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Eierpampe ist braun.

Ich bin fidel wie ein Flo.

Manchmal geht was schief.

Catherine Cleave, in der Kindheit

 

 

 

 

 

Woran erinnere ich mich, wenn ich hier heute an sie denke, in diesen leisen, fahlen Tagen, da das Jahr zu Ende geht? In meinem Kopf wimmelt es von Bildern aus einer fernen, längst vergangenen Zeit, und bei der Hälfte davon bin ich mir nicht sicher, ob es Erinnerungen sind oder Erfindungen. Nicht, dass das so ein großer Unterschied wäre. Manche sagen ja, dass wir uns, ohne es zu merken, permanent alles ausdenken, alles

Mrs Gray hatte sich mir zunächst in zwei ganz verschiedenen Manifestationen offenbart, und zwischen beiden lagen Jahre. Mag sein, die erste Frau war gar nicht sie, mag sein, es war nur ihre Verkündigung, gewissermaßen, und dennoch ist mir der Gedanke lieb, dass diese beiden eine waren. April, natürlich. Wissen Sie noch, was April früher, in unserer Jugend, bedeutet hat, jenes Gefühl von strömender Nässe, und wie der Wind sich Schwälle von Blau aus der Luft schöpfte, und die Vögel, wie von Sinnen, in den blühenden Bäumen? Zehn oder elf muss ich gewesen sein. Ich war gerade in den Kirchhof von Mary Our Mother Immaculate eingebogen, wie üblich mit gesenktem Kopf – Lydia sagt immer, ich laufe herum wie ein ewiger Büßer –, und das Erste, was ich von der Frau auf dem Fahrrad wahrnahm, war das Surren der Reifen, ein Geräusch, das ich schon als Knabe erotisierend fand, und das ist bis heute so geblieben, ich weiß auch nicht, warum. Die Kirche stand auf einer Anhöhe, und als ich aufsah und die Frau erblickte, wie sie näher kam, und hinter ihr ragte der Kirchturm auf, da war ich wie elektrisiert, denn sie kam mir so vor, als schwebte sie geradewegs vom Himmel hernieder und als käme das Geräusch,

Heutzutage wird einem ja ständig versichert, es gebe, was die Wahrnehmung der Welt betrifft, gar keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Geschlechtern, aber ich wage zu behaupten, dass keine Frau je diesen Andrang dunkler Wonne empfunden hat, die einem Mann, gleich welchen Alters, gleich, ob Dreikäsehoch, ob Tattergreis, durch seine Adern strömt, wenn er die Scham der Frau, wie man es früher eigenartigerweise nannte, versehentlich, also per Zufall, öffentlich zur Schau gestellt sieht. Anders als die Frauen es vielleicht vermuten und, wie ich mir denken könnte, auch durchaus zu ihrer Enttäuschung, ist das, was uns Männer wie gebannt dastehen lässt, was uns den Mund austrocknet und macht, dass uns beinah die Augen aus dem Kopf fallen, gar nicht das Fleisch an sich, sondern vielmehr das kleine bisschen seidenes Drumherum, gleichsam die letzte Barriere zwischen der Nacktheit einer Frau und unserem glotzenden Gebanntsein. Ich weiß, das ergibt keinen Sinn, aber wenn im Sommer an einem überfüllten Strand die Badeanzüge der weiblichen Anwesenden plötzlich wie durch einen dunklen Zauber Unterwäsche wären, dann würden augenblicklich alle männlichen Geschöpfe, die kleinen Nackedeis mit ihrem

Ich denke da besonders an die gute alte Zeit, damals, als ich jung war und die Frauen unter ihren Kleidern – und welche Frau, einmal abgesehen von ein paar Spielverderberinnen in Bundfaltenhosen, Golferinnen oder Filmstars, trug damals keine Kleider – mit all den Tauen und Gestängen, den Klüvern, Gaffeln, Decksprüngen und Stagen jeder Art und Form aussahen wie von einem Schiffsausrüster ausgestattet. Meine Fahrraddame nun, mit ihren straffen Strumpfhaltern und ihren perlweißen Schlüpfern aus Satin, die hatte ganz den Schmiss und auch die Grazie eines getrimmten Schoners, der furchtlos mitten in einen steifen Nordwest hineinsteuert. Sie schien genauso erschrocken wie ich über den Windstoß und darüber, was er mit ihrer Sittsamkeit anstellte. Sie schaute an sich hinunter, dann an mir, hob die Brauen, formte den Mund zu einem O, lachte glucksend, strich sich achtlos mit dem Rücken ihrer freien Hand den Rock über den Knien glatt und segelte vergnügt davon. Mir kam sie vor wie eine Vision der Göttin selbst, doch als ich mich umdrehte und ihr nachsah, da war sie einfach eine Frau, die auf einem schwarzen Fahrrad von dannen rumpelte, eine Frau mit solchen Schulterklappen oder Epauletten am Mantel, wie sie damals Mode waren, Nylons dazu mit schiefen Nähten und dieser Pagenkopf – genau wie meine Mutter. Langsam und besonnen bog sie mit eierndem Vorderrad in den Kirchhof ein und ließ die Klingel zirpen, eh sie hinausfuhr auf die Straße und links die Church Road runter.

Was mich an dieser Begegnung auf dem Kirchhof so sehr berührt hat, war – neben der primitiven Erregung – das Gefühl, dass mir ein kurzer Blick in die Welt des Weiblichen schlechthin gewährt worden war, dass ich, und sei’s auch nur ein paar Sekunden lang, Zutritt hatte zu dem großen Geheimnis. Was mich so elektrisiert und so verzaubert hat, war nicht allein der Anblick der wohlgeformten Beine und der faszinierend komplizierten Unterbekleidung einer Frau, der mir da vergönnt gewesen war, sondern diese selbstverständliche, belustigte und zugleich großzügige Art, wie sie an mir hinuntersah, mit diesem heiseren Lachen, und diese lässige, beiläufige Grazie, mit der sie ihren wehenden Rock bändigte. Das muss ein weiterer Grund sein, weshalb sie in meiner Fantasie mit Mrs Gray verschmolzen ist, weshalb sie und Mrs Gray für mich die beiden Seiten ein und derselben kostbaren Medaille sind, denn Grazie und Großzügigkeit, das war es, was ich an jener ersten und, wie ich bisweilen treulos denke – verzeih mir, Lydia –, einzigen wirklichen Leidenschaft meines Lebens geschätzt habe oder hätte schätzen sollen. Gleichsam das Wasserzeichen, das, was Mrs Gray in jeder ihrer Gesten mir gegenüber zu erkennen gab, war

Sie hieß Celia. Celia Gray. Hört sich irgendwie nicht ganz richtig an, oder, diese Kombination? Die Ehenamen von Frauen hören sich immer ein bisschen falsch an, finde ich. Heißt das, dass alle diese Frauen mit den falschen Männern verheiratet sind oder zumindest mit Männern, die den falschen Nachnamen haben? Celia und Gray, diese Paarung hat so was unglaublich Träges, so ein langsames Zischen, gefolgt von einem weichen Bums, das harte G in Gray ist nicht annähernd hart genug. Sie war überhaupt nicht träge, beileibe nicht. Wenn ich das schöne alte Wort stramm gebrauche, wird man es falsch verstehen, ihm zu viel Gewicht geben, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Ich glaube gar nicht, dass sie schön war, zumindest nicht nach landläufigem Verständnis, obgleich man die Verleihung des goldenen Apfels wohl schwerlich einem Fünfzehnjährigen überlassen dürfte; ich fand sie weder schön noch sonst was; nachdem der erste Glanz verblasst war, hab ich wahrscheinlich gar nicht mehr über sie nachgedacht, sie war einfach da, eine angenehme Selbstverständlichkeit.

Schuld daran, dass ich unversehens in diese Reise in die Vergangenheit hineingestolpert bin, war eine Erinnerung, die mit

 

Ich halte inne, um einen Traum zu erzählen oder wenigstens zu erwähnen, den ich letzte Nacht hatte und in dem meine Frau mich wegen einer anderen Frau verlassen hat. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten haben könnte, ob es überhaupt etwas bedeutet, aber einen Eindruck hinterlassen hat es allemal. Wie

Meine Frau hegt keinerlei sapphische Neigungen, soweit ich weiß – doch wie weit mag das sein? –, aber in diesem Traum, da war sie eine frisch-fröhliche Lesbe. Das Objekt ihrer gewandelten Vorlieben war eine merkwürdig kleine, männlich wirkende, hüftlose Kreatur mit schütteren Koteletten und einem Hauch von Schnurrbart und hatte, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, eine verblüffende Ähnlichkeit mit Edgar Allan Poe. Was die Details des eigentlichen Traums betrifft, so will ich damit weder Sie noch mich langweilen. Wie ich wohl schon erwähnte, glaube ich ohnehin nicht daran, dass wir Einzelheiten in Erinnerung behalten, und falls doch, dann sind diese so stark redigiert und zensuriert und insgesamt so ausgeschmückt, dass sie etwas ganz Neues darstellen, einen Traum von einem Traum, der das Original verwandelt oder auch verklärt, wie der Traum an sich die Wach-Erfahrung verwandelt oder verklärt. Was mich nicht davon abhält, an Träume mit wie auch immer geartetem numinosem und prophetischem Gehalt zu glauben. Für Lydia dürfte es jetzt allerdings zu spät sein, um mich zu verlassen. Ich weiß nur, dass ich heute früh, eh noch der Morgen graute, mit dem bedrückenden Gefühl von Verlust und Entbehrung

 

Ich glaub, ich hatte so was Ähnliches wie eine kleine Liebelei mit Billy Gray, bevor ich mich in seine Mutter verliebte. Da ist es wieder, dieses Wort – Liebe; wie leicht es einem doch aus der Feder fließt. Seltsam, auf diese Art an Billy zu denken. Er wäre jetzt in meinem Alter. Das ist wohl kaum bemerkenswert – in meinem Alter war er damals schließlich auch –, und doch erschreckt es mich. Ich habe das Gefühl, plötzlich einen Schritt hinauf – oder ist es ein Schritt hinunter? – getan zu haben in ein neues Stadium des Alterns. Ob ich ihn wohl erkennen würde, wenn ich ihn träfe? Oder er mich? Er hatte eine solche Wut, als der Skandal losbrach. Ich empfand den Schock der öffentlichen Schande gewiss genauso stark wie er, vielleicht sogar noch stärker, möcht ich meinen, und doch verblüffte mich die Leidenschaft, mit der er mich verstoßen hat. Mich hätte es nämlich nicht weiter gestört, wenn er mit meiner Mutter ins Bett gegangen wäre, was ich mir allerdings auch nur schwer vorstellen konnte – wobei ich mir freilich auch nur schwer vorstellen konnte, dass überhaupt irgendwer mit meiner Ma ins Bett ging, mit diesem armen alten Ding, denn dafür habe ich sie insgeheim gehalten, für arm, für alt und für ein Ding. Und das wird es wohl auch gewesen sein, was Billy so empört hat, dass er sich damit auseinandersetzen musste, dass seine Mutter eine Frau war, die von jemandem begehrt wurde, und obendrein, dass dieser Jemand ausgerechnet ich war. Ja, er muss tatsächlich Martern aller Arten ausgestanden haben bei der Vorstellung, wie wir zwei, einander nackt umklammernd, in Cotters Haus auf einer dreckigen Matratze uns auf dem Boden wälzten. Wahrscheinlich hatte er seine Mutter noch nie unbekleidet gesehen oder konnte sich jedenfalls an nichts dergleichen erinnern.

Ich denke an den Tag zurück, als ich das Haus zum ersten Male sah. Ich war mit Billy in dem Haselwäldchen am Fluss gewesen, er hatte mich auf einen Felsvorsprung geschleppt und mir zwischen den Baumwipfeln das Dach gezeigt. Von da oben, wo wir standen, konnte man nämlich nur das Dach sehen, und nicht mal das erkannte ich zuerst, denn die Ziegel waren mit Moos bedeckt und ebenso grün wie das Laub der Bäume ringsherum. Das war wohl auch der Grund dafür, dass es so lange unentdeckt geblieben war und Mrs Gray und ich sogleich ein sicheres Versteck für unsere Schäferstündchen darin erkannt hatten. Ich wär am liebsten auf der Stelle runter und dort eingebrochen – wir waren schließlich Jungs und jung genug, uns so was wie ein Klubhaus zu wünschen, wie wir das damals genannt hätten –, aber Billy wollte nicht so recht, was ich komisch fand, denn immerhin hatte er ja das Haus entdeckt und war sogar drin gewesen, behauptete er jedenfalls. Ich glaube, er hat sich ein bisschen gegruselt; vielleicht hatte er ja eine böse Vorahnung, oder er hat geglaubt, dass es dort nicht mit rechten Dingen zuging, was ja auch bald so kommen sollte, nur dass dann keine Geister da herumspukten, sondern die Dame Venus und ihr ausgelassener Knabe.

Merkwürdig, dass ich uns an jenem Tag mit prall gefüllten

Billy hatte so was Sanftes an sich, das sehr anziehend war. Sein Gesicht war hübsch, obwohl die Haut nicht gut war, ziemlich narbig, wie bei seiner Mutter, muss ich sagen, und zu Pickeln neigend. Er hatte auch die Augen seiner Mutter, denselben feuchten Umbraton, und wunderschöne lange, feine Wimpern, jede ganz genau von jeder anderen zu unterscheiden, sodass ich an diesen speziellen Pinsel dachte – oder heute denke –, den Miniaturmaler benutzen und dessen Spitze aus einem einzigen Zobelhaar besteht. Sein Gang war komisch, o-beinig und walzend, und dabei schwenkte er die Arme vor dem Körper, was immer so aussah, als sammelte er im Gehen irgendwelche unsichtbaren Garben ein. Zu Weihnachten hatte er mir in jenem Jahr ein Nagelnecessaire aus feinem Schweinsleder geschenkt – ja, ein Nagelnecessaire mit Schere, Nagelknipser, Feile und einem polierten Elfenbeinstäbchen, das an einem Ende wie ein

Jetzt frage ich mich plötzlich, ob es nicht vielleicht seine Mutter war, die dieses Necessaire für ihn gekauft hatte, damit er es mir schenkte, ein schüchtern-heimliches Geschenk, von einem Stellvertreter überbracht, wovon sie glaubte, ich würde schon erraten, dass es in Wirklichkeit von ihr kam. Das war ein paar Monate, bevor wir beide, sie und ich, ein – nun mach schon, sag es, Himmelherrgott noch einmal! – eh wir ein Liebespaar geworden waren. Sie kannte mich natürlich, denn ich war in jenem Winter fast jeden Morgen auf dem Schulweg bei den Grays vorbeigekommen, um Billy abzuholen. Meinte sie etwa, ich sei einer von der Sorte, für die ein Nagelnecessaire das passende Weihnachtsgeschenk ist? Billy selbst war in Sachen Körperpflege eher weniger gründlich. Er badete noch seltener als wir anderen, was an dem wohlvertrauten Mief zu merken war, den er gelegentlich verströmte; die Poren in den Furchen neben seinen Nasenlöchern waren mit etwas Schwärzlichem verstopft, und häufig stellte ich mir schaudernd und mit einer Mischung aus Lust und Widerwillen vor, wie ich mich mit den Daumennägeln als Pinzette an die Arbeit machte, wonach ich zweifellos für diesen eleganten kleinen Beitel aus Elfenbein Verwendung haben würde. Billy trug löchrige Pullover, und seine Kragen waren immer angeschmuddelt. Er besaß ein Luftgewehr

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich Mrs Gray zum ersten Mal gesehen habe, das heißt, sofern sie nicht die Frau dort auf dem Fahrrad war. Müttern schenkten wir nicht so viel Beachtung; Brüdern, ja, selbst Schwestern, aber nicht Müttern. Unscheinbar, formlos waren sie und auch geschlechtslos, nicht viel mehr als eine Schürze, ein Schopf von ungekämmtem Haar und so ein leichter Schweißgeruch, der einem in die Nase stach. Ständig wuselten sie irgendwie im Hintergrund herum, machten irgendwas mit Backblechen oder Socken. Ich war bestimmt schon viele Male in Mrs Grays Nähe gewesen, bevor ich sie auf so eine spezielle, eindeutige Art wahrnahm.

Verwirrenderweise habe ich eine Erinnerung an sie, die garantiert nicht stimmen kann, im Winter, wie sie sich mit Talkumpuder an den glänzenden Innenseiten meiner Oberschenkel zu schaffen machte, die ich mir an den Hosen wundgescheuert hatte; höchst unwahrscheinlich, allein schon darum, weil ich

Billy hat nie mit mir über sie geredet – warum auch? –, und er schien ihr kein bisschen mehr Beachtung zu schenken als ich selber lange Zeit. Er hat immer gebummelt und war oft noch nicht fertig, wenn ich ihn morgens zur Schule abholen wollte, weshalb ich meist ins Haus gebeten wurde, speziell bei Regen oder wenn es kalt war. Die Einladung kam nicht von ihm – erinnern Sie sich nicht mehr an die stumme Wut und die brennende Scham, die stets in uns aufbrandeten, wenn unsere Freunde uns auch nur einen Augenblick lang gleichsam in flagranti im nackten Schoße unserer Familien zu sehen kriegten? – also muss sie von ihr gekommen sein. Freilich kann ich mich nicht entsinnen, sie ein einziges Mal in ihrer Schürze und mit hochgekrempelten Ärmeln an der Haustüre gesehen zu haben oder von ihr an den Familienfrühstückstisch gebeten worden zu

Oh, der morgendliche Duft von fremden Küchen, die wattige Wärme, das Klappern und Hasten, wenn alles schlechte Laune hat und noch im Halbschlaf ist. Nie schien das Neue, Unbekannte, das das Leben bereit hält, lebendiger hervorzutreten als in solchen Augenblicken der Intimität und der Unordnung.

Billy hatte eine Schwester, jünger als er, ein nervendes Geschöpf, das aussah wie ein Kobold, mit langen, ziemlich fettigen Zöpfen und einem schmalen, spitzen kalkweißen Gesicht, dessen obere Hälfte hinter einer gewaltigen Hornbrille mit lupendicken Gläsern verschwamm. Mich schien sie zum Kreischen komisch zu finden und krümmte sich vor boshaftem Vergnügen, wenn ich wie ein krummer Krüppel mit meinem Ranzen in die Küche geschlurft kam. Sie hieß Kitty, und wenn sie mich mit zusammengekniffenen Augen anlächelte und dabei die Lippen aufeinanderpresste, sodass sie einen dünnen, farblosen Bogen bildeten, der wahrhaftig die ganze Breite zwischen ihren kompliziert verschnörkelten, abstehenden rosa Ohren einnahm, dann hatte sie tatsächlich etwas von einer Katze. Heut frag ich mich, ob sie nicht etwa auch in mich verknallt war und die ganze schniefende Erheiterung einfach bloß dazu diente, dies zu verbergen. Oder ist das nur meine Eitelkeit? Ich bin, oder war, schließlich Schauspieler. Irgendwas war mit ihr, sie hatte etwas an sich, worüber man nicht sprach und was dafür sorgte, dass sie, wie man das damals nannte, irgendwie heikel

Mr Gray, der Ehemann und Vater, war lang und dürr und obendrein kurzsichtig, genau wie seine Tochter – er war übrigens Optiker, ein Umstand, dessen höchst ironische Seite niemanden von uns unbeeindruckt ließ –, und trug stets eine Fliege und einen Pullunder mit Fair-Isle-Muster. Und natürlich alsbald die beiden kurzen knubbeligen Hörner, die ihm direkt über dem Haaransatz sprossen und an denen man den Hahnrei erkennt, zu dem ich ihn, ich muss es leider sagen, machte.

War meine Leidenschaft für Mrs Gray am Anfang nicht im Grunde nur die etwas intensivere Spielart einer Überzeugung, die wir alle in diesem Alter haben, nämlich, dass die Familien unserer Freunde viel, viel netter, großzügiger, interessanter – mit einem Wort, viel angenehmer seien als unsere eigene? Billy hatte ja zumindest eine Familie; bei mir hingegen gab es nur mich und meine verwitwete Mutter. Sie führte eine Pension für Handelsvertreter und andere Durchreisende, die dort nicht wohnten, sondern eher wie ängstliche Gespenster herumspukten. Ich hielt mich möglichst wenig zu Hause auf. Bei den Grays war am späten Nachmittag oft keiner daheim, weshalb Billy und ich nach der Schule immer ein paar Stunden dort herumlungerten. Wo waren eigentlich die anderen? Zum Beispiel Mrs Gray und Kitty, wo haben die wohl in der Zeit gesteckt? Ich sehe Billy noch in seinem marineblauen Schulblazer und dem schmuddlig weißen Hemd, wie er mit einer Hand den fleckigen Schulschlips runterzerrt, die Tür des Kühlschranks aufreißt und mit glasigem Blick in dessen erleuchtetes Inneres starrt, als würde er was Spannendes im Fernsehen sehen. Oben im Wohnzimmer gab es tatsächlich einen Fernseher, und manchmal gingen wir dort hinauf und hockten uns davor, die Hände in den

Einmal an einem dieser trüben, faden Nachmittage hatte Billy den Schlüssel zur Hausbar aufgespürt – ja, die Grays besaßen so etwas Extravagantes wie eine Hausbar, denn sie gehörten zu den vermögenderen Leuten der Stadt, obwohl ich zu bezweifeln wage, dass irgendwer bei ihnen wirklich Cocktails trank – und wir machten uns über eine kostbare Flasche zwölf Jahre alten Whiskeys her, die seinem Vater gehörte. Wie wir da so am Fenster standen, mein Freund und ich, mit den kristallenen Whiskeygläsern in der Hand, fühlten wir uns wie zwei Lebemänner vom Beginn des 19. Jahrhunderts, die voller Verachtung auf die nüchterne, die ach so triste Welt hinabschauten. Es war mein erster Whiskey, und obwohl ich nie wirklich Gefallen an dem Zeug gefunden habe, erschienen mir der dumpfe, bittere Geruch und dieses Brennen auf der Zunge wie ein Versprechen auf die Zukunft, auf all die vielen großartigen Abenteuer, die das Leben ganz gewiss für mich bereithielt. Draußen auf dem kleinen Platz vergoldete das matte Sonnenlicht des frühen Frühlings die Kirschbäume und ließ die schwarzen, arthritischen Spitzen ihrer Zweige glänzen; der alte Busher, unser Lumpenmann, quälte sich auf seinem Karren vorwärts, vor den behangenen Hufen seines Pferdes flog schwirrend eine Bachstelze auf, und angesichts all dessen empfand ich den scharfen, süßen Schmerz einer noch unbestimmten, doch schon deutlich wahrnehmbaren Sehnsucht – wie der Phantomschmerz, den

Wie hab ich sie genannt, ich meine, wie habe ich sie angesprochen? Ich kann mich nicht erinnern, jemals ihren Namen benutzt zu haben, obwohl ich es bestimmt getan habe. Ihr Mann nannte sie manchmal Lily, ich aber hatte, glaub ich, keinen Kosenamen für sie, keine zärtliche Bezeichnung. Ich habe den nicht von der Hand zu weisenden Verdacht, dass ich im Taumel der Leidenschaft mehr als einmal das Wort Mutter ausrief! Oje. Was soll ich davon halten? Doch hoffentlich nicht das, was andere womöglich darin sehen.

Billy ging mit der Whiskeyflasche ins Badezimmer und füllte die verräterische Leere mit Leitungswasser auf, und ich trocknete mit meinem Taschentuch die Gläser ab, rieb sie, so gut ich es vermochte, blank und stellte sie wieder an ihren angestammten Platz in der Hausbar. Nun, da wir Komplizen waren, hatten Billy und ich plötzlich Scheu voreinander, und ich griff rasch nach meinem Ranzen und machte mich davon, verließ meinen Freund, der wieder in sich zusammengesackt auf dem Sofa hockte und unkenntlichen Reitern dabei zusah, wie sie durch statisches Schneegestöber trabten.

Ich wäre gerne in der Lage zu behaupten, dass dies der Tag war, an dem ich sie zum ersten Male wirklich sah, denn ich erinnere mich mit einer solchen Deutlichkeit daran, wie ich an diesem Tag Mrs Gray erstmals Auge in Auge gegenüberstand, an der Haustür; sie kam, ich ging, ihr Gesicht war von der prickelnd frischen Luft gerötet, und meine Nerven kribbelten noch von dem Whiskey; eine zufällige Berührung der Hand, ein überraschter,

Und seht! Dort unten auf dem Platz ist, als ich rauskomme – unmöglich –, wieder Herbst, nicht Frühling, und das Sonnenlicht ist abgeklärt, das Laub der Kirschbäume ist rostig rot, und Busher, der Lumpenmann, ist tot. Warum sind die Jahreszeiten nur so stur, warum widersetzen sie sich mir nur so? Warum schubst mich die Musenmutter so herum und gibt mir lauter falsche Tipps und Hinweise, die überhaupt nicht stimmen?

 

Gerade war meine Frau bei mir in meinem Adlerhorst hier oben unterm Dach, kam widerwillig die steile, trügerische, ihr verhasste Bodentreppe emporgestiegen, um mir zu sagen, dass ich einen Anruf verpasst hatte. Als sie den Kopf zu der niedrigen Tür hereinsteckte – wie schlau ich schützend meinen Arm hier um das Blatt Papier gelegt hab, wie ein Schulbub, der Schweinkram kritzelt und dabei ertappt wird –, verstand ich zuerst gar nicht, was sie sagte. Tief versunken in der versunkenen Welt der Vergangenheit, musste ich meine ganze Konzentration zusammennehmen. Normalerweise höre ich es, wenn unten im Wohnzimmer das Telefon klingelt, ein fernes, seltsam klagendes

Eine Frau sei dran gewesen, sagte Lydia, den Namen habe sie nicht mitbekommen, doch unverkennbar eine Amerikanerin. Ich wartete. Lydia schaute jetzt verträumt an mir vorbei durch das Mansardenfenster vor meinem Schreibtisch hinüber zu den fernen Bergen, die blassblau und flächig aussahen, als wären sie in einem ganz schwachen, wässrigen Lavendelton an den Himmel gemalt; einer der Reize unserer Stadt besteht darin, dass sie nur wenige Stellen hat, von wo aus diese sanften und, wie ich immer denke, jungfräulichen Hügel nicht zu sehen sind; man muss dazu nur die Bereitschaft haben, sich ein klein wenig hochzurecken. In welcher Angelegenheit mich diese Frau am Telefon denn sprechen wollte, fragte ich sie freundlich. Nur mühsam riss sich Lydia von der Aussicht los. Ein Film, sagte sie, ein Spielfilm, in dem man mir wohl eine Hauptrolle anbieten wolle. Das ist interessant. Ich habe noch nie in einem Film mitgespielt. Lydias Bick wurde leer, ich meine, noch leerer, als er ohnehin schon war. Sie glaube nicht, dass die Frau ihr den Titel genannt habe. Die planten wohl anscheinend so was wie eine Filmbiografie, aber über wen – keine Ahnung –, irgendein Deutscher oder so. Ich nickte. Ob die Frau vielleicht eine Nummer hinterlassen habe, unter der ich sie zurückrufen könne? Darauf senkte Lydia den Kopf und sah mich unter ihren gerunzelten Brauen ernst und schweigend an, wie ein Kind, dem man eine schwierige und bedrückende Frage gestellt hat, auf die es keine Antwort weiß. Na, macht nichts, sagte ich, die Frau, wer immer sie auch sei, werde bestimmt noch einmal anrufen.

Meine arme Lydia, wenn sie mal wieder eine schlechte Nacht gehabt hat, dann ist sie immer leicht benebelt. Ihr richtiger Name ist übrigens Leah – Lydia war ein Hörfehler meinerseits, der

Wir hatten eine grauenvolle Nacht, alle beide, ich mit meinem Traum von dieser androgynen Verfasserin von Gruselgeschichten, die mich aus Lydias Zuneigung verdrängt hatte, und Lydia mit einem ihrer nächtlichen Schübe von Wahnsinn, von denen sie in den letzten zehn Jahren in unregelmäßigen Abständen heimgesucht wird. Sie wacht auf oder springt zumindest aus

Ich glaube, ich weiß, was Lydia peinigt, neben jenem durch nichts zu lindernden Schmerz, den sie all diese zehn langen Jahre, seit unsere Tochter starb, in ihrem Herzen nährt. Lydia hat nie an irgendwelche kommenden Welten geglaubt, genauso wenig wie ich, aber ich habe den Verdacht, sie befürchtet, ein grausames Schlupfloch in den Gesetzen von Leben und Tod

Warum Cass ausgerechnet in Ligurien war, haben wir nie herausgefunden. Sie war siebenundzwanzig und irgendwie so was wie eine Wissenschaftlerin, wenn auch einigermaßen sprunghaft – sie hatte bereits seit ihrer Kindheit am Mandelbaum-