Winfried Pursche

anno 4025

Botschaft aus der Zukunft

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum

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Was werden wir später einmal statt Kohle

verbrennen?", fragte der Seemann. "Wasser",

antwortete Smith. "Wasserstoff und Sauerstoff

werden für sich oder zusammen zu einer

unerschöpflichen Quelle von Wärme und

Licht werden, von einer Intensität, die die

Kohle überhaupt nicht haben könnte; das

Wasser ist die Kohle der Zukunft."

 

 

 

Jules Verne, 1828 – 1905, Die unheimliche Insel

 

 

 

 

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Der Heli schwebte heran. An eine Libelle erinnerte er, elegant in der Luft stehend mit der Fähigkeit, auf der Stelle die Richtung, die Höhe zu ändern. Leise. Das Nerv tötende Knattern, winzige Überschallknalle an den Spitzen der Rotorblätter, war technisch längst besiegt. In Echtzeit erzeugte das Soundvanish-System exakt das Negativ des Lärmprofils der Luftmoleküle und strahlte es ab. Negativ und Positiv hoben sich gegenseitig nahezu auf. So wurde die Lärmschleppe des Rotors auf unter dreißig Dezibel aufgelöst. Fast unhörbar. Auch deshalb, weil nun schon seit Urzeiten keinerlei Verbrennungsmotoren lärmten und mit ihren Abgasen stanken. Wasserstoff stand längst im Überfluss zur Verfügung, Brennstoffzellen versorgten die Menschheit mit „ursprünglicher“ Energie. Dies hatte seinerzeit, bei krisenbedingter Umstellung auf die Wasserstoffwirtschaft vor etwa zweitausend Jahren, eine regelrechte Revolution menschlichen Lebens bewirkt. Mehr noch, es hatte weiteres Leben damals erst ermöglicht. Der Planet befand sich auf dem Wege in eine Katastrophe. Seine zweibeinigen Bewohner waren drauf und dran, sich selbst zu eliminieren. Nicht so sehr eine technische, als vielmehr soziale Revolution war daraus geworden.

Auf dem Landekreuz setzte das Lufttaxi präzise auf und heraus stieg eine kleine, heitere Gesellschaft, sechs Personen, drei Paare, alle hoch betagt aber putzmunter. Sie kannten ihren Weg, strebten in ein nahes, zweistöckiges Gebäude, dessen Fassade sich auffallend von der übrigen Bebauung abhob. Wer sich in Architektur auskannte, sah unschwer die stilistische Wiederholung des Dresdner Zwingers. Es war ein Treffpunkt sozialen und wissenschaftlichen Lebens.

Der Hubschrauber hob ab, andere schwebten heran. Der rege Zustrom in das Gebäude und die festliche Kleidung der Besucher ließen ein gesellschaftliches Ereignis erahnen.

In einem der zahlreichen Salons, in denen private Feste und berufliche Meetings gefeiert und abgehalten wurden, trafen die Ankömmlinge auf Bekannte, Gleichgesinnte, Freunde, mit denen sie den Tag begehen wollten. Zur Erinnerung an den 1. Juni 2025 versammelten sie sich, an das Datum, das nun schon seit Jahrhunderten als der Tag galt, an dem die „Welt gerettet“ wurde. Ein symbolisches Datum, die entscheidende Phase war damals über Wochen gegangen, aber das Wachhalten der dramatischen Ereignisse erschien allen Nachkömmlingen wichtig und dafür brauchte es den festgelegten Feiertag.

Heute war der 1. Juni 4025. „Es“, das schicksalhafte Ereignis, war zweitausend Jahre her. Ein rundes, besonderes Jubiläum, das herausgehoben und begangen zu werden verdiente.

Noch blieb etwas Zeit bis zum Beginn der Diskussion und Rückschau auf die Ereignisse und so bildeten sich kleine Grüppchen Anwesender, die einander besser kannten und sich über frühere Zeiten austauschten. Weitere Teilnehmer kamen hinzu, der Versammlungsleiter kontrollierte auf dem Monitor die Ankunftszeiten noch Fehlender; es würde keine Wartezeiten geben. Man konnte beginnen, sich zu platzieren.

Die Gesellschaft machte einen recht homogenen Eindruck. Alle hatten, obwohl man ihnen das nicht ansehen konnte, den einhundertsten Geburtstag hinter sich, ja, dies war ein Kriterium für die Aufnahme in diesen Kreis. Auf weitere drei Jahrzehnte durften sie ihrer Lebenserwartung noch vertrauen und so bildeten sich lang dauernde Freundschaften. Es gab auch „Küken“ in ihren Reihen, die jüngeren Lebenspartner beitrittsberechtigter Mitglieder. Die Jüngste, dreiundachtzig geworden, musste sich manchen Ulk anhören.

Man hatte Platz genommen, auf bequemen Kippsesseln, Getränke zur Hand, alkoholfrei natürlich, die hohen Fenster abgedunkelt. Hilfreiche Videoeinspielungen wirkten dadurch eindrucksvoller. Gespannt blickten alle zu Humphrey.

Es hat mich umgetrieben, liebe Freunde, welches Motto ich dem heutigen Tag geben sollte, SH oder Obipo“? begann der Fixpunkt aller Augenpaare seine Ausführungen. Sie alle freuten sich darauf und hingen an seinen Lippen. Humphrey war einer der prominenten Historiker gewesen, die die noch immer nicht abgeschlossene Forschung über die Geschichte um das zwanzigste und einundzwanzigste Jahrhundert wesentlich vorangetrieben hatten, sehr populär und einer der Sprecher dieser Gesellschaft. „Ihr kennt beide Kürzel und eines wäre ohne das andere nicht zu seiner Bedeutung gekommen. Es ist wie bei der Frage nach dem Vorrang von Henne oder Ei. Man kann keine Wahl treffen oder Reihenfolge festlegen. SH und Obipo sind die Essentials unserer Existenz, das ist nicht zu hoch gegriffen. Machen wir doch einmal die Probe aufs Exempel: Wer stimmt für SH?“ Fast alle Arme hoben sich. „Und nun: Wer sieht Obipo als wichtiger an?“ Auch hier fast vollständige Zustimmung.

Ich habe es mir gedacht, auch ich optiere für beides“.

Humphrey war so im Blickpunkt Aller platziert, dass er die hinter ihm liegende Längswand nicht verdeckte. Diese war, wie inzwischen Standard, mit einer Bild-Reproebene überzogen, auf der Videodarbietungen dreidimensional in voller Raumhöhe wiedergegeben werden konnten. Auch die aus unerschöpflichen Archiven aus grauer Vorzeit verfügbaren, zweidimensionalen Videos wurden von der Abspielautomatik auf die dritte Dimension umgerechnet und es brauchte keine Brillen oder Hilfsgeräte, um die Bildtiefe empfinden zu können. Die Tiefe der dritten Dimension war zwar begrenzt, man hatte also nicht den Eindruck einer weiten Prärie oder eines Meeres bis zum Horizont, aber wichtiger war die erzielte Perspektive besonders für Nahbereiche. Handelnde Personen, Diskussionen, Berichte von gesellschaftlichen Ereignissen ließen Betrachter dies wie mitten drin erleben. Es war nahezu die perfekte Illusion.

Auf dieser Projektionsfläche ließ Humphrey vorbereitete Videos und historische Dokumentationen ablaufen, während er kommentierte.

Wir stimmen uns anfangs ein, liebe Freunde, mit dem meistgespielten Video aus einer noch etwas weiter zurück liegenden Zeit, als es unser Jubiläumsdatum ist. Es war nach Überzeugung unserer Geschichtsschreibung ein historisches Datum für die Menschheit, der 9. November 1989. An diesem Tage hat sich die Welt dramatisch verändert. Symbol ist der Fall der Berliner Mauer. Aber passiert ist viel, viel mehr. Die zwei sich in Schach haltenden Machtblöcke, die ideologischen Erzfeinde, kollabierten. Es entstand ein Vakuum.

In der Folge geschah viel Positives, aber am Ende beherrschten Bestrebungen die Entwicklung, die geradewegs zu dem Kollisionsszenario führten, das am bewussten 1. Juni 2025 nur durch Ziehen der Reißleine verhindert werden konnte. Die Menschheit schien von allen guten Geistern verlassen. Es kamen so viele Brandherde zusammen, dass weder ein soziales Zusammenleben, wie wir es verstehen, noch eine politische Befriedung möglich erschienen.

Der wesentliche Grund hierfür wird heute in der damals vertretenen Meinung gesehen, man könne eine Demokratie nur dadurch erreichen, dass jeder ohne Ansehen seiner Befähigung durch Wahlen, die „frei“ sein mussten, in jedes beliebige Staatsamt gewählt werden konnte. Dort hatte jeder im Rahmen seiner Kompetenzen freie Hand und richtete in der Regel großen Schaden an. Kein Mensch wäre damals auf die Idee gekommen, einen Direktor für ein Atomkraftwerk, deren Altlasten wir heute noch schmerzlich zu tragen haben, durch eine „demokratische Wahl“ bestellen zu lassen, aber ein Bundeskanzler, Premier oder Staatspräsident, ein Finanz- oder jeder Ressortminister konnten sehr viel eher die politischen Weichen falsch stellen, oft aus purer Naivität, und brauchten doch keine Fachkenntnisse zu haben. Persönlich haftende Verantwortung übernahmen sie nicht und je dramatischer Fehler waren, die vielleicht auch einmal zum Rücktritt führten, umso größer war die Abfindung. Es klingt wie ein Witz für uns. Wir sind gut gefahren, dass wir unsere Besten als Fachleute für Regierungsämter ausbilden und dass die Kontrolle dieser angestellten Regierung auf der politischen Schiene erfolgt. Es kann keiner in durch uns alle beschlossene Grundfragen eingreifen. Aber diese Zeit damals war eben so chaotisch und dadurch ist die prekäre Situation auch nur entstanden. Die Devise damals schien zu sein: Amateure an die Macht!“

Noch Stunden referierte Humphrey das Thema, auf die sich entwickelnde lebhafte Diskussion eingehend.

All dies haben wir viele Male in unserem Leben erörtert. Dass unsere heutige Existenz an einem puren Zufall hing, als ein einfältiger Funktionär Regisseur des Treppenwitzes der Geschichte geworden war, dass er ein Mauerbollwerk zum Einsturz brachte, dieser Termin ist für uns Historiker wie ein Nullpunkt der Menschheit. Es gibt eine Zeit davor und eine danach, fast wie bei der noch gültigen Zeitrechnung mit dem Nullpunkt Jesu Geburt. In Wahrheit ist heute der Beginn des Jahres zweitausend. Jetzt lasst uns zunächst fröhlich feiern!“, endete nach Stunden der Vortragende.

Mit viel Applaus und Schulterklopfen wurde dem Freund Humphrey gedankt. Er hatte es wieder einmal verstanden, den teils sehr verworrenen Wissensstoff mit Humor unterlegt der Runde verständlich zu machen. So oder so ähnlich hatten sie es schon wiederholt erfahren, aber man konnte sich nicht satt sehen an der Dramatik damals und eine Gänsehaut bereitete der Gedanke, dass das heutige Wohl und Wehe von mehr oder weniger zufälligen Ereignissen damals abhing.

Im angrenzenden Salon war eine Lounge vorbereitet. Sessel und Fauteuils in kleineren und größeren Gruppen, niedere Rolltische wurden elektronisch beigeschoben, Kissen und hauchdünne Thermodecken lagen bereit. Den Service orderte man mit dem Komu, dem Komunikator, einer Zusammenfassung der Fernsteuerungen, des Videofones und Internetzuganges. Man trug ihn vorzugsweise „á la Casanova“, wie man dies nannte. In Größe einer antiken Taschenuhr hing er, oft aus edlem Material, mit Schmuck verziert, an einer dünnen, reißfesten Kette und steckte in extra dafür entworfenen kleinen Uhrentaschen an der Kleidung. Er war zum individuellen Schmuck geworden.

Es waren wieder die Sechs aus dem Hubschrauber, die Humphrey in ihre Mitte nahmen und zu einer genügend großen Sitzgruppe leiteten. Die Bestellungen wurden eingegeben und schon bald vom Serviceroboter beigestellt. Der Raum war gut besetzt, fast alle Mitglieder dieser Arge, wie sie sich nannten, nahmen teil. Etwa fünfundachtzig Personen mussten es demnach sein. Die Freude hielt an und so war auch der Geräuschpegel im Raum sehr hoch. Deshalb schaltete Helmar, einer der Ältesten und schon lange dabei, die Filterglocke ein. Es war dies eine elektronische unsichtbare, glockenförmig über der Sitzgruppe schwebende ionisierte Luftschicht, die die Eigenschaft hatte, an Geräuschen auszufiltern, was nur Nebengeräusch war. Es war eine alte Erfindung, man hatte sie seit etwa eineinhalbtausend Jahren in Verwendung. Entstanden war sie aus einer Idee unseres Jubiläumszeitalters, also dem zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert, als in den Kinderschuhen des IT-Zeitalters ein Verfahren entwickelt worden war, mit dem man alle störenden Frequenzen beispielsweise aus Musikaufzeichnungen eliminierte. Man nannte es mp3 und es war ein Meilenstein. Auf dieser Basis zog die Idee in den Alltag ein. Es gab einen akuten Bedarf. Die Verlängerung der Lebenserwartung hatte Probleme mit sich gebracht. Es war nicht gelungen, Altersschwerhörigkeit nennenswert zu verzögern. Ab dem neunzigsten Lebensjahr etwa bekamen die Menschen zunehmend Schwierigkeiten, Geräusche zu filtern. Unterhielten sich sechs oder mehr Personen gleichzeitig, akustisch übereinander und ineinander sprechend, so war das ältere Gehör nicht mehr fähig, einzelne Teile auszufiltern um am Gespräch teilzunehmen. Besonders galt dies, wie hier, wenn zwar separate Gruppen diskutierten, aber in unmittelbarer Nähe von einander. Die erforderliche Konzentration führte sehr schnell zu Ermüdung. Man sann auf Abhilfe und kam auf mp3. Eine ionisierte Luftglocke separierte wie ein Iglu die Gruppe und die Wirkung des Filters ließ sich einstellen und so konnte das Geräuschniveau in dieser geschützten Zone frei gewählt werden. In diesem Falle, alle Anwesenden im Raum gehörten ja zusammen, dämpfte Helmar nur das Grundrauschen. Man konnte ungestört diskutieren. Es war jeden technischen Aufwand wert. Im Alltag sagte man dann: Lass uns in den Iglu gehen.

Helmar war der Primus inter pares unserer sechs Freunde, die zusammen angekommen waren. Helmar begleitete Helia, seine Frau, und bei allen Freunden hießen sie wegen der gemeinsamen ersten Silbe ihrer Vornamen nur die Hels. Helia war noch immer stolz auf ihren Vornamen, war es doch ein Link zu ihrer persischen Herkunft. Helia, das bedeutete einst die „Strahlende“, und strahlend war sie eigentlich stets, Alle mochten sie. Das zweite Freundespaar waren Enzo und Brunhild. Ihre Eltern waren versessen auf die wieder viel gespielten Wagner-Opern gewesen. Wenigstens war dieser Name keine Dutzendware. Das dritte Paar, noch nicht so lange im Arge-Kreis, waren Wernher und Maria. Maria wohl immer noch der häufigste und populärste Vorname, Tradition war nicht zu toppen. Sie alle Sechs kamen aus der Ortenau, man nannte diese Gegend am badischen Rhein einst die Toskana Deutschlands. Unweit voneinander bewohnten sie Landhäuser, bewusst außerhalb der Zentren, bewusst eine gute Strecke von der Rheinebene entfernt, halb auf der Höhe des Westhanges des Höhenzuges, der einst den Schwarzwald trug. Schon lange hatte sich die Aktivität des Rheingrabens verstärkt. Die vor Jahrtausenden voraus-gesagte erhöhte Erdbebentätigkeit war eingetreten und das rührte vom ebenfalls erwarteten Aufreißen des Grabens. Der Rhein wurde inzwischen seit ein paar hundert Jahren Jahr für Jahr etwa drei bis fünf Zentimeter breiter und die Prognose war, dass in weiteren mehreren tausend Jahren die Landverbindung abreißen und sich dort ein tiefer Graben auffüllen wird. Dieser Riss, das Ergebnis des Auseinanderdriftens unterschiedlicher Erdplatten, wird bis zur Tiefebene, kurz vor Bonn, reichen und eines Tages vom Meerwasser erobert werden. So lange aber werden der Rhein und die Nebenflüsse ihr Wasser zuerst brauchen, um das sich stark vergrößernde Volumen aufzufüllen. Bonn, Köln werden auf dem Trockenen sitzen, soweit die fortschreitende Erhöhung des Meeresspiegels nicht für aufstauendes Wasser sorgt.

Die inzwischen erneuerten Gebäude waren samt und sonders erdbebensicher gebaut. Auch die historischen Gebäude, die Schlösser, in Rastatt, in Karlsruhe, waren gesichert worden. Man brauchte zum Glück nicht mit den ganz großen Beben zu rechnen, denn im Gegensatz zur St. Andreas-Spalte in Kalifornien bewegten sich hier die Erdplatten nicht in gegenläufiger Richtung, so ungeheure Spannungen aufbauend, wenn Verhakungen stattfanden, sondern hier drifteten die Platten auseinander. Es war eine Sollbruchstelle. Das Elsass würde nach Westen wandern, als Rand Westeuropas, und die Platte würde sich im Uhrzeigersinne drehen. Diese Ablösung war sehr viel harmloser, als andere Beben.

Jetzt aber waren die Freunde in der Gemarkung Langenargen am Bodensee. Hier, in dieser so vom klassischen Barock geprägten Landschaft, war der Nachbau des Dresdner Zwingers Mittelpunkt der wissenschaftlichen Seminareinrichtung. Das bauliche Kleinod passte wundervoll zur Nähe des Schlosses Montfort, wenn auch beider stilistischer Ursprung um mehr als ein Jahrhundert auseinander lag. Die Bodenseelandschaft hatte sich ebenso verändert, wie auch der Schwarzwald.

Vom Klimaschock nie erholt, der zu den Ereignissen von 2025 führte, war die Bewaldung vom Borkenkäfer dahingerafft worden. Die Hänge der Berglandschaft waren danach kahl. Der Schwarzwald, vorher eine gebirgige Waldlandschaft von nahezu sakraler Schönheit, war zur beliebigen Hügelkette mutiert. Man musste zusehen, dass die Mutterkrume nicht fortgeschwemmt würde und die Verkarstung wie einst in Italien einsetzen konnte. Die Aufforstung erfolgte mit anderen, klimaresistenten Baumarten, viel südlicheren. Dem Schwarzwald bekam das gut und so wuchsen nach dreißig, fünfzig Jahren dichte Wälder von Pinien und Zedern, von Akazien, Maulbeerbäumen und Eukalypten, letztere eigentlich die beherrschende Baumgattung der Bewaldung Australiens und Tasmaniens, die ihren Habitus zu einer dichteren Belaubung geändert hatten. Sie fühlten sich erkennbar wohl. Die dadurch dunkelblau wirkenden Hänge, die auch den Namen „Blaugummibaum“ einleuchten ließen, brachten den einstigen Eindruck des eher dunkel bedrohenden Waldes zurück. Dazu großflächige Inseln von Kamelien, ein Teestrauch, die Millionen Besucher im Januar und Februar zur Blüte ganzer Berghänge lockten.

Hier, am Bodensee, war eine andere Vegetation endemisch. Die Apfelplantagen, einst von Friedrichshafen bis nach Lindau unübersehbar, hatten keine Chance mehr. Die Umstellung erfolgte nach und nach, von Fruchtart zu Fruchtart. Inzwischen hatten sich Makro- und Mikroklima stabilisiert und die Fruchtfolge war endlich bei Aprikose und Feigen gelandet. Daneben großflächige Pflanzungen von Zitronenhainen und Oliven. Ein in ganz Europa inzwischen hoch geschätztes Gemüse waren Tomaten aus Hydroanbau, die qualitativ von keiner anderen Region übertroffen wurden. Italien war in Deutschland angekommen.

Dramatischer schien, was mit dem Bodensee geschehen war. Das tiefe Becken im Obersee, bei Bregenz und Lindau, wurde Jahr für Jahr flacher. Der junge Rhein, etwa gegenüber von Langenargen mündend, transportierte unablässig Gestein und Geröll aus Graubünden zu Tal. Die Alpen zerbröselten. Die Zeiten der wasserreichen Schneeschmelze waren vorüber, es fiel kaum noch Schnee, aber die ganzjährig in der Alpenregion häufigen, nur wenige Stunden anhaltenden Niederschläge rauschten als Wolkenbrüche unbezähmbar hinunter und schoben das Delta immer weiter in den See. Dabei wurden mehr Sand und Kiesel mitgenommen, als alle Güterzüge hätten transportieren können. Der Bodensee füllte sich auf. Die Voraussage war einst, vor zweitausend Jahren, dass dies ein Prozess von zehntausend Jahren sei. Dass nun bereits so ein großer Teil des Sees fast verlandete, war nicht erwartet worden. Das hatten auch Tiere entdeckt und die Attraktion des Bodensees war inzwischen eine Kolonie von zehntausenden von Flamingos, die nur für drei Wochen im Winter in die Poebene zogen. Sie standen im gesamten Obersee im etwa zehn Zentimeter seichten Wasser auf einem Bein und wenn die Kolonie gemeinsam aufstieg und Kreise zog, war dies ein überwältigender Anblick.

Die gesamte Landschaft war voll üppigen Grüns. Man war Mai, Juni am Höhepunkt der Ernte und die Früchte an den Bäumen leuchteten weithin. Aprikosen von unvergleichlichem Geschmack, eine wie die andere makellos, kein bisschen teigig oder mehlig, saftig, dass es durch die Finger tropfte. Es war eine Favoritin der Menschen geworden.

In der Lounge gruppierte Helmar die Freunde um sich. Mehr als zwei Meter groß, noch immer drahtig trotz seines fortgeschrittenen Alters, mit langen Gliedmassen und einem genetisch verändertem großen Kopf, die Haare nur wenig ausgedünnt und noch in ihrer Jugendfarbe, entsprach er dem Durchschnittstypus. Die Videos aus der grauen Vorzeit erheiterten Alle, wenn sie die teils unförmigen, dickbäuchigen Vorfahren erlebten. Die Evolution war weitergegangen.

Helmar war lange Zeit in der Optimierungsarge des SH-Projektes gewesen, einer der Leiter. Als promovierter Chemiker war er Koordinator der interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft, kurz Arge genannt. Enzo hatte als Informatiker dazugehört und Wernher als Anlagenbauer. Auch die Frauen hatten ihre Aufgabe, meist als Psychologinnen, als Mediatorinnen, Frauen waren halt die besseren Diplomaten geblieben. Die Sechs hatten sich kennengelernt, merkten schnell, dass sie auf gleicher Welle lagen und befreundeten sich. Das war schon siebzig Jahre her. Seither verband sie enge Freundschaft.

Lasst uns Humphrey bitten, durch die Dokumentation zu gehen, die jetzt endlich wegen der Geschehnisse um 2025 vorliegt. Wir sind doch aus diesem Grunde hier.“

Humphrey ließ sich nicht zweimal bitten. Er zeigte nur wenig Interesse an Flamingos oder Aprikosen, er war mit seinen Gedanken stets in seinem Metier. Vor zweitausend Jahren, als dies alles begann, gab es auch bereits Historiker und die beschäftigten sich ebenfalls mit der Zeit vor damals zweitausend Jahren um Christi Geburt, aber sie stocherten doch weitgehend im Nebel. Er aber konnte in Bergen authentischer Dokumente stöbern, konnte über jedes Ereignis mehrere Videos zu Rate ziehen, hatte Zugriff auf sorgsam gehütetes Schriftgut. Er ging in seiner Faszination auf.

Wenn wir dies systematisch durchgehen wollen, müssen wir uns zwei Wochen hier einquartieren. Das wollen wir wohl nicht und ich schlage vor, wesentliche Auslöser verstehen zu lernen. Es ist Stoff genug.

Zunächst muss uns Betrachtern das Szenario klar sein, das auf die entscheidende Phase 2025 zu trieb. Es war vielschichtig und es war eigentlich unauflösbar. Die Probleme waren durchaus ersichtlich, sie waren auch einsichtig und sie waren ineinander verwoben wie Pilzmyzel, faktisch unauflösbar. Alles blockierte sich gegenseitig, mit Vernunft war da nichts zu machen. Die Egoismen der gesellschaftlichen Lobbygruppen verhinderten alles, was auch nur den geringsten persönlichen Verzicht bedingt hätte, man kämpfte um jeden Zentimeter Boden, als ob es damit gelänge, das eigene Leben nicht nur zu verlängern, sondern auch ihm einen Sinn zu geben. Dies wurde keineswegs gerüffelt, unter dem Oberbegriff „Besitzstandswahrung“ war es akzeptiert und fast jeder verteidigte seinen irdischen Besitz und seinen Platz in der Hackordnung verbissen.

Wir kennen aus der Überlieferung, wie Alexander der Grosse, der Makedonier, zu seinem Ruhm kam. Es war im Jahre 333 vor Christi Geburt, als er, gerade dreiundzwanzig Jahre jung, mit einem Heer aufbrach, um Vorderasien zu erobern. König Gordios von Phrygien wollte dem jungen Mann seine Grenzen zeigen, ist die eine Version, oder Alexander wollte dem Orakel folgen, wonach nur derjenige Vorderasien besiegen konnte, der vorher eine Prüfung bestand. Gordios präsentierte ihm einen kunstvoll verflochtenen Knoten, den aufzulösen die Tochter als Braut versprach. Viele Anwärter waren bereits gescheitert. Alexander löste dies auf seine Weise, er schlug den Gordischen Knoten mit seinem scharfen Schwert glatt durch. Das hat ihn unsterblicher gemacht, als alle seine Schlachten. Sein Krieg wurde ein Triumphzug. So ähnlich stellte sich auch vor zweitausend Jahren die Situation der Menschheit dar. Nur mit einer ungewöhnlichen Idee konnte das Ziel erreicht, die hoffnungslose Lage entschärft werden.

Die verfahrene Situation hatte sich hochgeschaukelt. Speziell das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert hatten die Lage zugespitzt. Einige zivilisatorische Entwicklungen sorgten für ein sich verschärfendes Tempo, die Ursachen waren schon viel früher auszumachen.

Als dann aber im beginnenden neunzehnten Jahrhundert der Durchbruch in der Medizin gelang, als Seuchen bekämpft, als die Säuglingssterblichkeit auf ein Minimum gebracht werden konnten, als die Lebenserwartung sprunghaft stieg – da begann eine neue Problematik. Die Bevölkerung dieses Planeten explodierte förmlich. Eine Vergleichszahl: Um das Jahr 1930 lebten etwa 2,8 Milliarden Menschen, im Jahre 2010 waren es bereits fast sieben Milliarden. Wie viele sollten erlaubt sein? Wie viele konnte dieser Planet ertragen? Die der einzigen und nicht beliebig erweiterbaren Erde erträgliche Grenze war längst überschritten. Alles, was dann geschah, hing hiermit zusammen. Dennoch durfte über das Problem nicht einmal gesprochen werden. Man brandmarkte Geburtenregelung als Züchtung von Menschen und so wetterten Moralisten und Ethiker polemisch dagegen. Der Wahnsinn ging einfach weiter.“

Willst Du damit sagen, dass jeder so viele Kinder in die Welt setzen durfte, wie er lustig war?“ warf Helia ein, sich ungläubig umsehend.

Ja! Natürlich! Das wurde sogar staatlich gefördert. Der Staat zahlte über etwa zwanzig Jahre hinweg Kindergeld und erließ Steuern, mit wachsender Kinderzahl höhere Beträge. Nach Meinung der Sozialpolitiker hatte die Altersstruktur der Bevölkerung wie eine schlanke Pyramide auszusehen, daher auch der Name. Das war irgendwann im Mittelalter noch richtig gewesen, als die Mehrzahl der Geburten nicht das erste Lebensjahr erreichte. Stellt euch nur vor, dass zum Beispiel der wundervolle Franz Schubert, im Jahre 1797 geboren, dessen unvergängliche Musik wir heute noch so gern hören, das dreizehnte von 16 Geschwistern war und dass von denen nur fünf älter als ein Jahr wurden! Das war keine Ausnahme, das war in jener Zeit Normalität. Plötzlich sterben diese Säuglinge nicht mehr, weil man Bazillen und Viren entdeckte, weil man Behandlungsmethoden ersann, weil die Technisierung begann. Da wurden die Geburten zwar reduziert, aber in den dörflichen Familien, und damals lebten achtzig Prozent der Menschen auf dem Lande und waren in der Landwirtschaft tätig, waren zehn Köpfe am Tisch, Eltern und Kinderschar, die Regel. In den Städten dagegen die Ausnahme, da führten die Wohnprobleme, der karge Arbeitslohn und weil man sich mit Nahrungsmitteln anders als auf dem Lande nicht selbst helfen konnte, automatisch zur ersten Geburtenregelung.

Diese Mentalität, dass nur das Wachstum des Volkes zu einem nie ernstlich erreichten Wohlstand für die Massen führen könnte, hatte sich bis weit in die Krisenzeit hinein erhalten. Als eine zweite Weltwirtschaftskrise, die in Wirklichkeit eine Bankenkrise war, im Jahre 2007 ausbrach, glaubte man deren Folgen nur durch Wachstum der Volkswirtschaft ausgleichen zu können. Die deutsche Regierung jubelte, dass kurze Zeit später die Wirtschaftsleistung stark anstieg, dass viele Menschen wieder in Arbeit kamen, wenn auch meist in unsichere Arbeitsverhältnisse, und überbot sich in immer optimistischeren Schätzungen des herbei gebeteten Wachstums. Fällt euch etwas auf?“

Ja, weshalb spielt Wachstum bei uns keine Rolle?“ fragte zaghaft und grüblerisch Brunhild.

Weil wir diesen Irrglauben längst erkannt, korrigiert und überwunden haben. Unkontrolliertes, ständiges Wachstum hat einen Namen: Krebs. Krebs ist tödlich. So einfach ist das. Da braucht man keine Spezialausbildung, jeder kann das nachvollziehen. Wachstum hat Begrenzung als Voraussetzung. Die Natur weiß das und lässt deshalb die berühmten Bäume nicht endlos in den Himmel wachsen. Auch die DNA unseres Körpers und bei allen Lebewesen ist nicht auf immerwährendes Wachstum programmiert. Im Gegenteil. Der Körper, die Organe wissen, wann sie zu wachsen aufhören müssen. Nach dem Wachstum kommt die Mainte-nance, die Zustandsbewahrung. Ein gesunder Körper schaltet rechtzeitig um, regeneriert nur noch und bleibt so am Leben.

Dies gilt für alles und jedes. Besonders aber für die Erdbevölkerung. Wächst sie unbegrenzt, dass alle Reserven nicht mehr ausreichen, dann gibt es ein Unglück. Das gilt nicht nur für die Nahrungsmittel, für Rohstoffe, das gilt besonders für die empfindliche Gashülle, aus der wir alle mit den gleichen Nasen atmen.

Wachstum ist auch Raub. Denn wer „mehr“ haben will, muss es anderen wegnehmen. Es gibt keine wundersame Vermehrung auf diesem Planeten. Jeder Physiker weiß, dass dies ein endlicher Planet ist. Die Gier, die Wachstumsidiotie hat die Menschen damals beherrscht. Während der Kolonialzeit strömte Reichtum aus der Plünderung neuer Herrschaftsgebiete in die „zivilisierte Welt“ und man glaubte, dies könne endlos so weitergehen, dies sei Wachstum. Aber das stammte aus den Raubzügen in anderen Kulturen, aus den kolonialen Rüpeleien. Wir haben das längst verinnerlicht, deshalb fragst du, Brunhild, so ungläubig nach. Unsere Denke ist inzwischen eine andere.

Die seinerzeitige Wachstumshysterie, die Immer-mehr-haben-wollen Ellenbogenmentalität, hat fast alles zerstört. Unser heutiger Tag erinnert, dass in letzter Minute der Hebel umgelegt wurde.

Neben der Übervölkerung der Erde, dieses seismografisch empfindlichen Systems, gab es noch andere Brandherde, ich sagte es bereits. Da war die sich entwickelnde Industrie, die in den ersten zweihundert Jahren keinen Nerv für die Umwelt hatte, man sah Probleme bei Luft- und Wasserverunreinigung nicht. Es war die Fortschrittsgläubigkeit, mit der jede Neuerung als das Erreichen des Paradieses empfunden wurde, es war noch vieles Andere. Aber der Hauptgrund war etwas, was in der Natur aller Menschen liegt und von uns nur durch strenge Vorschriften ausgebremst worden ist: die Gier nach riesigen Vermögen. Die Menschheit entwickelte sich immer schroffer in zwei Lager: Die Mandarine und die Habenichtse. Das musste explodieren.

Wir werden später etwas ausführlicher über das Folgende sprechen, aber behaltet das in eurem Hinterkopf, dass die phrasenhafte Rezitation, man lebe in einem Rechtsstaat und die Anbetung des Geldwesens und der Zinswirtschaft ganz vorn bei den Ursachen für das Desaster stehen. Es wird noch interessant.

Das ist der Moment, um auf eine der Lösungsbeiträge einzugehen. Die Lösung des Bevölkerungsproblems. Wir haben sehr kluge Vorfahren gehabt, die mit Engelszungen gesprochen haben müssen, um die Zustimmung für den einzig hilfreichen, kaum als akzeptabel einzuschätzenden Vorschlag durchzusetzen. Wir kennen es als Obipo. Es brachte langfristig die Wende.

Der Vorschlag kam von einem charismatischen Politiker aus den USA. Er war vom Runden Tisch des Weltkrisenstabes zum Vorsitzenden, zum Mediator aber auch Zuchtmeister bestimmt worden und hatte dieses Instrument nach kurzer Einarbeitung fest im Griff. Seiner Entschlossenheit verdanken wir den heutigen Tag. Deshalb wird heute 12 Uhr mittags in Baltimore, wo er lebte, ein Denkmal enthüllt. Dann, bei uns ist es früher Abend, werden wir noch beisammen sein und wollen an der interaktiven Übertragung teilnehmen. Das Denkmal wird Henry-Helper-Memorial heißen. Familie Helper wanderte über Hamburg nach New York noch unter dem Namen Helfer 1912 aus und kam aus dem damaligen Preußen in der Nähe von Berlin. Wir können stolz auf sie sein.

Helper, ein Patenkind und intellektueller Ziehsohn des in den Krisenzeiten des Kalten Krieges die US-Regierung beratenden jüdischen Deutsch-Amerikaners Kissinger, traf tollkühn anmutende Entscheidungen, als es Spitz auf Knopf stand. Innerhalb weniger Tage krempelte er die Welt um. Noch im Nachhinein hält man die Luft an. Es gelang. Helper war zum modernen Alexander geworden. Er hatte den Knoten durchschlagen.

Dabei nutzte er kurzfristig, schnell wirkende Reparaturen und langfristige Projekte. Das bekannteste, unverzichtbarste, auf Jahrtausende die Zukunft sichernde, war unbestreitbar Obipo. Es ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Obipo als Abkürzung für das Motto „One billion people only“. Fast neun Milliarden Menschen bevölkerten damals die Erde. Die Resourcen gingen zu Ende, das Energieproblem wurde aus durchsichtigen Gründen wie ein Tabu behandelt. Die Städte wuchsen zu wahren Monstern. Zwischen Lagos und Accra, als Beispiel, einer Küste von etwa 400 km Länge durch die Staaten Westafrikas Ghana, Togo, Benin und Nigeria, war eine durchgehende Megastadt mit mehr als 400 Millionen Menschen gewachsen. Elend pur. Das konnte nicht so weitergehen.