Prolog »Regel-recht ver-rückt«
Verrückt … nach Lebenslust
Zeit
Arbeit
Freiheit
Begeisterung
Kreativität
Bodenhaftung
Verrückt … nach Balance
Achtsamkeit
Demut
Unterscheidung
Heitere Gelassenheit
Verrückt … nach Spiritualität
Spurensuche
Faszination
Spuren Gottes
Sehnsucht nach Heil
Schweigen und Reden
Verrückt … nach Orientierung
Ökologie und Konsum
Geld
Klausur
Beten
Freude und Humor
Verrückt … nach dem rechten Maß
Notwendiges und Überflüssiges
Festhalten und Loslassen
Geben und Nehmen
Essen und Trinken
Treue und Vertrauen
Verrückt … nach Sinn
Gesunde Einheit
Krise – Gefahr und Chance
Identität
Kraft tanken
Berufung
Epilog
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Anton Zuber
Regelrecht verrückt
Die Benediktsregel für Optimisten
Mit Zeichnungen von Ulrich Wörner
Patmos Verlag
Noch ist Zeit, noch sind wir in diesem Leib,
noch lässt das Licht des Lebens uns Zeit, all das zu erfüllen.
Benediktsregel Prolog 43 f
Immer weiter, immer schneller, immer hektischer – man hat weder Ruhe noch Gelegenheit, um in sich hineinzuhören. Der Alltag ist laut und hektisch. Die innere Stimme wahrzunehmen, gelassen zu werden, nicht auf die Uhr schauen zu müssen – danach sehnen sich viele Zeitgenossen.
Wo aber findet der Mensch Orte, an denen er zu Ruhe kommen und sich dem Zeitdruck entziehen kann? Für stressgeplagte, termingehetzte Frauen und Männer scheint es geradezu unvorstellbar, sich für einige Tage in ein Kloster zurückzuziehen, um intensiv zu spüren: lebe ich oder werde ich gelebt? Die Annahme, dass hinter Klostermauern generell Leute hausen, die allem Weltlichen entsagt haben und völlig vergeistigt sind, schreckt manchen von einem solchen Schritt ab.
Wer sich jedoch auf das Abenteuer Kloster einlässt, ist keinesfalls verrückt, sondern rückt vielmehr in eine besondere Atmosphäre ein. Vielleicht rümpfen manche die Nase: Ist ein solcher Ausstieg nicht gefährlich? Kann er möglicherweise der Karriere schaden? Tage ohne Terminkalender, ohne Handy, ohne Computer und Internet, Stunden ohne das Diktat der Zeit? Im Kloster scheinen die Uhren anders zu ticken. Für manchen klösterlichen Gast fällt es plötzlich wie Schuppen von seinen Augen: Mönche und Nonnen verschenken Zeit an andere, wenn sie stundenlang singen und beten. Sie teilen Zeit, wenn sie mit Gästen reden, ihnen zuhören, offen sind für ihre Anliegen.
Aber selbst in Klöstern gibt es Uhren. Der Faktor Zeit gehört für deren Bewohner ebenso zum normalen Lebensrhythmus wie für jeden anderen Menschen auch. Entscheidend ist, man lebt im Kloster nicht in den Tag hinein, sondern nützt die Zeit. Der strukturierte Tagesplan steht für einen ganz bestimmten Umgang mit dem Geschenk an Sekunden, Minuten und Stunden: Sie wird nicht vertrödelt, nicht totgeschlagen, sondern diszipliniert und verantwortungsvoll genutzt.
Der Umgang und die Einteilung der Zeit ist in der Benediktsregel ein wichtiger Bestandteil. Zeit bewegt sich für Benedikt im Pendelschlag des Jahreslaufs und folgt den kosmisch-natürlichen Rhythmen der Gezeiten. Der Tag beginnt mit dem Sonnenaufgang und endet mit dem Sonnenuntergang. Diesen Rhythmus hat die Erfindung der Uhr verändert. Seitdem fühlt sich der Mensch ihrem Diktat unterworfen, von der Geburt bis zum Tod. Oft bestimmen Akkord und Termindruck den Ablauf oder auch das Gefühl der Sinnlosigkeit, etwa in Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Die Zeiger der Uhr drehen sich unaufhaltsam vorwärts, in guten und in weniger guten Tagen.
Wer ein Leben in Fülle sucht, empfindet die Zeit als Geschenk, sie ist Gabe und Aufgabe. Wer ständig unter Zeitmangel leidet, fühlt sich fremdbestimmt. Wer keine Zeit für andere erübrigen kann, wird Mitmenschen nicht begegnen. Er verzichtet auf das Glück, den Puls des Lebens zu spüren.
Der Geist, welcher die gesamte Benediktsregel durchzieht, macht in vielen Passagen deutlich: Das lineare Zeitgefühl mit seiner unwiederbringlich ablaufenden Zeit bietet dem Dasein keinen Ankerpunkt. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Angst macht sich breit. Im sich unaufhörlich drehenden Hamsterrad des Daseins gefangen, erlebt der Mensch einen Mechanismus, dem er offenbar nicht entrinnen kann.
Die Regel Benedikts weiß um dieses Gefühl des Getriebenseins. Darum rät sie, den Tag zu unterbrechen und die Stunden zu gliedern. Wiederkehrende Rituale sollen dem Menschen Geborgenheit schenken. Das Zeitmaß für Mönche und Nonnen ist darum der Rhythmus von Gebet, Arbeit und Lesung. Dazwischen gibt es die Einschnitte der persönlichen Meditation, der Mahlzeiten und des gemeinschaftlichen Gesprächs.
Menschen, die nach der Benediktsregel leben, gönnen sich einen besonderen Luxus: Sie nehmen sich Zeit. Zeit für Gemeinschaft, Zeit für das Gespräch mit Gott, Zeit für die Suche nach ihm. Sich Zeit nehmen, sich Zeit lassen, sich Zeit schenken ist der Gegenpol von Hektik, Stress und Überforderung. Arbeit ist wichtig, ohne Frage. Aber kann Arbeit allein der Sinn des Lebens sein?
Arbeitsprozesse werden rationalisiert, Jobs abgebaut, Profitcenter gebildet. In der Benediktsregel geht es nicht um Gewinnmaximierung oder »shareholder value«. Das Zeitmanagement Benedikts besteht nicht in der minutiösen Einteilung von Stunden, sondern in der festen Struktur des Tages. Im Mittelpunkt steht der Mensch in seiner Verbundenheit mit Gott. Dazu gehören die Kommunikation und die regelmäßige Aussprache mit ihm in allen Situationen des Lebens. Wenn die Benediktsregel sagt: »Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden«, so ist genau diese Haltung gemeint. Sie befreit den Menschen von unnötigem Ballast und lässt ihn die wahren Werte seines Menschseins erkennen: Das Einssein in Gott. Dadurch gewinnt er Abstand vom Diktat der Zeit. Das ist es, was Mönche und Nonnen von Hektik und Burn-out befreit.
Tage, an denen der Mensch inaktiv geworden ist, können zum persönlichen Gewinn werden. Vielleicht wirkt es sich auf das spätere Handeln aus, als Nachklang der Ruhe und inneren Einkehr. Wichtig ist, Müßigsein nicht als verschwendete Zeit zu werten, sondern als kreativen Impuls.
Nimm dir Zeit zu arbeiten –
das ist die Perle des Erfolgs.
Nimm dir Zeit zu spielen –
das ist das Geheimnis der Jugend.
Nimm dir Zeit zu lachen –
das ist die Musik der Seele.
Irischer Segensspruch
Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage
zu sehen wünscht?
Benediktsregel 15
Jede Epoche hat ihre Modeworte und Begriffe, welche das Lebensgefühl der Menschen widerspiegeln sollen. »Work-Life-Balance« ist so ein Begriff, der den Wunsch nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Arbeit im Pendelschlag von Anspannung und Entspannung umschreibt.
Was gibt dem Leben Sinn? Wo findet der Mensch Perspektiven für den Alltag, Impulse für eine humane Arbeitswelt, Motivation zum Engagement? Eine Antwort auf diese Frage findet man in der Benediktsregel, auch wenn es sich total verrückt anhört. Die Benediktsregel. – Eine Regel, die 1500 Jahre alt ist, für Menschen unserer Zeit? Was Benedikt von Nursia für seine Mönche aufgeschrieben hat, ist tatsächlich so lebens- und zeitnah, dass sie zum Kompass des Lebens werden kann. Der Arbeitsalltag des Menschen erfordert nämlich die hohe Kunst, Arbeit und Freizeit in Einklang zu bringen und einen Sinn für die Höhen und Tiefen des Berufslebens mit seinen Chancen und Risiken zu bekommen.
Es gehört schon ein Stück Offenheit dazu, sich mit der Botschaft Benedikts auseinanderzusetzen. Doch wer erkannt hat, welche Schätze in den Kapiteln stecken, wird mit ihr ein interessantes Konzept für eine ganzheitliche Lebensgestaltung finden. Die Regel ist weit weg von esoterischem Friede-Freude-Glücklichsein. Ihre Spiritualität basiert auf der Bibel und orientiert sich am Menschen in all seinen Vorzügen und Schwächen. Auf ihre besondere Art ist sie darum so genial, weil der nötige Freiraum des Menschen darin berücksichtigt und nicht eingeschränkt wird. Benedikt legt Wert darauf, den humanen Konsens des Menschen zu erweitern und den Glauben zu vertiefen. In seinen Worten ist Weisheit, Lebenserfahrung und Urteilsfähigkeit gegenüber menschlichen Schwächen zu spüren. Benedikt hat die Regel für Mönche seiner Zeit geschrieben. Ob er dabei die nachfolgenden Generationen im Blick hatte? Das Faszinierende an der Benediktsregel ist zweifellos ihre einfache Sprache. Darum konnte sie vermutlich auch 15 Jahrhunderte überdauern.
Eine immer wieder gestellte Frage ist so alt wie die Menschheit: Gehört körperliche Arbeit zur Erblast oder bekommt das Leben erst durch sie einen Sinn? Vielfach sehen arbeitende Menschen in der Arbeit lediglich ein notwendiges Übel, einen Zwang, dass etwas getan werden muss, um den Lebensunterhalt zu sichern. Selten wird bewusst, dass Beruf auch eine Berufung ist, geschenktes Talent zum Wohle anderer. Wie aber kann stupide Fließbandarbeit in einem Autowerk oder die eintönige Anstrengung bei der Müllabfuhr mit dem Charisma eines Menschen in Einklang gebracht werden? Vermeintlich findet sich das wirkliche Leben nur in freien Stunden, an Wochenenden oder im Urlaub. Alles andere sei Maloche und Stress. Doch gerade im Unbedeutenden, im Nebensächlichen oder sogar Unwürdigen kann eine besondere Chance liegen.
»Müßiggang ist der Seele Feind. Deshalb sollen die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit, zu bestimmten Zeiten mit heiliger Lesung beschäftigt sein.« (Regula Benedicti 48,1, im Folgenden RB). Welch ein Gegenprogramm. Arbeit gegen Müßiggang? Lesung gegen Vakuum? Den aufgeklärten Zeitgenossen werden solche Worte kaum überzeugen. Dazu müsste er zuerst die Benediktsregel lesen und verstehen: Arbeit und Leben lassen sich nicht trennen. Sie sind eine Einheit. Es wäre zu gering, die täglichen Aufgaben auf das Verdienen des Lebensunterhalts zu reduzieren. Die Tätigkeit im Haushalt, die zeitintensive Erziehung, der ehrenamtliche Einsatz oder, wie bei den Mönchen, die Gebets- und Arbeitsstunden sind unverzichtbare Dienste für das Privat- und Gemeinwohl.
Benedikt kennt zu Recht keine Unterschiede zwischen Arbeit, Gebet und Leben. Für ihn ist die gesamte Lebenszeit des Menschen ein Geschenk Gottes. Diese Gabe als Aufgabe zu sehen und die geschenkte Zeit zu nutzen, geben dem Menschen die Begeisterung für sein Tun. Bei Benedikt ist darin etwas durchaus Pragmatisches zu entdecken: Dem Sinn der Benediktsregel nach sind darin zwei Grundelemente enthalten: »Nutze die Zeit« und »Lebe im Heute«.
Diese Haltung kann sich durch alle Lebensbereiche des Menschen ziehen. Ob im täglichen Tun, im Umgang miteinander, im Reden mit Gott – immer geht es um das Wachstum des Menschen auf eine bestimmte Perspektive hin. Selbst in den Tagesstunden, welche Benedikt als Frei-Zeiten benennt, tritt diese Haltung in den Vordergrund: Der Mensch soll frei sein und unabhängig werden, um eine innere Ausrichtung zu gewinnen auf das personale Ziel des Lebens.
Das menschliche Leben ist für Benedikt eine Symbiose, die von dieser fundamentalen Einheit von Gott und Mensch geprägt ist. Menschen, die nach der Benediktsregel leben, finden genau darin ihre Berufung: ihr Leben in voller Ganzheit zu erfahren und in all seinen Bereichen lustvoll gestalten zu können. Da gruppieren sich nicht mehr Arbeit, Familie, Freizeit und vielleicht noch der Glaube als Lebenssäulen nebeneinander. Vielmehr kombinieren sich die einzelnen Teilbereiche wie eine gelungene Komposition von Höhen und Tiefen, Spannung und Entspannung, gemeinschaftlichem Leben oder entschiedenem Singledasein. Diese Einheit erfahrbar zu machen heißt das Leben intensiv zu gestalten mit all seinem Facettenreichtum und seinen geschenkten Möglichkeiten. Wer sein Leben intensiv gestaltet, kann sich dadurch weiterentwickeln und im positiven Sinne wachsen. Vielleicht führt genau dieser benediktinische Akzent zu einer Ausgeglichenheit, welche jeder Mensch nötig braucht, um den Alltag bestehen und bereitwillig annehmen zu können.
Der Herr bestimmt den Rhythmus meiner Arbeit.
Ich muss nicht rastlos schuften.
Er schenkt mir Zeiten der Ruhe,
Atempausen für meine Seele und kreative Stille.
Er macht mein Leben bunt, indem er meinen Blick weitet,
für die schönen Dinge um mich,
lässt mich still werden und gelassen.
Kreative Impulse strömen in mein Leben und er
überrascht mich durch innovatives Gelingen.
Das macht kräftigt und macht stark.
Ich spüre: Wer auf ihn vertraut,
findet Ruhe im Herzen und Stille in seiner Seele.
Auch wenn die Arbeit mich bisweilen überfordert,
verliere ich nicht mein inneres Gleichgewicht.
Ich halte Frieden mit mir und meinen Mitmenschen,
stelle mich in Einklang von Zeit und Aufgaben
und schärfe den Blick für das Wesentliche.
Oft – mitten im Gedränge – spüre ich, wie Gottes Hand mich hält.
Als ob er mir eine Erfrischung reichte,
mich mit neuer Vitalität und Stärke beschenkte.
Ich fühle, wie sein Frieden mich umgibt
und eine tiefe Geborgenheit in mir an Raum gewinnt.
Nicht mehr Hetze und Leistungsdruck
bestimmen meine Tage,
sondern in mir wächst eine Kraft, die mich leben lässt.
Im Ausgleich von Tagwerk und Freizeit
entdecke ich die wahren Werte meines Daseins
und die Spuren, auf denen ich dem Herrn folgen kann.
Hier finde ich mein Zuhause und tiefe Geborgenheit.
Mische Tun mit Nichtstun –
und du wirst nicht verrückt.
Aus Russland
Seht, in seiner Güte zeigt uns der Herr den Weg zum Leben.
Benediktsregel Prolog 20
Der Christ ist im Aufbruch. Er ist ein Mensch des Weges. Einer, der dem Ruf des Herzens folgt, ein Suchender, denn er glaubt, dass in Gott die Erfüllung seines Sehnens liegt. Darum beginnt die Benediktsregel mit den Worten: »Höre mein Sohn auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat.«
Was den Menschen versklavt, ist nicht unbedingt der Verlust an Freiheit. Es sind Beziehungen, die abhängig machen, angehäufter Besitz, der erdrückt, das Festhalten an Gewohnheiten, die sich wie eine Schlinge um den Hals ziehen. Es ist ratsam, sich immer wieder von solcher Last zu befreien. Denn nur das Von-sich-weg-Geben schenkt Freiraum und Luft zum Atmen. Der Mensch sehnt sich nach dieser Ungebundenheit und wehrt sich gegen Einschränkungen. Jede Diktatur ist schon von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil Gott den Menschen in die Freiheit hineingestellt hat.
Auch die Zehn Gebote sollen den Menschen frei machen. Ihr Grundkonsens, der sich in der Benediktsregel widerspiegelt, liefert die eindeutige Aussage: »Ich bin dein Gott, der dich befreit hat.« Von dieser Botschaft ist in der Interpretation der Zehn Gebote aber wenig zu spüren. Wenn es heißt »Du sollst nicht lügen«, klingt dies nach einer Drohung: »Wenn du nicht das tust, was ich will, dann …«
Der Befehlston in den Zehn Geboten »Du sollst« oder »Du sollst nicht« klingt nach dem Diktat einer höheren Instanz. Im hebräischen Original ist eine Form der Doppeldeutigkeit bewusst gewählt: »Du wirst« oder »Du wirst nicht«. Konkret: »Du wirst nicht ehebrechen« oder »Du wirst nicht morden«. Wenn also Gott den Menschen befreit, so ist die logische Konsequenz daraus, dass es heißen muss: »Weil ich dir die Freiheit schenkte, wirst du nicht stehlen und kein falsche Zeugnis abgeben gegen deinen Nächsten.«
Die Zehn Gebote sind also keine Voraussetzung für Gottes Gnade, sondern genau das Gegenteil, nämlich die Folge davon. Diese Erkenntnis ist eine unglaublich befreiende Botschaft für den Menschen: Keine und keiner muss sich die Liebe Gottes verdienen, sondern er bekommt sie geschenkt. Gottes reiches Angebot heißt: Du, Mensch, kannst dein Ja dazu geben oder auch nicht. Es steht dir frei. Genau dieser ungezwungene Wille ist der wählbare Weg in die Freiheit oder in die Versklavung.
Gebot ist kein Befehl, sondern kommt von Angebot. Gott bietet dem Menschen etwas an. Zum Beispiel das Sonntagsgebot. Hier wird eine Leistung eingefordert, die darin besteht, den verpflichtenden Gottesdienstbesuch abzuleisten. Keine Rede ist vom Angebot der Freiheit, den Gottesdienst mitzufeiern und die Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu erleben. So eine Einladung stellt eine Handreichung dar und keinen Zwang, das Willkommen zum Fest und nicht den Pflichtbesuch. Hier zeigt sich die Freiheit und Unabhängigkeit des Menschen, der von jeder Art Versklavung entbunden ist und mit Herzensfreude feiern darf. Wird die freiwillige Teilnahme an der gottesdienstlichen Feier wirklich bewusst als ein Geschenk gesehen oder ist sie ein Störfaktor im verplanten Wochenende, verbunden mit der Angst, die Zeit könne ohne gewinnbringende Gestaltung des Sonntags zwischen den Händen verrinnen?
Für Mönche und Nonnen ist dem Gottesdienst nichts Wichtigeres vorzuziehen, so sagt es die Benediktsregel. Jeden Tag stundenlang beten, täglich die Eucharistie mitfeiern; versäumen Mönche und Nonnen, die so leben, dabei nicht das Wichtigste im Leben? Sie verbringen ein Dasein, das doch schrecklich langweilig sein muss. Gehorsam statt Freiheit, an einen Ort gebunden sein, statt das Fernweh befriedigen zu können. Verzicht auf Ehe und Familie, Entsagung auf erfüllende Sexualität, Aufopferung, statt menschlicher Nähe und Geborgenheit. Mönche und Nonnen sind in ihrer Mobilität eingeschränkt und unterliegen einer strengen Tagesregel. Soll das die Freiheit sein, von der Benedikt spricht?
Das Vorurteil hält sich wacker: Ordensleute sind in ihrer Freiheit massiv eingeschränkt! Sind jedoch Menschen jenseits der Klausur wirklich frei? Freiheit ist immer relativ. Wie viele Menschen sind ungebunden und fühlen sich dennoch gelangweilt. In Betrieben und Amtsstuben wird gemobbt, gekuscht, geurteilt und betrogen. Viele Arbeitnehmer schweigen aus Angst, ihren Job zu verlieren. In der Ehe binden sich Frau und Mann; das schränkt zwangsläufig die persönliche Freiheit ein. Dazu müssen unweigerlich Rücksichtnahme, Gemeinschaftsdisziplin und Sachzwänge kommen. Krankheit eines Ehepartners, die Erziehung von Kindern, das Diktat des Älterwerdens durchkreuzen vielfach Pläne und Ziele.
Freiheit ist nicht gleichbedeutend mit dem Ausleben individueller Wünsche. Individualismus geht stets auf Kosten anderer. Der Mensch wird nicht als Einzelwesen geboren, sondern ist auf Gemeinschaft hin angelegt. Gemeinschaft im Sinne Benedikts will das Miteinander fördern und den Individualismus aufbrechen. Erst der Mensch, der seine Ichsucht bewusst überwindet, ist frei – auch von sich selbst.
Freiheit ist und bleibt ein Geschenk. Aber dieses Geschenk wird oft erst als solches empfunden, wenn es abhandengekommen ist. Freiheit ist Luxus. Der pure Luxus besteht aber darin, nicht alles haben zu müssen, was man haben könnte.
Danke, Herr, dass ich frei sein darf.
Du hast mich als freien Menschen geschaffen
und mich zur Freiheit berufen.
Ich bin nicht mehr versklavt
und nicht mehr gefangen in mir.
Ich muss nicht mehr an mir irrewerden.
Ich kann mich selbst akzeptieren.
Ich brauche mich nicht mehr zu fürchten,
denn du hast mich frei gemacht.
Du hast mich befreit
und willst, dass ich frei bin,
indem ich nicht mehr der Gefangene bin, der ich einmal war.
Du hast mich mich aus der Enge meines Egoismus herausgeholt
und mich befreit von der Last meiner Scheuklappen.
Ich stehe nicht mehr unter Leistungsdruck und Erfolgszwang.
Ich muss kein Schauspieler sein
und nicht in eine fremde Rolle schlüpfen.
Versagen und Schuld verurteilst du nicht,
denn du hast mich frei gemacht.
Du hast mich befreit
aus Enge und Begrenztheit,
hast mich herausgeholt aus der Nacht meiner Angst
und Verzagtheit.
Ich wurde neu durch die Zusage deiner Liebe,
und indem du mich erlöst hast von Schuld.
Du hast mich als Individuum geschaffen,
einzigartig und unverwechselbar.
Du hast mich mit Kreativität und Innovation ausgestattet,
mir einen schöpferischen Geist geschenkt
und mich so frei gemacht.
Ich werde nicht mehr gelebt, sondern lebe als freier Mensch,
und ich lebe durch dich.
Ich danke dir, Herr,
denn du hast mich frei gemacht.
Nicht alle können auf der Piazza wohnen,
aber allen scheint die Sonne.
Aus Italien