Gustave Flaubert
Madame Bovary
Édition abrégée
Herausgegeben von Karl Stoppel
Reclam
2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960478-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-009142-5
www.reclam.de
Vorwort
Madame Bovary
Première partie
Deuxième partie
Troisième partie
Editorische Notiz
Literaturhinweise
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
Junger Mann trifft junge Frau, auf Seite 17 einer ungekürzten französischen Ausgabe.1 Sie kommen sich näher, auf Seite 32 ist das Paar schon auf dem Rückweg von der Hochzeitsmesse, alle Achtung. Anschließend wird ausgiebig gefeiert.
Ist das nicht Stoff, aus dem Träume sind? Nicht, wenn man Emma Bovary heißt. Wo andere Romane und die große Mehrzahl gängiger Filmprodukte enden, beginnt Gustave Flauberts Madame Bovary. Danach folgen noch 379 Seiten.
Da das ›Happy-end‹ gleich zu Beginn inszeniert wird, muss Anderes am Schluss stehen. Es sind ein Bankrott, ein realistisch-langsamer, qualvoller Selbstmord.
Was erzählt uns der normannische Romancier mit dem Schnauzbart zwischen glücklichem Auftakt und trostlosem Schluss?
Bauerntochter trifft Landarzt (»Selon la mode de la campagne, elle lui proposa de boire quelque chose«), Dorfschönheit mit untypischer Erziehung im Ursulinerinnenkloster trifft eher unfähigen Typ (»il apprit d’avance toutes les questions [de son examen] par cœur«). Ist das schon alles? Nein.
»Elle se mettait à la fenêtre pour le voir partir; et elle restait accoudée sur le bord, entre deux pots de géraniums […]. Charles, dans la rue, bouclait ses épe-rons sur la borne; et elle continuait à lui parler d’en [4] haut, tout en arrachant avec sa bouche quelque bribe de fleur ou de verdure qu’elle soufflait vers lui«. Das Burgfräulein lässt dem adligen Herrn Gemahl zum Abschied ein Blümchen hinunterschweben, während der Ritter sich aufs Ross schwingen und auf Abenteuer ausreiten darf?
Halt! Wir sind im 19. Jahrhundert, am Fenster steht eine kaum beschäftigte junge Frau (l’ennui – was für ein Thema!) mit vielen Flausen, in den Augen ihrer Schwiegermutter zumindest, das Ross ist ein schäbiger Gaul, der Reiter nicht der fähigste aller Landärzte auf dem Weg zum Broterwerb, kein Ausnahmemensch (»La conversation de Charles était plate comme un trottoir de rue, et les idées de tout le monde y défilaient«).
Die Klänge eines Klaviers sind zu hören, durch ein offenes Fenster: Eine Frau sitzt an diesem Fenster, genauer gesagt, dahinter. Das wahre Leben (das ailleurs, oder wie immer Emma selbst es nennen würde) spielt sich in ihren Augen ›draußen‹ ab, woanders eben: das Thema ist immer präsent. »Pourquoi, mon Dieu! me suis-je mariée?«.
Nach dem Einzug in das Haus, aus dem sie nicht mehr wegziehen wird, sitzt sie inmitten der Habseligkeiten ihrer bisherigen Existenz (»Au milieu de l’appartement, pêle-mêle, il y avait des tiroirs de commode, des bouteilles, des tringles«)‚ ihr Blick verliert sich wie von selbst in der Aussicht jenseits des noch kahlen Fensters (»On entrevoyait des cimes d’arbres, et plus loin la prairie, à demi noyée dans le brouillard, qui fumait au clair de la lune, selon le cours de la rivière«). Kaum hat Emma den Fuß in ihr neues [5] Heim gesetzt, die Kleiderbügel hängen noch nicht am Haken, die Kisten sind noch nicht ausgepackt, da schweift ihr Blick schon hinaus in das romantisch gefärbte, geheimnisvolle Anderswo. Kann das gutgehen?
Emma träumt von Glück, träumt sich ins Freie, jenseits des ›Fensters‹ sozusagen (»au delà s’étendait à perte de vue l’immense pays des félicités et des passions«). ›Fluchthelfer‹ treten in Erscheinung: Léon und Rodolphe heißen sie. Die junge Frau möchte an ihre Träume glauben, und dies gelingt ihr, wenigstens zeitweise – die Augen fest geschlossen gegenüber einer Realität, die, bei Licht betrachtet, in vielerlei Hinsicht auch die unsere ist.
Denken wir bei alledem an Flauberts oft zitierten, wenn auch vielleicht nicht zu belegenden Satz: »Madame Bovary, c’est moi, d’après moi« – »Madame Bovary, das bin ich selbst, so wie ich mich sehe«.
Emma/Gustave lebt in einer – ja: bürgerlichen Welt, die Träumereien der erwähnten Art nichts abgewinnen kann; was zählt, sind andere Werte. Jenes ›Streben nach Glück‹, wie es z. B. auch in der (nicht zuletzt von der französischen Aufklärung inspirierten) amerikanischen Verfassung als hehres Ziel der Menschheit festgehalten wird, verkommt mehr und mehr zu einem Streben nach rein materiellem Besitz. Schon Charles Bovarys Vater schnappt sich eine Mitgift – »une dot de soixante mille francs, qui s’offrait en la fille d’un marchand bonnetier«. Lässt sich der Stellenwert menschlicher Beziehungen in der Welt, von der Flaubert sich eingekreist sah, prägnanter darstellen?
Schauen wir uns die Erfolgreichen in Emmas Umgebung an. Da ist ein Händler, gleichzeitig ein [6] Darlehensberater (»Wucherer« hieß das zu Emmas Zeiten), der unter Einsatz aller finanztechnischen Mittel sein ›Glück‹ macht: Durch intensive Bemühungen (heute würde man wohl sagen: ›aggressives Marketing‹, es wäre ein positiv besetzter Begriff!) drängt er seinen Mitmenschen Waren auf, die sie nicht brauchen und auch nicht bezahlen können (Verführung zu immer mehr Konsum als Ersatz für nicht zu erfüllende Träume – was für ein Thema!), und bietet halsabschneiderische Finanzierungen an (»Il l’a assassiné de billets«, heißt es über eines seiner Opfer). Er treibt Emma in die Verschuldung und verdient noch kräftig am finanziellen Schiffbruch und damit am bürgerlichen Tod des Ehepaares Bovary. Und dass die Protagonistin unseres Romans am Ende Selbstmord begeht, ist eben nicht nur ihren sentimentalen Katastrophen zuzuschreiben, sondern auch und viel eher noch der handfesteren pekuniären … Wie heißt doch gleich dieser Mann? Lheureux, der Glückliche!
Glück gleich Gelderwerb um jeden Preis, auch über Leichen – auf eine kürzere Formel lässt sich Flauberts desillusionierter Blick auf die ihn und Emma umgebende Bürgerlichkeit kaum bringen. Was würde er zu einer Welt sagen, in der finanzieller Gewinn von Kapitalanlegern höher steht als die Lebenspläne Tausender Menschen, die von einem Glück träumen, das sich eben nur mit einem Arbeitsplatz realisieren lässt?
Und dann ist da noch ein anderer, ein fortschrittlicher Geist, Erbe der französischen Aufklärung und ihrer Ideen, Bewunderer Voltaires, Diderots, Echo aller modernen Gedanken des 18. Jahrhunderts, der großen Prinzipien der Französischen Revolution, als [7] glühender Laizist und Gegner der Geistlichkeit Vertreter staatstragender Ideen par excellence. Homais heißt der Mann, seines Zeichens Apotheker.
Dass er – und das ist der letzte Satz des Romans! – das Ehrenkreuz seines Staates erhält, gewissermaßen als Gütesiegel, als Auszeichnung für vorbildliches Wirken – bekräftigt dies nicht den Sieg des ›aufgeklärten‹ Bürgertums über alle Träumereien?
Ganz recht! Aber wie wird dieses Bürgertum in seiner Person dem Leser vorgeführt: großsprecherisch, verlogen-pathetisch, morsch bis ins Mark. Auch sein Wohlstand ist, wenigstens teilweise, Frucht widerlicher, illegaler Machenschaften.
Interessanterweise hat sich ein Autor unserer Zeit, Jean Améry, in einem eigenartigen, einzigartigen Werk2 auch dieser Figur angenommen und sie vehement gegen ihren eigenen Autor verteidigt. Seine Ausführungen gipfeln u. a. in der Feststellung, »die bürgerliche Aufklärung, das Erbe unserer Zivilisation, das unerlässliche Fundament einer jeden sozialistischen Utopie« werde in der Figur des Apothekers Homais »ins Lächerliche gezogen«. Eben, möchte man sagen – zeigt diese völlig richtige Beobachtung doch, wie scharfsichtig Flauberts vernichtend ironische Wertung ist, wie weit sie auch in eine Zukunft vorausdeutet, die wir zum Glück, wenigstens teilweise, schon wieder hinter uns haben.
Vergessen wir schließlich auch nicht jenen Mann der Kirche, bei dem Emma eines Abends in ihrer Traurigkeit Rat sucht. Ein freundlicher Mann, dieser Abbé [8] Bournisien, der sich halt nur so gar nicht vorzustellen vermag, dass ein Mensch in Not sein soll, dem es weder an Essen und Trinken noch an Feuerholz fehlt …
Darf, kann man ein Meisterwerk kürzen und damit verkürzen? Ein weltberühmtes Gemälde, sagen wir Leonardos Mona Lisa, auf halbe Höhe gestutzt, hie und da beschnitten – würde es noch bewundert? Vergessen wir nicht, dass Flaubert sich nach der ersten Veröffentlichung seines Romans 1857 in der Zeitschrift La Revue de Paris wütend von diesem ›Produkt‹ distanzierte, es verleugnete. Der Verleger hatte aus Angst vor Strafverfolgung (zu der es ja dann wirklich kam) als anstößig empfundene Passagen getilgt.
Das in Rouen aufbewahrte Manuskript der Madame Bovary entstand, wie die mit unzähligen Streichungen, Einfügungen, Abänderungen übersäten Seiten zeigen, in endlosem Ringen um jene Perfektion, die Flaubert in allem erstrebte, was er zu Papier brachte. War DER Abschnitt, DER Satz des Tages (oft nicht einmal das) zu Papier gebracht, ging’s zuweilen noch hinaus in den kleinen Garten, in seinen gueuloir, den ›Brüllhof‹, wo Wortgruppen und Sätze hinausgeschrien wurden, bis der Meister auch mit Klang und Rhythmus zufrieden war. Können bei einem Druckerzeugnis auch die noch wichtig sein? Natürlich, wenn man Gustave Flaubert heißt und davon träumt, eines Tages ein »Buch über nichts zu schreiben«3, ein Buch also, das nur noch Form wäre, ohne Inhalt.
[9] Es gibt mehr als eine Stelle, an denen um einzelne rhythmisierende Satzzeichen gerungen, vier, fünf Varianten verworfen wurden, bevor die Lösung den Schnauzbart, das ›Krokodil‹, wie er auch genannt wurde, zufriedenstellte.
Am Rande sei vermerkt, dass Kutscher aus Rouen sich seinerzeit bisweilen ein Zubrot verdienten, indem sie – vorwiegend englische – Reisende, Touristen würden wir sie heute nennen, zur Gartenmauer des ›Verrückten‹ führten, hinter der sie ihn mit etwas Glück brüllen hören konnten.
Darf, kann man ein solches Werk kürzen? Und doch – hat nicht Flaubert seinen Roman selbst schon gekürzt? Das in endloser Arbeit zurechtgefeilte Manuskript von mehreren tausend Seiten Umfang (fünf Jahre Schreibtischarbeit und Gebrüll im gueuloir!) verdichtete der Autor für die erste zu druckende Fassung auf 350 Druckseiten. Sechs Fassungen des Romans entstanden nach und nach. Wagen wir unsere Frage noch einmal?
Zurück zu Emmas Klavierspiel: »Elle frappait sur les touches avec aplomb, et parcourait du haut en bas tout le clavier sans s’interrompre«. Ist diese Passage nicht vielleicht entbehrlich? Natürlich nicht: Emma, die Bauerntochter mit den romantischen Träumen und der höheren Erziehung, tut diese unter anderem durch ihr Klavierspiel kund, das die tumben Dörfler staunen lässt, auch den Schreiber des Gerichtsvollziehers, der (womöglich mit einem [10] Vollstreckungsbescheid in der Hand – »sa feuille de papier à la main«) unter dem offenen Fenster innehält um zuzuhören. Gegen Ende des Romans wird genau so ein Bescheid ins Haus gebracht, und das Ende vom Lied ist, wie schon erwähnt, höchst bürgerlich dann, medizinisch-grausam und unromantisch, aber durch romantische Träume mit angezettelt.
Zu streichen? Natürlich nicht! Und doch …
Wenn der Herausgeber es dennoch wagt, eine Textauswahl aus Flauberts nie und nimmer zu verkürzendem Meisterwerk vorzulegen, dann aus verschiedenen Gründen:
Nicht jeder Leser mag sich auf ein derart umfangreiches Werk in einer Fremdsprache einlassen, die er vielleicht (noch) nicht ganz flüssig beherrscht, da kann eine kürzere Auswahl mit Hilfestellungen durch Wort- und Sachanmerkungen den Schritt über die Schwelle erleichtern.
Für eine Erarbeitung des Romans im Französisch-Unterricht eignet sich das Original in seiner schönen und unerhört dichten Umfänglichkeit ebenfalls nicht, zu kurz wären die zur Verfügung stehende Arbeitszeit und wohl auch der Spannungsbogen der Schülermotivation.
Und für viele andere Leser mag diese Ausgabe ein ›Köder‹ sein, ein Appetithappen besonderer Art, vielleicht eine Verführung zum Lesen ›in epischer Breite‹, in einer Originalausgabe, hinterher … Es wäre im Sinne des Herausgebers!
Karl Stoppel
1. Gustave Flaubert, Madame Bovary, hrsg. von Maurice Bardèche, Paris: Librairie Générale Française, 1972 (Le Livre de Poche).
2. Jean Améry, Charles Bovary, Landarzt. Porträt eines einfachen Mannes, Stuttgart: Klett-Cotta, 2. Aufl. 1978.
3. Brief an Louise Colet vom 16. Januar 1852 (»Ce qui me semble beau, ce que je voudrais faire, c’est un livre sur rien, un livre sans attache extérieure, qui se tiendrait de lui-même par la force interne de son style, comme la terre se soutient dans l’air, un livre qui n’aurait presque pas de sujet ou du moins où le sujet serait presque invisible, si cela se peut«, Gustave Flaubert, Correspondance, hrsg. von Jean Bruneau, Bd. 2, Paris: Gallimard, 1980, S. 31).
[11] Madame Bovary
Mœurs de province
[12] À
Louis Bouilhet