Rabbi gebracht. „Ein Zaddik ist unser Doktor sicherlich“, entschied er nach langem Nachdenken, „aber nun ist es noch geheimer als vorher.“

Ungefähr zur selben Zeit, als unser Auto verschwand, verschwand auch eines unserer beiden Hausmädchen, die Karner Anni – üblicherweise kam der Familienname zuerst. Sie war nicht ausschließlich mein Kindermädchen, sie erledigte auch Hausarbeit, aber eine ihrer Aufgaben war es, mich im Kinderwagen durch die Stadt zu fahren, so lange ich ihn noch brauchte. Sie sang mir während der Fahrt ganz sanft etwas vor. Vielleicht Lieder, die sie in der Kirche gelernt hatte – zumindest schloss ich das aus dem riesigen Kreuz, das um ihren Hals hing. An ihrem letzten Tag konnte sie gar nicht aufhören zu weinen, und zum Zeitpunkt ihres Abschieds weinte ich bereits mit. Sie muss den reduzierten Umständen meiner Eltern zum Opfer gefallen sein. Prinzipiell war es nicht ungewöhnlich für eine Familie wie die unsere, zwei Haushaltshilfen zu haben; speziell, da die Ordination meines Vaters Teil der Wohnung war und ebenfalls gereinigt werden musste. Warum die Karner Anni, die die Ältere war, gehen musste und die Sticher Mitzi – eine hochgewachsene Blondine mit krausem Haar, die erst ein paar Monate davor bei uns aufgetaucht war behalten wurde, war mir völlig unklar. Bis ich es viel später herausfand. Mein Vater hatte wohl eine Affäre mit Mitzi. Das war der Grund, warum sie ihren Job behielt. Meiner Mutter kam das sicherlich verdächtig vor, und das erklärt, warum die Atmosphäre zu Hause, die nach dem 12. Februar bereits sehr düster war, nun noch gereizter wurde.

Ich erinnere mich dunkel an eine Szene auf dem Balkon: Sticher Mitzi bügelte in aller Ruhe, während meine Eltern Streit hatten. Meine Mutter schluckte Pillen, und mein Vater, mit seinem verführerischen Lächeln, reizte sie noch mehr. Ich wusste: Nimmt man einige, geht das Fieber runter, aber was würde eine ganze Menge davon bei Mutti bewirkten? Das Prinzip einer Überdosis verstand ich noch nicht, dazu war ich zu jung, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht, blass, angespannt, während sie immer rascher und härter atmete (meine erste Begegnung mit Hyperventilation), blieb mir immer in Erinnerung.

Sie war in Vizhnitz geboren, in der Bukowina, die damals zu Österreich gehörte und später zwischen Rumänien und der Ukraine aufgeteilt wurde. Ihre achtzehnjährige Mutter, Frime, starb bei der Entbindung, und ihr Vater, Sami Unger, übergab den Säugling, Fanny, sofort der Familie seiner verstorbenen Frau. Mutti sah ihren Vater danach selten; auch ich traf diesen abwesenden Großvater nur ein- oder zweimal in meinem Leben. Sie wurde in einem Frauenhaushalt aufgezogen. Als sie 1916 nach Wien übersiedelte, bestand die Familie aus meiner Mutter, Großmutter und vier Tanten, Resele, Race, Sabine und Esther. Sie waren Teil der großen Zuwanderungswelle der Ostjuden, die vor den fortwährenden Pogromen und Kämpfen des Ersten Weltkrieges geflüchtet waren. Die Zeiten waren hart für diese Flüchtlinge. Großvater Seidmann hinterließ eine bescheidene Erbschaft, als er zu Kriegsbeginn starb, aber als die Familie in ihrer neuen Heimat ankam, war wenig davon übrig. Die älteren Mädchen wurden arbeiten geschickt, um so bald wie möglich zum Haushalt beizutragen, und sobald meine Mutter sechzehn wurde, ging sie bei einer Modistin, einer Hutmacherin, in die Lehre. Muster zeichnend, die fertige Ware in der ganzen Stadt ausliefernd, so verbrachte sie ihre späten Teenager- und den Anfang ihrer Zwanzigerjahre. Das Zuhause war die Untere Augartenstraße im zweiten Bezirk, die arme Verwandte des blühenden ersten Bezirks jenseits des Donaukanals. Sie lernte meinen Vater bei einem Schwimmausflug mit Freunden im Sommer 1927 kennen. Er hatte gerade an der Medizinischen Fakultät der Universität promoviert und war nun Assistenzarzt im Lainzer Spital, eines der staatlichen Krankenhäuser. Sehr bald nach ihrem ersten Treffen „gingen sie miteinander“, wie meine Generation sagen würde.

Omi, die Mutter meines Vaters, war eine notorische Streitaxt. Eine dünne kleine Frau, die meinen Großvater mit eiserner Hand beherrschte. Mit dem Ergebnis, dass mein Opi, der selbst wiederum seine eigenen Angestellten terrorisierte, ihr total untergeben war. Als hochrangiger Staatsbeamter hatte mein Großvater eine mietfreie Wohnung in der Nähe seines Büros.

Nach den Erzählungen meines Vaters, der diese Begebenheit direkt von seiner Mutter erfahren hatte, öffnete Omi eines Tages die Tür, die Großvaters Arbeitsplatz und die Wohnung der Familie voneinander trennte, und sah Opi seine Sekretärin Monika streicheln, während sie auf seinem Schoß saß. Omi gab keine genauen Details über Ausmaß und Art des Streichelns bekannt, aber als direkte Folge davon – eine Geschichte, auf der sie ihr Leben lang beharrte – wurde ihr bisher braunes Haar über Nacht weiß. Nicht nur das, ihr Diabetes (der ihr schließlich das Leben kosten sollte) wurde ein paar Wochen später diagnostiziert.

Dieser Kausalzusammenhang klang immer ein wenig mysteriös für mich, und ich weiß noch immer nicht, ob Opi diese Geschichte geschluckt hat. Auf jeden Fall war er nach dieser Episode ein geschlagener Mann. Gegen die weißen Haare konnte er nichts unternehmen, dafür war es zu spät, und über Diabetes wusste man damals sehr wenig. Von da an verbrachten Opi und ich viele Stunden, um in ganz Wien in diversen Geschäften nach speziellem Essen mit geringem Zuckergehalt zu suchen. Wir kamen von diesen Einkäufen mit bleichem, flachem, unappetitlichem Brot zurück oder mit einem Behälter voll Marmelade, die eher wie neutrale Gallerte (Gelee) aussah und wahrscheinlich auch so schmeckte. Opi präsentierte Omi diese Ware wie einen Tribut, eine Teilzahlung, die er ihr schuldete, weil er vergessen hatte, die Tür zu versperren.

Omi war eine geborene Sidonie Cecilia Kohn aus Lackenbach, einem kleinen Ort in Burgenland, der östlichsten Provinz von Österreich. Der jüdische Friedhof dort, der aus irgendeinem Grund nicht von den Nazis zerstört wurde (wie so viele andere in der Gegend schon), ist übersät mit Grabsteinen der Kohns. Das ist nicht verwunderlich, denn ihre Familie lebte schon seit Jahrhunderten in dieser Gegend. Als mein Vater seine Absicht, meine Mutter zu heiraten, verkündete, versuchte seine Mutter, ihn davon abzubringen. Sie wusste, dass sie ihn nicht umstimmen konnte, da sein Temperament ihrem sehr ähnlich war. Daher setzte sie Guerilla-Taktiken gegen ihn ein. Sich einem Haufen von Ostjuden anzuschließen, die noch dazu kein Geld hatten, was dachte er sich nur dabei? Wie solle sie ihren Verwandten aus Lackenbach die Neuigkeit überbringen, dass ihre zukünftige Schwiegertochter eine „Zuagraste“ sei, ein Neuankömmling in dem Land, wo die Kohns anscheinend schon immer gelebt hatten?

Ich glaube nicht, dass sie wirklich erwartete, dass er die Hochzeit absagen würde, aber es war ihre Art, meiner Mutter eine Botschaft zu senden. Auch wenn sie das Glück hatte, in die Familie einzuheiraten, sie würde nie als ebenbürtig betrachtet werden. Wie zu erwarten war, gab mein Vater nicht nach, aber Omi hatte ihre Rache genommen. Nicht einer von den Seidmanns wurde zur Hochzeit eingeladen. Meine Mutter, die bis dahin schon ziemlich eingeschüchtert war, hatte sich zu fügen. Eine Entscheidung, die sie bis an ihr Lebensende bereuen sollte und die mit bitteren Gefühlen meiner Großmutter gegenüber einherging. Als Mutti 2003 in Los Angeles starb, fast sechzig Jahre nach dem Tod meiner Großmutter 1944, hatte sie ihr diese Beleidigung noch immer nicht vergeben. Sie lag zwar im Koma, sprach aber ununterbrochen von dieser Episode, die so lange zurücklag. Sie rief ständig nach der einen oder anderen Tante und wiederholte das Wort „Entschuldigung“. Manchmal verzog sie auch das Gesicht und rief laut: „Ich hasse sie!“ Wer die Geschichte kannte, wusste, wen sie meinte.

Es war sicherlich keine Absicht, aber Omi half Mutti entscheidend bei dem Sticher-Mitzi-Problem. Meine Großeltern waren damals schon nach Wien gezogen, und mein Onkel Arpad, ein praktizierender Chirurg, der dreißig und unverheiratet war, wohnte noch immer bei ihnen – ein Arrangement, das damals nicht unüblich war. Da Omi Türen nach Belieben öffnete, fand sie eines Nachts ihr Dienstmädchen Klara im Bett meines Onkels. Am nächsten Morgen rief sie meine Mutter an und sagte ihr, dass sie Klara mit dem nächsten Zug zu uns schicken würde – im Austausch für die Sticher Mitzi, die am selben Tag prompt nach Wien gesendet werden sollte. Keine Diskussion – einfach ein Befehl –, und es kam Omi gar nicht in den Sinn, die Mädchen zu fragen, was sie von dem Tauschhandel hielten. Am selben Abend öffnete Klara, eine bleiche, teiggesichtige 17-Jährige, ihr Klappbett in unserer Küche, die in diesen Tagen oft auch als Dienstmädchenzimmer diente. Es war unwahrscheinlich, dass sie der Typ meines Vaters war, und ich habe keinerlei Erinnerung daran, was passierte, als Sticher Mitzi in den Haushalt meiner Großeltern kam. Omi nahm sie unbesehen, und soweit ich das beurteilen kann, landete sie womöglich auch im Bett von Onkel Arpad. Nach Mitzis überstürzter Abreise war Mutti sichtlich besser gelaunt. Keine Pillenschluckerei mehr, mein Vater sprach sanfter mit ihr, keine Sticheleien mehr, mit denen er sie kurz zuvor noch gequält hatte.

ZWEITES KAPITEL

März 1938 war ich sechseinhalb Jahre alt und hatte im Jänner begonnen, den Cheder, die jüdische Grundschule, zu besuchen. Vom ersten Tag an hatten alle meine Klassenkameraden (natürlich ausschließlich Buben) einen Vorteil mir gegenüber. Sie waren mit ihrem Vater bereits mehrere Jahre zur Schul, in den Tempel, gegangen und sahen meiner Meinung nach bereits wie Jarmulke tragende Vollmitglieder der religiösen Gemeinschaft aus. Im Gegensatz dazu verbrachte ich den Sabbat-Morgen mit meiner Freundin Mitzi und spielte hinter unserem Haus mit den Schweinen und Hühnern, die ihrem Vater, Herrn Freiberger, gehörten.

Meine Eltern mussten sich zumindest in irgendeiner Weise an die religiösen Erwartungen der Gemeinde anpassen, daher vergewisserte sich mein Kindermädchen (zu dieser Zeit war es Antschi), dass ich Jarmulke und Zidakl (Betonung auf der ersten Silbe) trug, das Kleidungsstück, das der Ursprung der Zizits ist. Die Fransen sahen das Tageslicht erst, wenn sie aus den Hosenbeinen meiner kurzen Hosen ragten. Obwohl ich wie ein orthodoxer Cheder-Bub aussah, muss ich auf meine Mitschüler wie ein Schwindler gewirkt haben, da sie mich in der Stadt bereits gesehen hatten, bevor wir gemeinsam in den Cheder gingen. Meine Mutter hatte „Haute-Couture“-Ansichten darüber, wie man Kinder anzieht. Das ging so weit, dass sie mich in einem Paletot (einem lose fallenden Mantel) durch die Stadt paradieren ließ, geschmückt mit einer Kappe aus dem selben Material, deren Krempe aus meinem Gesicht geklappt war. Was noch schlimmer war – sie ließ mich auch in einer Aufmachung herumlaufen, die von jüdischen Kindern nie getragen wurde: in Lederhosen, dazu einen leicht militanten dunkelgrünen Janker und einen Tirolerhut, komplett mit Feder. Ich sah aus wie ein Muttersöhnchen, keine Frage. Mein Hauptpeiniger war Bunni, der Sohn des Shoichets, des rituellen Schächters, und der größte Bub in der Klasse mit einer ständig laufenden Nase, in der er gelegentlich herumbohrte.

Während er laut lachend auf mich zeigte, führte er in dem kleinen Schulhaus riesig übertrieben vor, wie ich ausgesehen hatte, als mich meine Mutter auf unseren Spaziergang durch die Stadt schleifte. Sobald er begann, folgten die anderen seinem Beispiel, und die ganze Vorführung wurde erst beendet, wenn Herr Kerpel, unser Lehrer, die Klasse betrat und mich erlöste.

Zu meiner weiteren Erniedrigung wurde mein Unwissen gleich zu Beginn meiner Cheder-Karriere zur Schau gestellt. Jeder von uns sollte vor der Klasse etwas aufsagen, das er zu Hause gehört hatte. Bis ich an der Reihe war, waren das Segenswünsche oder Gebete auf Hebräisch, die in dem Singsang aufgesagt wurden, den ihre Väter in ihren täglichen Ritualen benutzt haben mussten. Ich hatte nicht einmal etwas im Entferntesten Ähnliches, auf das ich zurückgreifen konnte, also versuchte ich, mich so genau wie möglich an die Anweisung des Lehrers zu halten. Mein Vater hatte mir nur ein Lied beigebracht, und das sang ich nun mit zittriger Stimme:

Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren

öffnen die Mädchen die Fenster und die Türen!

Herr Kerpel war wie vom Donner gerührt, und die Mitschüler ließen mich das nie vergessen.

Ich erinnere mich daran, dass ich immer auf etwas hoffte, das mich aus dieser Dreckschule, wie ich sie in der sicheren Umgebung meines Zuhauses nannte, erlösen würde.

Mitte März 1938 trennte ich mich aus einem total unerwarteten Grund von der Cheder-Schule: Sie hörte auf zu existieren. Meine Erinnerung an dieses wundersame Ereignis beginnt ganz unschuldig. Ich kam in unser Wohnzimmer und kaute an einem Butterbrot, großzügig mit Bauernbutter bestrichen und mit gehacktem Schnittlauch bedeckt, meine Lieblings-Zwischenmahlzeit. Es war Vormittag, und ich war überrascht, meinen Vater zu sehen, der um diese Zeit zumeist seine Hausbesuche machte. Illes Gellis, der Schuster in der Judengasse, saß bei ihm, und sie hörten Radio. Es gab nur einige wenige dieser holzverkleideten plappernden Maschinen in Mattersburg, und es war nicht unüblich, dass Gellis – ein kleiner gebückter Mann in seinen Vierzigern, von dem man sagte, dass er Zeitungspapier unter seinen Kleidern trug, um sich warm zu halten – zu uns kam, um die Nachrichten zu hören.

Ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Die beiden saßen sonst zu einer viel späteren Tageszeit vor dem Radio. Außerdem waren diese Treffen meistens von den politischen Debatten der beiden begleitet, die die Stimme des Sprechers überdeckten. Diesmal waren sie nicht sehr lebhaft. Mein Vater machte eine grimmige Miene, und Gellis hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest. Die ernste Stimme im Radio sprach noch eine Weile, dann ertönte die Nationalhymne, die von Joseph Haydn stammte, – ein einheimischer Bursch aus dem benachbarten Eisenstadt. Und dann herrschte Stille, der Sendebetrieb wurde eingestellt.

Ich bekam große Angst. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war, aber was immer es war, es schien ernst zu sein. Bapo und Gellis schrien einander Worte wie „Tragödie“ und „was wird mit uns geschehen?“ zu. Ich hielt noch immer mein Butterbrot in der Hand, und schließlich wagte ich es, diesen heftigen Dialog zu unterbrechen.

„Was ist los?“, fragte ich. Die Antwort meines Vaters blieb mir 75 Jahre in Erinnerung: „Wenn du verstehen würdest, was gerade passiert ist, würdest du das Butterbrot nicht essen.“

Die Stimme, die ich gerade im Radio gehört hatte, war die von Kurt Schuschnigg, dem österreichischen Bundeskanzler. Der Grund für die gedrückte Stimmung in unserem Wohnzimmer war Schuschniggs Verkündung des Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland. Von nun an würden wir von Hitler regiert werden. Aus dem, was in Deutschland bis dato geschehen war, konnte man leicht schließen, dass Juden und Sozialisten seine besonderen Opfer sein würden.

Mein Großvater war zu dieser Zeit energiegeladene 61 und nach wie vor das Oberhaupt der Familie. Nachdem Bapo das Radio abgedreht und Illes Gellis weggeschickt hatte, rief er sofort seinen Vater an. Nicht nur, um seinen Rat einzuholen, was nun zu tun sei, sondern auch um herauszufinden, was an diesem Tag geschehen war. Die Bedeutung von Schuschniggs Schwanengesang war zwar klar genug, aber Opi war ein erfahrener Politiker, und mein Vater brauchte seinen Trost und seinen Ratschlag in diesem kritischen Moment. Da er keine Antwort aus der Liechtensteinstraße erhielt, nahm mein Vater den nächsten Zug nach Wien. Als er bei der Wohnung ankam, reagierte zunächst niemand auf sein hartnäckiges Läuten an der Tür. Endlich öffnete Opi im Pyjama. Das war keine Überraschung: Alle Männer in unserer Familie vertauschten, was ihre Schläfchen betraf, den Tag mit der Nacht. Ein Ritual, das mit mir sein Ende fand, da ich niemals Zeit hatte, mich an einem Nachmittagsschlaf zu erfreuen, geschweige denn mitten am Tag mein Gewand zu wechseln.

Ich hörte die Geschichte von der Reaktion meines Großvaters auf den plötzlichen Besuch meines Vaters während der folgenden fünfzig Jahre immer wieder. Zuerst war es komisch, typisch Opi, wie mein Vater sagte. Doch als klar wurde, worauf die Ereignisse des 12. März hindeuteten, gab es Anzeichen von unfreiwilligem schwarzem Humor in der jähzornigen Antwort meines Großvaters: „Wegen so etwas weckst du mich auf?“, donnerte er, als Bapo ihm endlich erklären konnte, warum er da war. Nachdem sich mein Großvater beruhigt hatte, riet er seinem Sohn, in Wien zu bleiben, zumindest vorläufig. Meine Eltern telefonierten später. Mutti berichtete meinem Vater, dass Jugendliche vor dem Haus auf- und abmarschierten und „Sieg Heil!“ schrien, und sie erzählten von einer großen roten Schmiererei „Jude“ an dem Portal, das von der Straße zur Praxis meines Vaters führte.

Am nächsten Morgen, als meine Mutter und ich gerade frühstückten – ich war nicht hungrig, bin ich nie, wenn irgendetwas nicht stimmt –, hörten wir das Getrampel von Stiefeln auf der Treppe, gefolgt von einem lauten Klopfen. Drei Männer standen vor der Tür, die rote Armbinden mit schwarzen Swastikas in der Mitte trugen. Das war meine erste Begegnung mit dem Hakenkreuz. Seit damals fühle ich jedes Mal einen Schlag in die Magengrube, begleitet von einem leichten Schweißausbruch, wenn ich diese Kombination sehe – so wie beim allerersten Mal. Ich weiß nicht, warum diese Armbinde eine so bedrohliche Wirkung auf mich hat, mehr als die Swastika-bedruckten Fahnen, die bei den Kundgebungen in Nürnberg flatterten. So ein Symbol auf dem linken Ärmel in der Nähe des Herzens getragen, nicht nur an einem Mast hochgezogen, bedeutet, dass es ein Teil des Trägers ist, wie eine Tätowierung. Es sagt, dass dieser Mensch kein Mitleid oder keine Empathie mehr fühlt. Ich war ein Kind, aber habe das verstanden, ohne es ausdrücken zu können. Dies war der Anfang eines konditionierten Reflexes, den ich nie mehr abschütteln konnte.

Von den dreien war offensichtlich einer der Anführer. Größer als die anderen, mit einer bösen, feindseligen Ausstrahlung und grauem Haar, das fast senkrecht in die Höhe stand. Er stellte sich als Herr Weissensteiner vor und wollte wissen, wo mein Vater sei. Als meine Mutter sagte, dass er nicht in der Stadt sei, sagte Weissensteiner, sie solle ihm eine Botschaft überbringen: „Wo immer er ist, sagen Sie ihm, er soll zurückkommen. Wir werden nachsichtiger mit ihm sein, wenn wir ihm nicht nachjagen müssen!“ Ich glaube, dass sie seine Worte zunächst gar nicht gehört hat, die Bedrohung in seiner Stimme reichte aus, um sie in Angst zu versetzen.

Viel später erzählte sie mir von den Pogromen, die ihre Familie während des Krieges ertragen musste, bevor sie nach Wien flüchtete. Die Kosaken, die Juden nannten sie Ivan Shtink, verprügelten Leute und taten ihnen Schlimmeres an (was das Schlimmere war, weigerte sie sich, mir zu sagen), ritten auf ihren Pferden in die Häuser und hinterließen überall Pferdemist. Vielleicht war es das, woran sie sich erinnerte, als diese Mannschaft vor unserer Tür stand.

In dem Moment, vielleicht wegen des furchteinflößenden Äußeren der Männer oder weil meine Mutter zu weinen begann, brach auch ich in Tränen aus. Die drei sahen einander an, einer sagte etwas, das ich nicht verstand. Daraufhin lachten sie und trampelten hinaus.

Mein Vater kam noch am selben Tag zurück nach Mattersburg. Lange Zeit machte er meine Mutter für das verantwortlich, was mit ihm danach geschehen sollte. Er sei nur ihretwegen zurückgekommen, weil sie durch den Besuch von Weissensteiner und seiner Begleitung so verängstigt gewesen war. Ich habe mich oft gewundert, warum er statt nach Wien nicht nach Ungarn geflüchtet war, das damals nicht unter Nazi-Herrschaft stand. Er muss doch gewusst haben, dass ihm als Jude und als allseits bekannter Sozialist doppelte Gefahr durch die Nazis drohte. Die beste Erklärung für diese Lethargie in der Anfangsphase ist wohl, dass weder die einheimischen Nazis noch ihre potenziellen Opfer irgendeine Erfahrung mit dieser Situation hatten. Die einen, die gerade an die Macht gekommen waren, verstanden nicht, wie viel Macht sie bereits innehatten. Leute wie mein Vater – die es hätten besser wissen müssen – und auch die hauptsächlich unpolitische jüdische Bevölkerung müssen immer noch gehofft haben, sich irgendwie mit dem neuen Regime arrangieren zu können. Durch das Prisma des Holocaust betrachtet, erscheint diese Denkweise extrem naiv. Aber in diesen Anfangstagen war es das oberste Ziel der Nazis, Österreich judenrein zu machen, von Massenmord war noch nicht die Rede.

Sobald Bapo nach Mattersburg zurückgekommen war, wurde er bei Weissensteiner vorstellig. Am frühen Abend wurde er ins Gefängnis überstellt, ein altes rotes Backsteingebäude schräg gegenüber unserem Wohnhaus, mit einem Hof, der von hohen Mauern umgeben war. In normalen Zeiten hausten dort gelegentlich Betrunkene oder ein glückloser Schmuggler, der von der Zollbehörde erwischt worden war. Als mein Vater ankam, begrüßte ihn dort eine ganz andere Klientel. Ludwig Gieskan, unser benachbarter Zahnarzt und enger Freund – wir nannten ihn Onki Ham, weil er ein Großverteiler von Süßigkeiten war –, sowie drei oder vier der bedeutendsten Geschäftsleute der Judengasse, die bereits verhaftet worden waren. Außerdem Weinwurm, der örtliche jüdische Anwalt, und Ernst Brandl, ebenfalls ein Freund meines Vaters. Er war als Arzt ausgebildet, führte aber das Schmatte, das alteingesessene Textiliengeschäft seiner Familie in der Mitte der Stadt.

Sie sahen alle wie Unfallopfer aus: fehlende Zähne und blutige Nasen. Onki Ham sah schlimmer aus als die anderen: Er hatte zwei blaue Augen und eine Beule am Kopf. Außerdem schlief er ständig ein, was Bapo auf eine Gehirnerschütterung schließen ließ, die eine Folge der wiederholten Schläge auf den Kopf sein musste. Onki Ham war ein eingefleischter Junggeselle, und über die Jahre hatte er viele Mädchen des Ortes eingeladen, ihm beim Klavierspielen zuzuhören. Die schlimmen Prügel müssen die Rache einiger Dorfjugendlicher dafür gewesen sein, dass Onki Ham bei den meisten jungen Damen großen Erfolg damit hatte, sie noch zum Bleiben zu überreden, nachdem die Musik schon eine Weile verklungen war.

Ich hatte noch die Möglichkeit gehabt, Bapo zu sehen, bevor er sich selbst stellte. Die Wiedersehensfreude währte nur kurz, denn er verschwand und tauchte nicht mehr auf. Ich erinnere mich an ein ganz enges Gefühl im Hals, und ich fragte panisch, wohin mein Vater verschwunden sei. Mutti antwortete nur, indem sie in die Richtung des Gefängnisses quer über den Hauptplatz zeigte und mir versicherte, dass er nicht allzuweit weg war.

Am nächsten Morgen zeitig in der Früh kam der Hausbesitzer und Vater meiner Freundin Mitzi, Herr Freiberger. Nach einigem Herumdrucksen und Herumstottern rückte er damit heraus, dass wir sofort ausziehen müssten. Bevor er ging, zeigte er uns eine Mitteilung, die während der vorangegangenen Nacht auf unsere Tür geklebt worden war. Ich selbst konnte sie nicht lesen, obwohl ich schon drei Monate in die Schule gegangen war. Nach dem Schulplan der Cheder hätte ich sie vielleicht entschlüsseln können, wäre sie hebräisch gewesen. Nachdem Freiberger fort war, hörte ich meine Mutter zu Antschi sagen, dass am folgenden Nachmittag ein Zwangsverkauf des gesamten Inhalts der Wohnung und der Praxis stattfinden würde, der Erlös würde an die Gemeinde Mattersburg gehen. Wir durften nur so viel persönliches Hab und Gut mitnehmen, wie in drei Koffer passte.

Dieses Mal weinte Mutti nicht, sie setzte sich einfach auf den Boden, als ob die Couch oder der Lehnsessel schon weggetragen worden wären, sie schlang ihre Arme um ihren Oberkörper, wiegte sich hin und her und sagte kein Wort. Ich war alt genug, um zu verstehen, dass etwas noch nie Dagewesenes und Schreckliches mit uns geschah. Darum wollte ich Bapo zurück – und zwar sofort oder noch schneller. Vor allem, weil er selbst für die traurigste oder unerwartetste Geschichte immer ein glückliches Ende fand.

Seine Lieblingsgeschichte war die Erzählung, dass er mich auf einem chinesischen Markt gefunden habe. Ein Mann mit einem langen Zopf wollte mich verkaufen, aber sie konnten sich nicht über den Preis einigen. Bapo ging sogar mehrmals weg (an diesem Punkt kam mein üblicher Aufschrei), aber zuletzt einigten sie sich doch; so wurde ich zu seinem Kind. Große Erleichterung auf meiner Seite. Bapo hat es wieder einmal geschafft.

Meine Mutter blieb am Boden sitzen, konnte Antschi aber zumindest bereits Anweisungen geben, was sie in die drei Koffer packen sollte. Dann überquerten wir beide den Hauptplatz und gingen zu Brandls Haus, das sich gleich neben dem Gefängnis befand. Tante Lily – keine wirkliche Tante, nur ein Ehrentitel für Freunde meiner Eltern –, die Frau von Ernst, war allein mit ihrem Baby Gerda zu Hause. Das Geschäft, wo ich manchmal verkaufen spielte und so tat, als würde ich den Bäuerinnen Schmattes verkaufen, war finster. Als Mutti Lily erzählte, was passiert war, lud sie uns sofort ein, bei ihr zu wohnen. Sie zögerte keinen Moment, sie war großzügig wie immer. Sie stellte es so dar, als ob sie uns dankbar sei, weil wir ihr Gesellschaft leisteten, während Ernst im Gefängnis war.

Am Nachmittag waren wir zusammen mit Antschi und unseren drei Koffern bereits bei den Brandls einquartiert. Erst einige Stunden später verstand meine Mutter wirklich, was passiert war. Vom Fenster der Brandls im ersten Stock hatte sie einen klaren Blick auf den Eingang zum Hauptplatz 2. Die Versteigerung begann sofort nachdem wir die Wohnung verlassen hatten, und wir sahen, wie unsere Möbel, unsere Bilder und unsere Teppiche fortgetragen wurden. Die Gegenstände wurden auf Pferdewagen geladen, einige auch in ein Auto. Darunter auch mein Holzbett mit der Daunen gefüllten Tuchent oben darauf.

Nachdem die Prozession vorbei war und alle Versteigerer und Käufer verschwunden waren, nahm Mutti ihren großen Schirm – es hatte inzwischen zu regnen begonnen – und ging mit mir über den Platz. Dann stiegen wir zum letzten Mal die Stiegen zu dem Ort hinauf, wo wir all die Jahre gewohnt hatten. Ich weiß noch immer nicht, warum sie die Gefahr auf sich nahm, mit dem Ersatzschlüssel in die Wohnung zu gelangen, aus der wir gerade hinausgeschmissen worden waren. Vielleicht wollte sie nur noch einen letzten Blick darauf werfen oder hoffte, einige Kleinigkeiten von uns zu finden, die der „Arisierung“ entgangen waren. Ich lernte dabei ein neues Wort kennen. Die uralte Vorstellung, die Andersgläubigen konvertieren zu können, verwandelte sich in etwas Praktischeres. Man konvertierte nun einfach ihren Besitz. Eine günstige Art, die Opfer von ihrem Eigentum zu trennen.

Die Wohnung war total leer. Es war nichts übrig, das bezeugen konnte, dass wir am Morgen noch hier gewohnt hatten. Meine Eltern müssen sie genauso leer vorgefunden haben, als sie noch vor ihrer Hochzeit zum ersten Mal hierherkamen. Wir gingen zu Vaters Untersuchungszimmer, und auch dort war nichts zurückgeblieben. Da waren die hellen Flecken, wo seine Diplome gehangen waren – sie waren vorsichtig in einen der Koffer gepackt worden –, aufgebrauchte Mullbinden und einige eingetrocknete Blutflecken auf dem Boden.

Das waren die einzigen Spuren aus den acht Jahren, die mein Vater in diesem Raum verbracht und wo er jeden Hereinkommenden behandelt hatte. Nicht nur die Mattersburger Juden, sondern auch einige von denen, die nun alles plünderten, sogar seine Geburtshilfe-Instrumente, seinen Schreibtisch und seinen Untersuchungstisch. Beinahe wären wir nach diesem riskanten Besuch mit leeren Händen wieder gegangen. In letzter Minute, als meine Mutter die Tür zwischen Untersuchungsraum und Wohnung wieder zumachte, bemerkten wir etwas, das die Arisierer übersehen hatten.