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John-Henri Holmberg

Kalte Schatten

Buch

Wer Spannung liebt, kommt an der schwedischen Kriminalliteratur nicht vorbei. Einige der größten Meister des Genres haben mit Erzählungen zu dieser Anthologie beigetragen:

Tove Alsterdal, Cilla Börjlind und Rolf Börjlind, Åke Edwardson, Inger Frimansson, Eva Gabrielsson, Anna Jansson, Åsa Larsson, Stieg Larsson, Henning Mankell und Håkan Nesser, Magnus Montelius, Dag Öhrlund, Malin Persson Giolito, Veronica von Schenck, Maj Sjöwall und Per Wahlöö, Sara Stridsberg, Johan Theorin, Katarina Wennstam.

Herausgeber

John-Henri Holmberg ist Autor, Übersetzer und Lektor. Mehr als fünfzehn Jahre lang war er zudem als Kritiker für Spannungsliteratur bei Südschwedens größter Tageszeitung tätig. Für seine Arbeit bekam er den Jan-Broberg-Excellence-Preis und wurde in die Schwedische Krimiakademie gewählt. In Deutschland ist er vor allem als Co-Autor des für den Edgar Award nominierten Buchs »Die Welt der Lisbeth Salander« über die Millennium-Trilogie und ihren Autor Stieg Larsson bekannt, mit Letzterem war er persönlich befreundet. Derzeit lebt Holmberg mit seiner Familie an der Südküste Schwedens.

Kalte Schatten

Erzählungen von Schwedens berühmtesten Spannungsautoren

Herausgegeben von John-Henri Holmberg

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Die Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel »A Darker Shade of Sweden« bei The Mysterious Press, an imprint of Grove/Atlantic, Inc., New York.

Die Erzählungen wurden übersetzt von Ursel Allenstein, Paul Berf, Susanne Dahmann, Gabriele Haefs, Christel Hildebrandt, Lotta Rüegger, Wibke Kuhn, Kerstin Schöps und Holger Wolandt.

Übersetzung des Nachworts sowie der Begleittexte von Wibke Kuhn.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe April 2014

Copyright © der Originalausgabe 2014 by John-Henri Holmberg

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Published by arrangement with Grove/Atlantic, Inc., New York, NY, USA

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagbild: © Getty Images/Angus Clyne; FinePic®, München

Redaktion: Annika Krummacher

AG ∙ Herstellung: Str.

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-13740-3

www.goldmann-verlag.de

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Inhalt

Tove Alsterdal

Wiedersehen

Cilla Börjlind und Rolf Börjlind

Sein Haar gefiel ihm

Åke Edwardson

Nie in Wirklichkeit

Inger Frimansson

Der Ausstand

Eva Gabrielsson

Pauls letzter Sommer

Anna Jansson

Der Ring

Åsa Larsson

Die Postkutsche

Stieg Larsson

Das Superhirn

Henning Mankell und Håkan Nesser

Eine unwahrscheinliche Begegnung

Magnus Montelius

Ein Alibi für Señor Banegas

Dag Öhrlund

Etwas in seinem Blick

Malin Persson Giolito

Ich bin klein, mein Herz ist rein

Veronica von Schenck

Maitreya

Maj Sjöwall und Per Wahlöö

Der Multimillionär

Sara Stridsberg

Was it ever love II

Johan Theorin

Die Rache der Jungfrau

Katarina Wennstam

Spät wird der Sünder erwachen

Nachwort

Danksagung

Quellenangaben

Tove Alsterdal

Wiedersehen

Sie steigt aus dem Wagen und geht langsam zum See hinunter. Er zieht sie magisch an. Der Fußweg verschwindet zwischen einigen Birken und verengt sich zu einem Trampelpfad. Ein schwindelerregendes Gefühl, als würde die Zeit rückwärts rasen, in die Vergangenheit.

Das schwarze Wasser.

Es ist derselbe See, dieselbe Jahreszeit wie damals. Kurz vor Mittsommer, ehe die Hitze in den Boden gedrungen und das Grün der Pflanzen noch zart und jung ist. Das Wasser, genauso dunkel und lockend wie die Albträume, die sie seither quälen. Nicht immer, wenn sie ehrlich ist. Es gab Wochen, ja sogar Jahre, in denen sie vollkommen ruhig schlafen konnte, als Lisette noch ganz klein war zum Beispiel.

»Mein Gott, ist das lange her! Marina! Piiia!«

»Agge!«

Zwei andere Autos halten neben ihr. Die Frauen kreischen so, dass die berühmte Vogelwelt aus Sumpfwiesen und Schilf aufflattert und tiefer im Wald Schutz sucht. Sie ringt sich ein Lächeln ab und geht ihnen entgegen.

»Jojjo, bist du es wirklich?« Marina rennt die letzten Schritte auf sie zu und schlingt die Arme um sie. Betrachtet sie, streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »Shit, du hast dich kein bisschen verändert.« Sie dreht sich zu den anderen um, die gerade Körbe und Kisten voller Essen aus den Autos tragen.

»Habt ihr gesehen, wer schon da ist? Johanna!«

Sie lachen und schreien, und bald liegen sich alle in den Armen, sie drücken sich und sind sich einig: Alle sehen noch genauso aus wie früher.

Ist das schön, sich wiederzusehen! Nach dreißig Jahren! Und du siehst keinen Tag älter aus als fünfundzwanzig! Und du erst! Sie kommen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Und während sie in die kleine Pfadfinderhütte laufen, denkt sie: Wie gut, dass ich doch zugesagt habe. Dass ich dem Gefühl, mich einfach nur verstecken zu wollen, nicht nachgegeben habe. Zwischen ihnen herrscht eine Wärme, die sie vergessen hatte. Sie haben einander schon zu einem so frühen Zeitpunkt im Leben kennengelernt, dass die letzten dreißig Jahre von einer Sekunde auf die nächste wie weggeblasen sind. So fühlt es sich zumindest an, in diesem Moment, als sie sich kichernd darüber unterhalten, wer damals in den Stockbetten oben schlafen durfte.

Johanna beobachtet die anderen und fragt sich, wer eigentlich die Idee zu diesem Wiedersehen hatte. Sie war davon ausgegangen, dass es Marina war. Ihre Eltern hatten irgendwelche Ehrenämter bei den Pfadfindern, denen die Hütten gehören. Marina, mit dem fast schwarzen Haar, das sie jetzt offenbar färbt. Nur ein leichter grauer Schimmer ist zu erkennen, der sie auf paradoxe Weise jünger erscheinen lässt. Fast noch hübscher, als Johanna sie in Erinnerung hat.

»Hast du gar keinen Schlafsack dabei, Jojjo?«, fragt Agge, als sie ihre Schlafsachen auf die Stockbetten werfen.

»Meinst du etwa, dass du nicht übernachten kannst? Aber gerade darum ging es doch.« Agges dunkle Stimme, die immer so selbstverständlich klang. Sie hat mindestens dreißig Kilo zugenommen, und noch immer kann man ihr unmöglich widersprechen. »Ich habe Decken im Auto«, sagt sie. »Es findet sich immer eine Lösung.«

Johanna nickt und lächelt. Warum hat sie zu alledem Ja gesagt? Ihre erste Reaktion beim Anblick der Einladung über Facebook war ein schreiendes Nein. Und dennoch. Allein die Tatsache, dass jemand sie eingeladen hatte, dass sich jemand an sie erinnerte.

Pia hat schon die Kaffeemaschine in Gang gesetzt. Genau wie früher fügt sie sich ein, ohne viel zu sagen, und steht dennoch bald im Mittelpunkt – die Hübscheste von allen. Kleine, feine Fältchen um die Augen, wenn sie lacht.

»Ach Quatsch!«, sagt Agge. »Jetzt trinken wir erst mal einen Sekt!«

Und der Korken fliegt an die Decke.

Das Feuer brennt, ein richtiges Lagerfeuer. Ihre Gesichter glühen. Die Dämmerung der Mittsommerzeit ist blau und durchsichtig, und sie hüllen sich in ihre Schlafsäcke. Sie weiß, dass sie zu schnell und zu viel trinkt.

Es war Marinas Idee, dass sie einander feiern, eine nach der anderen. Sie haben auf Marinas neuen Führungsposten in der Personalvermittlung angestoßen und auf Pias neue Liebe, die ihr einen Antrag gemacht hat – aller guten Dinge sind drei! Darauf, dass Marina am Zehnkilometerlauf der Frauen teilgenommen und Agge eine Umschulung zur Gärtnerin gemacht hat – endlich lebt sie ihren Traum! Ein Hoch auf unsere Träume! Marina ist seit achtzehn Jahren verheiratet und liebt ihren Mann noch immer – Prost! – und Pia hat sich nach ihren Schwangerschaften neue Brüste machen lassen – ein Hoch auf die neuen Titten! – und auf all die Kinder, die so gut in der Schule sind – Prost! Prost! Prost! – und ganz besonders auf Agges Ältesten, der für die Jugendnationalmannschaft im Schwimmen ausgewählt wurde.

»Und was ist mit dir, komm schon, Jojjo!«

Sie weiß, dass es ein Fehler war, hierherzukommen. Ihr Leben ist nichts, was man bei solchen Anlässen vorzeigen könnte. Es gelingt ihr, einen Toast auf ihre Tochter Lisette auszusprechen, die nach dem Abitur gleich einen Job gefunden hat, und sie entschuldigt sich anschließend damit, dass sie sich kurz im Wald die Beine vertreten müsse.

Inzwischen gibt es hinter den Hütten Toiletten, aber sie macht es so wie damals. Hockt sich hinter eine Fichte.

Ein wenig Urin spritzt auf den einen Schuh. Zwischen den Zweigen hindurch sieht sie, wie das Feuer in der Ferne zur Glut verglimmt, sieht die Silhouetten der Frauen mittleren Alters ringsherum.

Worauf hätte sie noch anstoßen können? Dass sie geschieden ist und keinen Neuen gefunden hat? Dass es seit Lisettes Auszug so still ist in der Wohnung? Sie kann sich nicht einmal dazu durchringen, sich im Internet auf Partnersuche zu begeben, denn dann würde sie sich wie der letzte Passagier im Nachtbus aus der Stadt fühlen, wo alle schon verzweifelt sind und das nehmen, was sich bietet. Sie weiß ja, dass unzählige Menschen ihre Liebe auf diesen Seiten finden, also muss wohl mit ihr etwas nicht stimmen. Eigentlich ist es eher so, als würde man den letzten Nachtbus verpassen und in der Kälte stehenbleiben. Darauf Prost! Sie schläft schlecht, weil Stellen gekürzt werden und niemand weiß, wer als Nächstes gehen muss. Prost! Und auf den Körper, der immer mehr verfällt, während ihr die Zeit davonläuft, Prost!

Als sie ihre Hosen hochzieht, hört sie ein Geräusch. Äste, die knacken. Es kommt vom See. Sie atmet lautlos und bleibt wie angewurzelt stehen, die Hände am Reißverschluss. Glaubt zwischen den Fichten einen Schatten auszumachen, eine leichte Veränderung in dem vagen Licht.

Eine Stimme. Und ihr wird innerlich eiskalt.

»Habt ihr mir was zu essen übriggelassen?«

Dort, wo der Wald aufhört und das Ufer beginnt, steht eine Gestalt. Klein und dünn. Das blonde Haar wallend und wirr. Der grüne Pullover.

»Was ist?«, sagt Lillis und lacht. Ihr Gesicht ist unnatürlich bleich. Das war es schon damals, als sie mit dem Tod spielten. »Hast du etwa gedacht, ich würde nicht kommen?«

Ich träume, dachte Johanna. Ich bin betrunkener als gedacht. Das kann doch nicht derselbe Pullover sein!

»Willst du nicht mit mir reden?« Die Gestalt kommt einige Schritte auf sie zu, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. »Und ich dachte, wir wären Freunde!«

Johanna weicht zurück.

»Ich muss zurück zu den anderen«, sagt sie und rennt durch den Wald, ein Ast zerschrammt ihr Gesicht.

Sie dreht sich nicht um, ehe sie wieder an der Feuerstelle sitzt. Erst da starrt sie in den Wald, so lange, bis sich auch die anderen umdrehen müssen.

»Aber was zum Teufel …« Marina steht auf. »Lilian! Ich wusste nicht einmal, dass … Wer von euch hat Lillis ausfindig gemacht? Warum hast du nichts gesagt?«

Johanna begreift nicht, dass die Frage an sie gerichtet ist. Sie sieht, wie die Frau näher kommt. Jetzt stehen alle auf. Johanna spürt, dass auch sie es tun muss.

Lillis Körper in ihren Armen ist kalt und dürr. Eine hastige Umarmung. Eine Finsternis, die vom See heraufsteigt, und es wird Nacht.

»Mein Gott, wie schön, dich zu sehen!«

»Wo hast du eigentlich gesteckt? Du warst doch schon weg, bevor wir in die Oberstufe kamen, oder?«

Fern, als befände sie sich unter einer Glasglocke, hört sie, wie die anderen auf Lillis anstoßen. Erst jetzt sieht sie sie richtig. Sie sind sich überhaupt nicht so ähnlich, wie sie es sich einbilden, sie sind gealtert. Ihre Haut ist schlaff und hängt unter dem Kinn, selbst in Marinas einst so perfektes Gesicht haben die Jahre ihre Furchen gegraben. Man sieht, dass alle sich die Haare färben. Nur Lillis ist nach wie vor jung, ganz glatt und genauso gefährlich und eigentümlich schön wie einst. Dieser leichte Silberblick.

»Meine Güte, du bist ja keinen Tag älter geworden!«, ruft Agge. »Darauf Prost!«

Johanna sieht, wie sich ihre Münder bewegen, wie sie lachen. Lillis’ Gesicht ist so weiß, dass es leuchtet, obwohl die Glut erloschen und alles erkaltet ist.

Sehen die anderen denn nicht, dass etwas nicht stimmt?

Lillis, die für kurze Zeit ihre beste Freundin war. Das Unerreichbare, was sie damit auf unerklärliche Weise erreichte, das große Glück, das darin lag, gesehen zu werden und dabei sein zu dürfen. Lillis, die ein Abenteuer war und ein Mittelpunkt, um den sich der Mond und die Erde und die Jungs drehten, während Johanna ein harmloser Planet am Rande des Sonnensystems war. Sie hatte vage verstanden, dass Lillis sie oder vielleicht auch nur irgendjemanden an ihrer Seite gebraucht hatte. Johanna war nie in Konkurrenz zu ihr getreten, sie war einfach nur dabei gewesen. Die erste Zigarette, der erste Rausch mit Bier und Aspirin, die ersten Erfahrungen in der Hütte, bei denen Johanna allerdings meistens draußen warten musste, während Lillis drinnen herumknutschte, aber immerhin. Anschließend wurde sie in die Geheimnisse eingeweiht.

Johanna spürt den Schrei in sich wachsen, er will aus ihr hervorbrechen, aber sie darf nicht, es geht nicht. Das Schweigen ist zu lang. Es hat dreißig Jahre gedauert.

Sie will den anderen sagen: Aber seht ihr es nicht, versteht ihr denn nicht?

Sie kneift sich fest in den Arm, und es tut weh. Dies ist kein Albtraum, es passiert wirklich. Sie muss es sich bewusst machen, während sie in Lillis’ blassblaue, ein wenig schielende Augen blickt. Die Worte stumm über das erloschene Feuer hinwegschicken, das nur mehr Asche ist:

Du existierst nicht. Du bist tot.

Und dann kann sie nicht mehr länger dort sitzen, denn sie wird in den blassblauen Abgrund hineingezogen und beginnt zu zittern. Sie muss aufstehen und zum See gehen.

Es gibt eine Geschichte, die vom Översjö handelt. Kennst du sie?

Es ist Lillis’ Stimme. Aber ist es die Stimme von damals oder die von heute? Sie spazieren am Ufer entlang, weg von den anderen, weil Lillis es leid ist, dass Marina und Pia immer miteinander wetteifern müssen. Johanna denkt, dass Lillis dasselbe tut, aber das sagt sie nicht. Sie sind sechzehn Jahre alt und werden das ganze Wochenende auf der Hütte verbringen, und für morgen hat Marina einige Jungs dorthin eingeladen, sie wollen eine Party feiern.

Komm, wir gehen schwimmen. Jetzt komm schon! Wir müssen doch ausprobieren, ob es stimmt, was über den Översjö gesagt wird. Dass es unter der Oberfläche irgendwo in der bodenlosen Tiefe einen Ort gibt, wo die Ertrunkenen leben. Wenn man tief genug taucht, kann man sich in ihren verschlungenen Haaren verfangen, erzählt man sich. Es sind die freiwillig Gestorbenen, die dort unten keinen Frieden finden, die Selbstmörderinnen, und es sind allesamt Frauen, unglücklich und verzweifelt. Männer erschießen sich, Frauen gehen ins Wasser, so ist es immer schon gewesen. Du kannst ihr Haar unter den Füßen spüren, wenn du dich nur traust, bis dort hinauszuschwimmen.

Lillis schleudert ihre Kleider in das hohe Ufergras und beginnt in den See hinauszuwaten. Johanna muss es ihr gleichtun. Alles, was sie miteinander erleben, erhält einen Sinn, und je gefährlicher es erscheint, desto lebendiger wird man davon, das hat Lillis ihr beigebracht. Sie spielen immer wieder mit dem Tod, strangulieren sich mit Tüchern, bis sie ohnmächtig werden. Es ist wie ein verlockendes Gift geworden, sie müssen es jeden Tag tun. Johanna wird panisch, wenn sie die Schlinge zuzieht, dennoch zieht sie, bis ihr die Luft wegbleibt, es pocht an den Schläfen, ein Gefühl, als würden die Augen aus dem Kopf gepresst, sie sieht Lichtpunkte, und die Geräusche draußen verschwinden, und dann wird alles schwarz. Solche Dinge. Es besteht keine Gefahr, solange man das Tuch nicht zuknotet, hat Lillis beteuert, denn die Schlinge lockert sich ja, sobald man ohnmächtig wird. Ehe man stirbt.

Es gibt einen Moment im Leben eines jeden Menschen, in dem man sich entscheiden muss, ob man mit den Lebenden geht oder mit den Toten. Der Moment ist jetzt, ehe wir erstarren. Danach ist es zu spät.

Sie sieht, wie Lillis dort vor ihr zu kraulen beginnt und sich entfernt. Sie nähern sich der Mitte des Sees. Das kühle Wasser liebkost die Haut, so gegenwärtig und nackt. Sie denkt, dass irgendwo am Ufer ein Junge stehen und sie beobachten könnte, und es erregt sie. Dann beschämt es sie ein wenig, wenn sie an Lillis denkt, nackt unter der Wasseroberfläche zehn Meter vor ihr, ihre kräftigen Schwimmzüge, obwohl sie so schmal und zierlich ist, aber da ist nichts zwischen ihnen. Also nichts Sexuelles, das redet sie sich zumindest die ganze Zeit ein, auch wenn es ihr manchmal so vorkommt, wenn sich Lillis auf dem Sofa oder anderswo in ihre Arme schmiegt. So ähnlich wie ein Hundewelpe. Lillis ist einfach so, für sie kennt die Gefahr keine Grenzen. Und sie sind einsam unter dem Himmel, in dieser Nacht, und alle anderen sind ihnen egal.

Wir müssen etwas über den Tod wissen, um uns entscheiden zu können, oder? Sonst bleiben wir einfach nur Opfer.

Sie begreift es nicht, als es passiert. Sieht nur, wie die Wasseroberfläche plötzlich still ist. Du willst mich auf den Arm nehmen, denkt Johanna und schwimmt zu der Stelle, wo Lillis’ blonder Schopf noch vor Kurzem zu sehen war, sie schwimmt eine Runde im Kreis. Wo steckst du, verdammt? Sie taucht unter, um nach ihr zu spähen, aber alles ist dunkel und undurchdringlich. Sie sieht nur Wasser, und Wasser kann man nicht sehen, und sie verliert die Orientierung, weiß nicht mehr, wo oben und unten ist, und gerät in Panik. In diesem Moment spürt sie es. Etwas bewegt sich an ihren Füßen, schlingt sich um ihre Beine. Der Schreck überwältigt sie, sie muss hinauf, an die Oberfläche, sie strampelt und trifft etwas dort unten, da ist wirklich etwas, und ihr steigen Bilder von all den Toten in den Kopf, von Aalen, die sich aus Augenhöhlen schlängeln, und das, was sich um ihre Füße gewickelt hat, ist noch immer da, es zieht an ihr, und sie tritt wild um sich und rudert wie wild mit den Armen, hinauf, hinauf, und sie bekommt keine Luft, sie muss von dort weg.

Sie atmet nicht, ehe sie wieder am Strand ist. Denkt nicht, ehe sie aus dem Wasser gestiegen ist. Der See liegt glatt und schwarz da. Sie zittert so sehr, dass es eine Ewigkeit dauert, bis sie sich wieder angezogen hat. Daneben liegen Lillis Kleider, achtlos ins Gras geworfen.

Die Zeit war einfach verronnen oder stehengeblieben. Irgendwann musste sie aufstehen und wieder zurückgehen.

»Wart ihr baden? Wo ist Lillis?«

Johanna weiß nicht, wo die Lüge herkam. Eigentlich wollte sie sagen, wie es war, dass Lillis hinausgeschwommen und verschwunden war. Aber dann hätte sie das andere verschweigen müssen. Dass sie selbst dort gewesen war. Wie hätte sie von den Toten im Wasser und ihrer eigenen Panik erzählen sollen? Von dem Gefühl unter ihrem Fuß, als er etwas Weiches und zugleich Hartes traf, und von dem, was sie nicht zu Ende zu denken wagt: dass es Lillis’ Gesicht gewesen ist. Lillis, die sie nur hatte erschrecken wollen, weil alles Teil eines Plans gewesen war, die Geschichten von den Toten und ihrem lächerlichen Haar. Lillis, die im Schwimmbad immer trainierte, so lange wie möglich unter Wasser zu bleiben.

»Sie ist einfach abgehauen, keine Ahnung. Vielleicht war sie wegen irgendetwas sauer.«

Am nächsten Morgen war sie zurückgegangen, hatte Lillis’ Kleider eingesammelt und vergraben. Hatte geweint und gegraben. Für die Wahrheit war es zu spät. Es war der Sommer, bevor sie aufs Oberstufengymnasium kamen. Im Herbst würden sie alle in verschiedene Richtungen verschwinden, die Knoten würden gelöst werden. Marina würde ins Gymnasium in die Stadt kommen, die Übrigen hatten andere Zweige gewählt als sie, Johanna schmiss die Schule nach einem halben Jahr und machte später das Abitur an einem Abendgymnasium in Ångermanland nach.

Lillis’ Vater war schwerer Alkoholiker, und es kam nie zu einer richtigen Ermittlung. Die Polizei war ein paar Mal aufgetaucht und hatte Fragen gestellt, und Johanna hatte beschreiben müssen, welche Kleidung Lillis trug, als sie verschwand: den meerblauen Angorapullover (den sie bei Hennes und Mauritz geklaut hatte). Sie glaubten, Lillis sei abgehauen (dazu hätte sie allen Grund gehabt).

Der Baum, der einsam am Rand eines Gehölzes steht. Johanna glaubt, den Ort wiederzuerkennen, und beginnt neben dem Stamm in der Erde zu graben. Können Stoff und Angorawolle nach dreißig Jahren noch erhalten sein, oder verwittern sie? Und was ist mit den Turnschuhen? Sie gräbt, aber dort ist nichts. Ist es die falsche Stelle? Vielleicht der falsche Uferabschnitt, es sind neue Bäume gewachsen, sie hat keine Ahnung, wie sehr sich ein Wald im Laufe von dreißig Jahren verändert. Lillis steht am Waldrand und betrachtet sie. Johanna wagt es nicht, sich umzudrehen, aber sie spürt ihre Gegenwart wie eine Kälte im Nacken.

Wir hatten eine Vereinbarung. Eine Vereinbarung über Geheimnisse und Wortbruch, hast du das vergessen, Johanna?

Erde klebt unter ihren Fingernägeln und am ganzen Arm bis zu den Ellbogen.

Das ist der Grund, redet sie sich ein, als sie zum Wasser hinuntergeht und die Schuhe von sich kickt. Als sie sich hinabbeugt, um die Erde abzuspülen, sieht sie sich selbst im Spiegelbild, ihr erwachsenes Ich. Sie hat nie aufgehört, sechzehn zu sein, die späteren Jahre sind nur hinzugekommen, wie die Schichten einer Torte. Dann verschwindet der Mond hinter einer Wolke, und sie ist weg. Nein, nicht weg, da ist sie: mittlerweile ein gutes Stück im Wasser, dort, wo es tief ist. Sie schwimmt, vollständig angezogen, auf die Mitte des Sees zu, weil sie es tun muss. Schließt die Augen und schwimmt, versucht, die Kraft in ihrem Körper zu finden, aber da ist nur die Schwere der durchnässten Klamotten und das Fett um ihre Hüften, sie spürt ihr eigenes Gewicht. In der Mitte des Sees hält sie inne und tritt Wasser, sieht sich um. Hier war es, genau hier. Und sie taucht hinab, so tief sie kann, späht und sieht nichts, tastet mit den Händen in der Tiefe und bekommt etwas zu fassen. Etwas sich Schlängelndes, Weiches, und sie glaubt, Geflüster und Gesang zu hören. Es gibt einen Moment im Leben … ob man mit den Lebenden geht oder mit den Toten … Jetzt ist es überall um sie herum, es wickelt sie in seine Fäden, bis sie gefangen ist und in die flüsternde Tiefe hinabgezogen wird, wo es kein Licht geben wird und keine Angst vor dem Erwachen, nur ein stilles Lied, sieht so der Tod aus? Sie lässt sich sinken. Lass mich los, will sie schreien, ich möchte nicht sterben. Nennst du das Leben, flüstert es, das, was du da zu leben glaubst? Jetzt geht ihr die Luft aus, und sie sieht Lichtflecken um sich herum, ist das Lillis’ Gesicht, das sie dort unten erkennt? Oder das einer anderen, nein, sie sieht sich selbst, und sie ist wieder jung und würde alles dafür tun, um dabei zu sein. Nein, will sie schreien, nein, ich will nicht mehr! Aber ihr fehlt die Luft, und unter Wasser ist alles lautlos. Sie strampelt, packt das Haar, das sich um ihre Beine gewickelt hat, reißt es ab und steigt an die Oberfläche, und dort gibt es Luft, kalt und klar.

Tief in die Lungen zieht sie das, was Leben und Kraft ist und ein Gefühl von Wirklichkeit. Was zum Teufel tut sie hier draußen auf dem See? Atemlos und erschöpft schwimmt sie, so gut sie kann, wieder an Land. Befreit die Finger von etwas, das sich in ihrer Hand verfangen hat.

Lisette, denkt sie. Meine Tochter braucht mich, auch wenn sie so tut, als wäre es nicht so.

»Bist du nicht ganz dicht, warst du mit Klamotten schwimmen?«

Pia schminkt sich gerade ab. Reibt sich mit teuren Cremes ein. Agge schnarcht auf einer der oberen Pritschen. Johanna sieht sich in der kleinen Hütte um. Kein meergrüner Pullover.

»Ich habe an Lillis gedacht«, sagt sie vorsichtig. »Ich dachte, ich hätte sie dort draußen gesehen.«

»Du musst ziemlich viel getrunken haben. Seit sie von hier abgehauen ist, hatte doch wohl keine von uns Kontakt zu ihr. Ich habe übrigens nie verstanden, warum du mit ihr befreundet warst. Möchtest du einen Tee?«

Johanna holt ihr Halstuch und trocknet sich damit das Haar, es tropft noch immer vor Nässe. Sie sitzen mit ihren Teetassen da. Seegras, denkt sie, da unten gibt es nur Seegras oder irgendwelche anderen Wasserpflanzen. Sie ist dankbar, dass sich in ihrem Kopf nicht mehr alles dreht. Ihre nassen Sachen hat sie ausgezogen und sich etwas von den anderen leihen dürfen.

»Wie meinst du das – dass du nie verstanden hast, warum ich mit Lillis befreundet war?«

»Du warst cool, du warst schlau«, sagt Pia. »Du musstest nie etwas vorspielen oder dich verstellen. Du hast mir immer so imponiert. Und trotzdem hast du dich von ihr ausnutzen lassen.«

Johanna starrt von der einen zur anderen. Ein hastiges Gefühl, plötzlich sichtbar zu sein. Als hätte sie schärfere Konturen erhalten. Sahen sie sie wirklich so?

Sie holt sich eine von Agges Decken und wickelt sich darin ein.

»Wisst ihr, die Runde am Feuer …«, beginnt sie. »Ich dachte, ich hätte gar nichts beizutragen … ich meine, mein Leben ist … es ist okay, aber mehr auch nicht.«

»Reicht das denn nicht?«

»Prost«, sagt Marina und hebt ihre Teetasse.

Da kommen ihr die Tränen, sie brennen und werden immer mehr. Sie streicht sie weg und schnieft, aber sie strömen nur so. Plötzlich kann sie sich nicht mehr erinnern, was an ihrem Leben so verkehrt ist. Und sie denkt, das war alles nächtliche Einbildung, nichts als Albträume, sie weiß ja, dass es ihr nicht bekommt, zu viel zu trinken.

Pia legt den Arm um sie, und sie beruhigt sich. Während es draußen heller wird, beginnt Marina über ihre Unsicherheit zu sprechen, dieses Gefühl, dass die anderen entdecken könnten, wie ungeeignet sie als Chefin ist, und Pia erzählt, dass sie sich im Grunde gar nicht so sicher ist, ob sie diesen neuen Mann wirklich liebt. Schließlich schlafen sie ein, jede in ihrem Bett.

Am nächsten Morgen verabschieden sie sich vor der Hütte.

»Danke, dass du das organisiert hast«, sagt Johanna, als sie Marina umarmt. Im Morgenlicht, als die Sonne schon hoch am Himmel steht, wirkt der Spuk der vergangenen Nacht eindeutig kindisch.

»Wie meinst du das? Du hattest uns doch eingeladen.«

Marina wechselt Blicke mit den anderen.

»Erst haben wir ja alle gezögert, aber dann haben wir gedacht, was soll’s, ein Wochenende ohne Mann und Kinder, warum nicht?«

Einige Nebelschleier sind von der Nacht übriggeblieben und ziehen über den See davon. Marina hält ihr Handy hoch.

»Hier steht doch ganz eindeutig, dass du die Gruppe gegründet hast. Geht es dir eigentlich gut?«

Johanna reißt ihr das Telefon aus der Hand.

Sie erkennt die Facebook-Seite wieder: »Zurück zum Översjö.« Ganz oben in der Ecke steht tatsächlich, dass die Einladung von Johanna stammt.

Sie hat den Geschmack von Seewasser im Mund. Ein stechendes Gefühl in den Wangen, eine Wirklichkeit, die ins Wanken gerät.

Sie war schon seit über einem halben Jahr nicht mehr auf Facebook gewesen. Ihr ist nicht ganz klar, wofür sie das alles braucht, will aber auch nicht außen vor bleiben. Und als die automatische Mitteilung im Posteingang ihrer E-Mails landete, hatte sie schon ewig niemand kontaktiert.

Ihre Hand fühlt sich taub an, als sie das Handy zurückgibt.

»Jedenfalls müssen wir das wiederholen«, sagt Agge. »Nächstes Jahr zur selben Zeit?«

»Klar.«

Sie bleibt noch eine Weile stehen, als die anderen gefahren sind. Erinnert sich an eine Haarsträhne, die sich in ihrer Hand verfangen hatte. Der See hat eine blassblaue Farbe angenommen. Es ist so windstill, dass die sich im Wasser spiegelnden Bäume genauso wirklich erscheinen wie der Wald ringsherum.

»Es gibt auch noch eine andere Geschichte vom Översjö«, sagt sie langsam. »Kennst du sie? Ich glaube, sie handelt von denen, die trotz allem versuchen zu leben.«

Kurz bevor sie ins Auto steigt, spürt sie eine plötzliche Kälte im Nacken. Einen Wind, der ihr über die Wange streicht, eine hastige Liebkosung. Und das Laub ist vollkommen still.

◁▷

Bevor sie 2009 ihren ersten Roman veröffentlichte, war Tove Alsterdal hauptsächlich als Journalistin und Bühnenautorin tätig. Wie viele andere Autoren hat sie vielfältige Berufserfahrungen: Sie hat im Stockholmer Freilichtmuseum Skansen Pferde geführt und in der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Klinik Beckomberga als Hilfskraft gearbeitet. Später war sie Nachrichtenreporterin für Funk und Fernsehen, schrieb Geschichten für Computerspiele, Bühnenstücke und ein Opernlibretto sowie Drehbücher für Fernsehfilme und den Spielfilm Så olika (»So verschieden«) – in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin und Regisseurin Helena Bergström.

Außerdem hat sie alle Krimis von Liza Marklund (mit Ausnahme des ersten) redigiert, mit der sie eng befreundet ist.

Sie wurde 1960 in Malmö geboren, hat viele Jahre in Umeå und Luleå verbracht, lebt mittlerweile aber in Stockholm. Ihre Wurzeln hat sie im hohen Norden von Schweden, im Tornedalen, einem Gebiet in der Nähe der schwedisch-finnischen Grenze, das ein ganzes Stück nördlich des Polarkreises liegt. Hier wuchs nämlich ihre Mutter auf, und Tove Alsterdal verbringt hier regelmäßig den Sommer. Diese Landschaft bildet auch die Kulisse in ihrem zweiten Roman.

Mit ihrem 2009 erschienenen Debüt Kvinnorna på stranden (Tödliche Hoffnung) und dem Nachfolger I tystnaden begravd (Tödliches Schweigen) von 2012 hat sie sich in die Riege der wichtigsten schwedischen Krimischriftsteller geschrieben. Ihr zweiter Roman belegte bei der Auswahl zum besten schwedischen Krimi des Jahres 2012 den zweiten Platz.

Tove Alsterdal ist eine Meisterin der Atmosphäre und der subtilen Charakterzeichnung. Ihre Texte zeugen von psychologischem Scharfblick und spielen vor Kulissen, die sie kennt und daher gerne beschreibt. In ihren Büchern finden sich häufig mystische, scheinbar unerklärliche Elemente, aber es gehört zu ihren großen Stärken, dass sie dem Leser die Wahl lässt, wie er diese Elemente interpretiert.

Cilla Börjlind und Rolf Börjlind

Sein Haar gefiel ihm

Er hatte noch genug Zeit, das Zimmer abzuschreiten, die einfache, abgegrenzte Fläche, die sein Zuhause ausmachte. Ein Wort, das er nie benutzte. Für ihn war es eine Fläche, kein Raum. Er hatte ein Sofa und einen Tisch hineingestellt und ins Fenster ein Modell des Dakota House aus Balsaholz. Auf dem Boden lag kein Teppich, und der schmale Spiegel neben der Küchentür hing zu tief für ihn. Er hatte ihn nicht dorthin gehängt. Wenn er seinen Mund sehen wollte, musste er sich hinunterbeugen, sonst sah er nur totes Fleisch. Er hatte keine Beziehung zu seinem Gesicht, seine Augen sahen in den Blick eines Fremden, und er fragte sich, warum seine Nase so krumm war.

Sein Haar gefiel ihm.

Das war das Einzige, was er als sein Eigentum anerkannte. Braun und gelockt, es erinnerte ihn an seine Mutter, die Frau, der die Hände gefehlt hatten. Ihr Haar war braun gelockt gewesen, und das Lachen, das sie ausstieß, als sie die Nachricht bekam, war das Einzige, was er von ihrer Stimme noch in Erinnerung hatte. Aber es ließ die Zeit vergehen.

Das und die Schritte.

Vermutlich war er ein Nachtmensch, seine biologische Uhr war jedenfalls auf Nacht eingestellt. Mit Einbruch der Dunkelheit erwachte er zum Leben, wenn er nicht mehr Gefahr lief, gesehen zu werden, und auch nichts mehr sehen musste, wenn er eins werden konnte mit seiner Umgebung, unsichtbar, wenn er von einem Stadtteil zum anderen gehen konnte, ohne zu wissen, wo er entlanggelaufen war.

Das tat er oft in der Nacht: von einem Punkt zum nächsten gehen und zurück einen anderen Weg. Und immer mit dem gleichen Ziel. Weil so die Zeit verging und er müde wurde. Was ihm ermöglichte einzuschlafen, bevor das Licht ihn einholte.

Das war wichtig.

Er war gezwungen einzuschlafen, bevor es hell wurde, und zu schlafen, bis es wieder dunkel war. Es kam vor, dass ihm das nicht gelang, dass er von einem fremden Schrei aufwachte, ins Licht starrte und nicht wieder einschlafen konnte.

Dann vermisste er es.

Das, was ihn wieder zurück ins Dunkel versenken konnte. Was sie ihm weggenommen hatten und was er zurückkriegen musste.

Auf welche Art auch immer.

Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, von Wand zu Wand und wieder zurück. Wie lange er das tat, wusste er nicht, er hatte keine Uhr, normalerweise spürte sein Körper, wann er fertig war, wann er schlafen konnte. Heute Abend dauerte es seine Zeit. Er setzte sich auf die Bettkante und horchte in sich hinein, er sollte inzwischen eigentlich müde sein, müder, als er es jetzt war.

Das störte ihn.

Er trat ans Fenster und schaute hinaus, nichts bewegte sich, alles war normal. Aus dem Augenwinkel konnte er die verkohlten Hände draußen auf der Fensterbank sehen, zwei Stück. Sie lagen immer dort, wenn er losgehen musste. Nicht jedes Mal, korrigierte er sich selbst, nur, wenn er gezwungen war, sich ins Dunkel sinken zu lassen.

Da lagen sie wie eine Mahnung.

Er öffnete das Fenster, vorsichtig, und betrachtete die Hände. Draußen war es still. In manchen Nächten war eine Amsel in der Ferne zu hören, eine singende Amsel, mitten in der Nacht. Er sah sie nie, aber er wusste, wie sie aussah. Der Schnabel hatte die gleiche orangegelbe Farbe wie seine Mutter, als sie die Nachricht bekam.

Und die gleichen schwarzen Augen.

Er schloss das Fenster wieder und ging zum Regal über dem Spiegel. Die blauweiße Schachtel stand dort, wo er sie vor vier Nächten hingestellt hatte. Er stopfte sie sich in die Tasche seines langen, dunkelgrauen Mantels und verließ das Zimmer.

Er war dazu gezwungen.

Draußen fiel ein weicher Regen.

Der Regen gefiel ihm, er mochte es, wenn etwas geschah, während er zwischen den Häusern entlangging. Kein Sturzregen, aber ein monotones, leises Rieseln. Heute Nacht war es perfekt. Er wusste, zu welcher Adresse er gehen wollte, er hatte keine Eile. Er hielt sich an menschenleere Straßen, und wenn ihm jemand begegnete, wechselte er die Straßenseite.

Er drehte sich nie um.

Als er den richtigen Stadtteil erreichte, blieb er stehen, ein Stück von einem grünen Container entfernt. Er stand ruhig da, lange, versteckt in der Dunkelheit einer kaputten Straßenlaterne. Er dachte über eine Zeile nach, die er irgendwo gelesen hatte, über einen Mann, der auf einer Brücke stand und gelöschtes Licht ins Wasser warf. Gelöschtes Licht, das gefiel ihm, als hätte man die Tasche voll mit Dunkelheit und könnte sie ausstreuen, wenn es zu hell wurde.

Vielleicht konnte er das tun?

Löschen?

Schließlich hatte er die Schachtel in der Tasche.

Er drehte sich zum Container, der ein Stück entfernt stand, er hatte eine Bewegung gesehen, eine Frau, die sich abmühte, eine Plastiktüte hineinzuwerfen. Er beobachtete ihren müden Körper und fragte sich, was wohl in der Tüte war. Vielleicht eine schwarze Perücke und ein Lippenstift? Er sah sie in der Dunkelheit wieder verschwinden und blieb stehen. Es gab Nächte, in denen er einsamen Menschen folgte, oft auf der anderen Straßenseite, ihnen folgte, bis sie in einem Hauseingang oder einer Bar verschwanden. Das empfand er als Gesellschaft.

Doch heute Nacht wollte er allein sein.

Er drehte sich um.

Hunde pfiffen hinten an der Bushaltestelle.

Manchmal bildete er sich das ein, dass die Hunde pfiffen, spät in der Nacht, wenn nur noch die Schatten ihm Gesellschaft leisteten. Die Hunde, von denen niemand etwas wusste, gekrümmte, dünne, lange Körper, die plötzlich da waren, aus dem Nichts, eine dunkle Straße überquerten und verschwanden, um mit einem Mal dicht neben ihm zu atmen und dann wieder zu verschwinden.

Er hörte, wie sie einander zupfiffen, die Hunde, und er wusste, worum es ging.

Um ihn.

Das hatte mit dem dritten Welpen zu tun, dem ertränkten. Den er vor vielen Jahren in einen Eimer gedrückt hatte und der unter seiner Stiefelsohle um sein Leben gekämpft hatte. Ein Leben, das ihm gerade erst geschenkt worden war und das ihm gleich wieder genommen werden sollte, weil er als Dritter kam und weil er behindert war. Ihm fehlte ein voll entwickeltes Rückgrat. Daran dachte er manchmal, an diese Behinderung. Das Tier war verkrüppelt und wäre so oder so gestorben, er hatte nur das getan, was der Hundebesitzer hätte tun sollen, er hatte sich darum gekümmert. Aber der Kampf des Tieres unter seiner Stiefelsohle hatte Spuren in ihm hinterlassen. Er hatte gedacht, das Ganze würde schnell gehen.

Doch es ging nicht schnell.

Und während der Zeit, in der das Tier kämpfte und sich unter seiner Stiefelsohle wand, begann er zu denken. Das war nicht gut. Plötzlich stand er da und dachte darüber nach, was er tat und was sich da unter seinem Fuß bewegte. Was nur ein schneller Entschluss gewesen war, um einem Leiden in der Welt ein Ende zu setzen, verwandelte sich in etwas anderes. Das missgebildete Tier weigerte sich aufzugeben und zwang ihn zu einem vollkommen anderen Entschluss.

Er musste einen Hundewelpen töten.

Er hätte den Fuß etwas anheben und sagen können, es habe nicht geklappt. Dann wäre der Welpe nicht gestorben, und er hätte alles dem Besitzer überlassen. Doch das tat er nicht. Und darüber dachte er jetzt nach, in dem weichen Regen. An sich selbst als Geisel in einer Situation, die er selber geschaffen hatte, die ihn dazu zwang, zu töten. Oder zuzugeben, dass er es nicht schaffte.

Er hatte den Welpen getötet.

Deshalb pfiffen die Hunde ihm hinterher, in diesen besonderen Nächten, in denen er in Gesellschaft der Schatten lief und wusste, dass er wieder eine Geisel war. Und gezwungen zu töten.

Oder zu gestehen.

Er wartete, bis das Licht im Treppenhaus erloschen und alle Geräusche verstummt waren. Dann zog er sich die Gummihandschuhe über. Im Dunkeln ging er ein Stockwerk hoch und klingelte an der Tür, die er sich ausgesucht hatte. Es dauerte eine Weile, bis die alte Frau öffnete.

»Ja?«, fragte sie. »Worum geht’s?«

»Ich suche Ester.«

»Das bin ich.«

»Verzeihung.«

Später, als er auf dem Stuhl in der Küche saß und den dünnen weißen Baumwollfaden betrachtete, der ihr aus dem Mund hing, dachte er darüber nach. Warum er »Verzeihung« gesagt hatte. Das war nichts, was er geplant hatte, das war ganz spontan gekommen. Als wollte er um Verzeihung bitten für das, was passieren würde.

Das verblüffte ihn.

Das Klebeband war das Erste, was er im Flur hervorholte. Schnell befestigte er es über dem Mund der dünnen Frau. Als er sie in die Küche trug, merkte er, wie leicht sie war. Fast wie die Vogelscheuche, die er einmal gebastelt hatte, genauso zerbrechlich und zart.

Würde er jetzt eine neue Vogelscheuche basteln, er würde sie Ester taufen.

Er befestigte ihre mageren Beine und Arme mit Hilfe von blauen Kabelbindern an einem Küchenstuhl. Im Schrank über dem Herd fand er ein Glas. Er füllte es mit Wasser aus dem Wasserhahn daneben. Er sah, wie die Augen der Frau seinen Bewegungen folgten, und fragte sich, was sie wohl dachte. Wer er war? Wahrscheinlich, vielleicht aber eher, was er wohl tun würde. Er stellte das Glas auf den Tisch mitten in der Küche und holte die blauweiße Schachtel heraus. Als er sie öffnen wollte, zögerte er kurz und schaute hoch zur alten Küchenlampe aus Glas. Das Licht des Glühfadens war sanft. Er betrachtete die Lampe. Diese Art von Licht ertrug er, künstliches Licht, das man ausschalten konnte, wenn man wollte.

Er öffnete die Schachtel und holte einen Tampon heraus. Die dünne Plastikhülle stopfte er sich in die Tasche, er mochte keine Unordnung. Mit der linken Hand zog er der Frau das Klebeband vom Mund. Sie riss ihn auf, um zu schreien, nach wem, das wusste er nicht. Er drückte den Tampon in ihre Luftröhre und stoppte so den Schrei. Jetzt war sie still. Mit einer Hand packte er ihre Kiefer und kippte ihr ein halbes Glas Wasser in den Mund, bevor er ihn wieder verschloss.

Jetzt war er fertig.

Er zog sich einen zweiten Küchenstuhl heran und setzte sich, der alten Frau fast direkt gegenüber. Er wusste, der Tampon würde in der Kehle anschwellen, jetzt brauchte er nur noch zu warten. Er sah sich kurz den Stuhl an, auf dem er saß, ein unbehandelter Holzstuhl. Er mochte Holzstühle, einfache, funktionelle Möbel ohne Schnickschnack. Seine Mutter hatte fünf Stühle um ihren Küchentisch stehen gehabt, alle aus Holz und ungestrichen. Eine Zeitlang waren sie zu viert in der Familie gewesen, aber niemals fünf. Er hatte über den fünften Stuhl nie nachgedacht.

Aber jetzt.

Jetzt tat er das. Für wen war der Stuhl gedacht? Er betrachtete die gefesselte Frau vor sich, ihre Knie zitterten, sie bekam keine Luft mehr, die Augen traten ein wenig aus den Höhlen. War der fünfte Stuhl für Besucher gewesen? Aber sie hatten doch nie Besuch bekommen! Er nahm an, dass es eines von Mutters Geheimnissen war, ein extra Stuhl für das Unerwartete. Er musste schmunzeln. Jetzt sank der Kopf der Frau auf die Brust, sie zitterte nicht mehr. Er beugte sich vor und sah den dünnen weißen Baumwollfaden aus dem Mundwinkel hängen, bald würde auch er sich nicht mehr bewegen. Er fragte sich, was ihr wohl jetzt durch den Kopf ging. Wohin war sie unterwegs?

Darüber wissen wir so wenig, dachte er.

Bald würde er wieder gehen.

Er war auf dem Rückweg, zu Fuß, zu seiner genau abgegrenzten Fläche. Die Straßen waren leer, seine Schritte folgten dem Kantstein, er musste kein einziges Mal aufblicken. Zu diesem Zeitpunkt war in diesem Teil der Stadt kaum etwas los. Vor ein paar Stunden waren noch Obdachlose mit Plastiktüten voller leerer Dosen vorbeigezogen, betrunkene Jugendliche auf der Suche nach einem Taxi oder Stoff, einsame Huren, die mit Sonderangeboten lockten, alles war im Fluss. Er hatte es tausende und abertausende Male gesehen.

Jetzt war es leer.

Jetzt gab es nur die Möwen, die in der Kotze herumpickten, und das Echo weit entfernter Polizeisirenen. Niemand sah ihn. Oder vielleicht doch aus der Ferne? Vielleicht stand ein Stück weiter ein schlafloser älterer Mann in einem teuren Fenster und schaute zu ihm herunter? Vielleicht trug der Mann einen dunkelgrünen Hausmantel und hatte einen schwarzen Zigarillo in der Hand? Vielleicht hörte er gerade die Wiener Sängerknaben? Das hatte der Mann getan, der eines Nachts zu Mama kam und ihr eine lila Schleife um den Hals band. Sie wusste nicht, dass er krank war, sie hörte Oh Tannenbaum und ließ sich von dem Mann einen Schleier der Verzückung über die Augen legen.

Dann hatte der Mann ihm zugewinkt.

Er hob den Kopf und schielte zu den mächtigen Fassaden hoch, vielleicht konnte er noch einen Schatten des Mannes erhaschen?

Das Wasser aus dem Wasserhahn war eiskalt. Er wusch sich immer die Hände, wenn er zurückkam, hielt sie unter den Wasserstrahl, bis sie taub wurden, verschwanden, bis er in sie hineinbeißen konnte, ohne etwas zu spüren. Das beruhigte ihn. Gestern hatte er ein Bild an der Wand über dem Bett aufgehängt. Es war das einzige Bild im Raum. Es stellte einen kleinen Jungen dar, der einen merkwürdigen Metalltrichter unter das Kleid einer knienden Frau schob. Beide trugen mittelalterliche Kleidung. Im Hintergrund standen einige Männer in Livree und zerteilten eine Melone. Das Bild war in Farbe. Es gefiel ihm, mit dem Bild einzuschlafen und mit ihm aufzuwachen. Das Einzige, was dem Bild fehlte, war der Ton. Es sah aus, als redeten die Männer im Hintergrund miteinander, er hätte gern gewusst, was. Ging es um die Melone? Oder um den merkwürdigen Trichter?

Jetzt lag er im Bett und betrachtete das Bild. Er versank ins Dunkel und wusste, er würde einschlafen, er musste nur die Frage bearbeiten, mit der er immer einschlief: Warum gab es niemanden, der um Hilfe bat? Das fragte er sich oft. Manchmal stand er im Park, vielleicht hinter einem Ahorn versteckt, und betrachtete die Gesichter, die vorbeigingen, schweigend, ausdruckslos, als wäre nichts passiert.

Das war sehr merkwürdig.

Die Menschen sollten vorsichtiger sein. Einmal streckte er einem Jungen, der vorbeiging, eine Hand entgegen, er wollte, dass der Junge frühzeitig den Schmerz kennenlernte. Der Junge lief davon.

Seitdem hatte er nie wieder versucht, Kontakt aufzunehmen.

Jetzt war er kurz davor wegzugleiten, der Blick löste sich von dem Bild an der Wand, er hoffte, in die richtige Richtung zu gleiten, nicht auf die Schnittfläche zu.

Er hoffte, noch da zu sein, wenn er wieder aufwachte.

Er träumt.

GravenMorden

Vor seiner enorm erfolgreichen Karriere als Drehbuchautor war Rolf Börjlind vor allem als Humorist und Satiriker bekannt. Schlagzeilen machte er, als ihn ein Ministerpräsident verklagte, weil Börjlind ein gefälschtes Interview im Aftonbladet veröffentlicht hatte, der meistverkauften Boulevardzeitung Schwedens, die noch weitere von ihm getürkte Interviews abdruckte (beispielsweise mit Björn Borg). Der Ministerpräsident verlor übrigens den Prozess. Rolf Börjlind ist nicht nur Drehbuchautor und Schriftsteller, sondern auch Schauspieler, Regisseur und Präsident des Schwedischen Verbandes der Bühnen- und Drehbuchautoren.

Der erste Kriminalroman des Autorenduos, Springfloden (Die Springflut), war eines der beeindruckendsten Debüts des Jahres 2012 und wurde in über zwanzig Länder verkauft. Der Nachfolger, Den tredje rösten (»Die dritte Stimme«), der 2013 in Schweden veröffentlicht wurde, nutzt die Konventionen des schwedischen Kriminalromans ebenso perfekt, wie er damit spielt.

Sein Haar gefiel ihm ist die erste Kurzgeschichte der Börjlinds und wurde eigens für diese Anthologie geschrieben.