Zum Buch
Der Bozner Arzt Max Ober, geboren 1918, erzählt vom Leben in seiner Fülle und Rätselhaftigkeit: Geburt und Tod, Hoffnung und Verzweiflung so nah beisammen, oft nur durch ein Krankenbett getrennt. Max Ober kennt, trotz „halb-hearrischer“ Herkunft, schon früh die Härten des Lebens: die schwierige Ehe seiner Eltern, schwere Erkrankungen, Jugend zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, Erwachsenwerden im Krieg.
Das Buch ist auch eine Geschichte der Medizin und des Südtiroler Gesundheitswesens: Max Ober war schon Arzt, als man zu vielen Höfen nur zu Fuß oder mit dem Motorrad gelangen konnte, als es keinen modernen Rettungsdienst gab; mangels einer Blutbank, für deren Aufbau er sich einsetzte, spendeten er und seine Frau oft in letzter Sekunde den lebensrettenden „Saft“. Max Ober erzählt vom eigenen Suchen und Irren, von seinen Depressionen, von der Hilflosigkeit des Helfers, von seinem Ärger über Politik und Bürokratie. Der Blick des Erzählers ist scharf und milde zugleich sowie von Mut machender Weisheit.
Mit freundlicher Unterstützung der Abteilung deutsche Kultur in der Südtiroler Landesregierung über das Südtiroler Kulturinstitut
Die Buchreihe Memoria mit Aufzeichnungen, Tagebüchern und Biografien aus dem 20. Jahrhundert wird von der Stiftung Südtiroler Sparkasse unterstützt.
© Edition Raetia, Bozen 2014
Fotos: Privatarchiv Ober
Grafisches Konzept: Dall’O & Freunde
Druckvorstufe: Typoplus
ISBN E-Book: 978-88-7283-486-2
ISBN Printversion: 978-88-7283-221-9
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Zum Buch
Impressum
Was dieses Buch sein möchte
Der kleine Beschützer meiner Mutter
Jugend unterm Beil
Vom Studium in den Krieg
In russischer Gefangenschaft
Zwischen Hunger und später Jugend
Der „ganz besondere Saft“
Aufbrüche und Brüche
An der Patientenfront
An einem Tiefpunkt
Schöne Tage, schwere Tage
Nächte am Krankenbett
Gegen den Tod ohnmächtig
Im Gefängnis der Depression
Und immer wieder fängt das Leben an
„Noch scheint die Sonne, noch ist Leben“
Allerhand zu reparieren an mir
„Viel Glück beim Doktorspielen“
Die Medizin der Bürokraten
So wird die Welt für immer ärmer
Briefe an Izumi
Alt und doch überlebend
Mut zur Hoffnung
Vom Wert der Denkpausen
Das Gift der Gewohnheit
Der Fluch der Ausbeutung
Eine innere Revolution
Nachtrag
Literatur
Zum Autor
Wenn man der Nachwelt etwas Brauchbares hinterlassen will, so müssen es Konfessionen sein; man muss sich als Individuum hinstellen, wie man’s meint, und die Folgenden mögen sich heraussuchen, was ihnen gemäß ist und was im Allgemeinen gültig sein mag.
Warum ich mich zum Niederschreiben dieser Erinnerungen und Betrachtungen entschlossen habe, ist das Blättern in meinen Tagebüchern.
Diese Aufzeichnungen, welche ich nun schon über vierzig Jahre lang tatsächlich Tag für Tag nach getaner Arbeit am späten Abend zur Hand nehme und weiterführe, sind mir Fundgrube und Ansporn für die mir gestellte Aufgabe. Ich könnte mir diese mühselige Arbeit jetzt am Lebensabend ersparen, gewiss. Aber beim Blättern in den Tagebuchaufzeichnungen drängt es mich, von all den Notizen, Feststellungen, Beobachtungen, neuen Erkenntnissen das Interessanteste und Wichtigste herauszulesen und zu verwerten, um auch anderen Menschen von diesen meinen persönlichen Erfahrungen etwas weiterzugeben.
Es möchte dies irgendwie ein Vermächtnis vor allem für junge Menschen sein. Die Jugend ist unsere Zukunft, die Jugend bleibt unsere Hoffnung, auf die Jugend müssen und können wir vertrauen und bauen.
Wenn man von den Gefahren weiß, welche unseren Blauen Planeten mehr und mehr bedrohen, und wenn man an die Zukunft denkt, dann kann man nicht stillschweigend und tatenlos zusehen, wie die Menschheit, besonders in den letzten hundert Jahren, mit all den wunderbaren Werken der Natur umgeht und immer mehr Unwiederbringliches vernichtet. Sicher, die Rufer zur Umkehr werden immer zahlreicher, aber auch die Mittel zur Vernichtung werden immer mächtiger und rücksichtsloser. Da dürfen gerade Ärzte, die dem Schutz des Lebens verpflichtet sind, nicht wort- und tatenlos zuschauen.
Ich weiß, dass Worte vergehen, aber deshalb müssen wir sie immer wieder erneuern. Denken wir an die berühmte Rede des Indianerhäuptlings Seattle im Jahre 1855 (an den Präsidenten Franklin in Washington gerichtet): „Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen – oder die Wärme der Erde? Diese Vorstellung ist uns fremd! (...) Der weiße Mann behandelt seine Mutter, die Erde, und seinen Bruder, den Himmel, wie Dinge zum Kaufen und Plündern, zum Verkaufen wie Schafe oder glänzende Perlen! (...) Die Luft ist kostbar für den roten Mann – denn alle Dinge teilen denselben Atem, das Tier, der Baum, der Mensch, sie alle teilen denselben Atem! (...) Was ist der Mensch ohne Tiere? Wären alle Tiere fort, so stürbe der Mensch an großer Einsamkeit des Geistes! (...) Der Mensch schuf nicht das Gewebe des Lebens, er ist darin nur eine Faser. Was immer Ihr dem Gewebe antut, das tut Ihr Euch selber an!“ (Häuptling Seattle, 1984).
„Meine Worte sind wie Sterne, sie gehen nicht unter“, sagte Chief Seattle. Sein Volk hat nicht überlebt, seine Worte wurden nicht gehört und wohl auch nicht verstanden, jedenfalls nicht ernst genommen. Aber die Worte sind auch nicht untergegangen, denn sie mahnen uns weiterhin.
Wir wollen bescheiden bleiben und selbstkritisch. Ich möchte mich nicht zum Besserwisser oder Moralisten aufspielen, denn ich weiß auch aus meiner über 40-jährigen ärztlichen Tätigkeit gar wohl um die Schwächen und Stärken, um Elend und Freude, um das Negative und das Positive, um Gutes und Böses im Menschen. Ich weiß aber auch um die Wünsche und Sehnsüchte von mehr und mehr Menschen – und nicht nur von kranken Menschen. Wir wissen, dass immer mehr Menschen über die Entwicklung auf unserer Welt besorgt sind. Nicht ums Urteilen und ums Verurteilen geht es mir, vielmehr möchte ich aus meinen eigenen Erlebnissen, Erfahrungen und Erinnerungen möglichst das Positive heraussuchen. Bei solchen Betrachtungen aber begegnet einem leider immer wieder auch Schiefes, Falsches, Dummes, Gemeines. Auch dies muss benannt werden, wohl wissend, dass ich dafür nicht unbedingt positive Resonanz erwarten kann, denn jeder Mensch sieht die Welt und das Treiben auf dieser Welt mit seinen eigenen Augen und macht sich demzufolge auch seine eigenen Gedanken. Jeder Mensch sieht nur „seine Welt“ und kennt nur seine eigene Welt.
Ich betrachte dieses Buch als Einladung zu einer erholsamen und nützlichen „Denkpause“, durch die jeder Leser, jede Leserin zu eigenen Gedanken und Betrachtungen angeregt werden sollte.
Hören wir, was diesbezüglich Goethe kurz vor seinem Tode schreibt, am 17. Februar 1832: „Was bin ich denn selbst? Was habe ich denn gemacht? Ich sammelte und benutzte alles, was mir vor Augen, vor Ohren, vor die Sinne kam. Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das Ihrige beigetragen, Toren und Weise, geistreiche Leute und Dummköpfe, Kinder, Männer und Greise, sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich oft, was andere gesäet; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.“ (Zit. nach Werner Völker, 1996)
So ähnlich sehe ich das, was ich anzubieten habe: „Sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein“, dazu ihr Leid, ihr Elend, ihre Gebrechen, ihre Ängste, ihre Schmerzen, ihre Sorgen, ihre Hoffnungen und ihr Vertrauen – und all das nun seit über vierzig Jahren Tag für Tag und in so mancher verzweifelten Nachtstunde – sie, meine lieben Patientinnen und Patienten! Dadurch habe ich unendlich viel erfahren und gelernt, erlebt und begriffen, eine unschätzbare Lebensschule, für die ich dankbar bin und von der ich jetzt etwas zurückgeben möchte.
Wir Menschen leben in einer durch und durch vernetzten, verflochtenen Welt. Je mehr wir sehen, suchen, betrachten, wissen und verstehen, umso reicher und interessanter wird uns diese unsere Welt erscheinen. Dies alles wird uns leider erst nach all den im Laufe eines möglichst langen Lebens erlebten und erlittenen Wirklichkeiten bewusst. Je länger wir leben, umso mehr werden oder können wir erfahren und lernen. Durch Fehler wird man aufmerksam und gewöhnlich auch klüger, aber leider manches Mal erst zu spät.
So allmählich wird man alt und älter, und weil meine Gesundheit nicht mehr die beste ist, so sollte ich wohl doch auch ein „Testament“ für meine Kinder und Kindeskinder vorbereiten, um möglichst viel von meinem „Besitz“ weitergeben zu können. Dabei werde ich mich aber kaum um die materiellen Güter kümmern und bemühen, denn das liegt mir nicht. Mein Streben und Trachten ist und war nie so sehr das Haben, das Besitzen, der Reichtum, sondern für mich war, zum Glück, schon immer wesentlich das Sein, das Fühlen, das geistige Streben, das seelische Gleichgewicht, die innere Freiheit, die Unabhängigkeit, die Selbstgenügsamkeit, die Liebe – kurz, für mich war wesentlich die wahre „humanitas“, die echte Menschlichkeit mit all ihren Schwächen und Stärken, mit ihren Leiden und Freuden, mit Sorgen und Hoffnungen, mit Krankheit und Wohlbefinden. Darum habe ich wohl auch meinen Beruf gewählt.
Mein wichtigstes Testament kann demnach nur geistiger Natur sein – es ist in diesem Buche zu finden. Was dieses Vererben, dieses Weitergeben betrifft, möchte ich mit einigen Sätzen aus einem Roman des sibirischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow, eines Freundes und Beraters Michail Gorbatschows, näher und treffend erläutern. Aus seinem Roman „Ein Tag länger als ein Leben“:
„Mein Erbe wird keinen Schaden bringen. Es wird nur aus meinen Gedanken bestehen, aus meinen Aufzeichnungen, in ihnen aber steckt alles, was ich begriffen, an Einsichten mitgebracht habe aus dem Kriege. Einen größeren Reichtum für die Kinder besitze ich nicht. Hier in der Steppe ist mir das klar geworden ... und in ihnen, meinen Kindern, werde ich weiterleben, irgendwann und irgendwie. Was mir nicht gelungen ist, werden sie vielleicht einmal erreichen! Ihr Leben aber wird noch schwerer als unseres. Also mögen sie den Verstand schärfen von Jugend an. Denken fällt immer schwerer. Darum wird es für sie schwieriger sein als für uns.“ (Tschingis Aitmatow, 2003).
Die wichtigen Erfahrungen sind persönlich; aber auch das Anteilnehmen, das Teilnehmen an den Erfahrungen anderer bringt uns weiter – so ungefähr lernen ja auch die Kinder, lernt die Menschheit. So werde ich vor allem von mir erzählen und den vielen Geschenken an Wissen und Erfahrung, die mir meine Patientinnen und Patienten in die Praxis brachten, nicht weil ich mich für so wichtig halte, sondern weil ich glaube, dass sich in diesem Leben vieles gesammelt hat, was anderen nützlich, hilfreich, sinngebend sein kann.
Mit diesem Buch möchte ich unseren Kindern, Kindeskindern und möglichst vielen jungen Menschen Wege weisen und gängige Perspektiven aufzeigen. Ich möchte Hoffnungen, Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Ziele aufzeigen, andeuten; möchte dem Leben, besonders auch leidender Menschen, Sinn vermitteln und Freude machen, denn auch die schwersten Erlebnisse können neue Horizonte unter klarem Morgenhimmel zeigen.
Das Wichtigste, was ich in meinem Leben für das Leben, in meinem – oft verlorenen, aber nie vergeblichen – Kampf gegen menschliches Leid und Krankheit gelernt habe: Man soll nie verzweifeln!
Es ist Einbildung, dass es keine Brücken zwischen Ich und Du gäbe, dass jeder einsam und unverstanden einhergehe. Im Gegenteil, das, was die Menschen gemeinsam haben, ist viel mehr und wichtiger, als was jeder Einzelne für sich hat und wodurch er sich von anderen unterscheidet.
Ich blicke auf ein Leben zurück, in dem nicht alles leicht und schön war. All mein Tun, auch meine Leistung musste ich oft mit schwerstem Einsatz und oft ohne besondere Hilfe durchkämpfen und durchstehen, manches Mal drohte ich mich zu verirren oder zu verlieren, öfters ging es gewaltig auf und ab. Es ist trotzdem ein zufriedener, nicht selbstgefälliger, sondern dankbarer Blick zurück. Aus einer schwierigen Kindheit und Jugendzeit habe ich viel gelernt: durch meine Eltern, von meinen Geschwistern, aus Fehlern, die ich selber begangen habe. Den größten Gewinn habe ich aus Denkpausen gezogen, die mir durch mehrere schwere und schwerste Krankheiten aufgezwungen wurden, schon während meiner ersten zwanzig Lebensjahre. Eine Krankheit war es auch, die mich in der Gefangenschaft nach dem Krieg 1945 vor der Verschleppung nach Sibirien und damit – aufgrund meiner schlechten Konstitution – wohl auch vor dem Tod gerettet hat. Krankheit ist für mich weder als Mensch noch als Arzt ein böser Feind, sondern ein Signal zum Innehalten, zur Besinnung, zur Denkpause und – vor dem für uns alle ja unvermeidbaren Tod – zum ordnenden und sinnsuchenden Blick zurück. Denn das brauchen wir alle am meisten, einen Sinn in unserem oft irrenden Leben, auf dieser oft so zum Verzweifeln anmutenden Welt.
Geboren wurde ich am 26. September 1918, kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, in Moritzing bei Gries. Ich war das siebte Kind einer „halb-hearrischen“ Bauernfamilie, denn mein Vater war kein echter Bauer. Er stammte aus einer Kaufmannsfamilie. Der Großvater war ein äußerst tüchtiger und erfolgreicher Weinhändler gewesen. Er hatte unter anderem ein großes Haus in Gries, die „Villa Ober“, erbaut und den wunderschönen „Guglerhof“ in Moritzing unmittelbar neben dem Kirchlein erworben. Er ist dann leider, infolge eines Schlaganfalles, viel zu früh gestorben.
Mein Vater war der Älteste von sieben Kindern und beim Tod meines Großvaters gerade erst sechzehn Jahre alt. Er musste sein hoffnungsvoll begonnenes Studium im Klosterstift „Fiecht“ bei Schwaz aufgeben, sicher eine lange wund gebliebene, entscheidende Zäsur in seinem Leben. Sobald er volljährig war, übernahm mein Vater mit 21 Jahren den großen Hof in Moritzing, bald darauf heiratete er eine Wirtstochter vom „Schenk“ in Frangart. Meine Mutter war zwei Jahre älter als mein Vater. Es war sicher eine übereilte Zweckheirat, denn ein so großer Hof benötigte dringend eine tüchtige Bäuerin. Ich erzähle das, weil man daraus spätere Ereignisse besser begreifen wird.
Aus der jungen Ehe entsprossen, wie die Orgelpfeifen, von 1908 bis 1914, sechs Kinder, drei Knaben und drei Mädchen: Luis, Otto, Hella (Helene), Gusti (Augusta), Peppi (Josephine) und Robert. Dann brach der Krieg in unsere Familie ein – wie in viele andere auch. Mein Vater musste an die Front, meine Mutter war allein zu Hause, mit viel Arbeit und viel Verantwortung, mit sechs kleinen Kindern. Nach dem verlorenen Krieg und der Besitznahme unserer Heimat durch den italienischen Staat gab es natürlich allerhand Veränderungen. Richtig schlimm wurde es dann nach der faschistischen Machtergreifung.
Nach dem Krieg gab es im Hause Ober noch einmal vier Kinder nacheinander. Ich wurde, infolge eines Fronturlaubes meines Vaters, schon 1918 geboren, es folgten Paula 1919, Hermann 1920 und Toni 1921. Das war, von außen gesehen, eine große, schöne, gesunde Familie. Zwischen den doch sehr unterschiedlichen Eltern, die sich auch wohl wenig zu sagen hatten, aber knisterte es immer wieder, zwischen meinem Vater und dem erstgeborenen Sohn Luis gab es ständige und zunehmende Reibereien. Luis war sehr lebendig, intelligent, war auch in der Schule immer schon ein Anführertyp, hatte aber auch den Kopf immer voller Dummheiten, den Schalk hinter den Ohren, dazu immer ein lachendes Gesicht, was meinen Vater immer wieder aus der Fassung brachte. So legte er ihm oft Sonderrationen von Arbeit, von Schimpf und auch von Hieben auf. Doch Luis ließ sich nicht beugen, sodass der Kampf immer weiterging. Unglücklicherweise hatte die Hebamme nach der Geburt des Luis zum Vater gesagt: „Herr Ober, nun sind Sie nicht mehr die Nummer eins im Hause!“
Mein Vater war kein schlechter Mensch, aber leider hatte er zwei Seiten, die er nicht in Einklang bringen konnte: Er war mit unseren Haus- und Hofangestellten sehr gerecht und gut, auch die Kleinkinder mochte er sehr. Und er war stets aufgeschlossen für alles Neue. Er war einer der ersten Radfahrer und Motorradfahrer im Lande, seine „Ariel 500“ war eine schwere englische Maschine. Um 1925 kaufte er, für damalige Verhältnisse, ein Luxusauto, einen massiven Fiat 501, und bald darauf den ersten Traktor. Seine Erneuerungen weckten Neid, aber auch Spott. So ließ er am Moritzinger Hügel, unmittelbar unterhalb des schönen Kirchleins, nach Beiziehung eines Wünschelrutengängers nach Wasser graben – und wurde tatsächlich fündig. 25 Meter tief mussten meine Brüder Luis und Robert einen rund 3 × 3 Meter großen Schacht graben. Das Wasser wurde dann mit einer Spezialpumpe in ein Bassin befördert, und so hatten wir bestes und genügend frisches Wasser.
Sonderbar für die damalige Zeit war die Einstellung meines Vaters gegenüber der gewohnten und hergebrachten Ernährung. Er pflanzte Tomaten, Melanzane und Sojabohnen. Die Medizin und die Naturwissenschaften interessierten ihn leidenschaftlich, er las viel und war ein begeisterter Anhänger des fortschrittlichen deutschen Arztes Wilhelm Hufeland, der seinerzeit den Begriff der „Makrobiotik“ oder „die Kunst lange und richtig zu leben“ geprägt hatte. Mein Vater dokterte auch bei uns Kindern viel herum, des Öfteren auch mit gutem Erfolg, sodass ich meine spätere ärztliche Leidenschaft wohl von ihm habe.
In meiner Mutter fand mein Vater für seine Ideen und Pläne, ob sie nun gut oder schlecht waren, keine Unterstützung. Sie war eine selten gute Frau und eine herzensgute Mutter; sie hatte keine besonderen Ansprüche gegenüber dem Leben, sie war mit ihrem Schicksal zufrieden; sie war keine Kämpfernatur, sie war jederzeit Gott ergeben. Meine Mutter konnte sich für keinerlei Neuerung begeistern, sie nahm alles hin oder leistete höchstens eine passive Resistenz. Damit war sie aber auf Dauer die Gewinnerin, denn sie hatte alle ihre Kinder auf ihrer Seite. Natürlich war das für den Hausfrieden nicht gut. Ihr „Sieg“ war auch kein feierlicher, sondern meist nur stillschweigendes Verharren. Mein Vater hingegen war ein aufbrausender, oft unbeherrschter Mensch. Wir hatten Unsägliches zu erleiden und zu erdulden, lebten in ständiger Angst, denn wir waren ja ohne jeglichen Schutz ihm und seinen Launen ausgesetzt. Das war die andere Seite meines Vaters: Er war ein selbstherrlicher Tyrann. Knechten, Tagelöhnern, Geschäftspartnern und Bekannten begegnete er immer korrekt, da war er absolut rechtschaffen. Aber seine Familienangehören behandelte er wie Sklaven. Wir mussten parieren, ohne Widerrede, und wir hatten alle Angst.
Mein Vater war wohl auch zu jung, unerfahren und überfordert. Er sagte oft: „Mein Vater ist viel zu früh gestorben.“ So lebte er seine Flegeljahre unkontrolliert und ungehindert im Erwachsenenalter aus. Er entwickelte sich mehr und mehr zu einem Despoten, wir alle hatten Angst vor ihm und mieden ihn. Luis, den Ältesten, verjagte er schließlich mit 17, 18 Jahren. Ohne jegliche Wegzehrung und finanzielle Unterstützung musste mein Bruder das Haus bei Nacht und Nebel verlassen. Er fand Aufnahme und Unterschlupf bei einem Onkel, einem Bruder meiner Mutter, als Bauernknecht in Frangart.
So wuchs ich in einem Klima von Angst und Bedrohung auf. Im Alter von zwei Jahren war ich, wie man mir erzählte, das erste Mal am Sterben. Ich war an einer schweren Diphtherie erkrankt. Da es dazumal noch keinerlei wirksames Mittel gegen diese schwere Krankheit gab, war ich dem Erstickungstod durch Krupp ausgeliefert. An meiner Wiege waren schon Kerzen angezündet, der Arzt und die Eltern rechneten mit meinem Tod. Ich muss wohl eine besonders starke Natur und eine günstige Vorsehung gehabt haben, dass ich überlebte.
Auch meine ersten persönlichen Erinnerungen sind von Krankheit geprägt. Bei Fieberanfällen hatte ich jedes Mal ganz fürchterliche Halluzinationen und Visionen, ich sah schreckliche Bilder und litt an quälenden Ängsten: Ich sah mich inmitten einer über mich hereinstürzenden, zusammenbrechenden Welt. Alles in Auflösung, in Flammen, im Untergang – und ich immer mittendrin! Bei solchen Anfällen war ich durch nichts zu beruhigen, auch nicht von meinen Eltern, die bei diesen Gelegenheiten gemeinsam an meinem Bett wachten. Ich fieberte, weinte und schrie. Diese Nächte waren schrecklich, ich kann mich noch sehr gut an sie erinnern. Man wusste nicht, was tun; auch die Ärzte waren ratlos. Erst viel später, lange nach meiner Ausbildung zum Arzt, nach vielen Einblicken in die seelischen Zusammenhänge von Krankheit glaube ich, dass diese meine immer wieder auftretenden Angst- und Wahnzustände ein unbewusster Schrei nach Liebe, nach mehr Geborgenheit waren, denn bei uns zu Hause war es leider alles andere als gemütlich und friedlich.
Meine Mutter litt an schweren Migräneanfällen. Sie lag des Öfteren mit schrecklichen Kopfschmerzen für zwei-drei Tage „wie tot“ im Bette. Das bedrückte mich zutiefst. Und genauso bedrückte mich wohl, dass der Vater für das Leiden der armen Mutter keinerlei Verständnis hatte. Ich stand in diesem gespannten Verhältnis mittendrin, denn ich glaubte, meine Mutter verteidigen zu müssen. Diese Haltung, mich auf die Seite der Schwächeren zu stellen, ist mir wohl geblieben – mit voller Überzeugung und ohne Kompromisse.
Ein Leiden, das mich viele Jahre lang, leider auch noch im „Rediffianum“ in Meran, bedrückte und beschämte, war das Bettnässen. Wir waren zehn Kinder, und so ziemlich genau jedes Zweite von uns war mit dieser unguten Plage mehr oder weniger belastet. Die Ursache des Bettnässens ist vorwiegend psychischer Natur, es zählt längst zu den psychosomatischen Erkrankungen im engeren Sinne. Meistens steht wohl eine unbewusste Protestreaktion dahinter. Es mag in unserem besonderen Fall wohl ein innerer Protest dem überstrengen Vater gegenüber gewesen sein, ein Ausdruck von Wehr- und Hilflosigkeit in einer Situation, die uns überforderte, weil sie uns nicht Kinder sein ließ, weil ich die Mutter beschützen musste, statt selbst beschützt zu werden. Wir ahnten solche Zusammenhänge freilich nicht, und ich litt unter diesem beschämenden Übel ganz besonders schwer und lange.
Das Seelenleben als eine Ganzheit zu begreifen, ist gerade für Ärzte von besonderem Gewinn. „Das Seelenleben ist eine Ganzheit; es kann nicht abgespalten werden in gute Bereiche, die wir annehmen, und schlechte Bereiche, die wir ablehnen“, schreibt der Psychologe Peter Lauster, dem ich viele Einsichten in das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele verdanke. „Die Seele vergisst nicht. Sie will nicht abgeschoben werden. Sie hat ein elementares Recht darauf, sich zu beteiligen. Wir meinen, alles Gedachte des Geistes (der Ratio) wäre das Bedeutungsvollste überhaupt. Ich sage dir: Psychisches ist viel bedeutungsvoller als Gedachtes.“ (Peter Lauster, 1993)
Wir Menschen können erst dann verstehen, erahnen, erkennen, wer wir sind, was wir können, was wir möchten, wenn wir das eigene Seelische gründlich und in Ruhe betrachten. Das ist eine unerlässliche Aufgabe für jeden Einzelnen von uns, und oft sind es Krankheiten, die uns diese Aufgabe stellen, wenn wir ihr sonst durch Verdrängung oder Abspaltung der unangenehmen Teile unseres Seelenlebens ausweichen möchten.
Es war das große Verdienst des Wiener Arztes Sigmund Freud, die Bedeutung des unbewussten, verdrängten Seelenlebens erkannt zu haben. In meinen Worten möchte ich sagen, dass wir alles Unangenehme, Schmutzige, Hässliche, Verbotene, aber auch Leidvolle „unter den Teppich“ kehren möchten; es ist selbst für Erwachsene schwierig, sich einzugestehen, dass man unter dem eigenen Vater gelitten hat, und Kinder können es erst recht nicht. So schieben sie möglicherweise ihre Verletzungen ab in körperliche Abwehr, zum Beispiel in das Bettnässen. Zwei mir sehr wichtige Ärzte, die Freuds Psychoanalyse zum Teil abwandelten, zum Teil weiterentwickelten, sind Alfred Adler, Vater der Individualpsychologie, und Viktor E. Frankl, Begründer der Logotherapie. Seine für mich wichtigste Leistung ist, dass er sich der Frage nach dem Sinn des Lebens stellte.
Verdrängte Gefühle können uns ganz schön durchbeuteln, im guten wie im schlechten Sinne. Sie wirken auf alle möglichen Organe und Körperteile – je nach der eigenen Verfassung und dem momentanen Befinden mit positiver oder negativer Auswirkung. Das kann man als Arzt am allerbesten, und zwar bei jedem Patienten beobachten, erleben und mitfühlen, besonders wenn man den auslösenden Ursachen auf den Grund geht. Dieser „Grund“ steckt meistens sehr tief drinnen, im Unbewussten eben, im geheimnisvollen und uns jederzeit beherrschenden Seelenleben. Das Seelenleben ist unsere Urkraft, zum Teil ererbt und zum Teil erworben – und nur wer diese Urkraft einigermaßen in den Griff bekommt, wird im Leben gut bestehen.
Hinhören, immer wieder hinhören und auch hinsehen, ist mir im Laufe vieler Jahre mit meinen Patientinnen und Patienten zum wichtigsten „diagnostischen Instrument“ geworden. Der Volksmund, die Sprache weiß viel von der Auswirkung seelischer Kränkungen auf den Körper: „Das hat mir einen Stich ins Herz gegeben“; „da blieb mir die Luft weg“; „es stockt der Atem“; „das Blut ist in den Adern gefroren“; „das ging mir an die Nieren“; „es schnürt mir den Hals zu“; „mir wurde kalt ums Herz“; „das liegt mir im Magen“; „es zerbricht mir der Schädel“; „mein Herz rast“; „es schlottern mir die Knie“. Das sind Angst machende, negative, bedrückende Symptome. Aber es gibt ebenso auch positive, wohltuende, aufbauende und Freude schenkende Wirkungen des Seelischen auf den Körper: „Das ließ das Herz höher schlagen“; „mir wurde warm im Bauch“; „ein Stein fiel mir vom Herzen“; „ein wohliges Gefühl“; „vor Freude bekam ich eine Gänsehaut“.
Warum ich diese scheinbar simplen Dinge aufschreibe, die jeder Mensch täglich und immer wieder erleben und fühlen kann? Weil letztlich jeder Einzelne den Schlüssel zu seinem Seelenleben finden kann, wenn er darauf achtet, was ihm wehtut, was ihn beflügelt. Nur durch das Hinhören, Hineinhören in uns können wir etwas über uns lernen.
Die Erziehung des Menschen verläuft im Allgemeinen körperbetont und intellektorientiert, sie zielt auf den Körper und den Geist ab. Das „Seelenleben“ bleibt daneben etwas Nebulöses: Man spricht kaum davon, und man denkt darüber nicht einmal nach – auch wenn man sich immer wieder unbehaglich fühlen mag und alle möglichen Zweifel in uns auftauchen mögen. Warum fühlt man sich nicht glücklich? Warum leidet man unter Schlafstörungen? Warum wacht man manchmal schweißgebadet und mit rasendem Herzklopfen auf? Warum endlich fragt man: „Wer bin ich? Was soll ich?“ Leider fehlte in meiner Kindheit – und fehlt vielfach auch heute noch – das Verständnis für diese Zusammenhänge.
Mit acht, neun Jahren erkrankte ich ein zweites Mal sehr schwer: eine Lungenentzündung, der eine massive Rippenfellentzündung und ein Erguss im Rippenfellraum folgten. Die Erkrankung war damals sehr gefährlich, denn es gab noch keinerlei spezifisch wirksame Medikamente. Monatelang siechte ich dahin. Behandelt wurde ich vom lieben, ruhigen und beruhigenden Doktor Braun. Nach der akuten Phase erhielt ich in seiner Praxis in der Villa Perathoner in Gries für längere Zeit regelmäßige Bestrahlungen, die den Erguss im Pleuraraum zum Versiegen brachten. Wieder verdankte ich einer Krankheit sehr viel. Denn an diese Zeit kann ich mich ganz besonders gut und auch gern erinnern. Ich durfte nach den Schulstunden zu meinem lieben Doktor gehen und bekam von ihm – neben den guttuenden Bestrahlungen – auch wohltuende, liebe, gute, aufmunternde Worte.
In jener Zeit wohl ist in mir der Wunsch entstanden, auch einmal so ein Arzt zu werden. Das blieb nun, trotz vieler Hindernisse und Schicksalsschläge, mein weiteres Streben. Ich hatte aber immer Angst, diesen Wunsch meinem Vater vorzubringen, denn für ihn gab es nur eines: die Arbeit auf dem großen Bauernhof. Damit verdrängte er wohl seine eigene Enttäuschung über das versagte Studium. Jede freie Minute musste genutzt werden: unter den Pergeln, auf den Feldern, den Obstwiesen und auf den Äckern. So säten, pflanzten, pflegten, ernteten wir unter anderem Mais, Kartoffeln, Sojabohnen, Rüben. Und damit uns die Arbeit ja nicht ausgehen würde und wir gleichzeitig in den Genuss einer „Sommerfrische“ kommen konnten, hat unser Vater im Jahre 1925 einen wunderschönen großen Berghof in Tiers gekauft: den „Mühlhof“, in prächtiger Lage, mit Blick zum nahen Rosengarten. Zum Hof gehörten der „Mühlwald“ und eine schöne, große Almwiese, unmittelbar unter dem Rosengarten, auf „Triangl“. Das ist das grüne Dreieck unterhalb der stolzen Felsen, das von Bozen aus schön zu sehen ist.
Nur für uns war es nicht so idyllisch. Es waren nun gleich zwei große Bauernhöfe mit allem Drum und Dran zu bearbeiten, und damit war nicht nur mein Vater, sondern waren wir allesamt ganz und gar überfordert. Wir vier Nachkriegskinder wohl am wenigsten, aber auch wir bekamen unseren Teil mit ab, denn alle mussten mit anpacken.
Meine Schwester Pepi, damals gerade 13, 14 Jahre alt, wurde mit uns vier Kleinen als „Vorhut“ in die feine „Sommerfrische“ nach Tiers gebracht. Für meine Schwester war das eine große Verantwortung. Wir Kleinen hatten auch Aufgaben zu erfüllen: Wir mussten zwei Kühe im Mühlwald hüten (dabei ist uns einmal eine Kuh im steilen Gelände abgestürzt, das war ein arger Schreck für uns alle); außerdem hatten wir beim Roggenschneiden (das Nachbarn für uns besorgten) zu helfen; wir mussten das Essen, das Schwester Pepi für die Arbeiter kochte, auf die Äcker bringen; und wir hatten die Garben zusammenzutragen.
Eines Tages erwischte meine Schwester beim Krapfenbacken statt der Ölflasche eine Flasche mit Petroleum – auf offenem Herdfeuer! Im nächsten Moment stand alles in hellen Flammen. Meine Schwester schleuderte entsetzt die Pfanne auf den Küchenboden, und schon verbreiteten sich die Flammen auf den schwimmenden Petroleumflecken über den Küchenboden. Wir Kleinen rannten in größter Angst weinend und schreiend davon. In ihrer Verzweiflung schüttete meine Schwester einige Kübel Wasser über die Flammen, die nun nur noch toller durch die Gegend schwammen und den ganzen Küchenboden bedeckten. Zum Glück war der Boden mit Steinplatten ausgelegt, sodass das Unglück ohne größeren Schaden endete. Was hätte da aber alles passieren können?! Wir fünf Kinder waren ja ganz allein auf weiter Flur.
Im August ging es immer auf die Alm, hinauf auf „Triangl“ oder die „Anglwiesen“, um das Almheu einzubringen. Diese Arbeit war für uns ungewohnt und dauerte 10 bis 14 Tage, je nach Witterung. Auch zu dieser Arbeit mussten wir alle mitmarschieren, bis auf die größeren Geschwister, die in Moritzing Haus und Hof sowie das restliche Vieh zu betreuen hatten (zwei Ochsen, circa zehn Kühe, die Hühner). Der Weg von Tiers auf die Alm war beschwerlich, man ging drei bis vier Stunden über einen ziemlich steilen Wanderweg. Auch wir Kleinen bekamen dabei je 15 bis 30 Holzschindeln auf den Rücken gepackt, denn das klapprige Schindeldach der uralten Almhütte musste immer wieder ausgebessert werden.
Meine besondere Aufgabe auf der Alm war das Hüten der zwei mitgeführten Kühe, täglich morgens schon ab 6 Uhr. Da passierte es mir leider auch immer wieder, dass ich patschnasse Unterwäsche und Beinkleider anhatte und dann ganz jämmerlich fror. Denn es war morgens immer sehr kalt, und ich schämte mich zu sagen, dass mir mein nächtliches Unglück (das Bettnässen eben) auch beim Schlafen im Heu des Öfteren passierte. Im Heu schliefen wir ja mit den Kleidern. So war für mich die „Sommerfrische“ auf der Alm ein wahrer Graus. Wir Kinder hatten vor allem auch eine schreckliche Angst, wenn die wilden Sommergewitter losgingen, mit Sturm und gewaltigen Blitz- und Donnerentladungen. So unmittelbar unter den mächtigen Felswänden des Rosengartens toste und krachte es fürchterlich – durch die hundertfachen Echoverstärker zwischen den Felsen. Öfter als einmal gab es auch massive Schneeschauer. Da war es dann äußerst ungemütlich in der kleinen alten Holzhütte. Der Wind pfiff durch alle Fugen.
Eines Morgens war unser Pferd verschwunden, der alte „Fuchs“, ein selten geduldiges und treues Tier. Da die Heuernte voll im Gange war, wurde ich von meinem Vater ganz allein auf die Suche nach dem Pferd geschickt. Ich sollte zuerst nach Tiers zum Mühlhof laufen. Und tatsächlich fand ich das alte liebe Tier grasend auf der Wiese vor dem Mühlhof. Auch dem treuen „Fuchs“ war die Sommerfrische auf der Alm offenbar nicht geheuer. Trotzdem mussten wir zwei den ungeliebten und schweren Gang hinauf zur Alm wieder antreten, denn man brauchte auch uns.
An einem schwülen Spätsommertag des Jahres 1929 war gerade die Grummeternte am Mühlhof im Gange, eine von uns immer besonders gefürchtete Arbeit. Es drohte ein Gewitter loszubrechen. In solchen Situationen, wie überhaupt bei schlechtem Wetter, war mein Vater unheimlich erregt und unberechenbar. Wenn irgendetwas schiefging – und bei einer dringenden Heuernte, noch dazu bei drohendem Gewitter, kann kaum alles glattgehen –, dann krachte das gefürchtete väterliche Donnerwetter los: Alle Schuld wurde, wie gewöhnlich, uns und besonders der armen Mutter zugeschoben. Beide Gewitter machten uns Angst, schlimmer aber für uns war das vom Vater losgelassene Gewitter, viel schlimmer als jeder Sturm, als jeder Blitz und jeder Donner. Es bereitete uns schreckliche Angst und Bitternis – und trieb meine Mutter schließlich zur Verzweiflung. Sie war plötzlich auf und davon, ganz allein, ohne ein Wort zu sagen, fort vom Mühlhof, hinunter ins Tal. Was nun?! Wir waren verzweifelt.
Wir Kinder wussten uns keinen Rat, unsere Angst und Sorge waren unheimlich. Ich war damals kaum elf Jahre alt. Kurz entschlossen zog ich eine bessere Hose und Schuhwerk an, fand aber in der Eile keinen Hosenträger – es dämmerte bereits. So lief ich ohne Rücksicht auf Verluste, mit der Hose in den Händen und schrecklicher Angst im Herzen, ebenfalls talabwärts, der lieben Mutter nach. Ich fand und fand sie nicht. Unterwegs fragte ich vorbeikommende Leute, ob sie einer Frau begegnet wären – nichts! Meine Angst wurde immer größer. Ich hatte schon ein gutes Stück der Tierser Straße hinter mir, und es war schon fast finster. Endlich, in der Gegend vom „Lochmüller“, auf einer der Tierser-Bach-Brücken, holte ich meine Mutter ein. Sie stand am Brückengeländer, darunter der tiefe und tobende Tierser Bach, und sagte zu mir: „Max, lass mich da hinunterspringen, ich kann nicht mehr ...“
Wir gingen dann langsam, einander festhaltend, weiter bis Blumau, fuhren mit einem Nachtzug nach Bozen und fanden Aufnahme und vorübergehenden Unterschlupf bei einer Schwester meiner Mutter in der Dr.-Streiter-Gasse. Nach Hause, nach Moritzing, trauten wir uns nicht mehr.
Wer nie sein Brot mit Tränen aß Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß Der kennt euch nicht ihr himmlischen Mächte! Ihr führt ins Leben uns hinein Ihr lasst den Armen schuldig werden, Dann überlasst ihr ihn der Pein; Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.
Die „Tierser Sommerfrische“ war nun für uns alle zu Ende, denn mein Vater verkaufte den schönen Berghof wieder. Vom schrecklichen, für mich furchtbaren Erlebnis mit meiner Mutter habe ich damals keinem Menschen erzählt. Nun aber war ich endgültig der stille Beschützer meiner Mutter, immer wieder hatte ich deswegen so manchen unguten Handel mit meinem Vater. Die Familie war vorerst zerrissen, meine Mutter blieb bei der Tante, und wir Kinder waren alle verstreut, untergebracht bei guten Nachbarn. Mein Bruder Luis war endgültig aus dem Hause verbannt, und Otto, mein zweitältester Bruder, war gerade beim Militär. Für meinen Wunschtraum, einmal studieren zu dürfen, sah ich kaum noch Hoffnungen.
Erst durch einen schweren Schicksalsschlag kam unsere Familie wenigstens einigermaßen wieder zusammen. Otto wurde mit schwerer Lungentuberkulose vom italienischen Militärdienst nach Hause entlassen. Der Vater lebte zu diesem Zeitpunkt allein auf dem Moritzinger Hof. Als Otto heimkam, stand er – schwer krank und nichts ahnend von all dem Leid in unserer Familie – vor einer auseinandergebrochenen Familie. Er kam zu mir und bat mich, gemeinsam mit ihm zum Vater zu gehen. Letzten Endes tat uns ja auch der Vater leid, lebte er nun ganz allein auf dem großen Hof, völlig überfordert von der Haushaltsführung und der Landwirtschaft.
Das war ein schwerer Weg. Mit bangem Herzen traten wir zwei den „Canossagang“ an. Es gelang uns schließlich, das Vaterherz zu erweichen. Wir kehrten alle wieder nach Hause zurück. Otto starb ein Jahr darauf an seiner heimtückischen und hässlichen Erkrankung, die er sich beim Militärdienst zugezogen hatte. Aber auch mein Vater war an seinem Tod wohl mitschuldig. Als Otto allmählich zu genesen schien, hatte er ihn nämlich bei Regen hinaus aufs Feld geschickt, um Kunstdünger auszubringen. Vom schweren Rückfall, den er sich dabei holte, konnte sich Otto nicht mehr erholen. Meine Schwester Pepi betreute ihn zu Hause liebevoll während seiner letzten Monate. Die Medizin war damals, zum Unglück Ottos, nicht so weit, heute würde sich auch sein übles Leiden erfolgreich behandeln lassen. Mein Vater sprach nie mehr davon.
Dass ich meinem Wunsch zu studieren doch wieder einen Schritt näher kam, habe ich meiner lieben Taufpatin Tante Peppi zu verdanken, einer energischen Schwester meines Vaters, welche wohl als Einzige einen gewissen Einfluss auf ihn hatte. In der Volksschule war ich recht erfolgreich gewesen, obwohl es am Anfang auch nicht leicht gewesen war. Der Schulweg war lang, zweimal am Tag von Moritzing nach Gries, das waren viermal je 30 Minuten oder auch mehr. Auch war die Schule für mich eine ganz andere Welt, denn der gesamte Unterricht fand – wegen der faschistischen Schuldekrete – nun auf Italienisch statt. Die Lehrerin verstand kein einziges deutsches Wort. Doch war es für uns erstaunlicherweise kein besonderes Problem, denn Kinder haben weniger Anpassungsschwierigkeiten und finden sich demnach leichter mit fremden Gegebenheiten ab. Ich ging gern zur Schule und lernte fleißig, denn mich interessierten so ziemlich alle Fächer, mit Ausnahme der Rechenkünste. Diese waren mir wohl schon damals zu abstrakt.
Nun setzte Tante Peppi durch, dass ich – 13 geworden – in das Konvikt „Rediffianum“ nach Meran zum Studium durfte. Ich wollte auf das humanistische Gymnasium, aber weil ich erst kurz vor Schulbeginn nach Meran gebracht wurde, verpasste ich den Einschreibungstermin und musste mich mit einem weiteren verlorenen Studienjahr abfinden. Als Übergangslösung wurde ich in die „Scuola di avviamento commerciale“ eingeschrieben. Da fühlte ich mich ziemlich deplatziert, und die Resultate nach dem ersten Trimester waren entsprechend katastrophal. Im Zeugnis fanden sich, zu meinem Schreck, vorwiegend negative Noten: fünf Fünfer und ein Vierer (die Zehn war auch damals die beste Note). Gut war ich nur beim Sporteln.
Wohl fühlte ich mich dagegen im Schülerheim des „Rediffianum“. Da gab es Burschen aus allen Gegenden des Landes und sogar einige aus dem Trentino. So war natürlich immer etwas los. Die Aufsicht besorgten drei Patres vom Benediktinerkloster Marienberg: der gestrenge und immer ernste Regens, von uns „Grappa“ genannt, der eher unwirsche „Kropf“ und der gescheite und angenehme „Manus“. Da wäre wohl über jeden so manches zu berichten und zu bekritteln. Von Pater Manus zum Beispiel erfuhren wir schon damals, zum ersten Male, vom möglichen Bau und von der zu erwartenden katastrophalen Wirkung einer „Atombombe“. Er war sehr belesen und vielseitig interessiert. Die Aussicht, mit der Atombombe leben zu müssen, beeindruckte mich gewaltig und brachte mich zum Grübeln – übrigens immer noch.
Zu den Weihnachtsferien wäre ich am liebsten im Konvikt in Meran geblieben, denn ich war weiterhin in ständiger Angst und Sorge wegen der Spannungen, die bei uns zu Hause gerade an Ferien- und Feiertagen herrschten. Das miserable Zeugnis vom 1. Trimester bekam Vater nicht zu sehen, und bis zum Ende des Schuljahres konnte ich es zum Glück gründlich verbessern.
Mein Hauptinteresse war aber noch nicht die Schule. Am liebsten las ich Indianergeschichten, „Sitting Bull“ war mein Idol. Der Sport begeisterte mich. Ich übte damals so ziemlich jede Disziplin in der Leicht- und Schwerathletik aus, vom Laufen bis zum Kugelstoßen. Und natürlich spielte ich Fußball. Mit dem ersten Geld, das ich irgendwie ergattern konnte (zum Beispiel als Ministrant und von fremden Patres auf Besuch im Konvikt, denn Taschengeld hat es bei uns zu Hause nie gegeben), kaufte ich einem Schulkameraden einen alten Fußball ab.
Um beim Sport mitmachen zu können, um bei einer Mannschaft mitspielen zu dürfen, musste man wohl oder übel bei den faschistischen „Balilla“ oder „Avanguardisti“ eingeschrieben sein. Nur dann standen auch für uns „Allogeni“ (uns Menschen anderer Rasse) die Türen offen. Die Mitgliedschaft an sich war nicht so dramatisch, trotzdem begann ich – mit meinen Kameraden – den unguten Druck des politischen Systems stärker wahrzunehmen als in der Kindheit. Wir erlebten die Faschisten zusehends arroganter, präpotenter und gemeiner.
Aber es überwog die Begeisterung, beim Fußballspielen und auch sonst bei jedem Sport mitmachen zu dürfen. Was verstanden wir damals schon vom Faschismus, vom Nationalsozialismus? Ja, was wussten wir von Tirol oder gar von der Tiroler Geschichte? Das alles war damals tabu für uns. Unsere Schulen waren rein italienisch. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Südtiroler Jugend – aller Sprachgruppen – mittlerweile ihre Sprache, ihre Geschichte, ihre Kultur erlernen kann, war für uns damals unvorstellbar. Eigenständige politische Betätigung, die Erkundung der Heimatgeschichte, die Pflege der eigenen Kultur waren uns versperrt. Selbst das Singen der deutschen Lieder, zu dem ich mich wie viele andere Südtiroler Burschen und Mädchen manches Mal heimlich traf, war verboten. Es herrschte uneingeschränkt und widerspruchslos allüberall der Faschismus des vergötterten Herrn Benito Mussolini.
Noch aber war die bedrohliche politische Entwicklung eher ein Hintergrundbild in unserem jungen Leben. Wir hatten, so nebenbei, reichlich genug mit dem Studium zu kämpfen, und dann war – wenigstens für mich – der Sport das Wichtigste. Das Fußballspiel war meine größte Freude. Da ich ein guter Fußballspieler und gesuchter Torschütze war, habe ich sogar an ein und demselben Tag zwei Fußballspiele für zwei verschiedene Mannschaften bestritten. Es gab natürlich immer auch Verletzungen, und einmal passierte mir ein Unglück: Der Ball erwischte, von unten nach oben das Gesicht streifend, mein offenes Auge – und im nächsten Moment war dieses Auge blind! Was war passiert? Eine massive Blutung in die vordere Augenkammer – zum Glück nur! Nach mehreren Wochen konnte ich wieder normal sehen, und der für mich fürchterliche Gedanke, nie mehr Fußball spielen zu können, war wieder weg. Es sollte später aber noch viel schlimmer kommen.
Zwei Jahre später stießen auch meine beiden jüngsten Brüder zu mir ins „Rediffianum“ in Meran: Hermann besuchte das „Avviamento Commerciale“, Anton – so wie mittlerweile auch ich – das humanistische Gymnasium-Lyzeum „Giosué Carducci“.
Durch den Sport kam ich zu einer – großartig begonnenen und unglückselig verlaufenen – Berührung mit dem faschistischen Größenkult. Ich war noch nicht ganz 17 und inzwischen schon bei den „Avanguardisti moschettieri“, als ich wegen meiner sportlichen Bravour von den Fascio-Häuptlingen in eine Elitegruppe aufgenommen wurde, die dazu bestimmt war, nach Rom zu fahren. Wir waren rund dreißig Burschen, die meisten Italiener, und sollten auf dem „Campo Dux“ vor dem „Duce“ unsere Künste mit den Kleingewehren, den roschetti, vorführen.
Es war Hochsommer und sehr heiß. Wir kamen nach der langen Eisenbahnfahrt bei größter Hitze in Rom an und wurden gleich in das mit Großzelten aufgebaute „Moschettieri-Lager“ geführt. Unser Durst war gewaltig, wir lechzten alle nach Wasser. Auf einem freien Platz zwischen den Zelten plätscherte Wasser in Blechwannen. Endlich! Das Wasser war fast nicht zu trinken – und leider sahen wir erst am nächsten Tag bei Tageslicht das überdimensional große Schild mit einem Totenkopf und der Aufschrift „Non bere, pericolo di morte“ („nicht trinken, Todesgefahr“). Es handelte sich um verschmutztes, ungeklärtes Wasser aus dem Tiber, das immerhin dazu bestimmt war, sich zu waschen, sich die Zähne zu putzen, das Essgeschirr zu spülen – nur vor dem Trinken wurde gewarnt. Eine ungeheure Leichtfertigkeit der Lagerleitung: Zehn meiner Kameraden und ich erkrankten an einem Typhus schwersten Grades. Drei verstarben.
Acht Tage lange schwebte ich, von Rom zurückgekommen, im Bozner Krankenhaus zwischen Leben und Tod. Die Behandlungsmöglichkeiten von Typhus waren damals noch gleich null. Es gab weder Medikamente zum Einnehmen noch irgendwelche Injektionen, es gab keinerlei Infusionen – es gab praktisch gar nichts gegen diese schreckliche Krankheit. Ich konnte nichts essen, mochte kaum etwas trinken. Nur einen stark verdünnten Zitronensaft und einen uralten Marsalawein, welchen mir eine liebe Nachbarin geschickt hatte, brachte ich in kleinen Dosen über die Lippen. Alles andere widerstand mir förmlich. Das andauernde hohe Fieber, von 39 bis 42 Grad, schwächte mich bis zur Todmüdigkeit. Die Nächte waren fürchterlich, ich hatte Fieberdelirium, starke Kopfschmerzen und litt schreckliche Ängste. Zu einem Skelett abgemagert, musste ich in einem Zimmer allein und isoliert gepflegt werden. Nur mein Vater durfte mich einmal in der Woche besuchen. Er kam, stand da, brachte kein Wort über die Lippen – da zeigte sich wohl der weiche Kern unter seiner harten Schale.
Als ich das erste Mal aus dem Bett kam und etwas aufsitzen durfte oder besser sollte, erlitt ich eine massive Thrombose der linken Becken-Hauptvene (Vena iliaca sinistra). Nun war auch eine Lungenembolie zu befürchten, von der ich zum Glück verschont wurde. Es war auch so zu viel, mir wurde strenge Bettruhe verordnet, mein restlicher Humor und all meine Hoffnung auf baldige Genesung verließen mich. Auch gegen die Thrombose fehlte jede Behandlungsmöglichkeit. Ich konnte nur daliegen und hoffen, die Krankheit zu überstehen, aber ich sah kein Ende und war schwer deprimiert. Zugleich erfuhr ich die Segnung von kleinen, aber wertvollen Hilfeleistungen: Das zweimalige Aufbetten und Abwaschen, das Einreiben des armseligen Korpus jeden Tag, das frische Bettzeug, die braven Pfleger erlebte ich wie ein tägliches Geschenk. Der liebe und gute Doktor Mariano Colombatti war mein geduldiger Tröster in der größten Not.
Von den Herren Faschisten, meinen stolzen Vorgesetzten, dagegen ließ sich weder jemand blicken noch hören. Ich verlor ein halbes Schuljahr und blieb wegen der kaputten Venen am linken Bein eigentlich ein halber „Staatskrüppel“, heute noch leide ich an den Folgen der Thrombose am linken Bein. Mein Herz war ebenfalls arg mitgenommen worden, und eine gewisse Beeinträchtigung blieb mir erhalten. Das Fußballspielen war nun wirklich endgültig vorbei. Als sich herausstellte, dass meine Familie für alle Krankenhausspesen selber aufkommen musste, schrieb ich dem „Segretario Generale del Partito“, seiner Exzellenz Renato Ricci, einen Brief nach Rom, mit genauer Angabe aller Fakten. Tatsächlich hat dieser hohe Herr dann auch geantwortet und wenigstens die Krankenhausspesen ersetzen lassen. Außerdem muss er wohl dem zuständigen „Centurione“ in Meran einen Verweis verpasst haben, denn dieser schöne Herr war daraufhin nicht mehr gut auf mich zu sprechen.